VORBEMERKUNG
Cairns, die Stadt im tropischen Nordosten Australiens, liegt eingebettet zwischen den sanften Wellen des Pazifischen Ozeans und den typischen grünen Zuckerrohrfeldern des Nordens. Im Vergleich zu den Millionenstädten Sydney oder Melbourne ist Cairns mit seinen 130 000 Einwohnern eine größere Provinzstadt. Stress und Hektik sind hier noch nicht angekommen – oder sie wurden mit dem letzten Wirbelsturm ausgetrieben. In Cairns hat es mir während der vielen Reisen, die ich in Australien unternommen habe, immer gefallen. Die Idee, diese Stadt zu meinem »Basislager« zu machen, lag also nahe.
Seit 2004 wohnen meine Frau Renate und ich hier. Zuerst war unser Heim ein kleines Häuschen im Stadtzentrum. Renate arbeitete als Krankenpflegerin in dem 4000 Seelen zählenden Yarrabah, einem Dorf der Ureinwohner. Bedingt durch Renates Arbeit, entschlossen wir uns vier Jahre später, nach Gordonvale zwanzig Kilometer südlich des Stadtzentrums zu ziehen. Gordonvale ist Cairns’ erster Vorort, wenn man aus dem Süden kommt. Die Ortschaft liegt mitten in den Zuckerrohrplantagen und am Rande des Regenwalds.
Es gibt kaum einen besseren Ort, von dem aus man das tropische Australien mit all seinen Schönheiten, Abenteuern und Gefahren erreichen kann. Das wunderbare Great Barrier Reef mit seinen vielen bezaubernden Inseln ist mit dem Boot nur eine Stunde von hier entfernt. Die Great Dividing Range, Australiens größter Gebirgszug, führt an Cairns vorbei und bildet eine natürliche Trennlinie zwischen dem Ozean, der Savanne des australischen Outback und den Wüstengebieten des Kontinents. Erloschene Vulkane, Kraterseen sowie eine einzigartige Flora und Fauna tragen dazu bei, dass wir uns in der tropischen Wärme einen angenehmen und auch einigermaßen unkomplizierten Lebensstil zur Gewohnheit gemacht haben.
Bereits bevor wir Südtirol, das Land der hohen Berge und tiefen Täler, verließen, um unsere Zelte in Australien aufzuschlagen, hatte ich hier viele Fahrradtouren unternommen und somit auch Tausende Fahrradkilometer in diesem herrlichen Land zurückgelegt. Seit wir in Australien leben, sind natürlich noch einige Touren hinzugekommen. Das Land ist groß, und es gibt sehr viel zu sehen und zu erfahren. Ich habe jahrelang die Wüsten und Dschungelgebiete Afrikas, Asiens und Australiens zu meiner zweiten Heimat gemacht. Ich war und bin immer noch draußen daheim, denn da fühle ich mich gefordert. Zu Hause ist es schön und komfortabel, aber die tägliche Herausforderung bleibt dabei natürlich auf der Strecke. Kühlschrank auf, Tiefkühler zu, Herdplatte aus, Klimaanlage an. Das Haus wird mit Musik berieselt, und die Gartensprinkler habe ich auf einen genauen Zeitpunkt eingestellt. Die Solaranlage auf dem Dach speichert die Energie der Sonne, und alles funktioniert einwandfrei. Es ist phantastisch, diesen Komfort zu genießen. Solange der Strom zu den Steckdosen transportiert wird, ist es tatsächlich ein Leben im Paradies. Aber wehe, wenn der Saft einmal abgedreht werden würde!
Draußen im Outback, wo der Wind meine Haare zerzaust und die Sonne die Haut erbarmungslos verbrennt, habe ich ganz andere Karten in der Hand. Dort, im größten und staubigsten Wohnzimmer der Welt, gibt es keine Knöpfe zu drücken und keine Schalter zu betätigen. Die Natur hat ihre eigenen Richtlinien und Gesetze. In den Dschungelgebieten, den Bergen und in den Wüsten der Erde heißt es sich anpassen und einordnen. Selbst trotz bester Vorbereitung und mit vielen Jahren Erfahrung passiert es immer wieder, dass Menschen dort ihr Leben verlieren. Das Outback ist kein Kinderzimmer und keine Spielwiese. Es entschuldigt keine Fehlentscheidungen.
Was Sie in diesem Buch lesen werden, soll Lust darauf machen, sich selbst zu erleben mit dem Fahrrad. Radfahren im australischen Outback ist sicherlich nicht jedermanns Sache und soll es auch nie werden. Auf der roten Erde des Outback das Zelt aufzuschlagen, am Feuer zu sitzen und den einzigartigen Sternenhimmel zu bewundern, das sind Momente, in denen mir immer wieder bewusst wird, wie unwichtig die uns so wesentlich erscheinenden Dinge des Lebens sind. Die Uhr, das Handy, die Flimmerkiste, das Auto und so vieles mehr sind in diesen Momenten überhaupt nicht mehr gefragt. Ich lebe plötzlich umgeben von Natur pur. Jeder Schrei bleibt unbeantwortet, und jeder Gedanke zerrinnt in der nächtlichen Finsternis.
Ich bin allein in der Natur, mit der Natur. Ein Privileg, das ich mir nicht gekauft, sondern erarbeitet habe. Dieses Privileg möchte ich mir erhalten, und es ist mir sehr wohl bewusst, dass ich es nicht mit dem Zücken der Kreditkarte behalten kann. Die Freiheit zu besitzen, dahin aufzubrechen, wohin ich möchte, ist ein Geschenk vieler kleiner und großer Ereignisse. Meine Aufgabe ist es, dieses Geschenk zu respektieren und behutsam damit umzugehen. Fahrrad-Tourenfahrer sind umwelt- und umfeldbewusste Menschen. Und wenn sie es zu Beginn der Reise nicht sind, haben sie immer noch die Möglichkeit, unterwegs an den Knöpfen der Besinnung zu drehen, bis es »klick!« macht. Oft braucht es gar nicht lange. Da draußen wird man plötzlich erfinderisch, und man entdeckt wieder den Pfad zu den einfachen und schönen Dingen des Lebens.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen meiner großen und auch kleineren Touren durch das australische Outback.
Tilmann Waldthaler
Cairns-Gordonvale 2014
KAPITEL 1
Aller guten Dinge sind drei
In keinem Land der Erde habe ich mit dem Fahrrad mehr Kilometer zurückgelegt als in Australien. Zu Beginn meiner Fahrradtouren in den Siebzigerjahren bin ich dabei schnell an meine Grenzen gestoßen.
Es gab sehr viel Neues, was ich während der ersten Touren erst einmal lernen und verarbeiten musste. Zum einen hatte ich überhaupt keine oder nur ganz wenig Erfahrung darin, mit dem Fahrrad zu reisen. Zum anderen hatte ich zwar einen technisch sehr ausgeklügelten Randonneur (ein Langstreckenrad), doch waren die Straßen, Pisten und Wege in Australien für mein Edelrad absolut ungeeignet.
Erst in den Achtzigerjahren, als Mountainbikes über alle Berge und durch jedes Tal getreten, getragen und geschoben wurden, gelang es mir, abseits der Asphaltstraßen das wahre Outback mit dem Fahrrad zu erkunden. Als ich zu der Zeit meine ersten Mountainbike-Reiseführer für Südtirol schrieb, war meine Euphorie für diesen neuen Typ Rad für andere wohl nur schwer auszuhalten. 1990 war es dann so weit, und ich fuhr tatsächlich mit einem neuen »Mountainbike-Reiserad« entlang dem Äquator einmal um den Erdball. Während dieser Reise habe ich die Vorteile des Mountainbikes entdeckt, und ich habe seither nie wieder auf einem klassischen Randonneur gesessen. Während meiner Radreisen, die ich in sechsunddreißig Jahren auf allen Kontinenten und in vielen Ländern der Erde unternommen habe, bin ich immer wieder zu einer Fahrradtour in Australien aufgebrochen. Irgendwie seltsam und doch einfach zu erklären.
Australien ist ein abenteuerlicher Kontinent, und es kann dort sehr gefährlich werden. Wirbelstürme in den Tropen haben erbarmungslos Städte und Dörfer zerfetzt. Überschwemmungen haben zu katastrophalen Zuständen an den Küstengebieten und im Landesinneren geführt.
Viele Menschen sind Brandkatastrophen zum Opfer gefallen. Die Flammen haben Waldbestände vernichtet und enormes Leid verursacht. Schlangen, Spinnen, Krokodile, Haifische und Rochen sind gefährliche Kreaturen, von denen man am besten Abstand hält. Eines der größten Probleme aber ist die immer wieder auftretende Dürre. Die Gefahren beschränken sich ja nicht nur auf die tropischen Gebiete des Kontinents, sie sind vielmehr immer und überall vorhanden und können jederzeit und urplötzlich auftreten. Für Abenteurer ist es ein absolutes Paradies, sich da mittendrin tummeln zu dürfen.
Vermutlich ist es gerade diese Ungewissheit, die mich immer wieder nach Australien zog. Während meiner Touren in diesem herrlichen Abenteuerland habe ich Wirbelstürme und Waldbrände erlebt. Ich habe Fahrradtouren unter- und abgebrochen – und dabei wunderbare Menschen getroffen. Und ich habe Abenteuer vom Feinsten erlebt und auch meine innere Ruhe gefunden. In der Ruhe liegt die Kraft für weitere Taten, die in Australien sehr oft mit viel Energie und Ausdauer verbunden sind. Radfahren im Outback ist eine spezielle Herausforderung. Jede Tour durch dieses riesige Gebiet muss recherchiert werden. Die Ortschaften liegen oft sehr weit voneinander entfernt, und dazwischen gibt es außer Natur pur wenig zu sehen und nichts zu bekommen. Tourenfahren im australischen Outback kann man vielleicht mit einer Reise nach innen vergleichen.
Die Fahrradtour wird dann zur Meditation, wenn sich im Umfeld wenig ereignet und die Gedanken sich sammeln und ordnen können. In diesem Buch werden nicht nur Reiserouten beschrieben. Ich möchte dem Leser auch die Angst vor dem Ungewissen nehmen und ihm Mut für eine Fahrradtour im australischen Outback machen. Die Begegnungen mit Menschen sind meist spontan, und ihre Beschreibungen zeigen, so hoffe ich, sehr viel australischen Humor und Charme. In diesem Sinne viel Freude beim Lesen des Buches. Füllen Sie die Packtaschen nicht nur mit Nahrungsmitteln und Klamotten. Denken Sie daran, die Angst zu Hause zu lassen. Wo noch ein bisschen Platz in den Taschen vorhanden ist, stopfen Sie bitte keinen Schokoriegel rein, der wird in der australischen Sonne ohnehin schmelzen. Füllen Sie diese kleine Lücke mit Mut, der wird in Australien sicherlich nicht fehl am Platz sein.
Ein Wort zur Vorbereitung
Egal, ob man eine kleine, große, kurze oder lange Fahrradtour unternimmt, ausschlaggebend für das Gelingen sind immer drei wichtige Faktoren: die technische Ausrüstung, die körperliche und geistige Vorbereitung und die Bereitschaft, Abenteuer auch akzeptieren zu können. Ohne jetzt die technische Ausrüstung im Detail zu beschreiben, sei doch der Hinweis auf die Binsenweisheit erlaubt, dass ein technisch einwandfreies Fahrrad die Basis einer derartigen Tour ist.
Hat man in die Ausrüstung viel Geld investiert, kann man davon ausgehen, unterwegs weniger technische Probleme zu haben als mit einem billigen Fahrrad. Das soll aber nicht heißen, dass alles auch glattgeht. Sobald man ein technisches Gerät gekauft hat, hat man auch ein mögliches technisches Problem miterworben. Die »Titanic« war »unsinkbar« und ist doch jämmerlich abgesackt. Spaceshuttles wurden mit der besten Technik ausgestattet und von unwahrscheinlich klugen Köpfen entwickelt, sind aber trotzdem abgestürzt. Also ist es theoretisch auch möglich, dass ein Fahrrad unterwegs »den Geist aufgibt«. Auch gute Ausrüstung wie Taschen, Zelt und Bekleidung sind für die Tour sehr wichtig.
Draußen im 24-Stunden-Takt zu leben hat man sich in der Vorbereitungsphase sehr oft ganz anders vorgestellt. Während der Tour realisiert man nicht nur seine Träume, sondern schließt auch Freundschaft mit beinharten Erfahrungen. Das Negative und das Positive liegen so eng beisammen wie Feuer und Wasser, Regen und Sonne, Gegen- und Rückenwind. Diese Erfahrungen bringen einen zum Nachdenken. Es hilft, sich selbst zu verstehen, sich selbst zu akzeptieren, sich selbst besser kennenzulernen und, ganz wichtig, sich selbst trotzdem zu mögen.
Die Kompromissbereitschaft sich selbst gegenüber in schwierigen Situationen ist äußerst wichtig. Man fährt los, um Abenteuer zu erleben. Meist braucht man das Abenteuer nicht zu suchen, denn es kommt pfeilgerade auf einen zu. Das schönste Abenteuer passiert im Kopf, im Inneren des Körpers. Die Erfahrung, sich selbst zu verstehen und sich selbst in dieser neuen Situation zu akzeptieren und zu mögen, das ist das schönste Abenteuer überhaupt. Die Fahrt, die Landschaftsbilder und die Begegnungen mit den Menschen sind die angenehmen Seiten, die uns lange in Erinnerung bleiben. Die richtige Dosierung von allem trägt dazu bei, die Reise zu genießen.
Ist man am Ziel angekommen und gelangt rückblickend zu der Einsicht, dass die Tour die schönste Sache war, die man je unternommen hat, sollten die Alarmglocken schrillen, denn spätestens dann besteht Fernwehgefahr.
KAPITEL 2
Der zweite Versuch
Wie so oft im Leben sind auch bei mir so mancher Traum und so manche Reise nicht optimal verlaufen oder, im schlimmsten Fall, gar nicht erst zustande gekommen. Zweimal habe ich den Savannah Way und die Gibb River Road in Angriff genommen, und beide Male musste ich das Fahrrad bei den Hörnern packen und einen Rückzieher in Kauf nehmen. Das erste Mal, 1978, hatte ich die falsche Ausrüstung, um diese Tour und die Strecke zu bewältigen. Das zweite Mal, 2011, hatte ich die perfekte Ausrüstung, doch das Wetter hat mich von meinem Vorhaben abgehalten. Eine enorme Hitzewelle mit Temperaturen bis zu 48 Grad, verbunden mit tropischen Regengüssen kurz vor der eigentlichen Regenzeit, führte zu Straßensperren. Ich kam schlicht nicht mehr weiter.
Die Regenzeit im Norden Australiens beginnt um die Weihnachtszeit und hält bis Ende April an. In diesem Zeitraum sind viele Straßen im Outback gesperrt oder nur sehr schwer passierbar. Radfahren kann dann sehr abenteuerlich werden. Mein Plan war es, an der Westküste in Broome zu starten und Richtung Osten bis nach Kununurra zu fahren, um den ersten Teil der Tour auf der meist ungeteerten Gibb River Road noch rechtzeitig hinter mich bringen zu können. Das hat dann aber leider nicht geklappt. Die Straße wurde gesperrt, an ein Durchkommen war nicht mehr zu denken. Die kleinen Bäche verwandelten sich in reißende und breite Flüsse. Der Wasserstand kann während derartiger Situationen bis zu zehn Meter ansteigen. Die meisten Zeltplätze sind während der Regenzeit ohnehin geschlossen. Die Zeit, diese Tour doch noch durchzuführen, war sehr knapp bemessen. Die Entscheidung lag bei mir.
Doch manchmal muss man ein Risiko in Kauf nehmen. Die Ausrüstung und das Tourenrad waren für den Flug nach Broome verpackt. Alle Vorbereitungen waren getroffen, und meine Frau brachte mich zum Flughafen in Cairns. Kurz nach dem Abheben legte sich das Flugzeug in eine Linkskurve und flog über die wunderbaren Inseln, die wie funkelnde Opale in der Coral Sea, dem Korallenmeer, an der Küste Australiens glitzerten. Die Boeing 737 rüttelte durch ein Wolkenband, und nach kurzen Turbulenzen waren wir unterwegs in Richtung Westaustralien.
Broome ist eine besondere Kleinstadt an der nördlichen Küste Westaustraliens. Ende des 19. Jahrhunderts galt sie als »Perlenhauptstadt der Südhalbkugel«. 5000 neue Siedler, meist Chinesen, zogen in die Stadt und arbeiteten in der Perlenfischerei. 80 Prozent des weltweiten Bedarfs kamen damals aus Broome. Mit dem Aufkommen der Zuchtperlen verlor die Küstenstadt jedoch massiv an Bedeutung.
Für mich war der Ort am Indischen Ozean nichts Neues. Broome hatte ich bereits während anderer Fahrradtouren besucht. Aber lange konnte ich mich dort sowieso nicht aufhalten, wenn ich die Tour schaffen wollte.
Mein Aufenthalt in Broome dauerte gerade mal bis zum nächsten Morgen. Ich wollte keine Zeit vergeuden und nahm mir vor, am nächsten Morgen um sechs Uhr auf dem Fahrrad zu sitzen, um die ersten 220 Kilometer in Richtung Derby zu strampeln. Der Regen, begleitet von starkem Wind, hämmerte während der Nacht auf die Außenwand meines Zeltes. In meinen Gedanken formten sich bereits erste Katastrophenbilder. Kino im Kopf, und das alles bei freiem Eintritt. Gegen vier Uhr morgens hörte es endlich auf zu regnen, und ich machte mich auf. Etwas später als geplant rollte ich bei wolkenlosem Himmel auf dem Great Northern Highway in Richtung Derby.
Broome liegt an der Roebuck Bay nördlich der Great Sandy Desert, der großen Sandwüste. Eine breite, gut ausgebaute Asphaltstraße führt durch eine typische Outback-Landschaft. Um diese Jahreszeit sollte es trocken sein. Das lange Gras schimmert zwischen den robusten Boabs, der australischen Variante der afrikanischen Baobabs, auch Flaschenbäume genannt.
Nach den ersten 45 Kilometern mache ich eine kurze Pause im »Roebuck Plains Roadhouse«. In Australien ist ein »Roadhouse« nicht nur eine Tankstelle, sondern zugleich ein kleiner Supermarkt, wo man sich auf Reisen mit allem Notwendigen eindecken kann. Und es ist noch viel mehr: Je nach Größe und Lage gehört auch ein kleines Restaurant dazu, eine Autowerkstatt, eine Post oder eine Bank, ja manchmal sogar eine Schule für die Kinder des Besitzers. Viele haben auch einen kleinen Campingplatz oder eine Zimmervermietung, hin und wieder gibt es sogar Landemöglichkeiten für Kleinflugzeuge und Hubschrauber. Als Radfahrer erscheint einem solch eine Versorgungsstation nach einer einsamen, oft mehrere Tage dauernden Etappe zwischen Himmel und Erde wie eine Rettungsinsel.
In all den Jahren meiner Fahrradtouren habe ich mich daran gewöhnt, in den heißen Regionen die kühlen Morgenstunden des Tages zu nutzen, um größere Distanzen zurückzulegen. Es ist angenehm, zu dieser Tageszeit unterwegs zu sein. Später ist es meist viel zu warm, und in den Savannen und Wüstengebieten kommt sehr oft ein unangenehmer Wind auf.
Es ist neun Uhr, und das Thermometer steht bereits bei 28 Grad. Mit jeder Stunde wird es um einige Grade heißer. Gestern stieg die Temperatur bis auf 38 Grad. Heute wird es sehr heiß werden. Der Asphalt staut die Hitze, und man kann den Teer riechen. Es ist ein ekliger Geruch. Ich hoffe immer, dass es in derartigen Situationen ein gutes Lüftchen gibt, das den Gestank vertreibt.
Nachdem ich meine Wasserbehälter am »Roebuck Plains Roadhouse« aufgefüllt habe, rolle ich weiter in die Savanne. Meine Befürchtungen, dass es glühend heiß werden wird, scheinen zuzutreffen.
Um ein Uhr mittags geht nichts mehr. Ein heftiger Gegenwind bläst mir um die Ohren, und die Temperatur ist in der Zwischenzeit auf 41 Grad gestiegen. Schatten zu finden ist gar nicht so einfach, denn selbst dort ist der Boden sehr heiß. Ich finde einen größeren schattigen Platz und breite mein Zelt und die Matte aus, um der Tageshitze zu entkommen. Mit einem mit Wasser angefeuchteten Tuch kühle ich meinen Oberkörper, was sich sehr angenehm anfühlt. Ab drei Uhr wird es etwas kühler, und ich fahre noch einige Kilometer. Die Tagesdistanz von 75 Kilometern liegt weit unter meinem durchschnittlichen Tagesniveau. Ich frage mich, was da wohl schiefgelaufen ist.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit suche ich einen Platz, um mein Zelt für die Nacht aufzustellen. In Australien ist dies kein Problem, denn es gibt viele große und kleine Plätze etwas abseits der Straße, die sich als Nachtquartier eignen. Schnell ist das Zelt aufgebaut und etwas Holz gesammelt. Ein kleines Feuerchen hält die lästigen Fliegen und Stechmücken fern und trägt zum Wohlgefühl draußen im Nichts und in der unglaublichen Stille bei. Die Temperatur ist auf angenehme 25 Grad gesunken.
Das Holz hat sich in der Zwischenzeit zu einem Häufchen roter Glut reduziert, und ich bereite mir ein Essen zu. Als gelernter Koch und Konditor kann ich mit einfachen Nahrungsmitteln vielleicht ein bisschen schmackhafter kochen als andere Reiseradler, und dies ist nach einem langen Tag ein Vorteil. Heute gibt es aber nur Haferflocken mit frischem Obst, das ich in Broome gekauft habe. Um halb sieben Uhr ist es bereits stockfinster. Ich sitze am Feuerchen und lasse meine Gedanken zurückschweifen über den soeben erlebten ersten Tag meiner Tour.
Die Straße ist etwa 500 Meter von meinem Zeltplatz entfernt. Abends und in der Nacht gibt es im Outback wenig Verkehr, und dennoch höre ich plötzlich ein Motorengeräusch, das immer lauter wird. Der Lärm stammt aber nicht von der Straße, sondern direkt aus der anderen Richtung. Durch das Gebüsch sehe ich Autolichter auf mich zukommen, die immer größer werden, und dann hält mit einem Mal ein Wagen neben meinem Zelt. Mit der Stirnlampe leuchte ich den Fahrer und seinen Passagier an. Zwei Aborigines gucken mit großen Augen auf mein Zeltlager. Zwischen den beiden sitzt ein Hund.
»Machste bisschen Pause?«, rufen sie mir in australischem Slang zu.
»Es war sehr heiß und windig heute. Bin nicht sehr weit gekommen«, antworte ich.
»Morgen soll es noch heißer werden«, so die beiden.
Während unseres Gesprächs ist der Hund schon lange aus dem Auto gesprungen und beschnuppert mein Fahrrad. Ich hoffe, dass es ein Weibchen ist, denn damit wäre das Problem des Beinchenhebens und Auf-den-Rahmen-Pinkelns schon mal gelöst.
»Wir kommen von der Farm da unten und fahren nach Broome, paar Bierchen holen!«
Mit einem freundlichen »see ya« verschwinden die beiden samt ihrem Auto in einer Staubwolke.
Paar Bierchen holen in Broome? Donnerwetter, das sind hin und zurück ja rund 150 Kilometer. Man muss natürlich auch wissen, dass ein paar Bierchen in Australien nicht zwei Dosen oder Flaschen sind, sondern Schachteln aus Pappe, die entweder 24 oder 48 Bierchen in Dosen fassen.
Schmunzelnd decke ich die Glut mit Sand zu, denn es könnte windig werden. Große Feuerkatastrophen, bei denen viele Menschen und Tiere umgekommen sind und die enorme Sachschäden verursachten, sind häufig durch Unachtsamkeit entstanden. Im Outback sollte man mit Feuer und offenen Feuerstellen sehr achtsam umgehen.
Kookaburras und Krokodile
In der Zwischenzeit ist es kurz vor acht Uhr abends, und es wird Zeit für den Schlafsack. Der Boden wurde den ganzen Tag von der Sonne bestrahlt und ist jetzt immer noch warm. Spinnen, Schlangen und lästige Ameisen krabbeln, kriechen und zwicken nachts gern an Menschen, die am Boden schlafen. Mein Zelt aber ist eine wasserdichte und insektensichere Konstruktion, und ich fühle mich sehr wohl. Nach 75 Kilometer Hitze und Gegenwind werde ich gut schlafen. Im Outback schlafe ich nie so tief und fest wie in meinem Bett zu Hause. Ich bin nicht ängstlich, aber ein gewisser Respekt vor der Natur ist in einer fremden Umgebung angebracht. Dingos, diese australischen Wildhunde, sind neugierig und kommen manchmal ganz nahe ans Zelt heran, sind aber generell ungefährlich.
Durch das Fliegennetz im Zelt beobachte ich den unglaublich schönen Sternenhimmel. Das Kreuz des Südens hängt etwas schräg. Australien kann so schön sein. Meine Augen sind müde und fallen mir zu.
Ich erwache von dem lauten Geschrei zweier Kookaburras, der auch unter dem Namen »Lachender Hans« bekannten Eisvogelart. Der Himmel leuchtet bereits in einem zarten Blau. Es ist immer ein Gefühl der Erleichterung, wenn ich am Morgen aufwache und eine ruhige Nacht verbracht habe. Während der vielen Jahre, die ich in der freien Natur in meinem Zelt schlief, erlebte ich auch genug unangenehme Situationen. Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Erlebnis in Afrika, als Affen während der Nacht meine Taschen am Fahrrad durchsuchten und den Inhalt in weitem Bogen verstreuten. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sich Affen so nahe an Menschen heranwagen würden.
In Kenia hatte ich einige Schreckminuten zu überstehen, als ich im Zelt lag und hörte, wie jemand daneben Grasbüschel aus dem Boden rupfte. Neugierig öffnete ich den Reißverschluss, um zu sehen, was los war. Einem Herzstillstand nahe, musste ich feststellen, dass ich mein Lager auf dem Weideplatz einer Elefantenherde aufgeschlagen hatte und die Tiere rund um mein Zelt das Gras ausrupften und fraßen. Mit Herzrasen und mucksmäuschenstill harrte ich im Zelt aus, bis die fünfzehn Tiere weitergezogen waren.
Zurück nach Australien. Morgens muss alles ziemlich schnell gehen. Ich beginne den neuen Tag gewöhnlich mit einer Tasse Kaffee, die ich während des Zusammenpackens trinke. Als ich aber heute aus dem Zelt krabble, sehe ich auf meinem Gepäckträger zwei Dosen Bier. Daneben liegt ein Zettel mit dem Hinweis »For your thirst«. Also sind die Jungs in der Nacht hierher zurückgekommen und haben sich diesen netten kleinen Scherz erlaubt. So typisch und so herrlich australisch! Ich muss wie ein Bär geschlafen haben, denn ich habe kein Auto gehört und auch keinen Hund.
Beim Zusammenpacken und Kaffeeschlürfen lausche ich dem Wetterbericht aus meinem kleinen Radio. Leider keine guten Nachrichten. Hitzewelle mit anschließendem Regen und möglichem Wirbelsturm. Ja, so ist es. Nüchterne Fakten zum Frühstück. Gleich zeigt sich die Sonne, und es wird richtig heiß werden. Bis neun Uhr klettert das Thermometer auf dreißig Grad, Tendenz steigend. Zum »Willare Bridge Roadhouse« sind es noch 100 Kilometer. Dies ist die ungefähre Tagesdistanz, die ich schaffe.
Heute aber ist alles anders. Ich spüre eine innere Unzufriedenheit wegen der Wettersituation. Wenn es längere Zeit regnet, werden Teile der Gibb River Road geschlossen. Für mich als Radfahrer würde dies das Aus der Tour bedeuten. Die Flüsse würden anschwellen, und ein Durchkommen wäre unmöglich.
Mit dem Wasser kommen auch die Krokodile. In den nördlichen Regionen Australiens leben so einige dieser Monster. Das größte Krokodil Australiens wurde in Normanton mit 8,63 Metern gemessen. Ein 2,50 Meter langes Saltwater- oder Estuarine-Krokodil kann aber auch schon erheblichen Schaden anrichten. Ein Schnapper und eine Todesrolle des Krokodils würden reichen, um einem kleinen Radfahrer das Genick zu brechen.
In der Zwischenzeit ist die Temperatur bei 47 Grad angelangt, und ich brauche viel Flüssigkeit, denn der Gegenwind trocknet mich förmlich aus. Die Rastphasen werden immer länger und die Distanzen dazwischen immer kürzer. Keine gute Kombination zum Radfahren. Ich schleppe mich im wahrsten Sinn des Wortes auf den Campingplatz des »Willare Bridge Roadhouse« und bin sehr froh, dass ich es überhaupt bis hierher geschafft habe.
Als Erstes stelle ich mein Zelt auf und bereite mir in der »Camp Kitchen« eine Mahlzeit zu. Es ist einfach angenehm, einen Tisch und einen Wasserhahn benutzen zu können. Zudem haben diese offenen Küchen meist auch ein Dach als Sonnen- und Regenschutz, damit einem die Bohnen bei einem starken Regenguss nicht wegschwimmen. Mit ein bisschen Improvisation lassen sich auch im Outback sehr gute Gerichte zubereiten.
Wieder einmal kommt mir solch ein »Roadhouse« wie eine Oase vor. Für diejenigen, die nicht selber kochen wollen, gibt es dort Fast Food, Pommes, Sandwiches, Steaks und Kaffee. An einer Wand stehen aneinandergereiht Kühlschränke mit einer verführerischen Auswahl kalter Getränke. In einer Ecke sind Regale mit Lebensmitteln, Putzmitteln, prall gefüllten Tüten mit Hundefutter und jeder Menge Süßigkeiten. Dazu Postkarten, T-Shirts, Souvenirs und Ersatzteile für Autos – alles da.
Manche »Roadhouses« haben eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte. Kleinere Siedlungen, in denen mitten im Outback Zink, Kupfer oder andere Metalle gefördert wurden, werden oft genauso schnell verlassen, wie sie entstanden sind. Alles Brauchbare wird abgeschraubt, auf riesige Laster verladen und mitgenommen. Die Ortschaft selbst wird dem Schicksal überlassen. Hier und da kommt es jedoch vor, dass die Bewohner bleiben – und das, was übrig bleibt, wird in ein »Roadhouse« umgewandelt. Die kleinste Ortschaft, durch die ich in Australien gekommen bin, war Williams Creek auf dem Oodnadatta Track in South Australia. Auf dem Ortsschild war die Einwohnerzahl mit sieben Menschen angegeben. Vater, Mutter und fünf Kinder.
Während meiner Reisen beobachte ich nur zu gern Menschen und Situationen. In Australien fällt mir auf, dass Familien einen großen Aufwand betreiben, wenn sie in den Ferien verreisen. In den riesigen Autos sitzen Eltern und Kinder zwischen Gepäckstücken und rollen auf schlechten Pisten dem Urlaub entgegen. Sobald sich eine Tür öffnet, springt meist auch ein Hund aus dem Auto, und es sieht so aus, als wäre dies eine willkommene Pinkelpause für Fahrer und Hund. Auf dem Dach liegen festgezurrt die Ersatzräder, außerdem Wasser- und Benzinkanister, eine Auswahl an Schaufeln, Wagenheber und eine überdimensionale Werkzeugkiste. Ganz oben auf der grauen Plane, die über den Dachträger gespannt ist, liegt noch eine Auswahl Kinderräder.
Die Angeln, die natürlich im australischen Urlaub nicht fehlen dürfen, werden vor dem Auto an der stabilen Stoßstange befestigt. Hinter dem Auto hängt das mobile Heim, und daran sind noch zwei verstaubte Fahrräder und auf dem Gepäckträger ein Boot befestigt. Na, wenn die Leute all das benutzen, was sie dabeihaben, werden sie kaum noch Zeit fürs Ausruhen haben.
Ich bin immer wieder selbst erstaunt darüber, wie wenig Radfahrer im Vergleich zu anderen Reisenden mitschleppen. Die komplette Ausrüstung für die kleine oder große Tour bringt man als Radfahrer in sechs Taschen unter. Was nicht auf das Fahrrad passt und in den Taschen verstaut werden kann, bleibt einfach zu Hause. Bei extremen Touren durch die Wüsten der Welt zog ich manchmal einen kleinen Anhänger, in dem ich Wasser oder Nahrungsmittel untergebracht hatte. Diesmal habe ich wegen der schlechten Straßenverhältnisse auf meinen Lieblingsanhänger, den Monoporter, verzichtet. Bereits nach den ersten schrecklichen Kilometern bei hartnäckigem Gegenwind war ich froh, diese Entscheidung getroffen zu haben. Ein Anhänger, egal, wie klein, und egal, wie wenig damit transportiert wird, ist immer eine zusätzliche Belastung für den Radfahrer.
Starkregen und andere Wetterunglücke
Ich habe mich entschlossen, im »Willare Bridge Roadhouse« lediglich eine Rast zu machen und kurz vor Einbruch der Dunkelheit noch mal zwei oder drei Kilometer weiter in Richtung Derby zu fahren. Campingplätze können manchmal sehr laut werden. Das liegt an den Generatoren, die den nötigen Strom produzieren, aber auch an den anderen Gästen. Frühaufsteher beginnen bei Sonnenaufgang damit, die Türen der Autos zu öffnen und zu schließen und ihre Habseligkeiten zusammenzupacken. Reißverschlüsse an Schlafsäcken und an Zelten verursachen ein Konzert, in das sich lautes Gähnen und Vogelgezwitscher mischen. Das alles ist für mich Grund genug, mein Zelt etwas weiter entfernt vom Roadhouse aufzustellen, um eine ruhige Nacht genießen zu können.
Gegen drei Uhr morgens rüttelt der Wind an meinem Zelt, und es regnet. Ich taste nach meinem kleinen Radio, um den Wetterbericht zu hören. Und der ist nicht sehr ermutigend. Ausgiebige Regenfälle haben bereits die Küstengebiete zwischen Darwin und Broome erreicht. Beginn der Regenzeit, auch die »wet season« genannt.
Zu starken Regenfällen kommt es dann vor allem im Norden Australiens. Manchmal regnet es tagelang, was nicht nur den Boden aufweicht, sondern auch die Straßen im Outback zu schlammig-rutschigen Schlitterpisten macht. Sehr oft und sehr schnell können sich diese Gebiete in die reine Hölle verwandeln.