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Das Buch

Auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 stellte Brinkmann die entscheidende Frage, deren Beantwortung zur Öffnung der Mauer führte. Da dies weder vom Fragesteller noch vom Antwortgeber so gedacht war, wie es dann kam, kann man von einem Treppenwitz der Geschichte sprechen.

Doch es war kein Witz, wohl aber Geschichte. Gemeinhin berichten Journalisten darüber, was zu Historie erst wird, bei Brinkmann ist das anders: Er selbst wurde damit Geschichte.

Doch nicht nur an jenem Tag entlockte er Politikern Aussagen, die sie nicht machen wollten. Auch in der Folgezeit kommt er den Personen nahe, die inzwischen in den Geschichtsbüchern stehen. Dabei nimmt er nur das eine Jahr von Herbst ’89 bis Herbst ’90 in den Blick und berichtet über Ereignisse und Personen, die uns nicht nur die Zeit vor einem Vierteljahrhundert lebendig werden lassen, sondern auch erklären, warum vieles so wurde, wie es heute ist im vereinigten Deutschland. Inzwischen lebt eine Generation neben uns, die das zweigeteilte Land nur noch vom Hörensagen kennt.

Der Autor

Peter Brinkmann, Jahrgang 1945, geboren und aufgewachsen in Cloppenburg. Nach dem Abitur Bundeswehr von 1966 bis 1968 (Oberleutnant), danach, bis 1975, Studium Jura, Politik und Volkswirtschaft in Innsbruck, Münster, Hamburg und Lüneburg. Von 1975 bis 1980 journalistische Tätigkeit in Bonn (Die Welt), danach in Hamburg (bis 1987 Bild, bis 1989 Hamburger Morgenpost). 1989 wieder Bild, zunächst Ressortleiter Wirtschaft, dann akkreditierter Korrespondent in der DDR bis zu deren Ende. Anschließend Deutschland-Korrespondent der Bild in Berlin, dann Bonn, 1992 Büroleiter der Bild-Bonn.Von 1992 bis 1994 Chefreporter der Bild für internationale Politik (Israel, Russland, Uganda, Namibia, Kuba, Südafrika, Iran – im Januar 1993 in Bagdad bei US-Raketenbeschuss verletzt). Nach verschiedenen Beratertätigkeiten von 1998 bis 2010 Chefkorrespondent des Berliner Kurier, seither freier Journalist und Moderator bei TV Berlin.

Peter Brinkmann lebt in Berlin-Mitte und ist Vater von drei Söhnen.

Impressum

ISBN eBook 978-3-360-51027-3

ISBN Print 978-3-360-01860-1

© 2014 edition ost im Verlag Das Neue Berlin

Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin,

unter Verwendung eines Screenshots des DDR-Fernsehens auf der Pressekonferenz am 9. November 1989 in Berlin

www.edition-ost.de

Fotos: (soweit nicht anders angegeben) Archiv Brinkmann

Peter Brinkmann

Zeuge vor Ort

Korrespondent in der DDR ’89/90

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Dieses Buch ist kein wissenschaftliches Geschichtsbuch, sondern eine Dokumentation. Es ist mein Erlebnisbuch aus der spannendsten Zeit meines Journalistenlebens – als Korrespondent der Bild-Zeitung in der DDR und später als Korrespondent beim Berliner Kurier.

Beiden Chefredakteuren, Hans-Hermann Tiedje von Bild und Hans-Peter Buschheuer vom Berliner Kurier, sei hier gedankt für diese herausragende Möglichkeit in geschichtsträchtiger Zeit.

Peter Brinkmann

9. November 1989: ein grauer Novembertag

Die ersten sind schon gegangen. Es ist einfach langweilig im Internationalen Pressezentrum der Deutschen Demokratischen Republik (IPZ). Bis der Zeiger der Uhr auf 18.53 Uhr vorrückt. Von dieser Sekunde an wird in Berlin-Mitte Geschichte geschrieben.

400 Meter entfernt tagt das ZK der SED unter Vorsitz des Generalsekretärs Egon Krenz. Im IPZ in der Mohrenstraße1 hält Politbüromitglied Günter Schabowski, einer der mächtigen Männer in der DDR, eine Pressekonferenz ab. Der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschland, geboren 1929 und seit 1952 in der SED, liest seit 18 Uhr vor, was im Zentralkomitee am heutigen 9. November 1989 diskutiert worden ist. Es geht um einen Parteitag, Veränderungen in der SED und in der DDR. Vom »Reisegesetz«, das die letzten 72 Stunden die Diskussion in der DDR bestimmt hatte, kam bisher kein Wort.

Wir Journalisten fragen nach Abschaffung der Zensur, Veränderungen in der Partei und dergleichen. Ich will drei Fragen stellen, die letzte zum Reisegesetz. Doch ich komme nicht zum Zuge. Ich arbeite für die Bild in Hamburg als »Reise-Korrespondent«. Mein hochgestreckter Arm wird von Günter Schabowski geflissentlich übersehen.

Da kommt die Frage nach dem Reisegesetz, die ich auf der Zunge hatte. Niemand ahnt jetzt, was Schabowski in diesen Sekunden in Gang setzen wird.

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Während der Pressekonferenz im IPZ am 9. November. Vorn auf dem Podium Gerhard Beil, Günter Schabowski, Manfred Banaschak und Helga Labs (v.r.n.l.). Brinkmann in der ersten Reihe dreht sich um. Sitzend auf dem Podest Riccardo Ehrman

Zwei Tage zuvor, am 7. November, erhielt ich einen Anruf vom Staatssekretär beim Senator für Wirtschaft in Berlin. Mit Jörg Rommerskirchen hatte ich vor Jahren als Schifffahrtsreporter der Bild in Hamburg immer gut zusammengearbeitet. Er war zu jener Zeit Senatsdirektor der Freien und Hansestadt und Chef für das Amt Hafen. Und nun arbeitete er als Staatssekretär beim Berliner Wirtschaftssenator, und ich saß als Ressortchef Wirtschaft in der Redaktion in Hamburg am Schreibtisch.

»Du, es tut sich was, wir haben gerade ein Telex aus dem Osten bekommen«, sagte er am Telefon. »Wir sollen bis zum 10. November eine Arbeitsgruppe, genauer gesagt: eine Projektgruppe Tourismus nach § 8 der Durchführungsverordnung Absatz 1, bilden, um den Reiseverkehr zwischen Berlin Ost und West zu regeln.«

Hä? Meine simple, aber wohl verständliche Frage lautete: »Was heißt das?«

Seine Antwort war etwas unsicher: »Das heißt wohl, dass die da drüben die Mauer etwas durchlässiger machen wollen. Sieh zu, dass du hier bist. Ich weiß nicht genau, was die vorhaben. Könnte ja auch mehr werden. Auf jeden Fall werden sie Reisen erlauben, aber wohl mit Einschränkungen.«

Was wir alle damals nicht wussten: dass der am 18. Oktober ins Amt gekommene SED-Generalsekretär Krenz angewiesen hatte, eine neue Reiseregelung vorzulegen, weil der am 6. November, dem Montag, veröffentlichte »Reisegesetzentwurf« auf massive Ablehnung gestoßen war. Auf den Montagsdemonstrationen skandierten in etwa einem halben Hundert DDR-Städten die Menschen: »365 Tage Reisefreiheit und nicht 30 Tage Gnade.« Zudem war die Finanzierung nicht klar. Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski2 hatte in Bonn zwei Mal mit Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble über die Bereitstellung von etwa 300 Millionen D-Mark gesprochen, aber war abgeblitzt. Auch ohne dass dies bekanntgeworden war, hieß es im Osten sarkastisch: »In 30 Tagen um die Welt, allerdings ganz ohne Geld.«

Krenz würde gewiss auf dem für den 9./10. November angekündigten ZK-Plenum ein neues Reisegesetz präsentieren, so jedenfalls war zu vermuten, nachdem er sich mit dem ersten »Entwurf« eine solche Abfuhr eingehandelt hatte. Was wir nicht wussten: Eine Arbeitsgruppe des Ministeriums des Innern (MdI) unter Leitung von Oberst Gerhard Lauter saß am 8. November an einem solchen Papier.3

In Hamburg und auch in der Bild-Redaktion Berlin wollte mir keiner so recht folgen, als ich – nach dem Anruf von Rommerskirchen – erklärte, dass es Bewegungen in dieser Sache geben würde. Ich bedrängte nach der erkennbaren Skepsis jedoch Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje, mich nach Berlin fahren zu lassen. Der schüttelte den Kopf. »Was willst du da? Mach deine Wirtschaft.«

Ich gab nicht auf und nervte ihn weiter. »Irgendwas ist im Gange, ich habe so meine Informationen. Es kann sein, dass die Mauer ein stückweit aufgeht. Lass mich fahren.«

Ich muss hier nicht erklären, welchen Stellenwert »die Mauer« im Selbstverständnis unserer Zeitung hatte. Von den vom Verlagsgründer Springer formulierten vier Grundsätzen lautete der erste: unbedingtes Eintreten für die Wiederherstellung der deutschen Einheit. Das schloss die Überwindung des Symbols der Teilung – die Berliner Mauer – zwingend ein. Demonstrativ hatte er in den 60er Jahren ein Verlagshochhaus in unmittelbarer Nähe der Grenze in Berlins Mitte errichten lassen.

Schließlich gab Tiedje meinem fortgesetzen Drängen nach und am Donnerstagmorgen grünes Licht. Ich fuhr 10 Uhr in Hamburg los, passierte die Grenze bei Gudow gegen 11 Uhr und sagte den beiden Grenzbeamtinnen ein wenig vollmundig, was aber zum Stil unseres Hauses gehörte: »Heute Abend ist der Spuk vorbei!«

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Visum, ausgestellt und eingereist am 9. November 1989

Sie tippten sich demonstrativ mit dem Finger an die Stirn.

Um 14 Uhr traf ich in Berlin ein und fuhr direkt ins Pressezentrum in die Mohrenstraße. Dort ging gerade eine Pressekonferenz mit Ministerpräsident Johannes Rau4 aus Nordrhein-Westfalen zu Ende. Ich wechselte mit seinem Staatssekretär Wolfgang Clement5 einige Worte. Ein Jahr zuvor noch war Clement mein Chefredakteur bei der Hamburger Morgenpost gewesen, er kehrte in die Politik zurück und ich zu Bild. Rau und Clement hatten, wie ich merkte, keine Ahnung, obwohl sie vorher mit Egon Krenz gesprochen hatten. Ich plauderte mit Wolfgang Clement und versuchte herauszufinden, ob er nur unwissend tat oder wirklich nichts wusste. Er wusste nichts. Der neue erste Mann der DDR hatte kein Wort über das Reisegesetz verloren oder diesbezügliche Andeutungen gemacht.

Egon Krenz sagte mir viel, viel später, er habe überlegt, ob er Rau einweihen solle. Doch er habe befürchtet, dass sie es ausplaudern würden, was er nicht wollte. Also schwieg er.

Um 15 Uhr verabschiedeten sich Rau und Clement und fuhren nach Leipzig. Nur einer blieb im Saal zurück – ich.

Ich reservierte mir in der ersten Reihe links den Platz am Mittelgang, indem ich meine Jacke über den Stuhl legte. So ein Platz war aus zwei Gründen wichtig: Erstens konnte man den Leuten auf dem Podium in die Augen sehen, zweitens bei Notwendigkeit sofort und mühelos nach draußen gelangen, um etwa zu telefonieren. Nachdem ich mir also die ideale Ausgangsposition für die angekündigte Pressekonferenz mit Günter Schabowski gesichert hatte, ging ich in das Restaurant in der Etage darüber, um zu »horchen«.

Dort trafen Journalisten zwanglos aufeinander, und seit Beginn der Veränderungen in der DDR, was später mit »Wende« bezeichnet werden sollte, wurden es stetig mehr. Der Ort war zu einer Nachrichtenbörse für Presseleute geworden. In den folgenden Wochen nutzten dies auch Politiker und andere Personen, die sich für wichtig hielten. Darunter war übrigens auch Markus Wolf, der 1986 ausgeschiedene Chef des Auslandsnachrichtendienstes der DDR.6 Seither reüssierte er als Schriftsteller, und zur Verwunderung aller hatte er am 4. November auf der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz gesprochen und sich damit wieder ins Spiel gebracht. Er suchte das Gespräch mit uns Journalisten. Zu sagen hatte er aber nicht viel. Das merkte man sehr schnell. Ich hielt ihn für einen Wichtigtuer. Dennoch waren alle an einem Gespräch mit ihm interessiert, weil jeder annahm, dass er vielleicht doch mehr wisse, als er in großer Runde zum Besten gab.

Auch ich, natürlich, interviewte ihn im Presseclub. Das Gespräch erschien am 18. November in der Bild. Er sagte mir: »Ich glaube nicht an die Wiedervereinigung. Die Mehrheit hier in der DDR will das ohnehin nicht. Lassen Sie also den penetranten Versuch, uns die Wiedervereinigung einzureden. Ich sehe selbst nach freien Wahlen in der DDR keine Regierung, die auf Vereinigungskurs gehen könnte. Die SED ist eine starke Partei. Sie sucht sich auch nach den Wahlen kein neues Volk.«7

Auf dem Außerordentlichen SED-Parteitag am 8./9. Dezember und eine Woche später auf dessen zweiter Tagung saßen wir oft zusammen. Wolf nannte mich spöttisch seinen »Schatten«. Was zutraf: Ich ließ ihn, wie alle anderen SED-Größen, nicht mehr aus den Augen. Aber das war wechselseitig. Wann immer er mich sah, kam er auf mich zu, fasste mich am Kragen und sagte grienend zu seiner Umgebung: »Passt auf den Brinkmann auf, der hat überall Mikrofone, um aufzuzeichnen, was wir reden.«

Am Samstagvormittag des 8. Dezember, nach der Nachtsitzung des Parteitages, auf der über die Auflösung oder die weitere Existenz der SED diskutiert und für deren Fortbestand schließlich votiert worden war, tranken Wolf und ich einen starken Kaffee. Er war nach dem Marathon erschöpft und müde wie ich auch. Ich gab der SED8 keine Zukunft. Er widersprach und schlug eine Wette vor. Er setze eine Kiste Champagner (»Mein lieber Schatten: Der Champagner muss gut und trocken sein, kein Rotkäppchen-Sekt«), dass bei den Volkskammerwahlen, die es in absehbarer Zeit geben würde, seine Partei mindestens 15 Prozent bekommen werde. Ich hielt dagegen und sagte: »Keine zehn Prozent!«

Ich verlor die Wette. Bei den Wahlen am 18. März 1990 bekam die PDS 16,3 Prozent, das waren 66 der 400 Volkskammermandate.

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Markus Wolf erinnerte mich noch am Wahlabend an die verlorene Wette, die ich mit ihm 1989 geschlossen hatte. Entgegen meiner Prognose war seine Partei doch über zehn Prozent gekommen

Wir trafen uns wiederholt in seiner kleinen Neubauwohnung im Nikolaiviertel mit Blick auf die Spree. Das Quartier in den beiden Obergeschossen des Plattenbaus, nur über Treppe zu erreichen, hatte Wolf aufwendig nach seinen Wünschen ausstatten lassen, was seinen Minister, wie er mir erzählte, sehr erregt habe. Der Luxus war, gemessen an den bei uns geltenden Regeln, im Prinzip keiner, aber für DDR-Maßstäbe war’s beachtlich.

Zum letzten Mal trafen wir uns dort am Dienstag, dem 25. September 1990. Frau Andrea und sein jüngster Sohn waren auch da. Wolf hatte Angst, er fürchtete, nach dem 3. Oktober festgenommen zu werden. Wir tranken Wasser. Zunächst. Sein Gesicht war gerötet, er rauchte. Immer wieder stellte er mir die gleiche Frage: »Soll ich mich am 3. Oktober stellen oder nicht?« Seit Juni gab es einen Haftbefehl im Westen.

Ich schrieb über diese Begegnung damals in der Bild: »Der Kaffee dampft. Der Streuselkuchen ist frisch. Mischa Wolf und seine hübsche Frau Andrea haben mich zum Kaffee eingeladen. Zum letzten Mal? Ich frage ihn: ›Wollen Sie weg?‹

Wolf: ›Nein, wohin denn auch? In der Sowjetunion war ich im Exil. Da war ich fast so alt wie mein Sohn jetzt. Nein, in die Sowjetunion gehe ich nicht, will ich nicht. Es hätte keinen Sinn. Und ich will es meiner Familie auch nicht zumuten.‹ Pause. Dann, mit leiser Stimme: ›Und in einigen Jahren ist es dort auch vorbei. Es wäre ganz sinnlos.‹

Wir reden über den 3. Oktober. Es sind nur noch wenige Tage. ›Werde ich verhaftet?‹, fragt er mich.

›Keine Frage, Sie werden‹, sage ich ihm. Er raucht. Lange Jahre hat er es nicht mehr getan. Jetzt ist er nervös. Trinkt auch ein Glas Wein, ein Bier. Seine junge, hübsche Frau Andrea besorgt: ›Mischka, trink nicht so viel.‹ Sie nennt ihn Mischka, andere Mischa.

Er setzt brav das Glas ab.

Wir plaudern. Dann fragt er mich. ›Was also soll ich tun?‹

Ich: ›Stellen Sie sich, ich gehe mit Ihnen.‹«

Keine Frage: Ich wollte die Geschichte, ich bin Journalist. Wenn die Handschellen klicken, möchte ich exklusiv dabeisein. In dem Mediengeschäft zählt die Erstinformation.

»Wolf nachdenklich: ›Warum nicht? Ich rede mit meinen Anwälten.‹«

Wolfs Anwälte saßen in Hamburg, schätzten weder Bild noch den Springer Verlag, dealten am liebsten mit Gruner & Jahr, dem Stern oder dem Spiegel. Ich aber wollte Wolf für uns, für Bild. Konsultierte er erst seine Anwälte, hatte ich schlechte Karten.

Und weiter in meinem Zeitungstext:

»Wir reden. Immer wieder über das gleiche Thema. Freunde kommen, seine Söhne. Es ist ein Abschied. Was sonst.«

Ich insistierte: »Stellen Sie sich!«

Ehefrau Andrea intervenierte auf ihre Weise. »Mischka, wie lange wird das dauern? Wann kommst du zurück?« Nach Moskau aber wollte auch sie nicht. Ein wenig kryptisch sagte er, er wüsste einen sicheren Platz. Dort, wo er auch noch Akten habe. Dann kam Wolf auf Österreich zu sprechen. »Liefern die aus?«, erkundigte er sich. Ich wusste es nicht. Zwischendurch klingelte das Telefon. Ein Anruf aus Israel. Fluchtvorbereitungen? Eher nicht, Markus Wolf schien entschieden zu haben, sich der westdeutschen Justiz zu stellen. Wir vereinbarten: Wenn er den Schritt gehe, würde er mich zuvor anrufen. Montag, der 1. Oktober, wäre zum Beispiel ein guter Tag, um 11 Uhr morgens beim Ermittlungsrichter in Karlsruhe anzuklopfen.

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Ende April 1990 flanierte ich noch mit Andrea und Markus Wolf auf dem Boulevard Unter den Linden. Dann war er weg. Aus der Verabredung, ihn nach Karlsruhe zu begleiten, wurde nichts (© Kaufhold)

Am Donnerstag, am Nachmittag des 27. September, rief er mich an und sagte nur, es bliebe bei unserer Abmachung. Dann legte er auf. Und war weg. Spurlos verschwunden, der Meister der Konspiration hatte mal wieder ein Lehrstück geliefert.

Markus Wolf tauchte in der Sowjetunion auf, blieb dort bis 1991. Sein Antrag an die Republik Österreich, ihm politisches Asyl zu gewähren, war in Wien abgelehnt worden. Ein angebliches Angebot der CIA, ihn in die USA zu bringen und vor dem Zugriff der deutschen Behörden zu schützen, lehnte er ab. Einzige Quelle für diese ausgeschlagene Offerte: er selbst. Mit dem heutigen Wissen würde ich es nicht mehr ausschließen wollen, dass es sich so zugetragen haben könnte. Damals jedoch hielt ich es für eine Ente.

Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte Wolf 1993 wegen Landesverrats in Tateinheit mit Bestechung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Das Urteil wurde vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben: Welches Land sollte er verraten haben? Die DDR, deren Bürger er bis zum 2. Oktober 1990 war? Die Karlsruher Verfassungsrichter urteilten logisch und folgten den weit verbreiteten ideologisch motivierten Vorstellungen nicht.

Doch zurück zum Ort des Geschehens, dem Internationalen Pressezentrum in der DDR-Hauptstadt, die schon bald, wie alle Institutionen in diesem Lande, mit der Vorsilbe »Noch-« geschmückt werden würde. Doch das liegt augenblicklich in der ungewissen Zukunft, ich warte lediglich auf ein neues Reisegesetz.

Am 31. Oktober hatte, wie ich hinter vorgehaltener Hand erfahre, DDR-Innenminister Friedrich Dickel Krenz einen Entwurf vorgelegt – und war damit auf einhellige Ablehnung im Politbüro gestoßen. Dickel stellte fest, dass sein Entwurf noch einmal durch Ministerpräsident Willi Stoph verändert und damit verschärft worden sei. In § 6 solle es geheißen haben: Zum Schutz der nationalen Sicherheit können Reisen versagt werden. Ich kommentierte in der Bild: »Im Klartext: Wieder lag es am Staat = Stasi zu sagen, wer reisen darf oder nicht.«

Krenz erkannte den Rückschritt und verlangte einen neuen Entwurf. Der war am 3. November fertig. »Danach konnte jeder DDR-Bürger grundsätzlich reisen. Sein Antrag darf nur im Ausnahmefall abgelehnt werden. 15 DM (!) kann er im Verhältnis 1:1 Mark der DDR umtauschen. Das würde die DDR im Jahr bei ca. drei Millionen Reisenden rund 45 Millionen DM kosten, hatten die Bürokraten errechnet. 15 DM – das hätte gerade am ersten Tag in Westdeutschland für eine Cola plus Brötchen für vier Personen gereicht. Und dann?«

Am Abend des 31. Oktober 1989 flog Egon Krenz nach Moskau. Ob er das Schürer-Papier9 dabei hatte, weiß ich nicht. Er sprach mit Gorbatschow offen über die Lage in der DDR und wollte dessen Hilfe erbitten. Der sagte laut Protokoll: »So schlimm habe ich mir die Lage nicht vorgestellt.« Und tat nichts. Hier ein Auszug aus einem Bericht10 über das Gespräch: »Was Krenz dann erläuterte, war dennoch ein Schock für Gorbatschow. Die DDR, eröffnete er ihm, werde Ende 1989 mit 26,5 Milliarden Dollar im Westen verschuldet sein, und die Devisenbilanz weise ein Defizit von 12,1 Milliarden Dollar auf. Allein die Zinszahlungen, fuhr Krenz fort, beliefen sich auf 4,5 Milliarden Dollar, was 62 Prozent des jährlichen Exporterlöses der DDR in Devisen entspreche.

Die DDR lebe über ihre Verhältnisse, und das schon seit Anfang der 70er Jahre. Wenn man ausschließlich die eigene Leistung zugrunde legte, würde der Lebensstandard sofort um dreißig Prozent sinken.

Krenz brauchte Kredite. Er hatte schon daran gedacht, sich an den Internationalen Währungsfonds (IWF) zu wenden, glaubte aber, dass eine ›äußerst ungünstige politische Situation‹ eintreten könnte, wenn der westlich dominierte IWF Einfluss auf die ostdeutsche Wirtschaft bekäme.

Gorbatschow riet Krenz, der Bevölkerung mitzuteilen, dass man über seine Verhältnisse gelebt habe. Die Sowjetunion werde weiterhin die lebensnotwendigen Rohstoffe liefern. Wichtig sei auch die Fortführung der ›prinzipiellen und flexiblen Politik‹ gegenüber der Bundesrepublik. Die offensichtliche Gefahr bestand darin, dass der Westen die Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft ausnutzen könnte, um auf die Vereinigung Deutschlands zu drängen. Gorbatschow war jedoch zuversichtlich, dass diese Absicht auch bei anderen auf Widerstand stoßen würde.

Die Fragestellung nach der Einheit Deutschlands wurde von ihnen allen als äußerst explosiv für die gegenwärtige Situation betrachtet. Die DDR solle versuchen, von anderer Seite wirtschaftliche Hilfe zu erhalten – nicht nur von der Sowjetunion. Diese könne, wie Gorbatschow zugab, ökonomisch wenig tun. Aber sie könne helfen, Unterstützung aus dem Westen zu bekommen. Ungarn und Polen seien auf diesem Gebiet bereits sehr aktiv.

Gorbatschow wechselte dann das Thema. Die Zeit sei reif, sagte er, um eine zufriedenstellende ›Formel‹ für das Reise- beziehungsweise Flüchtlingsproblem zu finden. In der bundesdeutschen Politik werde die nationale Frage stark in den Vordergrund gerückt. Krenz erwiderte, dass bereits ein Programm zum Umgang mit dem Flüchtlingsproblem vorliege. Die DDR werde den Schusswaffengebrauch an der Grenze abstellen, und das Politbüro habe den Entwurf eines neuen Reisegesetzes verabschiedet, der noch vor Weihnachten von der Volkskammer angenommen werden solle. Er eröffne nahezu allen DDR-Bürgern die Möglichkeit, einen Pass und ein Ausreisevisum für Reisen in alle Länder zu erwerben. Man könne zwar das Reisen erlauben, aber nicht die Ausfuhr konvertierbarer Währung. Die Deviseneinnahmen reichten nicht aus, um DDR-Reisende mit Valuta auszustatten.«

Hilfe für die DDR bekam Krenz in Moskau also nicht. Die DDR stand allein da. Was Krenz nicht wusste: Auch er selbst war allein. Der Kreml setzte nicht auf ihn, sondern baute auf Hans Modrow11, den Dresdner Parteichef. Dieser sollte Mitte November zum Premierminister berufen und mit der Regierungsbildung beauftragt werden.

Gorbatschow hatte auch Bundeskanzler Helmut Kohl signalisiert: Krenz ist ein Mann des Überganges und kein Verhandlungspartner.

Das Reisegesetz war am Wochenende nach der Moskau-Reise von Krenz noch nicht fertig und publiziert. Ich berichtete in meiner Zeitung: »Die Bevölkerung kocht. Auf dem Alexanderplatz in Berlin kommt es am 4. November zur größten Demonstration in der Geschichte der DDR. Nun übernimmt die Straße die Initiative. Die SED bewegt sich wie eine Schnecke, das Volk aber will rennen.

Über eine Million Menschen kommen auf den Alexanderplatz. 26 prominente DDR-Bürger und Funktionäre sprechen. Und das bisher Unfassbare geschieht: Die SED-Bonzen, unter ihnen Politbüromitglied Günter Schabowski und Ex-DDR-Spionagechef Markus Wolf, werden ausgepfiffen. Dann Jubel, als Stefan Heym sagt: ›Diese Gesellschaft ist von Demagogie, Bespitzelung, Entmündigung und auch Verbrechen gekennzeichnet.‹ Die Schriftstellerin Christa Wolf ruft aus: ›Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht mehr weg.‹«

Im Restaurant im IPZ sehe ich einige Mitarbeiter des Außenministeriums. Auf meine Frage reagieren sie ein wenig unwirrsch, genervt, obgleich sie sonst immer bemüht waren, Normalität und Souveränität zu demonstrieren. Ja, es werde ein Reisegesetz geben. Natürlich, der Führung seien die Sorgen der Bürger bekannt. Jaja, Egon Krenz werde das schon machen, das ZK tage. Warten Sie es ab. Haben Sie ein wenig Geduld. Nachher werde Günter Schabowski auf der Pressekonferenz die Beschlüsse vorstellen und erläutern …

Sie wissen nichts und wirken unwissender als ich. Gibt es nun ein Reisegesetz ohne jede Einschränkung? Jener, den ich frage, schüttelt den Kopf. »Dann können wir ja gleich die Mauer abreißen«, antwortet er barsch.

»Ja, eben, gute Idee«, griene ich zurück.

»Völlig unmöglich.«

Gegen 17 Uhr gehe ich hinunter in den Saal. Immer mehr Kollegen füllen die Reihen. Ich beziehe meinen Logenplatz in der ersten Reihe. Ein Kollege aus Wien fragt, ob der Platz neben mir noch frei sei. Selbstverständlich.

Kurz vor 18 Uhr schwebt endlich »die Wolke« herein. Allen voran, durch den Mittelgang, schreitet der bullige Schabowski, die Schulter wie gewohnt schief, die Winkel des schmallippigen Mundes nach unten gezogen – eine Mimik, die Politiker aus Ostdeutschland zu präferieren scheinen. Dem neuen starken Mann im Politbüro folgt Gerhard Beil, der alsbald rechts neben Schabowski auf dem erhöhten Podium Platz nehmen wird. Die beiden anderen kenne ich nicht. Es ist Manfred Banaschak, Chefredakteur der Einheit, die Frau wird als Helga Labs, Mitglied des Zentralkomitees, vorgestellt und ist vermutlich wie die anderen nur schmückendes Beiwerk, um der Veranstaltung den Charakter einer One-Man-Show zu nehmen, die sie aber zweifellos ist. Alle Fragen gehen an Schabowski, der wie gewohnt schlagfertig und mürrisch, aber auf Dauer eben doch ermüdend, reagiert.

Dabei, wie sich später herausstellt, hat er überhaupt nicht an der Sitzung des Zentralkomitees teilgenommen, über deren Verlauf er so wortreich schwadroniert.

Wo war Schabowski?

Später habe ich ihn wie auch Gerhard Beil wiederholt danach befragt. Schabowski sagte, er habe den ganzen Nachmittag in Gesprächen mit Journalisten zugebracht. Bis heute allerdings hat sich nicht ein einziger Journalist gemeldet, der mit Schabowski am Nachmittag des 9. November ein Gespräch geführt haben will.12 Gerhard Beil hingegen wollte Schabowski draußen, vor dem ZK-Gebäude, im Gespräch mit wütenden Bürgern und Bauarbeitern gesehen haben.

Am 9. November versammelten sich keine protestierenden Bauarbeiter vorm ZK, wohl aber am Tag zuvor.

Wo also war Schabowski am Nachmittag des 9. November? Die Frage ist bis heute unbeantwortet. Wenn sie geklärt sein sollte, muss die Geschichte gewiss nicht umgeschrieben werden, aber vielleicht trüge dieses Wissen zu unser aller Erhellung ein wenig bei.

Wir hören, zunehmend schläfriger werdend, dem Wortgeplätscher zu, und fast beginne ich bei Tiedje Abbitte zu leisten. Hatte ich die Zeichen falsch gedeutet? Der am Montag veröffentlichte Entwurf des Reisegesetzes, der erkennbar die Menschen auf die Barrikaden trieb, hatte den landesweiten Unmut neuerlich anschwellen lassen. Am Abend präsentierte das DDR-Fernsehen, offenbar zur Beruhigung, einige der Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Personen in einer Art Talkshow, etwa einen 39-jährigen Oberst der VP, der als Leiter der Abteilung Pass- und Meldewesen des MdI vorgestellt wurde. Ein Sachse, natürlich. Und einen kleinen, kahlköpfigen Rechtsanwalt aus Berlin mit kreisrunder John-Lennon-Brille, der mit wachsendem Vergnügen den am Morgen veröffentlichten Gesetzentwurf in der Luft zerriss. Zehntausende hätten sich über diesen Schwachsinn mit Recht mokiert, sagte er (am Ende sollen es mehr als 80.000 schriftliche Beschwerden, in der DDR Eingaben genannt, gewesen sein, die das MdI als vorgeblicher Schöpfer des Gesetzes erhielt). Was sei das für eine »Freiheit«, die nach Gutdünken erteilt oder verweigert werden könne, zürnte der Anwalt.

Anderentags hatte der Rechtsausschuss der Volkskammer reagiert und den Entwurf als unzureichend zurückgewiesen. Dann war eilig eine vierköpfige Arbeitsgruppe unter der Leitung jenes VP-Oberst berufen worden. Dieser Gerhard Lauter, heute nahezu erblindet, sollte zwei Jahrzehnte später sehr detailliert über ihre kollektive Arbeit und deren Abnahme berichten.13 Insider beurteilten seine Darstellung kritisch, unterstellten dem Autor Selbstüberschätzung und Wichtigtuerei, die seinerzeitige Organisations- und Befehlsstruktur hätte einen solchen – nun, nennen wir es ruhig so – Alleingang überhaupt nicht erlaubt. Doch erstens existiert nur diese eine Quelle und zweitens befanden sich alle Strukturen am Beginn ihrer Auflösung. Ich sehe keinen Grund, den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Lauter grundsätzlich infrage zu stellen.

Lauter wollte jeden und jede ohne Bedingungen und Fragen reisen lassen. Niemand in der Arbeitsgruppe sah es anders. Und so fügten sie in den Entwurf, den die beiden MfS-Offiziere Krüger und Hubrich mitgebracht hatten, den harmlos klingenden Satz ein: »Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen (Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse) beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt.«

»Wir einigten uns darauf, drei Dokumente zu erstellen: eine politische Entscheidungsvorlage für die SED-Führung, einen Entwurf für eine Rechtsordnung des Ministerrates, um überhaupt zu einer gewissen Rechtsgrundlage zu kommen, und eine Presseerklärung für ADN, die amtliche Nachrichtenagentur, versehen mit einer Sperrfrist zum 10. November, 4.00 Uhr«14, erinnerte sich Lauter. Denn ihm und den anderen war durchaus bewusst, dass die Grenztruppen, die Volkspolizei, der Zoll und das Verkehrswesen etwas Zeit brauchten, um sich auf den Ansturm vorzubereiten. Völlig vergessen jedoch hatten sie die Vier Mächte, die unverändert in Berlin das Sagen hatten, und das Bündnis: die DDR-Westgrenze war schließlich auch die Westgrenze des Warschauer Paktes und die Ostgrenze der NATO. Ein solches Reisegesetz, wie sie es formulierten hatten, tangierte zwangsläufig internationale Fragen.

Daran dachten jedoch auch andere nicht. Egon Krenz, der die Beschlussvorlage im ZK in einer Beratungspause vortrug, so wenig wie die Anwesenden, die uneingeschränkte Zustimmung erteilten. Lauters Chef, Friedrich Dickel, rief ihn am frühen Nachmittag aus dem Großen Haus, wie das ZK unter den Genossen hieß, an und sagte: »Deine Sache ist so beschlossen. Ende.«15

»Deine Sache«?

Vermutlich irrte der Autor des Beitrages, mit dem die Frankfurter Allgemeine Zeitung an den Mauerfall erinnerte, keineswegs, wenn er 24 Jahre danach mutmaßte: »Unklar ist bis heute, ob irgendjemand im Zentralkomitee, ja ob selbst Krenz den Text überhaupt verstanden hat. Die Überschrift lautet gemäß dem ursprünglichen Arbeitsauftrag: ›Zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die CSSR wird festgelegt …‹ Vermutlich gingen alle Beteiligten davon aus, dass das Papier lediglich wie vereinbart die ständige Ausreise und nicht die Besuchsreisen regelt, die Lauter und seine Runde in den ersten Absatz eingefügt haben.«16

Schabowski schwafelt und schwafelt. Ich frage nach der Änderung der Zensurbestimmung, andere Kollegen stellen nicht minder belanglose Fragen. Die Pressekonferenz wird live vom DDR-Fernsehen übertragen, umso erstaunlicher, dass nicht einer der Anwesenden den Ehrgeiz entwickelt, mit einer spitzen Frage oder einer pointierten Bemerkung zu brillieren. Schließlich erkundigt sich der italienische Kollege Ricardo Ehrman – er sitzt unmittelbar vor mir auf der Stufe vorm Podium, weil er zu spät gekommen und kein Platz mehr frei war – nach dem Reisegesetz. Es ist 18.53 Uhr. Ehrman vertritt die Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA), eine in Rom ansässige Nachrichtenagentur, die global Korrespondenten im Einsatz hat.

Schabowski gibt eine fast unverständliche Antwort, er ist nicht vorbereitet und fahrig und trägt vom Blatt vor, auf dem offenkundig formuliert ist, wie die DDR künftig die Westreisen ihrer Bürger zu regeln gedenkt. Er liest es wohl selbst zum ersten Male. Er kratzt sich nervös am Kopf und bestätigt mit diesen Gesten, was er schließlich selbst zugibt: Mit ihm sei darüber nicht gesprochen worden.

Das Protokoll17 der nachfolgenden acht Minuten – die Pressekonferenz soll überraschend 19.01 Uhr enden – bringe ich auszugsweise im Wortlaut. Ehrman hatte also in gebrochenem Deutsch gefragt, ob und wie DDR-Bürger künftig in den Westen reisen könnten.

»Schabowski: […] Allerdings ist heute, soviel ich weiß (blickt bei diesen Worten zustimmungsheischend in Richtung Labs und Banaschak), eine Entscheidung getroffen worden. Es ist eine Empfehlung des Politbüros aufgegriffen worden, dass man aus dem Entwurf des Reisegesetzes den Passus herausnimmt und in Kraft treten lässt, der stän … – wie man so schön sagt oder so unschön sagt – die ständige Ausreise regelt, also das Verlassen der Republik. Weil wir es (äh) für einen unmöglichen Zustand halten, dass sich diese Bewegung vollzieht (äh) über einen befreundeten Staat (äh), was ja auch für diesen Staat nicht ganz einfach ist. Und deshalb (äh) haben wir uns dazu entschlossen, heute (äh) eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht (äh), über Grenzübergangspunkte der DDR (äh) auszureisen.

Frage: (Stimmengewirr) Das gilt … ? Ohne Pass? Ohne Pass? (Nein, nein!) Ab wann tritt das …? (Stimmengewirr) Ab wann tritt das in Kraft?

Schabowski: Bitte?

Frage (Brinkmann, Journalist): Ab sofort? Ab…?

Schabowski: (kratzt sich am Kopf) Also, Genossen, mir ist das hier also mitgeteilt worden (setzt sich, während er weiterspricht, seine Brille auf), dass eine solche Mitteilung heute schon (äh) verbreitet worden ist. Sie müsste eigentlich in Ihrem Besitz sein. Also (liest sehr schnell vom Blatt): ›Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VP der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.‹

Frage (Ehrman, Journalist): Mit Pass?

Schabowski: (äh) (liest) ›Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen. Damit entfällt die vorübergehend ermöglichte Erteilung von entsprechenden Genehmigungen in Auslandsvertretungen der DDR bzw. die ständige Ausreise mit dem Personalausweis der DDR über Drittstaaten.‹ (blickt auf.) (Äh) Die Passfrage kann ich jetzt nicht beantworten (blickt fragend in Richtung Labs und Banaschak). Das ist auch eine technische Frage. Ich weiß ja nicht, die Pässe müssen ja, … also damit jeder im Besitz eines Passes ist, überhaupt erst mal ausgegeben werden. Wir wollten aber …

Banaschak: Entscheidend ist ja die inhaltliche Aussage …

Schabowski: … ist die …

Frage (Brinkmann, Journalist): Wann tritt das in Kraft?

Schabowski: (blättert in seinen Papieren) Das tritt nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich (blättert weiter in seinen Unterlagen) …

Labs: (leise) … unverzüglich.

Beil: (leise) Das muss der Ministerrat beschließen.

Frage: Auch in Berlin? (Stimmengewirr)

Frage (Brinkmann, Journalist): Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für Westberlin?

Schabowski: (liest schnell vor) ›Wie die Presseabteilung des Ministeriums …, hat der Ministerrat beschlossen, dass bis zum Inkrafttreten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung durch die Volkskammer diese Übergangsregelung in Kraft gesetzt wird.‹

Frage (Brinkmann, Journalist): Gilt das auch für Berlin-West? Sie hatten nur BRD gesagt.

Schabowski: (zuckt mit den Schultern, verzieht dazu die Mundwinkel nach unten, schaut in seine Papiere) Also (Pause), doch, doch (liest vor): ›Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD bzw. zu Berlin-West erfolgen.‹«

Danach löst sich schlagartig das Auditorium auf. Die Journalisten eilen an die Telefone oder in ihre Redaktionen und Korrespondentenbüros. Nach meinem Eindruck haben die wenigsten die ganze Tragweite der verstotterten Mitteilung von Schabowski begriffen, ich nehme mich nicht aus. Die Missverständlichkeit wird in den nachfolgenden Minuten am Nachrichtenticker sichtbar. Und in Ermagelung präziser Informationen beginnen die West-Medien zu spekulieren. Sie füllen den von Schabowski geöffneten Interpretationsspielraum, verdichten seine Aussagen, stellen sie in Bedeutungszusammenhänge, die sie selber konstruieren. Kurz: Sie machen das, was sie immer machen und was Karl Kraus mokant in die Feststellung fasste: Journalismus heißt, auf einer Glatze Locken drehen.

Screenshot.tif

Screenshot von der Übertragung des DDR-Fernsehens. Ich stelle die entscheidende Frage: Wann tritt das Reisegesetz in Kraft?

Neben Günter Schabowski saß Gerhard Beil auf dem Podium. Wie kam der Außenhandelsminister und ZK-Mitglied, einer der klügsten und unauffälligsten Köpfe der DDR-Führung, dorthin. Ich fragte ihn später einmal.

»Ich war auf Bitte bzw. Order von Krenz mit Schabowski im Auto vom ZK ins Pressezentrum gefahren. Ich kannte den Text der Reiseverordnung, ich war auch an der Diskussion beteiligt gewesen. Krenz hatte mich gebeten, Schabowski im Auto das Papier zu erklären. Doch der stand offenbar unter einer Art Schock. Er hatte zuvor zwei Stunden draußen vor dem ZK-Gebäude mit Bauarbeiter diskutiert. Krenz hatte ihn zu den Arbeitern geschickt, um mit ihnen zu reden. Gegen 17.15 Uhr war er in den Saal zurückgekehrt und meldete sich gleich wieder bei Krenz ab. Denn um 18 Uhr sollte die jetzt schon übliche Pressekonferenz mit ihm in der Mohrenstraße stattfinden.

Schabowski fragte Krenz, ob er etwas Besonderes vortragen solle über und aus der Diskussion. Krenz sagte zu ihm: ›Du musst unbedingt über den Reisebeschluss informieren. Das ist die Weltnachricht.‹ Dann übergab er ihm das Blatt mit der von ihm korrigierten Version des Reisegesetzes. Schabowski nahm den Zettel von Krenz, faltete ihn und steckte ihn ungelesen in seine Tasche. Während der Fahrt sagte er kein Wort. Als wir im Pressezentrum kurz vor 18 Uhr ankamen, hatte er den Zettel von Krenz mit den Veränderungen noch immer nicht gelesen.

Als wir dann auf dem Podium saßen und er sich verhaspelte, neigte ich mich zu ihm hinüber, flüsterte ihm zu: ›Das ist so nicht beschlossen.‹ Doch er hörte nicht hin. Oder wollte nicht hören. Ich schrieb auf einen kleinen Zettel noch mal diesen Hinweis, den er aber nicht las. Ich konnte also nichts tun, um ihn zu korrigieren.

Dann fuhren wir zurück. Und die DDR versank in Schweigen. Die politische DDR war praktisch zwei Stunden tot. Einige Minister und Politbüromitglieder waren schon auf dem Heimweg, in den Autos gab es kein Telefon. Es gab keinerlei Kommunikation zwischen den wichtigsten Männern der DDR.«

1 Das Haus in der Mohrenstraße unweit des Gendarmenmarktes war bis Mitte der 70er Jahre Sitz der Redaktion der Jungen Welt, der mit 1,6 Millionen verkauften Exemplaren auflagenstärksten Tageszeitung der DDR. Im deutschsprachigen Raum hatte nur noch Bild eine höhere Auflage. Nach dem Umbau zog das Internationale Pressezentrum dort ein. Heute arbeitet dort das Bundesjustizministerium. An die denkwürdige Pressekonferenz am 9. November 1989 erinnert im Saal lediglich eine Kunstinstallation mit Stühlen

2 Alexander Schalck-Golodkowski war Staatssekretär im Ministerium für Außenhandel und Oberst des MfS. In dieser Funktion führte er den Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo), der außerhalb der tradionellen Geschäftswege zwischen West und Ost jährlich mehrere Milliarden D-Mark für die DDR-Volkswirtschaft erwirtschaftete. Er fädelte u. a. mit Bayerns Ministerpräsident Franz-Josef Strauß Anfang der 80er einen Kredit über drei Milliarden ein. Dieser wurde zwar nie abgrufen, erhöhte aber die Bonität der DDR auf den internationalen Finanzmärkten und verlängerte deren Leben

3 Siehe Karl-Heinz Kriz, Hans-Jürgen Gräfe (Hrsg.): Mittendrin. Die Berliner Volkspolizei 1989/90, edition ost, Berlin 2014, S. 204; Gerhard Lauter: Chefermittler. Der oberste Fahnder der K in der DDR, edition ost, Berlin 2012, S. 153ff.

4 Johannes Rau (1931-2006) war von 1978 bis 1998 Ministerpräsident in NRW und 1993 kommissarisch Vorsitzender der SPD. Von 1999 bis 2004 amtierte er im Berliner Schloss Bellevue als achter Bundespräsident. Sein Grab befindet sich auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte

5 Wolfgang Clement war, in der Nachfolge von Rau, von 1998 bis 2002 Ministerpräsident in NRW und danach, bis zur Abwahl von Rot-Grün 2005, Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. Einem Parteiausschlussverfahren 2008 kam er zuvor, indem er aus der SPD austrat. Er begründete diesen Schritt mit einem angeblichen Linksruck der Partei

6 Markus Wolf (1923-2006) leitete von 1952 bis 1986 die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS (HV A), den Auslandsnachrichtendienst der DDR. Als Stellvertreter von Minister Erich Mielke schied er 1986 im Range eines Generaloberst aus dem Dienst aus. Im Juni 1990 erließ die Bundesrepublik Haftbefehl. Wolf flüchtete am 27. September 1990, wenige Tage vorm Beitritt der DDR, zunächst nach Österreich, dann in die Sowjetunion. Nach Jahresfrist stellte er sich den deutschen Behörden. 1993 wurde Wolf vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Landesverrat und Bestechung zu sechs Jahren verurteilt. Das Urteil wurde zwei Jahre später aufgehoben, nachdem das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, dass Spionage im Auftrag des souveränen Staates DDR und im Einklang mit ihren Gesetzen erfolgt sei und damit nicht strafrechtlich verfolgt werden könne. 1997 wurde Wolf zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe wegen Freiheitsberaubung, Nötigung und Körperverletzung in vier Fällen verurteilt

7 Vgl. Bild vom 18. November 1989

8 Die SED gab sich auf der Fortsezung des Außerordentlichen Parteitages am 16./17. Dezember 1989 in der Werner-Seelenbinder-Halle noch ein zweites Kürzel: PDS, Partei des Demokratischen Sozialismus, um dann am 4. Februar 1990 per Vorstandsbeschluss die SED-PDS von der SED zu befreien und sich nur noch PDS zu nennen. Die PDS sollte 2007, nach der Vereinigung mit der westdeutschen Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit (WASG), in der Partei DIE LINKE aufgehen

9 Als »Schürer-Papier« wird die von Krenz in Auftrag gegebene »Analyse der ökononischem Lage der DDR mit Schlussfolgerungen« bezeichnet, die vom langjährigen Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer, Außenhandelsminister Gerhard Beil, Finanzminister Ernst Höfner, dem Leiter der Zentralverwaltung für Statistik Arno Donda und Statssekretär Alexander Schalck-Golodkowski verfasst worden und auf der Politbürositzung am 31. Oktober 1989 vehandelt worden war. In zweckdienlicher Zuspitzung hatten die Autoren von einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit der DDR gewarnt. In der Bilanz waren zudem u. a. die Devisen-Reserven aus dem KoKo-Bereich verschwiegen und Auslandsverbindlichkeiten übertrieben worden. Tatsächlich betrug die Netto-Auslandsverschuldung, wie die Bundesbank 1999 feststellte, 19,9 Milliarden D-Mark und nicht, wie es im Schürer-Bericht hieß, 49 Milliarden. Die DDR war also weder überschuldet noch pleite, sie hatte aber wie stets ein Liquiditätsproblem. Die Folgen des »Schürer-Papiers« waren verheerend und bewirkten das Gegenteil von dem, was die Autoren damit beabsichtigt hatten. Statt zu motivieren, lähmte es den gesamten Wirtschafts-, Staats- und Parteiapparat. Vgl. auch Gerhard Schürer: Gewagt und gewonnen. Eine deutsche Biografie. Sowie ein Gespräch mit Egon Krenz und mit Bemerkungen zum »Schürer-Papier« von Herbert Graf, edition ost, Berlin 2014

10 www.2plus4.de/chronik.php3?date_value=01.11.89&sort=001-005

11 Hans Modrow, Jahrgang 1928, war seit seiner Rückkehr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft 1949 politischer Funktionär, zunächst in der FDJ, dann in der SED. Honecker schickte ihn 1973 – da war Modrow seit sechs Jahren Abteilungsleiter im ZK für Agitation – nach Dresden, wo er bis zu seiner Berufung als Ministerpräsident im November 1989 die SED-Bezirksleitung führte. In den 80er Jahren war in der Dresdner KGB-Dienststelle u. a. ein Major Wladimir Putin tätig

12 Diese Darstellung wiederholte Schabowski auch in der zweiteiligen Fernsehdokumentation des ZDF von Guido Knopp und Hans-Christoph Blumenberg »Deutschlandspiel«, das im Jahr 2000 erstmals ausgestrahlt worden war. In den Spielfilmszenen wurde Schabowski von Bernd Stegemann verkörpert

13 Gerhard Lauter: Chefermittler. Der oberste Fahnder der K in der DDR, edition ost, Berlin 2012

14 a. a. O., S. 155

15 a. a. O., S. 157

16 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. November 2013

17 Zitiert nach Hans-Hermann Hertle/Kathrin Elsner: Mein 9. November. Der Tag, an dem die Mauer fiel, Nicolai, Berlin 1999 und Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls, 11. Aufl., Ch. Links, Berlin