Antje Wagner-Kolar
Ein Herz erlischt
Der Tod junger Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Zitat
1 Prolog
2 Romantik (ca. 1795-1835)
3 Das Symbol der Romantik – die Blaue Blume
4 Biedermeier (ca. 1815-1848)
5 Vormärz (ca. 1840-1850)
6 Realismus (ca. 1850-1890)
7 Naturalismus (ca. 1880-1900)
8 Expressionismus/Avantgarde (ca. 1910-1920)
9 Wolf Graf von Kalckreuth (1887-1906)
10 Raymond Radiguet (1903-1923)
11 Maria Clementine François (1823-1844)
12 Walter Calé (1881-1904)
13 Fanny Imlay (1794-1816)
14 Srecko Kosovel (1904-1926)
15 Josip Murn (1879-1901)
16 Karl Georg Büchner (1813-1837)
17 Otto Weininger (1880-1903)
18 Karl Ferdinand Reinhard Sorge (1892-1916)
Ich gleite hin
19 Georg Heym (1887-1912)
An mein Herz ...
20 Wilhelm Hauff (1802-1827)
21 John Keats (1795-1821)
22 Ernst Goll (1887-1912)
23 Alfred Lichtenstein (1889-1914)
24 Karoline von Günderrode (1780-1806)
25 Wolfgang Borchert (1921-1947)
26 Michail J. Lermontow (1814-1841)
27 Georg Trakl (1887-1914)
Schweigen
28 Henri Alain-Fournier (1886-1914)
29 Heinrich Gottlieb Hermann Conradi (1862-1890)
30 Regine Merkle (1875-1903)
31 Percy Bysshe Shelley (1792-1822)
Zeit
32 Emily Brontë (1818-1848)
33 Walter Rheiner Schnorrenberg (1895-1925)
34 Sergej Alexandrowitsch Jessenin (1895-1925)
35 Schlussendlich... Lili Schnitzler (1909-1928)
Literatur
Impressum neobooks
„Da kam mir der Gedanke,
ich möchte fallen können.“
Georg Heym
Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, den Lesern ein Vorwort zu ersparen – dieses ist es nämlich, das ich selbst, wenn ich ein neues Buch zu lesen beginne, fast immer überspringe, da mich nicht die Gedanken des Autors zu dem Werk interessieren, sondern das Buch an sich. Jedoch komme ich nicht umhin, trotzdem - sozusagen als Aufwärmung (oder aus Angst vor dem Beginnen?) -kurz Anlauf zu nehmen.
Vielleicht ist es auch nur eine Rechtfertigung. Warum befasse ich mich mit der Literatur des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts? Sollte ich nicht lieber die aktuellen Bestsellerlisten hoch- und runterlesen, anstatt mich mit alten Schmökern zu beschäftigen? Nein. Aufgrund des mickrigen Lehrplans in der Schule hatte ich schon immer das Gefühl, etwas – was die Allgemeinbildung anbelangt – nachholen zu müssen, und habe mich so später über Jahre hinweg sehr intensiv mit den Klassikern der Weltliteratur auseinandergesetzt. Festgestellt habe ich dabei, dass mich Werke von Dostojewski, Kafka oder Proust viel tiefer berührt haben als sagen wir mal ein „neuer Frauenroman“, wie er heute zuhauf in Bücherstuben und sogar in Supermärkten zu finden ist.
In dieser Zeit des intensiven Lesens bin ich immer wieder auf Autoren – sehr junge Autoren – gestoßen, die früh und auf tragische Weise das Leben verließen und so ihrem Gesamtkunstwerk lediglich einen Hauch einflößen konnten, und wir heute nur erahnen können, welche große Literatur uns durch ihr frühes Dahinscheiden entgangen ist.
An diese Autoren möchte ich mit meinem Buch erinnern. Beginnen werde ich mit der Romantik, der „Blauen Blume“, da sie der Auslöser für unglaublich viele Suizide unter den Schriftstellern war. Enden werde ich mit dem Expressionismus, denn nicht nur erhöhte Vorstellungen und Ideale, wie sie in der Romantik auftraten, führten zu Verzweiflungstaten – auch der 1. Weltkrieg gebar tragische Gestalten in der Literaturwelt. Kann ein Buch die Welt verändern? Ja – die des Lesers. Und somit hoffe ich, dass ich Ihre Lust auf Bücher, lieber Leser, weiter anfachen kann und Sie vielleicht – so wie ich – auch einen der gleich benannten Schriftsteller in Ihr Herz schließen werden. Auch wenn seines bereits längst erlosch.
Antje Wagner-Kolar
Die geschichtlichen Hintergründe, die viele Autoren zur Lebensphilosophie und Ausdrucksweise der Romantik ge- und verführt hatten, sind nicht nur in der französischen Revolution (1789) und der aufkommenden Industrialisierung mit ihrer einhergehenden Geschwindigkeitszunahme im Alltag zu finden. Nicht zuletzt sind sie auch in der fatalen Erziehungsweise der Kinder verankert. Noch um 1800 wurden die Schüler als ungeformte Masse und nicht als eigenständige Personen betrachtet, was natürlich zu Gegenreaktionen der Jugend in Form von Individualismus um jeden Preis (wenn nicht anders möglich, dann durch den Freitod) führte. Die Erziehungsmethoden der damaligen Zeit waren unglaublich streng, wenn nicht sogar grausam. So waren Lehrer berechtigt, die Schüler zu schlagen und zu demütigen, wenn sie nur glaubten, dass die Kinder entgegen den Vorstellungen der Eltern – heißt: im eigenen Interesse – handelten und somit versuchten, ihnen „die Herrschaft zu rauben“. In der Romantik brach die Jugend das gesellschaftliche Korsett – die Strenge mit all ihren Grenzen – auf und lebte zum ersten Mal das Unbekannte der menschlichen Psyche in der Literatur aus. Das war neu!
Interessant wurde plötzlich alles Nicht-Neue: Es wurde in der Literaturhistorie geforscht (die Gebrüder Grimm erstellten Märchensammlungen aus alten Zeiten, Brentano und Arnim verfassten die Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“). Die mittelalterliche Epoche, ihre im 19. Jahrhundert zu Ruinen verkommenen Burgen und das Ideal der reinen Liebe wurden ein Mittelpunkt der romantischen Literaten. So wie die Gesellschaft nach der französischen Revolution geteilt war, erhofften sich die romantischen Autoren durch Rückbesinnung auf die religiösen, mystischen „Wirklichkeiten“ eine Wiedervereinigung der Bevölkerung. Die Romantik glaubte durchaus an die Macht der Intuition, des Erahnens und an das Reich der Fantasie im Traum. Auch die düsteren Teile der Seele wurden beleuchtet und in der Literatur der damaligen Zeit dargestellt.
Ein weiterer Auslöser der Romantik war nicht zuletzt die gestiegene Bildung der Bevölkerung, die sich nun – dank besserer finanzieller Umstände – Bücher und andere Kunstgegenstände leisten konnte und den Grundstock für die weitere Entwicklung legte. Es entstand eine Melancholie (sie ist in vielen Werken der Romantik zu spüren), deren Ursache u. a. in den Karlsbader Beschlüssen (1819) zu finden ist. Die Karlsbader Beschlüsse waren eine Maßnahme der einflussreichsten Staaten im Deutschen Bund unter der Ägide von Metternich zur stärkeren Überwachung und Bekämpfung liberaler und nationaler Tendenzen – eine Reaktion aus Angst vor erneuten Revolutionen. Dieser Versuch, das Gedankengut der Dichter einzuschränken und zu begrenzen, ließ die romantische Welle nur noch intensiver werden.
Machte nicht zuletzt auch folgender Satz Friedrich Schlegels die Künstler melancholisch?:
„Die Romantik ist ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters. Sie kann immer nur werden, nie vollendet sein.“
Das heißt, es wurde etwas Unerreichbares angestrebt, und an dem Wissen desselben zerbrachen nicht Wenige. Denn die Romantik war hauptsächlich die Zeit der sensiblen Menschen, Künstler, die das Geschehen ihrer Zeit sehr empfindsam wahrnahmen. Es ist gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet in jener Epoche so unzählig viele Suizide geschahen. So hat sich die Zahl der Selbstmorde innerhalb von 50 Jahren fast verdreifacht. Beispiel Preußen: im Jahr 1836 gab es 1.436 Fälle, im darauf folgenden bereits 5.898 (Quelle: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 565-568). Sicherlich sind die Ursachen dieser traurigen Erscheinung nicht nur in den Auswirkungen der Romantik zu finden – trotzdem waren die erhöhten Selbstzweifel und unerreichbare Ideale ein mindestens ebenso großer Anlass für die Entscheidung zum Freitod wie die sozial-politischen Verhältnisse oder ein schlechter Gesundheitszustand. Auch der im 19. Jahrhundert aufkommende Gebrauch von Laudanum – einer Mischung aus Opium und Alkohol, die sogar aufgrund ihrer schmerzlindernden Wirkung von Ärzten verschrieben wurde – führte bei nicht wenigen Dichtern (freiwillig oder unfreiwillig) zu einem frühen Dahinscheiden. Auch Edgar Allen Poe und Percy Bysshe Shelley waren Laudanum-abhängig. Eine weitere Form der Flucht aus der Wirklichkeit?
Der Umgang mit Selbstmördern war in der Gesellschaft klar geregelt. So war es in England noch bis 1832 üblich, die sterblichen Überreste der Selbstmörder, „durch die man einen Stock steckte, durch die Straßen zu ziehen und irgendwo am Wegrand ohne Zeremonie zu verscharren“ (Durkheim 1999, S. 383). Der Holzpflock im Herzen sollte die Seele an den Körper des Verstorbenen binden. Der Aberglaube, dass die Selbstmörder (so genannte „Wiedergänger“) umherirrten und andere zur selben Tat bewegen könnten, führte zu diesem an die Vernichtung von Vampiren erinnerndes Ritual. Sogar eigens für die Toten geschaffene Öffnungen unter der Eingangstür wurden gebaut und anschließend wieder verschlossen, da man glaubte, dass es der Seele des Verstorbenen nur möglich war, auf demselben Wege zurückzukehren.
Die weltflüchtigen Tendenzen der im Anfang des 19. Jahrhunderts ansässigen Künstlergesellschaft sowie die stets vorherrschende Melancholie hatten einen enormen Einfluss auf das Leben der damaligen Zeit. Letztendlich war Goethe der Vater dieser Form. „Die Leiden des jungen Werther“ und ihre bekannten verhängnisvollen Folgen - massenhafte Suizide der jungen Leserschaft - waren eigentlich schon der Beginn der erstmals aufglühenden Gefühle und Leidenschaften der bis dato so in Grenzen und Starrheit gehaltenen Gesellschaft.
Der Kulturzusammenschluss war in der Romantik durch einen regen Gedankenaustausch in häufig von Frauen geführten Salons geprägt. So wurde die Poesie nicht selten vertont (z.B. das Loreley-Gedicht von Heine), und auch in der Malerei wurde das Lebensgefühl der „Romantik“ immer wieder in Vollendung verkörpert.
„Die blaue Blume“ Fritz von Wille (1908)
„Die Blaue Blume ist aber das, was jeder sucht,
ohne es selbst zu wissen,
nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.“
Ricarda Huch
Heliotropien (ein Raublattgewächs, das auch Sonnenwende genannt wird) waren – dank Novalis alias Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801) – die Pflanzen, welche die Romantik verkörperten und immer wieder, ob in Versen oder auf Gemälden, auftauchten. Sie standen für Sehnsucht, Poesie, Schwärmerei und natürlich auch für Liebe in ihrer reinsten Form. Da sie in allen tropischen Gebieten vorkommen, entwickelten sie sich später zum Symbol für die Sehnsucht nach fremden Ländern, zum Symbol der Wanderschaft (die ebenfalls ein Zeichen der Romantik war mit ihrem Fern- und Heimweh zugleich).
In Novalis´ unvollendetem Roman „Heinrich von Ofterdingen“ träumt der Protagonist von einer blauen Blume, die in einer Höhle, deren Wasserbecken er durchschwimmt, ihren Duft verbreitet und ihn so betört, dass er sich ihr nähern will,
„(…) als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing;
die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel,
die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte.“
Durch des Protagonisten Suche nach dieser blauen Blume gelangte er im Laufe der Zeit zur Lebens- und Liebesreife.
Im Symbol der Blauen Blume sind alle Grundbausteine der Romantik zusammengefasst: die Natur, der Mensch (das Selbst) und der Geist. Das Streben nach der Erkenntnis des Ichs durch Nachdenken und persönliche Liebe hätte in keiner schöneren Form dargestellt werden können.
Die Zeit des Biedermeier war vor allem von den Minarchisten und ihrem so genannten „Nachtwächterstaat“ geprägt, wie ihn Ferdinand Lassalle nannte. Soll heißen, dass das Ideal eines Staates – verkörpert durch den Schutz des Eigentums und das Lenken der individualistischen Handlungen durch die Selbstregulierung des Marktes – zu verspotten sei. Da ein Sozialstaat noch nicht existierte, fielen viele Familien aufgrund von Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Alter in eine derartige soziale Not, dass selbst die Kinder arbeiten gehen mussten, um die Familie am Überleben zu halten. Der Liberalismus verlangte, dass jeder für sich selbst zu sorgen hatte – egal um welchen Preis.
Auch die oben schon genannten Karlsbader Beschlüsse fielen in die Zeit des Biedermeier und führten u. a. auch zu den Auflösungen der Burschenschaften und einem misstrauischen Spitzelwesen, das hinter jeder Ecke eine erneute Revolution erwartete. Die Gesellschaft zog sich zurück in ihre private Idylle (sofern vorhanden) und ließ bereits jetzt ein Nationalbewusstsein entstehen, welches später noch ungesunde Auswüchse hervorbringen sollte. Treuherziges Spießbürgertum und die Verehrung der Klassik prägten diese Epoche.
Das Urwerk dieser Zeit ist wohl „Mimili“ von Heinrich Clauren (1815/16). Die eigentlich recht banale Erzählung einer Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Offizier und einer Bergbauerntochter war ein Erfolg auf allen Ebenen und sorgte gleichzeitig für „Skandal“-Ausrufe und endlose Kritiken. Clauren würde den schlichten Roman lediglich durch Erotisierung wieder für die Leser interessant machen. Scheint aber funktioniert zu haben…
Die eigentliche Abgrenzung im Biedermeier von der noch vor kurzem vorherrschenden Zügellosigkeit formulierte Adalbert Stifter als „Sanftes Gesetz“ folgendermaßen:
„[…] So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren, in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit, Bezwingung seiner selbst, Verstandesgemäßheit, Wirksamkeit in seinem Kreise, Bewunderung des Schönen verbunden mit einem heiteren gelassenen Sterben halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes, furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, Feuer speiende Berge, Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird.“ (Vorrede zu Stifters „Bunte Steine“)
Dass Stifter sich 1868 das Leben nahm, indem er sich die Halsschlagader mit einem Messer durchschnitt, steht auf einem anderen Blatt Papier geschrieben und zeigt das Scheitern der „ewigen Harmonie“ auf seine eigene traurige Art.
Das resignierende Volk – es sah, dass es keinen Einfluss mehr auf die Staatsmächte ausüben konnte – entwickelte ein starkes Bedürfnis nach Ordnung, Ruhe und innerem Frieden, ersetzte das freie Gedankentum der Revolutionszeit durch Mäßigung und Unterwerfung. Die Liebe zum Alltäglichen, zum Kleinen, wurde in der Literatur verkörpert: Adalbert Stifters „Der Nachsommer“, Naturgedichte von Eduard Mörike oder Annette von Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ sind typische Werke für diese Zeit, um hier nur einige zu nennen.
Hinter der konventionellen und harmoniegeschwängerten Hülle birst es jedoch schon, es rumort und am Ende des Biedermeiers wird die Märzrevolution stehen.
„Zimmerbild“ Leopold Zielcke (ca. 1825)
Die literarische Epoche des so genannten Vormärzes ist als das Gegenstück zum Biedermeier, als Auflehnung gegen die Duldung der Staatsmacht zu betrachten. Viele politisch engagierte Schriftsteller lehnten die Lebensvorstellung des Biedermeier schlichtweg ab und engagierten sich für Meinungs- und Pressefreiheit ebenso wie für den aufkommenden Sozialismus (à la Saint-Simon: nur mit materieller Gleichheit ist auch eine persönliche Freiheit möglich) und die freie Liebe.
Was die Staatsmächte mit ihrer Unterdrückung und Überwachung des Volkes zu verhindern suchten, lösten sie praktisch selbst aus: das „Junge Deutschland“ forderte eine politische Meinungsbildung der Gesellschaft. Es veröffentlichte oppositionelle Texte und stachelte die Studenten seiner Zeit zu einer neuen Revolution an. Diese Auflehnung erstreckte sich über den deutschen Bund hinaus bis u.a. nach Österreich, Preußen, Ungarn, Italien, etc.
In den deutschen Fürstentümern nahm die Revolution in Baden ihren Anfang und griff innerhalb kürzester Zeit auf die übrigen Staaten des Bundes über. Erreicht wurde so die Aufhebung der Pressezensur und die Bauernbefreiung. Bis dato waren die Bauern immer noch verpflichtet gewesen, wie im Mittelalter Teile ihrer Einnahmen an Grund- und Leibherren abzugeben.
In diesen unruhigen Zeiten entstanden Werke wie Heines „Deutschland ein Wintermärchen“, „Dies Buch gehört dem König“ von Bettina von Arnim oder Georg Herweghs „Gedichte eines Lebendigen“ – ein polemisches Gegenstück zu den „Briefen eines Verstorbenen“ von Hermann von Pückler-Muskau. Auch Ludwig Feuerbachs Einfluss als Philosoph war im literarischen Vormärz nicht unerheblich. „Wissen statt Glauben“, so seine Devise. Der Vormarsch in der Forschung ging einher mit den Unruhen auf den Straßen, auch die Einmischung der Literaten in die Politik führte zu heftigen Diskussionen in der Gesellschaft. Die Frage, ob Politik etwas in der Kunst zu suchen hat, ist praktisch bis heute nicht beantwortet und weiterhin umstritten.
1848 scheiterte die Märzrevolution aufgrund der unterschiedlichen Ansichten der Liberalen und Demokraten, die sich kaum vereinen ließen. Als die Forderungen der Bauern erfüllt waren, kehrten diese der Bewegung ebenfalls den Rücken zu, so dass die Unterstützung von Seiten des Landvolks fehlte. Nicht zuletzt war die provisorische Regierungsbildung nach Friedrich Wilhelm des IV. Ablehnung der Krone durch „Volkes Gnaden“ zum Scheitern verurteilt. Sie hatte weder feste Einnahmen noch eine Verwaltung oder gar ein Heer. Damit verlief die Märzrevolution schon bald im Sande.
Mann der Arbeit, aufgewacht!
Und erkenne deine Macht!
Alle Räder stehen still,
Wenn dein starker Arm es will.
Deiner Dränger Schar erblasst,
Wenn du, müde deiner Last,
In die Ecke lehnst den Pflug,
Wenn du rufst: Es ist genug!
Brecht das Doppeljoch entzwei!
Brecht die Not der Sklaverei!
Brecht die Sklaverei der Not!
Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!
(aus dem „Bundeslied für den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein“, Georg Herwegh)
Der literarische Realismus war sehr gesellschaftskritisch angehaucht und ist als Werkzeug der nun Form annehmenden Objektivität in den Werken seiner Zeit zu sehen. Reale Ereignisse wurden aus Distanz beschrieben und hielten den Lesern den Spiegel der Gesellschaft vor. Diese Art von Gesellschaftsromanen war ebenso typisch für jene Literaturperiode wie es Novellen und auch bäuerliche Romane (z.B. „Waldheimat“ von Peter Rosegger) waren.
Die politischen Verhältnisse dieser Zeit – hier nur kurz angeschnitten, um die Auswirkungen zu verstehen – waren folgende: Seit 1848 regierte die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn unter dem österreichischen Kaiser Franz Josef, 1871 wurde Otto von Bismarck deutscher Reichskanzler. In den Zeiten des Umschwungs und der Neuorientierung entstanden Werke wie das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels, Fontanes „Effie Briest“, Storms „Schimmelreiter“ und der teils autobiografische Roman „Der grüne Heinrich“ von Gottfried Keller.
Auch die Gründerjahre (1865-1873) fallen in diese Zeit. Die Epoche nach der Gründung des deutschen Kaiserreichs war geprägt von zahlreichen Entstehungen von Unternehmen und Aktiengesellschaften, das Schienennetz wurde ausgebaut, und immer mehr privates Kapital wurde in die Wirtschaft investiert. Die Elektrizität wurde erfunden. Kriege wurden geführt (z.B. der preußisch-österreichische 1866 und der deutsch-französische Krieg 1870/71), die Weltwirtschaftskrise nahm ihren Lauf.
Zu realisieren, dass die einstige Weltvorstellung der Romantik nichts (mehr) mit dem Alltag und seinem Werdegang zu tun hatte, ließ viele Künstler innerlich zerbrechen. Eine Welt brach buchstäblich zusammen, die Revolution war gescheitert. Nicht ohne Grund ist die Selbstmordrate während der Jahre 1856–1861 enorm gestiegen, die Zahl der Suizidalen extrem hoch, wie die folgende Statistik – hier ein Beispiel aus Frankreich – zeigt:
Statistische Tabelle der Selbstmorde in Frankreich 1856-61: