Die geheimen
Aufnahmen aus dem
Weißen Haus
Mit einem Vorwort von
Caroline
Kennedy
Herausgegeben von
Ted Widmer
Aus dem Amerikanischen von
Helmut Dierlamm und Dagmar Mallett
Während seiner Präsidentschaftszeit ließ John F. Kennedy mehr als 360 Stunden seiner Gespräche und Telefonate im Oval Office heimlich auf Tonband aufzeichnen. Dieser Band dokumentiert seine Gespräche mit führenden Politikern, aber auch private Reflexionen und wichtige Entscheidungen der Kennedy-Administration.
Neben zahlreichen Fotos und historischen Erläuterungen enthält dieses E-Book zwanzig ausgewählte Originalaufnahmen aus dem Oval Office. Im Text sind an den entsprechenden Stellen Buttons eingefügt, die beim Antippen die Audiowiedergabe starten – ein audiofähiges Lesegerät vorausgesetzt. Am Ende des E-Books sind alle zwanzig Tonaufnahmen nochmals in einer Audio-Übersicht zusammengestellt.
VORWORT Caroline Kennedy
EINFÜHRUNG Ted Widmer
EINS – GESCHICHTE
Rundfunk-Interview, Rochester, Minnesota, 1940
Kennedy-Wahlkampflied, 1952
Brief an Jacqueline Kennedy, ca. 1959
Ausschnitte aus einer Unterhaltung beim Abendessen, 5. Januar 1960
Dictabelt-Aufnahme, ca. 1960
Treffen mit General Douglas MacArthur, 16. August 1962
Treffen mit Dwight D. Eisenhower, 10. September 1962
Treffen mit Vizeadmiral Hyman Rickover, 11. Februar 1963
ZWEI – POLITIK
Telefonat mit Gouverneur Edmund Brown, 7. November 1962
Telefonat mit Justizminister Robert F. Kennedy, 2. März 1963
Telefonat mit Justizminister Robert F. Kennedy, 4. März 1963
Telefonat mit Justizminister Robert F. Kennedy, undatiert
Telefonat mit Senator Edward M. Kennedy, 7. März 1963
Telefonat mit Senator George Smathers, 4. Juni 1963
Telefonat mit Lou Harris, 23. August 1963
Telefonat mit Bürgermeister Richard Daley, 28. Oktober 1963
DREI – BÜRGERRECHTE
Telefonat mit Gouverneur Ross Barnett, 22. September 1962
Telefonat mit Gouverneur Ross Barnett, 30. September 1962
Besprechung mit Führern von» Americans for Democratic Action«, 4. Mai 1963
Besprechung wegen Birmingham, 12. Mai 1963
Besprechung wegen Birmingham, 21. Mai 1963
Treffen mit Führern der Bürgerrechtsbewegung, 28. August 1963
Treffen mit Martin Luther King, 19. September 1963
VIER – KUBA
Besprechung mit Militärberatern, 16. Oktober 1962
Persönliches Diktat, 18. Oktober 1962
Besprechung mit den Vereinigten Stabschefs, 19. Oktober 1962
Die Generäle LeMay und Shoup werden belauscht, 19. Oktober 1962
Telefonat mit Dwight D. Eisenhower, 22. Oktober 1962
Treffen mit Senatoren, 22. Oktober 1962
Telefonat mit dem stellvertretenden Verteidigungsminister Roswell Gilpatric, 23. Oktober 1962
Gespräch mit Justizminister Robert F. Kennedy, 23. Oktober 1962
Telefonat mit dem britischen Premierminister Harold Macmillan, 26. Oktober 1962
Sitzung im Kabinettsaal im Weißen Haus, 27. Oktober 1963
Gespräch mit Verteidigungsminister Robert McNamara, 27. Oktober 1962
Telefonat mit Dwight D. Eisenhower, 28. Oktober 1962
Telefonat mit Harry Truman, 28. Oktober 1962
Telefonat mit Herbert Hoover, 28. Oktober 1962
FÜNF – DIE BOMBE
Sitzung zum Thema Verteidigungshaushalt, 5. Dezember 1962
Gespräch mit Norman Cousins, 22. April 1963
Telefonat mit Harry Truman, 26. Juli 1963
Treffen mit Wissenschaftlern aus Anlass des Atomteststoppabkommens, 31. Juli 1963
Gespräch mit Senator Henry »Scoop« Jackson, 9. September 1963
SECHS – RAUMFAHRT
Treffen mit James Webb, Jerome Wiesner und Robert Seamans, 21. November 1962
Telefonat mit Major Gordon Cooper, 16. Mai 1963
Besprechung mit James Webb, 18. September 1963
SIEBEN – VIETNAM
Persönliches Diktat, betreffend ein Gespräch mit Richard Nixon über Vietnam, im April 1954
Besprechung mit Militärberatern, 28. August 1963
Besprechung mit Vietnam-Beratern, 29. Oktober 1963
Besprechung mit Vietnam-Beratern, 10. September 1963
Persönliches Diktat, 4. November 1963
ACHT – DIE WELT, WIE SIE IST
Besprechung mit Afrika-Beratern, 31. Oktober 1962
Besprechung zum Thema Verteidigungshaushalt, 21. Oktober 1962
Telefonat mit Sargent Shriver, 2. April 1963
Besprechung wegen Indien und China, 9. Mai 1963
Treffen mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko, 10. Oktober 1963
Telefonat mit Staatspräsident Tito, 24. Oktober 1963
Besprechung mit Asien-Experten, 19. November 1963
NEUN – GLANZ UND BÜRDE
Telefonat wegen der amerikanischen Eishockey-Nationalmannschaft, 13. März 1963
Telefonate wegen Möbelanschaffungen, 25. Juli 1963
Telefonat wegen der Dreharbeiten zu PT-109, undatiert
»Damit machen sie uns das Leben schwer«, privates Diktat, 12. November 1963
Besprechung mit Wirtschaftsberatern, 12. Dezember 1962
Gespräch mit Finanzminister Douglas Dillon, 3. September 1963
Treffen mit politischen Beratern zum Thema Parteitag 1964
Kennedy-Wahlkampflied 1960
Danksagung
Audiomaterial
Auswahlbibliographie
Über die Autoren
Impressum
Caroline Kennedy
Immer wieder erlebe ich, dass Menschen mir erzählen, Präsident Kennedy habe ihr Leben verändert. Sie traten dem Friedenscorps bei, sie kandidierten bei Wahlen, sie engagierten sich in ihrer Nachbarschaft oder reisten in den Weltraum – weil er sie dazu aufgefordert hatte, weil er sie davon überzeugt hatte, dass sie etwas bewirken können.
Die Generation, der er als Vorbild diente, hat die Welt verändert – sie kämpfte für Bürgerrechte, Frauenrechte, Menschenrechte und nukleare Abrüstung. Sie hat diesen Geist an uns, die Kinder und Enkel, weitergegeben. Als erster wirklich moderner Präsident bestimmte mein Vater die zeitlosen Werte Amerikas für die Menschen weltweit neu und forderte jeden Einzelnen auf, Verantwortung zu übernehmen, diese Welt gerechter und friedlicher zu machen.
Heute, fünfzig Jahre nach seiner Präsidentschaft, ist die Zeit meines Vaters bereits Geschichte und schwindet aus dem Gedächtnis der Lebenden. Aber Präsident Kennedys Worte, sein Vorbild und sein Geist sind nach wie vor lebendig. In einer Zeit, in der viele junge Menschen von der Politik enttäuscht sind, müssen wir uns generationenübergreifend bemühen, uns wieder auf diese Ideale zu berufen.
In unsicheren Zeiten, wie wir sie jetzt erleben, wirkt die Zukunft bedrohlich, und die Herausforderungen, denen wir uns gegenübersehen, erscheinen nahezu unüberwindlich. Aber die Geschichte erinnert uns daran, dass Amerika und seine Verbündeten schon früher schwierige und gefährliche Zeiten durchgemacht und über die Gefahren triumphiert haben.
Die vorliegenden Tonaufzeichnungen sind deshalb ein faszinierendes Dokument, weil die historische Perspektive unsere Sichtweise derjenigen Ereignisse verändert, die wir gegenwärtig miterleben. Darüber hinaus bestimmen viele der Themen, die jene Zeit bewegten – die Überwindung der Rassendiskriminierung, die Forderung nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit, die Frage der Interventionen der USA im Ausland –, auch weiterhin die öffentliche Diskussion. Zu sehen, wie in vergangenen Zeiten in der Schaltzentrale der Macht mit diesen Fragen, Problemen und Konflikten umgegangen wurde, kann uns lehren, Gefahren zu erkennen, kann uns Richtlinien an die Hand geben, kann uns helfen, gegenwärtige Krisen zu bewältigen.
Nach dem Schweinebucht-Fiasko ließ mein Vater verborgene Aufnahme-Mikrofone im Oval Office installieren, um später genau nachvollziehen zu können, wer was gesagt hatte, sollte es über den genauen Ablauf eines Gesprächs Meinungsverschiedenheiten geben. Mein Vater war nicht nur ein eifriger Leser, sondern auch Autor mehrerer Bücher zur Geschichte. Er wollte daher dieses Material außerdem als Quelle für die Memoiren nutzen, die er nach seiner Amtszeit zu schreiben plante. Die über 265 Stunden Bandaufzeichnungen von Gesprächen, die jetzt in der Kennedy Presidential Library in Boston abrufbar sind, gewähren einen Einblick in die Größenordnung, Komplexität und Bandbreite der Probleme, denen ein Präsident sich tagtäglich gegenübersieht. Sie vermitteln auch einen Eindruck von der menschlichen Seite des Amtes. Wir erleben die Begeisterung, die Enttäuschungen und sehen, mit welcher Zielstrebigkeit und Umsicht mein Vater seinen Dienst an der Allgemeinheit versah.
Die Rohfassung dieser Gespräche ist oft schwer verständlich und verwirrend, die Tonqualität häufig mangelhaft – manchmal ahnt man kaum, wer gerade spricht. Die Familienangehörigen wie auch die Kennedy Presidential Library arbeiten daran, diese Aufzeichnungen für die Allgemeinheit zugänglich zu machen. Im Rahmen dieser Arbeit legen wir hiermit eine Sammlung wichtiger Auszüge in einer für ein Lesepublikum aufbereiteten Form vor.
Wir freuen uns, dass wir Ted Widmer als Herausgeber und Experten für diese Dokumente gewinnen konnten. Ted ist ein Historiker, der sich bestens auskennt mit der Geschichte der amerikanischen Präsidentschaft. Er arbeitete als Redenschreiber für Präsident Clinton, gab für die Library of America die zweibändige Anthologie berühmter amerikanischer Reden heraus und hat Bücher und Aufsätze zur amerikanischen Geschichte verfasst. Wir wollten in dieser Sammlung die aussagekräftigsten Momente aus den Aufzeichnungen präsentieren und so einen Einblick in das Denken des Präsidenten und die menschlichen Qualitäten geben, die ihn so werden ließen, wie er war: ernsthaft, entschlossen, neugierig, skeptisch, ungeduldig, hartnäckig, prinzipientreu und humorvoll. Ted hat die Bänder abgehört, transkribiert, die Auswahl vorgenommen und die Anmerkungen geschrieben.
Ich danke den Archivaren und Angestellten der Kennedy Presidential Library und der National Archives and Record Administration, denen die Konservierung, Katalogisierung, Archivierung und Analyse der Dokumente, Tonbänder, Filme, Memorabilia und Ephemera obliegt, also derjenigen Zeugnisse, aus denen Geschichte konkret besteht.
Für mich war das Abhören dieser Tonbänder ein überwältigendes Erlebnis. Ich war damals zwar noch zu klein, um zu verstehen, was um mich herum vor sich ging, aber ich erinnere mich noch an glückliche Nachmittage, die ich unter dem Schreibtisch meines Vaters verbrachte. Ich aß Süßigkeiten und bastelte Halsketten aus Büroklammern, während über mir Männerstimmen über ernste Dinge sprachen. Besonders berührt mich auf den Bändern immer die Freude in der Stimme meines Vaters, wenn mein Bruder und ich in den Raum kommen.
Ich hoffe, dass jüngeren Zuhörern die vorliegende Auswahl interessant genug erscheint, um in ihnen den Wunsch nach weiterer Beschäftigung mit Kennedys Präsidentschaft zu wecken, und ich bin mir sicher, dass jene, die sich noch selbst an diese Zeit erinnern, neue Einsichten aus ihr gewinnen werden. Ich hoffe, dass die Leser unmittelbar in das Geschehen hineingezogen werden und dass sie das Gefühl bekommen, die Persönlichkeit meines Vaters aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Am meisten hoffe ich aber, dass sie sich angeregt fühlen, seinem Beispiel zu folgen und ihrem Land so zu dienen, wie er es getan hat.
Die geheimen
Aufnahmen aus
dem Weißen Haus
Ted Widmer
»Wir sind umgeben von Mythen, die uns vom Weg abbringen«, sagte John F. Kennedy in einer Rede am 11. Juni 1962 an der Yale University. Kennedy verbrachte einen Großteil seines Lebens damit, die Mythen zu entlarven, mit denen er konfrontiert war. Als Senator hielt er wichtige Reden, in denen er die binäre Logik des Kalten Krieges auf weit abgelegenen Schauplätzen wie Vietnam und Algerien in Frage stellte. Als Historiker fühlte er sich zu dem einsamen Häuflein von Personen hingezogen, die den Mut besaßen, selbst zu denken. Mit seinen Ansichten schonte er auch ihm nahestehende Menschen nicht, etwa als er, noch am College, den pazifistischen Idealismus der Briten kritisierte, die ihr Land in den dreißiger Jahren angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland nicht auf den Krieg vorbereiteten. Das war ein impliziter Vorwurf nicht zuletzt gegen seinen Vater Joseph P. Kennedy, was allerdings ihr Verhältnis zueinander nicht getrübt zu haben schien.
Einen Monat nach der Rede an der Yale University führte er erneut einen Schlag gegen die Mythenbildung. Um Missverständnisse, Ungenauigkeiten und womöglich Schlimmeres zu vermeiden, verlangte Kennedy, dass alle Gespräche im Weißen Haus auf Tonband aufgezeichnet wurden. Im Juli 1962 installierten deshalb Mitarbeiter des Secret Service ein Bandaufzeichnungssystem im Oval Office und im Kabinettsaal des Weißen Hauses. Die Gründe dafür wurden weder von Kennedy noch von sonst jemandem je erklärt. Sogar die Existenz des Aufzeichnungssystems wurde streng geheim gehalten und war nur sehr wenigen Menschen bekannt. Evelyn Lincoln, die Sekretärin des Präsidenten, wusste davon – sie war für den Betrieb des Systems und die Archivierung der Bänder zuständig. Robert Kennedy wusste wahrscheinlich davon. (Tatsächlich griff er einige Jahre später auf die Bänder zurück, als er seine Erinnerungen an die Kubakrise, Dreizehn Tage, verfasste.) Wir können es aber nicht mit letzter Gewissheit sagen.
Was sich jedoch mit Gewissheit sagen lässt, ist, dass die Resultate dieser Aufzeichnungen historische Dokumente von herausragender Bedeutung darstellen. Die Bandgeräte haben eine ungeheure Menge an Informationen aufgezeichnet – 248 Stunden Gespräche im Oval Office und im Kabinettsaal sowie 17,5 Stunden Telefongespräche und diktierte private Gedanken. Sie bilden heute eine außerordentlich wichtige Quelle für die Forschung. Sie ermöglichen Einblicke in sämtliche grundsatzpolitischen Entscheidungsprozesse der Kennedy-Administration auf höchster Ebene. Und sie bieten einen sehr seltenen, faszinierenden Einblick in den Arbeitsalltag eines Präsidenten, in das, was er eigentlich tut. Wir bekommen minutengenau mit, was es heißt, das wichtigste Amt der Welt innezuhaben, das wahrscheinlich auch das einsamste ist. Auch frühere Präsidenten hatten schon Versuche in dieser Richtung unternommen – Kennedys drei Amtsvorgänger Franklin D. Roosevelt, Harry Truman und Dwight D. Eisenhower hatten jeweils vereinzelte Gespräche aufzeichnen lassen. Aber Kennedys Projekt hatte andere Dimensionen.
Robert Bouck, der Secret-Service-Mitarbeiter, der die Anlage einbaute, gab 1977 in einem Gespräch im Rahmen eines Oral-History-Projekts Auskunft darüber. Allerdings waren seine Erinnerungen bereits ein wenig verblasst. Zu Boucks Verantwortung gehörte unter anderem der Schutz des Präsidenten vor elektronischer Überwachung, also war er bestens dafür geeignet, ein solches Aufnahmesystem für den Präsidenten zu konzipieren. Er installierte ein Mikrofon im Fußraum des berühmten Resolute-Schreibtischs und ein weiteres getarntes auf dem niedrigen Tisch zwischen den beiden Sofas, wo der Präsident oft mit Besuchern Platz nahm. Kennedy konnte das Gerät mit einem Druckknopf unter dem Schreibtisch anschalten. Bouck sagte: »Er sah aus wie ein gewöhnlicher Klingelknopf, mit dem man die Sekretärin ruft.« Auch auf dem Sofatisch gab es einen Druckknopf, nahe den Sesseln, wo die entspannteren Gespräche stattfanden.
Im Kabinettsaal befanden sich die Mikrofone an der Stelle ehemaliger Lampenanschlüsse, die jetzt von Vorhängen verdeckt waren. An seinem Platz am Kabinetttisch hatte Kennedy einen weiteren Schalter, um die Aufnahme zu starten. Die Mikrofonkabel führten zu einem Tandberg-Spulentonbandgerät, das in einem Kellerraum stand, den Evelyn Lincoln als Abstellraum nutzte. Bouck wechselte jeweils die bespielten Bänder gegen neue aus. Er nahm an, dass auch Evelyn Lincoln Aufnahmen machen konnte, war sich da aber nicht sicher. Nicht lange nach der Installation dieses Systems erweiterte Kennedy die Aufnahmepraxis beträchtlich, indem er ein weiteres Gerät einrichten ließ, mit dem er seine Telefongespräche aufzeichnen konnte. Diese Anrufe, aufgezeichnet auf sogenannten Dictabelt-Geräten der Firma Dictaphone,1 stellen eine wesentliche Ergänzung der Aufzeichnungen dar und haben gewöhnlich auch eine bessere Tonqualität. Die Telefon- und Dictabelt-Aufnahmegeräte wurden separat eingebaut. Bouck nahm an, dass der Präsident auch in seiner Wohnung Aufnahmen machen konnte. Es gibt aber keine konkreten Belege, die diese Vermutung stützen.
Leider äußerte Bouck sich kaum zu der Schlüsselfrage, warum der Präsident ausgerechnet im Juli 1962 anfing, seine Gespräche aufzuzeichnen. Bouck vermutete, dass »die Spannungen mit den Russen damals ziemlich groß waren, und ich glaube, dass es ihm ursprünglich darum ging, Übereinkommen aufzuzeichnen, die diese Beziehungen betrafen«. Diese Theorie ist nicht unbegründet: Während des Schweinebucht-Fiaskos vom April 1961 wurde Kennedy in zahlreichen Fällen von den Planern dieser Operation, darunter der CIA und den Vereinigten Stabschefs, falsch informiert, und es wäre ihm in der Zukunft sicher zustattengekommen, ihre allzu optimistischen Prognosen auf Band zu haben. In einem Interview für Newsweek 1982 vermutete Evelyn Lincoln, dass die Schweinebucht tatsächlich der Auslöser für die Bandaufnahmen war.
Aber es ist schwer zu erklären, warum Kennedy dann noch ein Jahr wartete, bis er das neue System einbauen ließ. Warum nicht schon im Sommer 1961? Warum verwandelte sich das Oval Office im Juli 1962 plötzlich in ein geheimes Tonstudio? Diese Frage wird vielleicht für immer unbeantwortet bleiben. Vielleicht spielte eine gewisse Begeisterung für Technik im Allgemeinen und die Fortschritte bei der Tonaufzeichnung im Besonderen ebenfalls eine Rolle. Es gab kaum eine Zeitschrift, die nicht in ihren Anzeigen auf die neuesten Stereoanlagen hinwies, und der norwegische Hersteller Tandberg war unter Audiophilen ein Begriff. Hierher gehört vielleicht auch, dass am 23. Juli 1962 Telstar 1, der erste Nachrichtensatellit, die allererste Live-Fernsehübertragung über den Atlantik schickte. Die Welt vernetzte sich, und alle wollten dabei sein.
Das Schweinebucht-Fiasko hatte die Kennedy-Administration gelehrt, wie schwerfällig die Kommunikationsmittel des Weißen Hauses waren, und als eine direkte Folge des Desasters modernisierte McGeorge Bundy, Kennedys Nationaler Sicherheitsberater, den Westflügel und ließ die neuesten technischen Spielzeuge im frisch eingerichteten Situation Room einbauen. In jenen Zeiten der sich rapide verändernden Technologien erschien es vielleicht sinnvoll, den Informationsmitteln des Präsidenten auch Tonbänder hinzuzufügen. Und zwar sehr diskret, denn natürlich waren die Gespräche weiterhin nicht für fremde Ohren bestimmt. Dass er den Einbau von Mitarbeitern des Secret Service ausführen ließ, deutet darauf hin, dass Präsident Kennedy die Bänder unter strikter persönlicher Kontrolle behalten wollte. Er hätte diese Geräte auch von Angehörigen des Militärs einbauen lassen können, aber das wäre einem größeren Publikum bekannt geworden. Diese Operation war eng begrenzt angelegt.
Gewiss gab es außer militärischen auch politische Gründe, die Gespräche aufzuzeichnen. Im Zusammenhang mit den Rassenunruhen vor allem in Alabama und Mississippi musste Präsident Kennedy schwierige Verhandlungen mit den Gouverneuren führen, die nach einer Möglichkeit suchten, die Spannungen zu entschärfen und gleichzeitig ihr Gesicht zu wahren. Während dieser oft sehr erregten Gespräche wäre es für den Präsidenten ein Verhandlungsvorteil gewesen, den Gouverneuren erklären zu können – so, wie es Robert Kennedy offenbar getan hat –, dass ihre vertraulichen Zusagen, mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten, aufgezeichnet worden waren. Eine Bekanntmachung dieser persönlichen Versprechungen hätte den Gouverneuren zu Hause natürlich nicht gut zu Gesicht gestanden. Gleichzeitig hatte Kennedy keine Probleme damit, das eine vom anderen zu trennen. Gegenüber dem Bürgermeister von Jackson in Mississippi sagte er: »Ich gestatte Ihnen gern, in der Öffentlichkeit gegen mich zu reden, solange Sie es nicht unter vier Augen tun!«
Vielleicht hatte Präsident Kennedy auch im Hinterkopf, dass es interessant sein könnte, zu erfahren, was gesprochen wurde, wenn er einmal den Raum verließ, während das Band weiterlief. Allerdings gibt es keinen Beleg dafür, dass er sich solche Stellen angehört hat. Evelyn Lincoln hat später sogar gesagt, er habe sich die Bänder, soweit sie wisse, überhaupt nie angehört. Aber es gibt einen bezeichnenden Augenblick auf dem Höhepunkt der Kubakrise, als Kennedy den Raum verlässt und seine heftigsten Kritiker, die Generäle LeMay und Shoup, sich über seinen Führungsstil beklagen. Selbst wenn Kennedy diese nun wirklich nicht für seine Ohren bestimmten Bemerkungen nie abgehört hat – es ist ungemein faszinierend, dass wir dazu heute in der Lage sind, und wir können nur froh sein, dass keiner von LeMays skrupellosen Vorschlägen für einen Einmarsch auf Kuba und die Entfesselung eines Atomkriegs berücksichtigt wurde. In einem der letzten freigegebenen Bänder, das seit Januar 2012 nicht mehr der Geheimhaltung unterliegt, klärt Verteidigungsminister McNamara den Präsidenten darüber auf, dass einer seiner Marinebefehlshaber Insubordination beging, indem er gegen ausdrücklichen Befehl ein sowjetisches Schiff versenken wollte, was einmal mehr vor Augen führt, wie knapp die Welt damals an einer Katastrophe vorbeischrammte.
Ein Grund für die Tonaufzeichnungen dürfte immerhin auch in dem ausgeprägten historischen Bewusstein des Präsidenten gelegen haben, der sich dem Urteil der Geschichte verpflichtet fühlte und daher wichtige Gespräche für zukünftige Generationen festhalten wollte. Eine naheliegende These, die vor allem durch die Tatsache gestützt wird, dass Kennedy das Band auch bei Besprechungen laufen ließ, in denen er nicht mit Kontroversen rechnen musste.
Das Problem, um das es hier geht, ist so alt wie das Präsidentenamt selbst: Wie erfahren wir, was die Menschen, denen wir so große Macht verleihen, denken und sagen? Denn haben sie nicht eine gewisse Verpflichtung, uns gegenüber Rechenschaft abzulegen? George Washington, der erste Präsident der Vereinigten Staaten, führte Tagebuch – ein ziemlich lückenhaftes Tagebuch mit nur wenigen Einträgen, die von größerem Interesse sind. (Der erste Eintrag, fünf Monate nach Amtsantritt, lautet: »Am Vormittag mit der Kutsche ausgefahren.«) Aber immerhin, er führte eins. Und wie viel weniger wüssten wir über Lincoln, wenn seine Sekretäre Nicolay und Hay nicht ihre detailreichen persönlichen Aufzeichnungen über ihn hinterlassen hätten. Doch im Allgemeinen wissen wir fast nichts darüber, was die Präsidenten hinter verschlossenen Türen gesagt haben. Wir haben ihre Briefe und die offiziellen Schriften, aber keinerlei »O-Ton«. Das ist ein bedeutender Verlust.
Wie Woodrow Wilson und Theodore Roosevelt war auch John F. Kennedy selbst Historiker – sein Buch Profiles in Courage (Zivilcourage) mit Porträts bedeutender Senatoren erhielt 1957 den Pulitzer-Preis in der Kategorie Biografie –, und er muss auch an seinen persönlichen Beitrag zur Geschichte gedacht haben. Dass Präsidenten der Vereinigten Staaten ihre Memoiren schreiben, hat eine lange Tradition. Thomas Jefferson begann 1821 im Alter von siebenundsiebzig Jahren, »einige Erinnerungen an Daten und Fakten bezüglich meiner selbst« niederzuschreiben, kam allerdings damit nicht bis zum Zeitpunkt seiner Wahl im Jahr 1800. Lincoln verfasste 1860 für seinen Wahlkampf eine Art Lebenslauf. Grant ist berühmt als der erste Präsident, dessen Erinnerungen zum Bestseller wurden – obwohl auch er nicht über seine Präsidentschaft schrieb. Theodore Roosevelt schaffte es dann 1913, auch über seine Jahre im Weißen Haus zu schreiben, und fast alle seine Nachfolger fühlten sich dadurch offenbar verpflichtet, es ihm gleichzutun. So lief eine ganze Armada von Autobiografien vom Stapel, die Roosevelts Umweltschutzbestrebungen eigentlich zuwiderliefen, da sie wohl den einen oder anderen Wald vernichtet haben dürften. Aber bei den meisten dieser mühsam abgefassten Elaborate hat man das deutliche Gefühl, hier wolle jemand sich ein Denkmal meißeln.
Die Kennedy-Tonbänder sind etwas prinzipiell anderes. Hier sehen wir den Präsidenten bei der Arbeit. Kein Meißel in Sicht. Er denkt nach, spricht, argumentiert – völlig unbefangen. Und er stellt von Zeit zu Zeit auch Reflexionen über sich selbst an, als ob er an seinen Memoiren in gesprochener Form arbeite – ein »Hörbuch« sozusagen, lange bevor es diesen Begriff gab. Bei einigen wichtigen Anlässen spricht er direkt in ein Diktafon, um seine Eindrücke eines historischen Ereignisses festzuhalten – am ersten Tag der Kubakrise oder als er von der Ermordung des südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem erfährt.
Über John F. Kennedy ist so viel geschrieben worden, dass es nur angemessen erscheint, ihn jetzt endlich selbst sprechen zu lassen. Kennedy spielte oft selbstironisch auf seine noch zu schreibenden Erinnerungen an, besonders wenn die Dinge nicht gut liefen, und nur allzu prophetisch war seine Voraussage, der Titel des Buches werde lauten: Kennedy – The Only Years (»Kennedy – Die einzige Amtszeit«). Zwei der Aufnahmen in dieser Sammlung stammen aus der Zeit vor der Präsidentschaft und zeigen, dass Kennedy bereits Anfang 1960, kurz nachdem er Präsidentschaftskandidat geworden war, intensiv über seinen bisherigen Lebensweg nachdachte. Diese beiden Tondokumente können als eine Art erste Skizze für das Buch gelten, das leider nie geschrieben wurde.
Unmittelbar nach dem tödlichen Attentat auf Kennedy baute Bouck das Aufnahmesystem ab, und die Bänder traten eine lange Reise durch Lagerhäuser und Regierungsdepots an, bis 1979 die Kennedy Presidential Library eröffnet wurde. Es ist unmöglich, genau nachzuvollziehen, was mit ihnen im Lauf dieser Jahre geschah und ob welche verlorengegangen sind. Einige Aufnahmen waren zwar zwischenzeitlich in Privatbesitz übergegangen, aber sie sind wieder aufgespürt und der Sammlung eingegliedert worden.
Die Existenz der Bänder kam im Sommer 1973 ans Licht. Alexander Butterfield, ein Mitarbeiter von Präsident Nixon, hatte am 16. Juli während der Watergate-Anhörungen im Kongress erwähnt, dass die Gespräche des Präsidenten routinemäßig aufgezeichnet würden. Ein Sturm der Entrüstung brach los. Der weitere Verlauf der Anhörungen und auch Nixons rasch sinkender Stern wurden davon stark beeinflusst. Aber auch die Präsidentenbibliotheken fühlten sich zu einer Reaktion genötigt, und im selben Sommer noch erklärte die Kennedy Library, auch sie habe Tonbänder eines Präsidenten im Archiv. Inzwischen wissen wir, dass Tonaufzeichnungen unter den Präsidenten des zwanzigsten Jahrhunderts üblich waren. Fast jeder Präsident, von Franklin D. Roosevelt bis Ronald Reagan, zeichnete irgendwann einmal seine Gespräche auf.2 Franklin D. Roosevelt hatte im Sommer 1940 mit einem Aufnahmesystem experimentiert, das Toningenieure der Firma RCA installiert hatten. Ein Mikrofon befand sich in einer Schreibtischlampe, ein zweites im Telefon des Präsidenten, aber nach 1940 ließ Roosevelts Interesse wieder nach, und es sind nur fünfzehn Stunden Bandaufzeichnungen überliefert. Harry Truman experimentierte kurz mit dem System und ließ es dann wieder abbauen. Von ihm gibt es neuneinhalb Stunden Aufnahmen in minderer Tonqualität. Dwight D. Eisenhower zeigte sich der Sache gegenüber aufgeschlossener, und aus Unterlagen geht hervor, dass er etwa zwei Dutzend Besprechungen aufnehmen ließ, aber die erhaltenen Tondokumente bieten nur wenig Interessantes.
Was 1962 einsetzte, war ein Programm ganz anderer Größenordnung. Sowohl was den Umfang als auch was die Tonqualität betrifft, bedeuteten die Kennedy-Tonbänder einen wahren Quantensprung.
Auch wenn die Kennedy-Bänder durchaus keine Neuerung und kein Einzelfall waren, sorgten sie doch für eine große Überraschung vor allem unter den Vertrauten Kennedys. Ted Sorensen, Redenschreiber und einer der engsten Mitarbeiter des Präsidenten, erklärte, er sei »schockiert«. Andere führende Mitarbeiter – McGeorge Bundy, Robert McNamara und Arthur Schlesinger jr. – bekannten, sie hätten nichts davon gewusst. Die Bänder fallen in jeder Hinsicht aus dem Rahmen, wenn man sie mit anderen Zeugnissen aus Kennedys Präsidentschaft vergleicht: Es sind weder offizielle Dokumente noch klassische JFK-Reden, noch Pressekonferenzprotokolle. Die Bänder sind nicht für die Öffentlichkeit aufbereitet oder überhaupt für sie bestimmt, sondern sie sind einfach historisches Rohmaterial, das besonders die harte und alles andere als glamouröse Arbeit dokumentiert, die es bedeutet, einen riesigen Staatsapparat zu lenken. Man vergisst leicht, dass dieser so außerordentlich fotogene Präsident tatsächlich jeden Tag zur Arbeit ging und den größten Teil seiner Zeit in Besprechungen verbrachte, um seine innen- und außenpolitischen Ziele umzusetzen. Dabei beschwichtigte er Senatoren und Abgeordnete, setzte sich hier und da mit sanftem Druck durch und besprach mit seinem fleißigen Mitarbeiterstab Strategien. Der Stab stellt die Nebenrollen in diesem Schauspiel. Jeder sekundenkurze Fototermin ist das Ergebnis vieler Stunden solcher Besprechungen, wie sie hier festgehalten wurden. Das Oval Office ist ein wichtiger Audienzsaal, aber er ist gleichzeitig der Kesselraum eines Staatsschiffs.
Zunächst war unklar, was mit den Bändern geschehen sollte. Anfänglich galten sie als Privateigentum der Familie Kennedy. Mit der Zeit setzte sich die allgemeine Meinung durch, dass sie in ein öffentliches Archiv gehörten. Entsprechend übergab die Familie sie 1976 an die National Archives. Ab 1983 machte die Kennedy Presidential Library die Bänder dann Historikern zugänglich. Das ging allerdings nicht von heute auf morgen: Teile der Besprechungen wurden auf Musikkassetten überspielt, und die Archivare fertigten, so gut es ging, Transkriptionen dazu an. Die ersten Freigaben bezogen sich auf bestimmte Themenkomplexe, wie etwa die Bürgerrechtsbewegung, und waren nur für einen vergleichsweise kleinen Kreis von Forschern gedacht.
Mittlerweile stehen uns gottlob ganz andere technische Möglichkeiten zur Verfügung. Die Kennedy Presidential Library hat inzwischen die Bänder nicht nur komplett freigegeben, sondern sie auch ins Internet gestellt, sodass man sie als Stream jederzeit und überall anhören kann. Das vorliegende Buch ist eine erste Auswahl aus dem Gesamtkonvolut. Im Januar 2012 wurden die letzten fünfundvierzig Stunden Bandaufzeichnungen freigegeben, die bis in die dritte Novemberwoche 1963 – nicht nur, wie bisher angenommen, in die erste – reichen. Das Audioarchiv ist damit praktisch vollständig.3
Natürlich kann man von fünfzig Jahre alten Aufzeichnungen nicht erwarten, dass sie technisch perfekt sind. Die Tonqualität schwankt sehr. Ganz offensichtlich hatte man im Amtssitz der fortschrittlichsten Nation der Welt noch einige Schwierigkeiten, die menschliche Stimme aufzuzeichnen. In Evelyn Lincolns Erinnerungen gibt es eine amüsante Anekdote, in der sie und Präsident Kennedy gemeinsam versuchen, eine Gegensprechanlage zwischen ihren jeweiligen Arbeitsplätzen zu installieren, aber aufgeben, als sie sich eingestehen müssen, dass sie beide keine Ahnung haben, wie man sie bedient. Mit den Tonbändern klappte es besser, aber die Qualität der Aufnahmen war oft vom Zufall abhängig. Mitunter überschneiden sich zwei Stimmen, und jemand, der nahe am Mikrofon spricht, klingt begreiflicherweise viel lauter als ein entfernter Sprecher. Manchmal schwindet die Lautstärke ohne Grund oder steigt plötzlich an. Sogar das Rascheln von Papier kann erschreckend laut klingen. All dies vermittelt ein Gefühl von Authentizität und erinnert daran, wie simpel das Aufnahmesystem im Grunde war. Oft läuft das Band noch lange weiter, wenn längst alle den Raum verlassen haben. Einmal konnte ich hören, wie irgendwo weit entfernt Weihnachtslieder gesungen wurden.
Eine weitere Schwierigkeit stellte die Transkription dar. Es ist eine langwierige und mühselige Arbeit, eine Unterhaltung abzuhören und aufzuzeichnen, besonders wenn mehrere Menschen gleichzeitig aus verschiedenen Ecken des Raums sprechen. Man sollte daher beim Lesen stets bedenken, dass die von mir erstellte Fassung nur eine größtmögliche Annäherung an das gesprochene Wort repräsentiert. Für die National Archives gilt im Übrigen auch nur das Tonband selbst als offizielles Dokument, nie eine Transkription. In der vorliegenden Veröffentlichung sind schwerverständliche Wörter in eckige Klammern gesetzt oder mit der Anmerkung »unverständlich« versehen.
Die Auswahl möchte ein möglichst breites Spektrum von Kennedys Besprechungen und Telefonaten bieten. Natürlich kommen alle großen Ereignisse vor, und der Leser stößt erwartungsgemäß auf Abschnitte über die Kubakrise und die Bürgerrechtsbewegung. Aber es werden auch andere Themengebiete behandelt, um die ganze Bandbreite dieser ehrgeizigen Regierung zu zeigen, die erst eine fehlgeschlagene Invasion Kubas unternahm, sich dann in der schlimmsten atomaren Konfrontation der Geschichte durchsetzte, danach die Atomtests erfolgreich einschränkte und sich gleichzeitig das Programm der bemannten Mondfahrt auf die Fahnen schrieb, die Wirtschaft stärkte und gegenüber den Entwicklungsländern eine neue Außenpolitik verfolgte, die den Kalten Krieg überwand, sowie eine immense Fülle an technischen und sozialen Fortschritten förderte, deren bedeutendster wohl der Kampf um gleiche Rechte für alle US-Bürger war.
Man hört in diesen Gesprächen Gelächter, Verärgerung, Enttäuschung und Überschwang. Das macht diese Zeugnisse so menschlich. Vielleicht erwarten wir von unseren Präsidenten eine gewisse Übermenschlichkeit, aber die vorliegenden Aufzeichnungen erinnern uns daran, dass im Oval Office Menschen aus Fleisch und Blut arbeiten. Einige der bemerkenswertesten Telefongespräche zeigen das besondere Verhältnis, das zwischen den Mitgliedern des kleinen Clubs amerikanischer Präsidenten besteht. Kennedy und Eisenhower hätten nicht verschiedener sein können, aber der Rat des vierunddreißigsten Präsidenten war dem fünfunddreißigsten, besonders während Perioden akuter militärischer Bedrohung, offenbar sehr wichtig. Während der Kubakrise war Eisenhowers Unterstützung von unschätzbarem Wert und half Kennedy, Wogen zu glätten, die bereits gefährlich hoch schlugen. Außerdem begannen die beiden einander offenbar zu mögen. Eines der Telefonate während der Kubakrise endet mit Kennedys Abschiedsgruß: »Hold on tight!« – »Nicht aufgeben!«
Kennedy hat einmal gesagt: »Ich erwarte in meiner Amtszeit eine ununterbrochene Folge von Gefahren und Schwierigkeiten«, und seine Voraussage erfüllte sich nur allzu bald. Die gefährlichste Episode, die Kubakrise, eignet sich besonders gut für eine Aufbereitung mittels Tondokumenten. Fast alle wichtigen Besprechungen wurden vollständig aufgezeichnet, dazu auch viele Telefongespräche, darunter die erleichterten Anrufe Kennedys bei seinen Amtsvorgängern Eisenhower, Truman und Hoover, als die Krise überwunden war. Sich diese Bänder anzuhören heißt, Ohrenzeuge der sich entfaltenden Krise zu werden, wie man es bei Lektüre eines Geschichtsbuchs nie erleben könnte. Auch bei den Ereignissen der Bürgerrechtskonflikte jener Jahre spürt man die unmittelbare Dramatik, von den Freedom Rides im Frühling 1961 (vor Beginn der Bandaufzeichnungen) bis zu den Unruhen in Mississippi und Alabama 1962 und 1963 (die in allen Einzelheiten aufgezeichnet wurden). Die Bänder dokumentieren die komplizierten Verhandlungen mit unwilligen Gouverneuren und Kennedys Verärgerung, in eine Politik hineingezogen zu werden, die einen hohen Preis von ihm forderte, möglicherweise die zweite Amtszeit. Der Weg war oft mühsam und frustrierend, und zwar für alle Beteiligten, auch für die Liberalen, die aus Kennedy gern den großen Bannerträger ihrer Sache machen wollten (auch wenn sie ihn zuvor selten unterstützt hatten). Aber die Bänder zeigen auch, wie er im Lauf des Jahres 1963 immer mehr zu der Überzeugung gelangt, dass die Zeit reif sei für einen großen moralischen Kreuzzug, und er war gewillt, ihn anzuführen. Oft sagt der Tonfall in diesen Besprechungen und Telefonaten mehr als die gesprochenen Worte. Man hört Kennedys Nachdruck, als er Gouverneur Ross Barnett von Mississippi mahnt, die Anordnungen der Regierung zu befolgen, und Barnetts mürrisches Nachgeben. Wir hören die Wut in der Stimme von Martin Luther King, die nichts Besänftigendes mehr hat wie noch in seiner Rede »I Have a Dream«.
Ein Tag, der 28. August 1963, zeigt besonders, wie viele dieser Problemfelder sich in jener turbulenten Zeit überschnitten. Kurz nachdem King seine berühmte Rede während des Marsches auf Washington gehalten hatte, wurden die Führer der Bürgerrechtsbewegung zu einer außergewöhnlichen Strategiesitzung ins Oval Office gebeten. In dieser Besprechung forderte A. Philip Randolph, der betagte Vorsitzende der Vereinigung der Pullman-Schlafwagenschaffner, der ersten rein afroamerikanischen Gewerkschaft, den Präsidenten auf, die Führung der Bewegung zu übernehmen. Dieser Moment wird umso bedeutsamer, wenn man weiß, dass auf einer der frühesten Tonaufnahmen aus dem Oval Office, im Jahr 1940, ebenjener A. Philip Randolph im Grunde dasselbe von Franklin D. Roosevelt gefordert hatte. Inzwischen war er alt geworden, aber jetzt drang seine Botschaft durch: Der Präsident antwortete mit einem langen Diskurs über den einzuschlagenden politischen Weg und wessen Stimmen er dafür brauchen würde – eine andere Art, auszudrücken, dass es jetzt endlich voranging.
Ungefähr sechs Stunden zuvor hatte eine lange Mittagskonferenz über Vietnam versucht, die amerikanische Südostasienpolitik zu retten. Und diese Besprechung hatte weitreichende Folgen. Es kann einen schwindlig machen, wenn man bedenkt, mit wie vielen Schlüsselproblemen sich das Oval Office stündlich befassen musste. So geschützt und abgeschottet das Weiße Haus auch wirken mag, es ist doch nicht völlig von den Ereignissen auf der Straße abgeschnitten: Wenn man genau hinhört, so glaubt man im Hintergrund die Demonstranten auf der Mall marschieren und ihre Bürgerrechte einfordern zu hören, während im Vordergrund über das Vorgehen in Vietnam entschieden wird. An diesem einen Nachmittag und in diesem einen Raum wurde ein Gutteil der Geschichte der sechziger Jahre gemacht.
Natürlich haben nicht alle Probleme, die auf den Bändern zur Sprache kommen, dieses Gewicht. Ich habe versucht, die Auswahl nach Themenbereichen zu gliedern, aber sie repräsentiert nur einen Bruchteil der gesamten Aufzeichnungen. Historiker, die sich mit den Amtszeiten anderer Präsidenten befassen, sind vielleicht überrascht, wenn sie sehen, wie gründlich JFK sich auch mit Fragen befasste, die er ebenso gut an Mitarbeiter hätte delegieren können. Die Besprechungen decken einen großen Teil der Regierungsarbeit ab, die von den rein kommunalen Problemen von Provinzpolitikern bis hin zu den internationalen Fragen, die Kennedy vordringlich beschäftigten, reichte und noch weiter bis in den Weltraum. Unnachgiebig hakte er bei seinen Beratern nach, wenn es um politische Strategien ging, um mögliche Schwachstellen, um die zu erwartenden Folgen. Vor Augen hatte er stets die Notwendigkeit, seine ehrgeizige Agenda durch den Kongress zu bekommen, denn es hatte wenig Sinn, idealistische Positionen zu vertreten, wenn man sie nicht umsetzen konnte. In vielen der Besprechungen geht es darum, die Zustimmung des Parlaments zu erhalten, oft indem er die Senatoren einzeln um ihre Stimmen bittet. Gleichzeitig gab es den beständigen Druck, über Washington hinauszudenken und den mächtigen Motor der US-Regierung in Gang zu halten, im eigenen Land wie in der ganzen Welt. Kennedy wird sich beim Außenministerium nicht beliebt gemacht haben, wenn er lange Konferenzen über jede denkbare Weltgegend abhielt, oft mit ausländischen Ministern und Botschaftern, die gewiss überrascht waren, so direkt mit dem Führer der freien Welt sprechen zu können.
Deutlich wird, dass er seine Arbeit liebte. Er genoss die Möglichkeit, Ideen in Taten umzusetzen. Kennedy nannte das Präsidentenamt »das eigentliche Aktionszentrum in unserer Regierung«. Die Besprechungen zeigen einen Mann, der in diesem Zentrum wirklich agiert. »Das Präsidentenamt ist der entscheidende Ort«, sagt der Noch-nicht-Präsident in einem Gespräch mit Freunden am 5. Januar 1960, das am Anfang des vorliegenden Buchs wiedergegeben wird – und dann immer wieder: »Es ist der Sitz der gesamten Macht«, »Es ist das Zentrum des Geschehens«, und: »Es ist der Präsident, der wirklich etwas bewegt«.
Die hier veröffentlichten Bänder belegen, wie recht Kennedy hatte. Seine Energie – sein Elan, um ein Modewort der damaligen Zeit aufzunehmen – ist spürbar. Er drängt seine Berater, härter zu arbeiten und gründlicher nachzudenken. Oberflächliche Antworten lässt er nicht gelten. Er treibt die Konferenz voran, trommelt mit den Fingern auf dem Tisch, stellt kurze Fragen und geht über Irrelevantes hinweg wie ein Schreiner mit dem Hobel. In Telefongesprächen drängt er den Gesprächspartner mit ständigen kurzen Ja’s, zum Punkt zu kommen, bis ein abschließendes »Alles klar« das Gespräch abrupt beendet. Manchmal spürt man Kennedys Ungeduld, wenn er es mit langsameren Sprechern zu tun hat (Averell Harriman oder Dean Rusk zum Beispiel).
Als er bei dem erwähnten Abendessen im Jahr 1960 gefragt wurde, welchen Grund er einem Collegestudenten angeben würde, in die Politik zu gehen, erwidert er, dass die Politik eine Gelegenheit sei, an der Lösungen von Problemen mitzuwirken, die einem wichtig sind. Das war eine untertriebene Art zu sagen, dass man sich in der Politik den großen Herausforderungen der Zeit stellen und vielleicht auf diese Weise jener Definition des Glücks nahekommen kann, die Kennedy so gern zitierte: »Ein Leben zu führen, das es uns gestattet, unsere ganze Kraft einem hohen Ideal zu widmen.« Der Einsatz war hoch, der Lohn auch, aber die Schwierigkeiten waren es ebenfalls. Heute, wo wir es gewohnt sind, dass man über Politik und Politiker voller Verachtung spricht, ist es ermutigend zu sehen, mit welchem Eifer Kennedy und sein Stab die vor ihnen liegenden Probleme angingen.
Kennedys Führungsstil kann man nur als unorthodox bezeichnen. Er bevorzugte ruhelose Geister, wie er selbst einer war, und mochte es, wenn ihm auch mal jemand widersprach – wie es NASA-Leiter James Webb in einer der Besprechungen tut. Es war bekannt, dass Kennedy den förmlichen Stil der Eisenhower-Regierung mit ihren inszenierten Konferenzen, die kaum echte Diskussionen zuließen, ablehnte. Er sagte offen: »Kabinettssitzungen sind völlig sinnlos. Warum sollte der Postminister sich bei einer Besprechung unserer Probleme in Laos langweilen?«
Folglich waren die informellen Gespräche im Oval Office umso wichtiger für die Festlegung von Kennedys »New Frontier«-Kurs.4 Und wie es aussieht, sind Kennedy und seine Mitarbeiter mit dieser Arbeitsweise gut gefahren. Nicht alle Besprechungen führten zu positiven Ergebnissen. Für Vietnam gab es im Herbst 1963 mehrere Möglichkeiten des weiteren Vorgehens, von denen keine Kennedy befriedigen konnte, und der gewaltsame Staatsstreich vom 2. November beunruhigte ihn sehr, wie ein privat diktiertes Memorandum belegt. Ein weiteres vertrauliches Diktat vom 12. November zeigt ihn besorgt im Hinblick auf seine Wiederwahl, weil er die Bürgerrechtsbewegung unterstützte. Es gab also durchaus dunkle Wolken am Horizont, aber der Charakter der Präsidentschaft, wie ihn die ausgewählten Aufnahmen zeigen, ist der einer konsequenten Anpassung an die Anforderungen der Zeit und der entschlossenen Führung der Nation, gemäß dem Wahlkampfversprechen von 1960.
Als Historiker wusste Kennedy, dass die Beliebtheit eines Präsidenten schnell schwinden kann und zahlreichen Faktoren unterliegt, auf die er keinen Einfluss hat. Verärgert beklagte er sich einmal bei Arthur Schlesinger jr., dessen Vater 1948 das Ranking-System entwickelt hatte, dem die Präsidenten bis heute nicht entkommen können: »Wie zum Teufel wollen die Leute die Leistung eines Präsidenten beurteilen? Nur der Präsident selbst weiß, unter welchem Druck er steht und welche Alternativen er hat.«
Indes steht Kennedy im Ranking der Präsidenten weiterhin ziemlich weit oben, wenn auch aus Gründen, die er wahrscheinlich missbilligen würde oder die zumindest seinen feinen Sinn für Ironie herausfordern würden. Er verachtete jede Form von Sentimentalität, und die ist nur allzu oft im Spiel, wenn von John F. Kennedy gesprochen wird. Was er bewunderte, war schonungsloser Realismus. Kritiker werden darauf hinweisen, dass er vor allem am Anfang seiner Karriere der Nutznießer einer gutgeölten PR-Maschinerie war und späterhin von jener sentimentalen Camelot-Nostalgie profitierte, die bis heute immer wieder beschworen wird. Die Aufnahme der Bänder im Jahr 1962 und ihre endgültige Freigabe 2012 hat viel dazu beigetragen, der sentimentalen Sichtweise eine Abfuhr zu erteilen und das Wesen dieser Präsidentschaft wieder ins rechte Licht zu rücken.
Mythen haben ihre Berechtigung: Wir erzählen sie uns in Form von Geschichten, um komplizierte Angelegenheiten begreiflich zu machen. Und das Präsidentenamt ist gewiss eine komplizierte Angelegenheit. Aber letztlich zog John F. Kennedy die historische Sichtweise vor, denn ihre Urteile beruhen auf Tatsachen.
Die Öffentlichkeit sollte die Politik der Vergangenheit ebenso auf den Prüfstand stellen können wie die der Gegenwart. Im Fall Kennedy ist dies nun, dank der vorliegenden Bandaufnahmen und nach Abschluss der fünfzigjährigen Arbeit, die zu ihrer Freigabe führte, besser denn je möglich. Wenn wir auch nicht genau wissen, was Präsident Kennedy dazu bewogen hat, diesen bemerkenswerten Vorratsspeicher an Informationen anzulegen: Seien wir ihm dankbar, dass er es getan hat. Ich hoffe, dass die Leserinnen und Leser dieses Buches die Gespräche aus dem »Zentrum des Geschehens« – unzensiert und ungefiltert – mit Genuss und Gewinn lesen werden.
In der Rede an der Yale University, die ich eingangs erwähnte, formulierte John F. Kennedy es so:
Der große Feind der Wahrheit ist sehr oft nicht die Lüge – absichtlich, zweckgerichtet und unaufrichtig –, sondern der Mythos – hartnäckig, verführerisch und unrealistisch. Allzu oft halten wir an den Klischees unserer Vorfahren fest. Wir ordnen alle Fakten in ein vorgefertigtes Schema ein. Wir genießen die Bequemlichkeit einer Meinung ohne die Unbequemlichkeit des Denkens.
Heute, dank der vorliegenden Bänder, können die Leserinnen und Leser den Mythos hinter sich lassen und sich selbst ein Urteil über diese Präsidentschaft bilden.
GESCHICHTE
John F. Kennedy war zwar der jüngste je gewählte Präsident und ein großer Erneuerer in einem Zeitalter der Modernisierung, doch er besaß auch einen ausgeprägten Sinn für seine Verbundenheit mit der amerikanischen Geschichte. Er lud Historiker zum Arbeiten und für Vorträge ins Weiße Haus ein, und anders als die meisten anderen Präsidenten schloss er sich auch formell ihrer Zunft an, indem er, wie vor ihm Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson, der American Historical Association beitrat. Er war sehr belesen in amerikanischer und britischer Geschichte und schrieb selbst über eine für einen vielbeschäftigten Politiker überraschende Bandbreite von Themen. Sein Buch Profiles in Courage (Zivilcourage)