Andreas H. Apelt
Pappelallee
Roman
mitteldeutscherverlag
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Über den Autor
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Über das Buch
Umschlagbild: Ron Jagers, Hinterhof mit Mülltonnen, 1987
2014
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN 978-3-95462-389-1
Vier Schritte vor, vier Schritte zurück. Mehr kann der Mann nicht gehen. Dann endet der Raum. Der braune Linoleumboden nimmt die Schritte auf. Hohl und leer. Vier Schritte vor und vier Schritte zurück.
Irgendwann kann auch das ausgetretene Linoleum die Schritte nicht mehr ertragen und wirft die eintönigen Rhythmen gegen die weißen Wände. Die sind oberhalb eines fettigen braunen Ölpaneels in ein krankes Neonlicht getaucht. Von dort stürzen sie hinab, schlagen wie vollgeblasene Gummibälle erneut auf den Boden, um dann die gegenüberliegende Wand anzuspringen. Irgendwann holen sich Aufschlag und Echo ein. Wie bei einem Pingpong-Ball, den man in ein enges Gefäß wirft. So ist es mit den Schritten. Die laufen ihrem Echo nach und einem Mann, der ihnen nicht ausweichen kann. Die Schritte werden immer lauter und dröhnender.
Der Mann presst sich die kalten Handflächen gegen die Ohren. Nur wenn er stehen bleibt und an die hohe weiße Decke starrt, laufen die Schritte aus. Sie werden leiser und verlieren sich.
Auch das Herz des Mannes schlägt diese dumpfen nervösen Schläge. Er steht in einer Ecke des Raumes und versucht seine Gedanken an irgendetwas zu hängen. Aber alle Gegenstände hat er schon gemustert. Den großen Tisch mit der Sprelacartplatte, die wie eine große kahle Ebene über der Raummitte thront und die fünf hellbraunen Holzstühle, die sich in einer Reihe an das Ölpaneel drücken. Selbst die weißen Kalkwände hat er nach Spuren, Vertiefungen, winzigen Strichen, Rissen oder kleinen Erhebungen abgesucht. Alles in der Hoffnung, Zeichen einer fremden Welt zu finden. Umsonst.
Nicht mal Gedanken wollen hier bleiben, denkt er. Wenn man sie an etwas hängen will, gleiten sie darüber hinweg und entschwinden in der Ferne. Eine Leere bleibt zurück. Und diese Leere füllt ein unbestimmtes Gefühl. Man weiß nicht, woher es kommt, aber es ist da. Einfach da. Vielleicht ist es Angst, denkt der Mann. Sie kriecht in Stühle und Tische, in Wände und Lampen. Dort wehrt sie sich gegen die fremden Gedanken.
Zwangsläufig bleibt der Blick des Mannes an dem einzigen Bild hängen. Das Bild passt nicht zu dem Raum, denn der Mann, der darauf abgebildet ist, lächelt. Er lächelt, als wäre dieser, in weißem Neonlicht ertrinkende Ort, Teil einer vertrauten heilen Welt.
Der Mann unter dem Bild versucht dem lächelnden Blick auszuweichen. Aber egal wohin er sich auch stellt, ob er sich bewegt oder sitzt, der Mann auf dem Bild lässt seinen Blick nicht von ihm. Der Mann auf dem Bild ist ein Generalsekretär. So lässt er sich jedenfalls nennen, auch wenn keiner weiß, was eigentlich ein Generalsekretär ist und was er genau macht.
Auch der Mann unter dem Bild weiß es nicht und will es eigentlich auch gar nicht wissen. So geht er erneut vier Schritte. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück. Mehr lässt der Raum nicht zu.
Der Generalsekretär scheint die Unruhe nicht bemerkt zu haben. Sein Lächeln liegt vertraut über der Szene.
Erneut versucht der Mann sich dem Lächeln zu entziehen, stellt sich neben und auch unter das Bild. Es hilft nichts. Diesem Lächeln kann man sich nicht entziehen.
Der Mann schaut wieder auf seine Armbanduhr. 12 Uhr, denkt er. 12 Uhr steht auf der Vorladung. Jetzt ist es 15 Uhr. Und nichts geschieht. Immer nur warten. Er setzt sich auf einen der knarrenden Holzstühle. Dann schaut er auf seinen abgeschabten schwarzen Hut, der neben ihm liegt und den er bereits bei seiner Ankunft abgenommen hatte. Und er schaut erneut auf die Uhr, verfolgt den Sekundenzeiger drei ganze Runden und steht wieder auf. Der leere Raum verschluckt das Knarren des Stuhles. Jetzt geht er, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, im Raum auf und ab. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück. Niemand will sie hören. Denn das Haus, Schönhauser Allee 22, das den Namen Volkspolizeiinspektion führt, hat viele Zimmer und zählt viele Schritte.
Vorladung, heißt es. Zur Klärung eines Sachverhaltes. Mehr nicht. Aber Vorladung ist doch auch so viel. Nicht wie Einladung, nein, Vorladung! Das ist wie Vorzeigen, Vorsprechen, also kein Widerspruch!
Der Mann zieht die graue Vorladungskarte aus der großen Hosentasche seiner schwarzen Cordhose. „Diese Vorladung ist mitzubringen und unaufgefordert vorzuzeigen.“ So steht es.
Er streicht mit der Faust die zerknitterte Karte auf der weißen Sprelacartplatte gerade. „Sollten Sie der Aufforderung nicht Folge leisten, werden Sie zugeführt.“ Zugeführt, auch das ist so ein merkwürdiges und doch vielsagendes Wort. Deutsche Sprache, denkt der Mann. Zugeführt, so wie zuschließen, zumachen. Nicht führen, nicht geführt, sondern zugeführt. Dafür gibt es noch nicht einmal ein richtiges Substantiv.
Er dreht die Karte. Hans Hülsmann, Gethsemanestraße 5, 1058 Berlin, so steht seine Adresse mit blassen Schreibmaschinenlettern Buchstabe für Buchstabe in die graue Karte gehämmert. Daran gibt es nun wirklich keinen Zweifel. Auch wenn das Wort Gethsemane gar nicht auf so eine graue Karte passt. Wie auch, so ein biblischer Garten, in dem Jesus am Tag vor seiner Kreuzigung betete, hat doch nichts mit einer Volkspolizeiinspektion in Berlin-Prenzlauer Berg zu tun. Gar nichts.
Oder doch?
Also Hülsmann. Da sitzt er in diesem Raum und wartet. Wartet und wartet. Und atmet tief. Eine Luft, die nach Linoleum riecht, Reinigungsmittel, Bohnerwachs und nach Papier. In Aktendeckel gepresstes Papier, das Druckerschwärze und Tinte ausdünstet und Schweiß. Angstschweiß und Arbeitsschweiß.
Einen Moment lang überlegt Hülsmann, ob er sich nicht vielleicht doch der Vorladung hätte entziehen können. Diesem Gang von seiner kleinen Wohnung unweit der Gethsemanekirche, die den Prenzlauer Berg überragt, der Stargarder Straße und Schönhauser Allee entlang zu diesem vierstöckigen gelben Backsteingebäude. Am Eingang ist das Schild Volkspolizeiinspektion Prenzlauer Berg befestigt. Dabei, so denkt Hülsmann, war es einst ein Altenheim für bedürftige Juden. Doch nachdem die Bewohner und Pflegekräfte 1944 nach Theresienstadt deportiert wurden und das Gebäude bis zum Kriegsende leer stand, hat es eine andere Bestimmung. Und die macht noch heute Angst.
Vielleicht sind es die Uniformen, die im Haus aus- und eingehen, denkt Hülsmann. Uniformen machen immer Angst.
Kein Wunder, wenn Hülsmanns Wege zu diesem Haus stets große oder kleine Umwege sind. Die Pappelallee steht für so einen Umweg. Ausgerechnet die Pappelallee. Dabei ist der Name viel zu schön für einen Umweg. Die Straße ist es sicherlich nicht: graue Fassaden, vergilbte Ladenschilder, vom letzten Krieg gerissene Baulücken, Schlaglöcher und quietschende Straßenbahnen. Aber Hülsmann weiß auch um die Wege im Haus, vorbei am Pförtner, der als erster Ausweis und Vorladung sehen will. Und das mit diesem misstrauischen Blick. Also, Ihre Papiere! Mehr sagt der Mann hinter der kleinen ovalen Luke nie.
Muss er auch nicht, denn der prüfende Blick über die Brillengläser ersetzt jeden weiteren Satz.
Dann zum wachhabenden Offizier, der das Ritual gründlicher und misstrauischer wiederholt. Diesmal mit einem Blick, der vor Verachtung strotzt. Das jedenfalls glaubt Hülsmann, der die hochgezogenen Augenbrauen und das Wippen des uniformierten Körpers genau registriert. Und jene wegwischende Geste der rechten Hand. Freundlich interpretiert, denkt Hülsmann, ist es eine Beschreibung des Weges in das Wartezimmer. Dort wo er allein sein wird, allein mit sich und dem Lächeln des Generalsekretärs.
Das Fenster zum Hof ist normalerweise verschlossen, nur heute nicht. So kann Hülsmann an dem angeklappten Milchglasfenster und den Gitterstäben vorbei in den schmalen betonierten Hof sehen. Dort stehen Autos, auch Polizeiautos. Die Autos sind geputzt.
Was denn sonst!, hört er schon einen Uniformierten sagen. Sind doch nicht bei den Hottentotten.
Ja, die Ordnung, sagt Hülsmann leise und sein Blick geht über die Hofmauer.
Hinter der Hofmauer liegt der Jüdische Friedhof. Hier wurden die verstorbenen Heimbewohner beigesetzt. Auch der jüdische Stifter des Hauses, Manheimer. Sein Grab ist vom Fenster aus genauso wenig zu sehen wie das des Malers Max Liebermann.
Dafür finden sich zahllose umgefallene Grabsteine. Zwischen ihnen stehen Unkraut, Efeu und Rittersporn. Sie zeigen den Grad der Verwahrlosung an. Und des Vergessens.
Was sind da schon drei Stunden, denkt Hülsmann. Drei Stunden gegen die Ewigkeit. Drei Stunden gegen das Vergessen.
Hülsmann nimmt erneut auf einem der Holzstühle Platz und lehnt den Kopf nach hinten an die weiße Wand. So kann er mit geschlossenen Augen die Kälte des Steins spüren, die in seinen Kopf kriecht.
Das Leben geht weiter, immer weiter, so oder so. Mit dieser Feststellung ist Lothar nicht allein. Schon gar nicht im Luftikus. Da wimmelt es geradezu von diesen Wahrheiten. Wahrheiten, die die Welt nicht braucht. Vielleicht Hülsmann, der sie vielleicht notieren würde in sein kleines Büchlein, das er unter seiner schwarzen Cordweste trägt. Aber der will sie heute auch nicht hören.
Also Lothar. Ein langer schlaksiger Kerl mit einer ebenso auffallend langen Nase. Wohnt seit dreißig Jahren in der Lettestraße am Helmholtzplatz. Davor war er bei den Eltern. Stargarder, Ecke Dunckerstraße, erster Hinterhof. Aber nicht lange. Denn er war keine zwanzig, als sich der Vater totgesoffen hat. Die Mutter, eine Verkäuferin aus dem Konsum in der Pappelallee, brannte Mitte der Fünfzigerjahre mit einem anderen Mann nach dem Westen durch und ließ den Sohn mit einem Zettel zurück. Den fand er auf dem Küchentisch, als er vom Milchholen kam. Darauf stand, dass sie endlich einmal leben wolle. Er würde das schon später verstehen.
Lothar verstand es auch später nicht. So kam er zunächst ins Heim, was damals nicht ungewöhnlich war. Nach der Lehre fand er dann bei einer Großtante ein Zimmer in der Gneiststraße ums Eck. Auch das gehört zum Pappelkiez. Was anderes kennt der lange Lothar nicht.
Mit zwanzig heiratete er eine junge Frau, die er im Heim kennengelernt hatte. Sie war ein Flüchtlingskind und hatte den Vater an der Ostfront und die Mutter bei einem Bombenangriff auf Breslau verloren. Zur Feier tauchte sogar Lothars Mutter aus dem Westen wieder auf. Aber Lothar hat sie trotz des teuren Westgeschenks vor die Tür gesetzt. Soll man bleiben, wo der Pfeffer wächst!, hat er gesagt.
Bereut hat er es bis heute nicht, auch wenn er manchmal an die Mutter denken muss. Zumal sie damals schon so krank war und an einer chronischen wie schmerzhaften Muskelentzündung litt. Vielleicht ist sie auch inzwischen gestorben. Herausfinden wird er es wohl nicht mehr.
Viel herumgekommen ist der Lothar mit seinen fast fünfzig also nicht. Aber wer ist das schon im Kiez. Bis Köpenick hat es noch keiner geschafft. Fast keiner. Was ja auch nicht notwendig ist. Das Bier kommt da auch nur aus dem Hahn.
Und so eine Molle im Luftikus, Berliner Pils versteht sich, ist ohnehin nicht zu verachten. Womit schon einmal klar ist, dass es sich beim Luftikus nicht um eine Wärmehalle handelt. Klar ist auch, dass jeder das Luftikus sagt, wo es doch eigentlich der Luftikus heißen müsste. Aber so ist das nun mal in der Pappelallee, wo auch das Luftikus ist. Mit grammatikalischer Akrobatik, wie es Hülsmann nennt, hat hier keiner was am Hut. Schon gar nicht, wenn es noch korrekt sein soll.
Also das Luftikus!
Noch Fragen?
Besser nicht.
Na bitte, geht doch! Beruhigt drehen sich die Männer am Tresen wieder dem Wirt zu.
Im Luftikus jedenfalls, Pappelallee Nr. 80, überragt Lothar alle. Wirklich alle!
Und das will schon etwas bedeuten, denn im Luftikus, was eigentlich eine Kneipe ist und so typisch wie der Kiez, gibt es viele Menschen. So viele, dass man am Abend Mühe hat durchzukommen. Durchzukommen?
Ja, sozusagen.
Naja, fast. Also Durchkommen, vom Tresen, der vorn rechts neben der Tür steht, bis zum Klo und wieder zurück, ist gar nicht so einfach.
Vorbei an dem klappernden Ventilator über dem Eingang, der alten Musikbox aus den Fünfzigerjahren und den schwitzenden Wänden, denen das Wasser über das vernarbte Ölpaneel läuft. Vorbei an den verrosteten Garderobenständern, schäbigen Holztischen und Stühlen. Vorbei an dem kleinen Kachelofen in der Mitte.
Und dazwischen die vielen Menschen mit ihren ebenso schwitzenden Leibern, stehend, sitzend, anlehnend, rauchend, trinkend, redend, schreiend. Nein, das ist gar nicht einfach. Schon gar nicht am Freitag und am Samstag. Dann nämlich, wenn es Tanz gibt. Richtigen Tanz. Nicht das Hula-hula-Zeug.
Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong.
Hab ich Sehnsucht nach der Ferne.
Aber dann in weiter Ferne.
Hab ich Sehnsucht nach zu Haus.
So und nicht anders. Tanz eben. Was eigentlich nichts Besonderes ist, schließlich wird ja nur die Musikbox zur Seite geschoben, damit genug Platz ist. Und einer muss natürlich eine Mark in die Box werfen, damit das Ding endlich in Bewegung kommt. Mit Hits der Fünfzigerjahre versteht sich. Danach setzte der Plattennachschub aus dem Westen aus. Und die Ostmusik wollte eh keiner hören. Aber wenn man dann schon mal beim Schieben ist, folgen, im Takt versteht sich, auch gleich noch die Frauen. Aber die heißen hier Weiber.
Natürlich nur in den Armen ihrer galanten Tänzer. Nach dem fünften Pils und dem entsprechenden Kompott dazu, sind hier alle Männer galant. Da haben sich dann auch die Weiber nicht so. Männer sind eben Männer. Und Tanz ist Tanz, ob Schiebermaxe oder Walzer. Ob Elvis Presley oder Freddy Quinn. Also Prost.
Der lange Lothar ist allerdings beim Tanzen nicht mehr dabei. Was wohl an seiner Alten liegt, die, obwohl noch gar nicht so alt, es nicht ertragen kann: Lothar im Luftikus! Denn Lothar ist immerhin Elektriker. Und bald hätte er es zum Meister gebracht. Aber nur bald, denn dann kam die Mauer. Und während das Luftikus auf seine Platten verzichten musste, konnte Lothar seinen Meister abschreiben. Genau wie seine Arbeit im Wedding. Und damit auch die Kohle, was schon eine Sauerei genug war.
Statt Meister im Wedding, Prolet im Prenzlauer Berg, sagt Lothar und lächelt. Dabei weiß jeder, dass dem Langen bei diesen Gedanken gar nicht zum Lachen ist. Denn auch der Meister im Osten war ihm versagt, wo doch die Mutter im Westen war. Also Herr Laurisch, wo denken Sie hin, Verwandtschaft ersten Grades und dann auf unsere Kosten einen Meisterlehrgang. Vergessen Sie es mal schnell.
Lothar kann aber nicht vergessen, auch wenn das schon über ein Vierteljahrhundert her ist. So was frisst sich doch in den Bauch und rumort. Da hilft dann nur noch ein Kräuterschnäppschen. Jedenfalls gut für den Bauch und den Kopf. Vor allem wenn die Erinnerung kommt. Also Prost, Lothar.
Das Luftikus könnte somit eine Tanzbar sein. Ist es aber nicht. Trotz Freddy Quinn und dem weißen Schiff nach Hongkong. So was gibt es hier nicht im Prenzelberg, jedenfalls nicht in einer Seitenstraße der Schönhauser. Das Luftikus ist eine Kneipe, davon gibt es hier viele. Nicht groß und doch hat sie etwas Besonderes, denn sie versteckt sich im Pappelkiez, wie die Leute sagen. Aber vor wem?
Keiner weiß es. Vielleicht ist es die große Schönhauser Allee mit dem Viadukt in der Mitte zwischen den Fahrspuren, über das die U-Bahn rattert. Also überirdisch! Und das in einem Tempo, dass selbst dem langen Lothar ganz schwindlig wird. Im Luftikus gibt es kein Tempo, hier steht die Zeit, selbst beim Tanz.
Aber vielleicht sind es auch die Blicke des Generalsekretärs und seiner Helfershelfer, vor denen sich das Luftikus versteckt. Blicke, die sonst nie haltmachen. Nicht mal vor einer kleinen Kneipe im Prenzlauer Berg. Da könnte sich das Lokal noch so sehr hinter der verfallenen Fassade eines Mietshauses aus der Gründerzeit verkriechen. Aber was ist schon normal. Im Prenzlauer Berg ist nichts normal, sagen schon die Gäste, überhaupt nichts.
Also findet im Luftikus nicht einmal der Generalsekretär Eingang. Der, der sonst jeden Weg kreuzt. Auf jedem Bahnhof, in jeder Schule, in jedem Krankenhaus, in jeder Behörde, selbst im Altersheim oder im Kaninchenzüchterverein. Immer ist er da.
Nur eben hier nicht. Es gibt kein Bild des Generalsekretärs über dem Stammtisch und auch keines über dem Tresen. Auf das ewige Lächeln müssen die Gäste verzichten. Dafür hat schon der dicke Wirt mit den tätowierten Unterarmen gesorgt. Und das seit drei Jahrzehnten. Dabei ist er nur der Sohn des Chefs. Nicht mal den Spitzbart hat er in das Luftikus gelassen. Und da waren die vom Stadtbezirk mindestens drei Mal da.
Nein, hat er gesagt, so was hing hier noch nie. Das Bier schmeckt deshalb auch nicht besser.
Eine kühne Behauptung. Aber glauben wollte das keiner, erzählt er später. Angeblich sind die Männer dann trotzdem unverrichteter Dinge gegangen. Er selbst hat nur mit ein paar Doppelten nachgeholfen. Kann ja sein, manchmal passieren so Wunder.
Egal ob wahr oder nicht. Fakt ist, dass schon der alte Chef, dem das Luftikus bereits vor dem Krieg gehörte, nicht mal den Führer an die Wand ließ. Und das wollte schon was heißen. Mitten in der Reichshauptstadt. Und damals haben sogar die Leute das Lokal boykottiert, weil der Führer nicht über dem Stammtisch hing und beim Biertrinken zuschaute.
Also warum sollte er später die Kommunisten hängen? Im Bilderrahmen versteht sich. Oder gar den Generalsekretär. Noch dazu wo gar keiner mehr auf die Idee kommen würde, das Lokal dafür zu boykottieren. Eher das Gegenteil wäre der Fall. So ändern sich eben die Zeiten. Der Wirt ist doch nicht verrückt. Und der Chef, sein Vater, erst recht nicht.
Nein, das machen die nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr.
Ein Generalsekretär, der über dem Tresen hängt und von hinten dem Wirt über die Schulter schaut. Nein, das geht doch nicht. Am liebsten noch über dem Stammtisch! Wo denken Sie hin? Da kann dann keiner mehr sein Bier ruhig trinken.
Nein, das kann man nicht.
Nicht mal auf dem Klo?
Nicht mal da. Lieber pissen die Leute gleich in die Bordsteinrinne auf der Straße. Und die ist sogar eine Allee, jedenfalls heißt sie so: Pappelallee.
So ist es. So und nicht anders. Leute wie Lothar Laurisch würden den Generalsekretär ohnehin verhindern. Oder wie Micha Schüller. Da müsste sich der Wirt dann entscheiden. Die Stammkunden oder der Kommunist!
Denn auf Kommunisten sind die Leute gar nicht gut zu sprechen. Aber wer ist das schon im Luftikus.
Die da oben sollen uns mal schön in Ruhe lassen, sagt der dicke Wirt mit den tätowierten Unterarmen und versucht dann immer zu beruhigen. Seine Hände hält er dabei in die Höhe. Und das ist freundlich gemeint. Die Tätowierungen könnten da auch was anderes verraten: Segelschiff mit drei Kanonen. Und wie kann es anders sein, mit Totenkopf. Aber gut, da sind ja auch noch die vollbusigen Wassernixen.
Warum das Lokal Luftikus heißt, kann keiner sagen, denn das Eingangsschild fehlt seit Jahren. Was nicht fehlt, ist der stechende Geruch, wie Moder. Vielleicht nach kaltem Rauch. Und dem weißen Schimmel, der manchmal kniehoch an den feuchten Ölpaneelen klebt. Da soll man dann besser die Tür zur Straße auflassen.
So ist es. Und die steht dann auch wirklich offen. Luft! Selbst heute, wo doch gar kein Tanz ist und man sogar noch am Tresen Platz bekommt.
Es stinkt eben nach Untergang, sagt Michael Schüller und freut sich. So wie im Kommunismus. Da muss es auch so riechen!
Aber da hören dann schon welche nicht mehr zu. Denn der Schüller, den alle nur Micha nennen, redet gern von Politik. Dabei ist der kleine dicke Kerl in der schwarzen Zimmermannsmontur Brigadier in einer Zimmereikolonne. Aber mit diesem russischen Wort, das den Vorarbeiter einer sozialistischen Brigade beschreibt, kann man den Micha mal. Brigadier! Wie sich das schon anhört. Da rutscht schon die Zunge dreimal aus.
Nun also, der Sozialismus hat es im Luftikus wirklich schwer. Und das nicht nur, weil der ewig lächelnde Generalsekretär nicht über dem Tresen hängen kann. Im Luftikus heißen Brigadiere Schieber. Das ist die Sprache der Zimmerleute, der Maurer, Tischler, Gerüstbauer, Müllfahrer, Schlosser, Bierfahrer, Kohlenträger, Hausmeister und Kneiper. Und die versteht jeder.
Genau!
Da hat dieses Besatzergesäusel des großen Freundes nichts zu suchen. So sagt es jedenfalls Micha Schüller. Soll sich die russische Zunge daran brechen, aber keine deutsche. Schieber ist Schieber!
Und was den Hut betrifft, den trägt der Schüller, wenn auch ziemlich schmutzig und eingedrückt, wirklich. Unter diesem schwarzen Ding, das einem Cowboyhut ähnelt, versteckt er eine Glatze. Sieht man mal von den paar blonden Pflaumenhaaren ab, die sich seitlich über die Ohren ziehen. Aber auch die verdeckt der Hut gänzlich. Und auf den verzichtet der Micha nicht mal am Sonntag.
Unmöglich, am Sonntag!, findet der lange Lothar und schüttelt dann immer den Kopf. Seine Alte würde ihn so nicht auf die Straße lassen. Aber die lässt ihn ja auch nicht zum Tanz.
Der Micha hat das Problem nicht. Denn er hat gar kein Weib, dafür aber das Luftikus. Und das ist wie Wohnzimmer und Weib zusammen.
Nur dass es mehr stinkt, sagt Lothar und hält sich die Nase zu.
Nicht wieder auf den Kommunismus schimpfen, ermahnt der Wirt und zieht dafür die tätowierten Unterarme aus dem Spülbecken. Will ja auch keinen Ärger wegen der Gäste. Schon gar nicht wegen Micha und Lothar, die immer die große Klappe riskieren.
Nein, nein, verspricht der lange Lothar. Elektrikerehrenwort also. Und das zählt eben auch noch was.
Der muss man aufpassen, dass der nicht am nächsten Stromkabel klebt, sagt Schüller und lacht. Solche Versprechen sind lebensgefährlich, noch dazu im Luftikus.
Also beruhigt euch mal, sagt da der Wirt. Für Politik ist hier kein Platz.
Nein, bestätigt Lothar, und wischt sich den Bierschaum von den Lippen. Die Herren sollen mit ihrem Sozialismus bleiben, wo der Pfeffer wächst. Also Prost.
Prost.
Womit wieder genug Bier fließt. Berliner Pilsner!
Gut, also noch einmal: Das Leben geht weiter. Das ist so ein Satz, wie man ihn so dahinspricht, wenn man wie Lothar am Tresen steht und die Hände in den Hosentaschen vergräbt. Und wenn man sonst nichts weiter zu sagen hat. Und doch erschließt sich im Satz für Hülsmann eine besondere Bedeutung, denn trotz aller Gedanken, die dem jungen Mann durch den Kopf gehen, wäre es manchmal gut zu wissen, dass das Leben weitergeht. Und das am besten jenseits des Blickfeldes des Generalsekretärs. Aber Hans Hülsmann hört ihn ja nicht, diesen Satz. Noch nicht, denn er wartet noch immer in diesem Gebäude der Volkspolizeiinspektion Prenzlauer Berg. Später, ja später wird er ihn hören, wenn er das gelbe Backsteingebäude wieder verlassen kann. Der Weg wird ihn die Schönhauser Allee entlang, dann an der Dimitroff halb rechts in die Pappelallee führen.
Wohin denn auch sonst?
Luftikus, um genau zu sein, hinterer Tisch in der äußersten Ecke noch genauer. Und er wird bei Angie, der einzigen Kellnerin des Luftikus, ein Bier bestellen. Am besten ein großes.
Nun also Angie. Was für ein Name!
Aber schön ist er trotzdem.
Nur dass er gar nicht in das Luftikus passt. Angie! Schreiben kann das keiner. Jedenfalls nicht im Luftikus. Schon weil es ausländisch ist. Egal.
Aber Angie passt ja auch nicht ins Luftikus.
Das will nur niemand zugeben. Vielleicht der Hülsmann, der würde es sagen, aber nur weil er immer sagt, was er denkt. Und das auch noch so unverblümt, dass manch einem da schon die Nackenhaare hochstehen. Und zwar richtig!
Dabei braucht es der Hülsmann gar nicht zu sagen. Er könnte es auch schreiben, denn Hülsmann schreibt viel. Ein richtiger Schreiberling, sagen die Leute.
Doch Hülsmann ist noch lange nicht da. Er sitzt nun schon die vierte geschlagene Stunde in der Volkspolizeiinspektion. Und wartet. Wartet auf die Klärung eines Sachverhalts. Das hört sich dann verdammt nach Verhör an. In Gesprächen lassen sich nämlich keine Sachverhalte klären. Nicht in der Schönhauser Allee 22.
Also dann doch so ein Verhör. Da kennen die sich aus mit. Die, in der Schönhauser. Das weiß doch jedes Kind.
Auch Angie würde das wissen. Doch Angie will es nicht wissen. Sie hat mehr zu tun. Gerade jetzt, wo der dicke Zeiger der Wanduhr auf die Sechs rutscht. Dann ist es so weit.
Angie drückt das Aluminiumtablett, auf das sie Kaffeekännchen, Tasse und Untertasse gestellt hat, in den schmalen Bauch und läuft durch das Lokal. Vorbei an dem klappernden Ventilator über dem Eingang, der alten Musikbox und den schwitzenden Wänden. Vorbei an den drängelnden Kohleträgern, die am Abend mit weißen Hemden und schwarzen Kragen im Luftikus erscheinen und den verblühten Damen in bunten Blümchenkleidern ihre Aufwartung machen. Vorbei an den Schlossern mit den zernarbten Händen, den verschwitzten Möbelträgern, übel riechenden Müllfahrern und den Zimmerleuten aus Michas Brigade, die ihre Fingerstumpen hinter gefüllten Gläsern verstecken.
Angie! Ein Dutzend Augen laufen ihr nach, ihrem wehenden, hennagefärbten Haar, den schwingenden Hüften und den elegant gesetzten Schritten. Sie laufen ihr nach mit einem Blick, der vielsagender nicht sein kann. Vom Tresen bis hinten zum letzten Tisch, dem vor dem Klo. Angies Laufsteg, hat Hülsmann einmal gesagt, was Angie als Kompliment auffasste, sodass der Hülsmann das lieber nicht kommentierte. Und die Männer hinter den Biergläsern haben ihn ohnehin nicht verstanden, vielleicht weil sie sie gar nicht wissen, was ein Laufsteg ist.
Am letzten Tisch bleibt Angie stehen, stellt Kaffeekännchen, Tasse und Untertasse ab und macht eine leichte Verbeugung. Dabei fällt ihr ein Lächeln aus dem Gesicht, das nicht nur ihre großen weißen Zähne zeigt, sondern auch die Augen leuchten lässt. Und das sind große Augen, rehbraune Kulleraugen. Dann zieht sie den kurzen Rock wieder gerade, kneift die Augen zusammen und wirft das Haar über die Schulter. So bleibt sie noch eine Weile stehen. Lange genug, dass die Männer im Gang und am Tresen sich noch das Feuchte aus den Mundwinkeln wischen können.
Das eingefallene alte Männlein am Tisch nimmt kaum Notiz von seiner Bedienung. Ungerührt sitzt es da, im Anzug aus feinem Zwirn und mit einem großkarierten Binder. Nur langsam hebt es den greisen Kopf mit den herausgetretenen Backenknochen. Aber Chefs können sich das leisten. Die Angestellten mit Nichtbeachtung strafen.
Jeder andere Gast hätte jetzt mindestens eine halbe Stunde auf Angies nächste Lieferung gewartet. Und das wäre noch eine milde Strafe. Denn Angie kann auch ganz anders. Schon bei einer Wiederholungstat würde der Gast schlichtweg verdursten!
Aber Chefs dursten nie. Kaffee trinkend thront das alte Männlein an seinem Einzeltisch und schreibt Abrechnungen. Jeden Tag. Mindestens dreißig Jahre macht es das so, sagt der Wirt. Und der muss es als Sohn ja wissen. Irgendwann wird er auch mal am Ecktisch sitzen und den Chef spielen. Aber erst wenn sein Sohn den Tresen übernimmt. Doch das kann noch dauern. Können ja nicht loslassen, die Alten!
Lothar nickt vom Tresen aus dem alten Mann zu.
Auch der Mann nickt. Dabei hat er den langen, aber schmalen Raum im Auge. Und die Gäste.
Ehrfürchtig schlagen die Männer einen großen Bogen um den Chef. Nur Angie, die schöne Angie, die den Kaffee bringt, darf an den Tisch. Die Uhr kann man danach stellen. Sonst bleibt der Tisch leer.
Fünf Kellnerinnen hat der schon überlebt, sagen die Leute. Fünf Kellnerinnen in dreißig Jahren. Da sind die davor, als er noch am Tresen stand, gar nicht mitgerechnet.
Aber so eine prallbusige mit großen braunen Augen war noch nie dabei, sagt einer der Zimmerleute mit den fehlenden Fingern.
Zitternd führt der Alte die Tasse zum Mund. Über die weiße schmale Hand ziehen sich kleine rote Adern. Zwei dicke Goldringe glänzen. Aber wieder nippt er nur. Ein Kännchen pro Abend, zwei am Tag.
Die Angie schafft er auch noch, flüstert eine der verblühten Damen vom Tresen und kichert.
So ein knackiges junges Ding, schnalzt ein kräftiger Kohlenträger. Da würde ich nicht lange fackeln.
Die Dame unterbricht ihr Kichern und macht große Augen. Von wegen, raunt sie den Mann an. Nicht mal berühren würdest du die!
Der kräftige Kerl kratzt sich mit seiner rechten großen Pranke am Kopf. Der Kopf ist rot. Sagen muss er nichts mehr, denn die Umstehenden lachen schon. Und dann schauen sie neidisch auf den runden Stammtisch. Denn nur die Gäste am Stammtisch klopfen im höchsten Glücksrausch mal auf Angies Hintern. Natürlich nur, wenn das Trinkgeld stimmt.
Aber das ist selten.
Meistens lassen auch sie nur ihre Augen Angie nachlaufen, blasen nervös graue Qualmwolken in die Höhe und drücken sich an die kranke feuchte Wand hinter dem Stammtisch. Dort wo der Schimmel kniehoch steht.
Die Wand hat die Blattern, weiß Schüller. Und der muss es wissen. Das ist in alten Häusern wie eine Seuche, erklärt er bedeutungsschwer. Dabei wedelt er sich mit seinem Hut frische Luft zu.
Die Blattern!, lacht Lothar. Von wegen!
Was denn sonst?, sagt Schüller.
Ja, was denn sonst.
Warum auch nicht. Also.
Zu viel Wasser, sagen die Leute. Die Feuchtigkeit steigt aus den Grundmauern bis ins Erdgeschoss. Und wenn man wartet und nichts macht, steigt er auch noch weiter, hinauf bis zum ersten Stock. Dann ist der Putz wie ein vollgesaugter Schwamm, nur schwerer. Und zum Schluss fällt er ab. Da muss man aufpassen, dass man den Dreck nicht auf den Kopf bekommt. Kann nämlich schmerzhaft sein.
Schöne Bescherung.
Wenigstens die vielen Tierchen, die die Wand wie einen Fels erklimmen, fühlen sich wohl. So sagt es Angie, wenn sich einer über die kranke Wand beschwert. Ist schließlich nicht ansteckend.
Wenn nur nicht immer der Gestank wäre.
Gestank?
Hat schließlich auch was, so ein süßlicher Geruch. Fast anziehend, sagt einer der Müllfahrer und atmet tief ein. Wie nach Verwesung.
Verwesung, das hört sich auch nicht besser an! Da kann man auch gleich von den Blattern reden.
Eben nicht, denn diese Verwesung hat noch eine andere Bedeutung. Das ist wie das geadelte Verderben. Und damit hat sie einen gewissen Charme. Aha! Aber so quer denkt nur einer im Luftikus, und der ist noch gar nicht da. Ja, der Hülsmann würde solche Erklärungen finden und dabei den Boden unter den Füßen verlieren. Künstler eben, Lebenskünstler noch besser.
Also doch Verwesung, wiederholt der Mann von der städtischen Müllabfuhr.
Und es riecht nach Liebe, ergänzt sein Nachbar. Fleisch, Schweiß und Liebe. Dabei kreist seine Zunge um den geöffneten Mund.
Und das ist dann fast der Höhepunkt. Es sei denn, Angie kommt vorbei und hinterlässt den Duft eines unbekannten Parfüms. Und dieser Duft mischt sich mit dem Geruch nach Verwesung. Der Tod könnte süßer nicht sein.
Kein Wunder, wenn einige der Gäste die Augen schließen. Und dabei das Luftikus verlassen, auf dem Weg ins Paradies.
Da muss dann schon der Wirt selbst eingreifen. Von wegen Umsatz und so. Oder eine der Damen.
Hört auf zu träumen, ertönt auch schon eine kräftige Frauenstimme. Wobei die Dame wohl ahnt, keinen Platz in dem Männertraum zu finden.
So gehen die Augen wieder auf. Nicht im Paradies, sondern im Luftikus. Und dann ist sie schon da in ihrer ganzen Fülle. Gerda. Zu bieten hat auch sie was. Breite kräftige Arme, die sie quer über den Tisch legt und ein pausbäckiges rundes Gesicht, in das eine schwere Brille rutscht. Also meine Herren!
Gut. Dann eben Gerda. Frauen sind im Luftikus ohnehin rar.
Und Gerda ist zufrieden, trotz Konkurrenz. Muss ja nicht immer gleich ein Schieber sein oder gar ein Fleischermeister. Nach ein paar Doppelten sehen die Männer eh alle gleich aus.
Der feuchten Wand hilft kein Doppelter. Sie kann ja nicht mal eine Tapete tragen! So haben es die Maler nach einer ausgiebigen Untersuchung festgestellt und es gar nicht mehr versucht. Den Tapetenkleister haben sie lieber gegen ein paar Frischpils vom Tresen und einem sensationellen Augenaufschlag von Angie getauscht.
Vor die Wand schiebt man besser die Musikbox. Dann sieht man den Schimmel nicht mehr.
Also muss die Box wieder her und Elvis oder besser gleich Freddy Quinn. Den versteht man wenigstens. Und er ist Stammkunde, so wie die meisten hier. Jedenfalls akustisch. La Paloma ohé und so. Ach wie schön!
La Paloma, ohé, einmal müssen wir geh’n
,einmal schlägt uns die Stunde der Trennung.
Einmal komm ich zurück.
Ins Luftikus kommt man immer zurück. Womit wir dann wieder beim Tanz sind. Samstagabend oder Freitag, wie gehabt. Aber immer nur dann, wenn sich jemand findet, die Box mit einer Münze zu bestücken und den Tanz eröffnet. Oft ist allerdings das Klappern des Ventilators über dem Eingang lauter als die Musikbox. Da wissen die Tanzpaare dann nicht, ob sie nach Platte oder Ventilator tanzen. Aber auch das ist egal.
Wenigstens es dreht sich, sagen die Gäste.
Angie hat dann Mühe, das Lokal wieder zum Stehen zu bringen, denn auch ihr wird ganz schwindlig.
Noch eine Trommel Pils und die Kurzen nicht vergessen! So geht das in einer Tour. Immer und immer wieder. Nicht mal der dicke Wirt hinter dem Tresen hat dann was zu lachen. Aber warum sollte er auch, ist ja nicht zum Vergnügen da.
Vier Schritte vor, vier Schritte zurück. Mehr kann der junge Mann nicht gehen. Dann nimmt er auf einem der knarrenden Holzstühle Platz und schaut zum Generalsekretär auf. Der lächelt, wie er immer lächelt. Erstarrt und künstlich.
Mein Dorian Gray, denkt Hülsmann. Denn auch der Generalsekretär wird nicht älter. Seit Jahren lächelt er von den Wänden der Republik. Die Zeit hat ihm nicht eine einzige Falte angehangen. Dabei ist er noch älter als Hülsmanns Großvater.
Der Großvater kann vom ewigen Leben nur träumen. In einem Pflegeheim in Templin, Uckermark, ringt er täglich mit dem Tod. Es gibt kaum Hoffnung, sagen die Ärzte. Vielleicht noch ein paar Monate. Das Leben ist eben endlich.
Endlich! Endlich ist auch der Warteraum. Hans Hülsmann geht wieder vier Schritte. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück.
Hülsmann ist Künstler. Auch wenn er sich so gar nicht sieht. Denn eigentlich ist er Kulissenschieber oder Theaterhandwerker, wie es offiziell heißt. Volksbühne, altes ehrwürdiges Haus.
Hülsmann liebt das Theater. Vielleicht weil er darin die Welt erblickt. Das große Welttheater, sagt er, ist wie ein Buch. Hülsmann ist der Leser dieses dicken Buches, still und unaufgeregt. Fast ein wenig abgeklärt für seine achtundzwanzig Jahre. Auf jeden Fall hat der den Frieden mit sich gefunden, weiß schon der Lothar zu berichten. So wie der auf die Welt schaut, mit diesem verklärten Blick.
Den Frieden hat Hülsmann weniger dem verklärten Blick zu verdanken als zwei anderen Dingen. Einem Zaubermantel und einem Buch aus braunem Schweinsleder, das er unter der Weste trägt. Der Mantel hängt an der heimischen Garderobe und kann unsichtbar machen. Eine Eigenschaft, die in schlechten Zeiten ihr Gold wert ist. Was natürlich auf der Hand liegt. Und dennoch nicht vergessen werden soll.
Mystisch ist es in jedem Fall. Fast wie im Märchen, mit Feen, Einhörnern, Zauberstäben, Hexen und magischen Steinen. Jedenfalls glaubt das Ottmar Graustock, und der könnte es ja wissen. Nicht nur weil er Hülsmanns Freund und Nachbar im Haus Gethsemanestraße 5 ist. Nein, der Graustock studiert immerhin Theologie und das will was heißen in einer Welt, in der zwar Generalsekretäre nicht altern, aber ansonsten Gott für tot gehalten wird. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Buch ist Hülsmanns Heiligtum. Das liegt wohl an den handgeschriebenen Texten. Randglossen der Ewigkeit, sagt Hülsmann. Oder noch komplizierter: Parerga und Paralipomena.
Ein komischer Kauz eben, der Hülsmann, sagt auch Schüller, aber wer ist das nicht, wenn er im Prenzlauer Berg lebt mit seinen heruntergekommenen Mietskasernen, Kulissen an einem Theater schiebt und hofft, selbst einmal das große Theaterrad zu drehen. Vielleicht als Autor oder gar als Regisseur. Aber dazu muss man eben studieren. Und zum Studieren sollte man besser keine Vorladung zur Volkspolizeiinspektion haben. Das gibt immer Ärger. Und jetzt hat er den Ärger, der Hülsmann.
Noch also sitzt er da in der Schönhauser Allee 22, in diesem Warteraum, und macht sich Gedanken über das Warten. Denn, so denkt Hülsmann, der Warteraum ist eigentlich ein Raum, in dem man gar nicht warten kann, weil die Zeit hier stillsteht. Damit aber widerspricht die Zeit der Form des Wartens, die eine Verlaufsform wäre. Denn sie ist es, die eigentlich vergehen soll, damit das Warten zum Warten wird und das Warten ein Ende hat.
Typisch Hülsmann, würde jetzt der Graustock sagen, so ein verdrehtes Denken. So typisch wie sein Aufzug, der auch etwas von Theater hat. Ein schwarzer altmodischer Zimmermannsanzug mit Weste und Perlmuttknöpfen. Ein Erbstück vom Großvater. Genauso wie die alte Sprungdeckeluhr, die an einer Kette hängt und aus einer Westentasche herausschaut. Dazu das kragenlose weiße Leinenhemd und der schwarze Hut mit breiter Krempe. Ein Kerl wie ein wandernder Geselle, den das letzte Jahrhundert vergessen hat.
Aber Hülsmann hat keiner vergessen, auch die Volkspolizei vergisst solch merkwürdige Gestalten nicht. Und auch nicht die anderen Leute, die zwar alle unter Volkspolizei firmieren, aber keine Uniform tragen. Für wen die arbeiten, muss man nicht raten.
Ist ja selbst dran schuld, sagen die Leute, wenn er so merkwürdig ausschaut. Da stimmt da oben was nicht. Dabei tippen sich die Leute mit dem rechten oder linken Zeigefinger an die Stirn.
Allein dieser Aufzug macht ihn verdächtig. Und dann sind da noch das schwarze schulterlange Haar und die verkniffenen kleinen Augen, die immer hinter die Dinge schauen.
Der Hülsmannsche Röntgenblick, sagt Graustock. Typisch.
Ausgerechnet Hülsmann, der manchmal sagt, was er besser für sich behalten sollte, dann aber wieder alles verheimlicht und jede Bewertung offen lässt. Oder in sein Büchlein trägt, für sich, versteht sich.
Diese Art Geheimniskrämerei gefällt nicht jedem. Dorian Gray zum Beispiel hätte keine Freude an dem Versteckspiel. Wo kommen wir denn da auch hin?
Also noch einmal, vier Schritte vor und vier Schritte zurück. Die Schritte hallen jetzt so laut, als wollten sie zur Decke hinaufschreien. Aber in diesen Räumen schreien nicht mal die Schritte. Die Angst liegt wie ein Tuch über den Lauten und Tönen, sie kriecht in die Kehlen und macht die Münder stumm.
Plötzlich bleibt Hülsmann stehen. Er lauscht. Fremde Schritte! Laut und drohend eilen sie den Gang entlang. Hülsmann kann noch gar nicht die Herkunft orten, da folgt schon eine Stimme. Und dann steht der Mann in der Tür.
Hülsmann, sagt der Mann, sodass der Angesprochene nicht weiß, ob das eine Frage oder eine Feststellung ist.
Hülsmann bejaht, entweder aus Instinkt oder dem Gefühl, besser nicht zu widersprechen. Denn diesen Aufforderungen, egal ob Frage oder Feststellung, entgeht man am besten durch Gehorsam.
Hülsmann, Hans, wiederholt der Mann mechanisch und setzt damit Vor- und Zunamen in die für Akten übliche Reihenfolge. Und er sagt es so, als wäre da noch ein zweiter Mann im Warteraum.
Aber der zweite Mann hört es nicht. Dorian Gray lächelt nur. Hülsmann nickt.
Folgen Sie, fordert der Mann und dreht sich auf der Türschwelle. Der Mann hat keine Uniform. Nur eine graue Hose und ein dunkelblaues Jackett mit aufgesetzten Taschen.
Bestimmt Präsent 20, denkt Hülsmann und sieht die Auslagen in der Schönhauser Allee vor sich. Gleich neben dem Wiener Café. Dort stehen fünf Schaufensterpuppen und die tragen alle graue Hosen und dunkelblaue Jacketts mit aufgesetzten Taschen. Präsent 20, verkündet ein großes Schild. So groß, dass sich Hülsmann schon Gedanken machte, was sich hinter dem Präsent 20 verbergen würde. 20 Jahre, 20 Menschen, 20 Prozent Baumwolle?
Hülsmann, in der Hand seinen abgeschabten Hut, folgt wortlos dem Mann, dessen Jacketttaschen glänzen. Kunststoff, lächelt Hülsmann, der glänzt immer so. Dabei muss er unweigerlich an den wohl einzigen Werbespruch auf einer der Autobahnbrücken zwischen Berlin und Leipzig denken. Plaste und Elaste aus Schkopau!
Plaste und Elaste aus Schkopau, wiederholt Hülsmann leise. Der Mann bleibt stehen und schaut Hülsmann mit großen Augen an. Ist was?, fragt er.
Nein, nein, ganz und gar nicht.
Dann weiter, befiehlt der Mann.
Hülsmann zählt die Stockwerke. Im dritten Stock werden die Schritte langsamer.
Der Mann im dunkelblauen Jackett ringt nach Luft. Gehen Sie voran, fordert er Hülsmann auf. Vielleicht weil er sich an die Vorschriften halten will.
Hülsmann stockt.
Na weiter, sagt der Mann und schiebt Hülsmann in den Gang. Der ist so lang wie ein Bergwerksschacht. Am Ende flutet Tageslicht durch eine kleine Öffnung in den Stollen.
Aus dem frisch gebohnerten Fußboden steigt eine vertraute Geruchsmischung. Es ist der strenge Geruch von Bohnerwachs und einem beißenden Reinigungsmittel. Wenn es auch nur einen Einheitsgeruch in diesem Land gibt, so denkt Hülsmann, dann ist es genau dieser Geruch. Er ist ein Markenzeichen, das man urheberrechtlich schützen müsste. Egal welches öffentliche Gebäude man auch immer betritt, sei es der Kindergarten, die Schule, die Polizei, der Bahnhof oder gar ein Standesamt, alles dünstet diesen merkwürdig strengen Einheitsgeruch aus. Selbst in der Volksbühne, einem Theater, steht dieser Einheitsgeruch in den langen Gängen des Verwaltungstraktes.
Der Flurboden glänzt im Gegenlicht wie die aufgesetzten Jacketttaschen. Beidseitig des Ganges reihen sich Türen aneinander. Unendliche Türen, die in unbekannte Zimmer führen. Nur die dreistelligen Nummern in schwarzen Plastebeschlägen verraten Unterschiede.
Hinter den Türen rasseln Schreibmaschinen. Sie stempeln Buchstaben in Papierrollen. Ihre Anschläge sind so flink wie das Trommeln von Regentropfen auf einem Autodach.
Hülsmann sieht schon die Buchstaben auf mechanischen Füßchen durch die Räume eilen. Erst in Marschkolonnen, dann in Gruppen und Grüppchen. Und er hört sie. Wie das Rasseln von metallenen Ketten, die über einen harten Boden gezogen werden. Gleichmäßig und nur manchmal von einer kurzen Pause unterbrochen. Typisch Hülsmann, dem wieder die Gedanken durchgehen. Oder die Fantasie.
Aufgeschreckt durch die dröhnenden Schritte im langen Gang, laufen die Buchstaben wild auseinander, um sich hinter Schränken und Heizungen, Akten und Papierstapeln oder unter Linoleumböden zu verkriechen. Andere klettern auf Schreibtische und Schränke, Aktenordner und Ablagen. Dann endet das Klicken und Klacken, das Hämmern und Rasseln. Hülsmann würde jetzt gern ein Buchstabe sein und sich hinter einem Aktendeckel verstecken und abwarten. Aber er ist kein Buchstabe. Kein A und kein Z. Nicht mal ein H, wie Hans.
Halt, sagt der Mann hinter ihm. Es ist die Tür 328.
Der Mann ballt die rechte Hand zu einer Faust und schlägt mit den spitzen Fingerknochen entschlossen gegen die Tür. Dann tritt er einen Schritt zurück. Zugleich legt er seine linke Hand fest um Hülsmanns Oberarm. Der Zugeführte wehrt sich nicht.
Moment, schallt eine Stimme von innen. Dann ist es ruhig.
Aber die Tür öffnet sich nicht. Auch folgt keine Aufforderung zum Eintreten. Sekunden vergehen, oder steht die Zeit wieder einmal still? In solchen Momenten steht die Zeit doch immer still. Sie hält den Atem an, denkt Hülsmann. Also hält er auch den Atem an.
Herein, schallt es endlich aus dem Zimmer.
Der Mann öffnet die Tür und schiebt Hülsmann in einen Raum. Der Raum ist hell und freundlich. Die späte Nachmittagssonne wirft gelbe Lichtkegel auf den braunen Fußboden. Hinter einem großen braunen Schreibtisch sitzt ein Mann. Er schreibt. Der Füllhalter zittert über die abgenutzte Schreibtischplatte. Das Blatt, das er füllt, ist nicht zu sehen. Der Mann hat ein weißes eingefallenes Gesicht mit großen dunklen Ringen unter den Augen. Sein Kopf ist fast kahl. Nur ein Streifen dünner grauer Härchen zieht einen schmalen Kranz über Ohren und Hinterkopf. Auch er trägt ein dunkelblaues Jackett mit aufgesetzten Taschen. Als der Mann aufsteht, fällt ein dickes Sitzkissen zu Boden. Er lässt es liegen.
Jetzt ist auch die graue Hose aus den Präsent-20-Auslagen neben dem Wiener Café zu sehen. Und ein wohlgenährtes Bäuchlein. Das wölbt sich spitz unterhalb der eingefallenen Brust. Darüber hängt ein kurzer brauner Binder. Die Spitze des Binders sitzt auf dem Bäuchlein auf.
Langsam geht der kleine Mann zum Fenster. Dabei stützt er sich auf den Schreibtisch.
Nun, Herr Hülsmann, sagt der Mann nach einer Weile, dann erzählen Sie mal. Dabei schaut er Hülsmann das erste Mal richtig an. Diesen merkwürdigen jungen Mann mit seinem schwarzen abgewetzten Cordanzug und der schwarzen, am Bauch ausgebeulten Zimmermannsweste, auf der immerhin sechs Perlmuttknöpfe leuchten. Fast beiläufig weist er ihm mit der linken Hand einen Holzstuhl zu.
Aber was soll ich erzählen?, fragt Hülsmann. Langsam lässt er sich auf dem zugewiesenen Platz nieder und schaut sich fragend nach dem Mann hinter sich um.
Der aber rührt sich nicht. Wie angegossen steht er da, die Hände an die Seite gelegt.
Sie werden schon wissen was, sagt die Stimme am Fenster.
Ich weiß wirklich nicht, erwidert Hülsmann und hebt die Schultern.
Natürlich nicht, sagt der Glatzköpfige und lächelt. Sie können uns nichts vormachen, Hülsmann! Da können Sie rumlaufen, wie Sie wollen. Das hilft alles nichts!
Will ich doch nicht, beteuert Hülsmann. Dabei zieht er so ein Gesicht, ein typisches Hülsmanngesicht, aus dem ganze Bände sprechen. Aber dafür kann der Hülsmann nicht. Denn irgendwie hat er, trotz mancher Narben, immer etwas Verschmitztes im Gesicht oder besser unter den Augen.
Schade, sagt der Glatzköpfige noch mit ruhiger Stimme und stellt sich jetzt neben Hülsmann. Dann aber bricht es aus ihm lautstark heraus: Mit solchen Bürschchen wie Ihnen werden wir schon fertig. Keine Bange! Dann setzt er sich wieder hin und beginnt zu schreiben.
Hülsmann ist rot angelaufen. Aber …, versucht er noch einmal. Aber ich weiß wirklich nicht, ich hatte doch nur diese Vorladung …
Der Glatzkopf springt wieder auf. Glauben Sie im Ernst, dass wir Sie aus lauter Spaß vorladen, Hülsmann? Glauben Sie das wirklich? Denken wohl, wir hätten sonst nichts zu tun. Dabei fuchtelt er mit der Hand vor Hülsmanns Gesicht herum. Nein, nein, bilden Sie sich nur nichts ein!
Ich weiß doch wirklich nicht, versucht Hans Hülsmann noch einmal seine Unschuld zu beteuern. Dabei gibt er sich alle Mühe.
Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle machen würde, unterbricht der Glatzkopf und lehnt sich über den Schreibtisch.
Hans Hülsmann schüttelt den Kopf.
Ich würde schön ruhig sein und auspacken. Alles, verstehen Sie, alles!
Aber, … stottert Hülsmann.
Ich sehe, sagt der Mann, das hat keinen Zweck mit Ihnen. Naja, so können wir Ihnen auch nicht helfen. Helfen, sagt er wirklich. Hülsmann merkt sich diesen Satz genau.
Der Mann setzt sich wieder hinter den Schreibtisch. Das Kissen hatte er vorher unauffällig aufgehoben. Das, und dabei nickt der Mann, haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben … Aber was, wirft jetzt Hülsmann laut ein. Was? Sie kommen sich wohl sehr wichtig vor Hülsmann, was? Der Glatzkopf lacht. Aber nichts für ungut. Sie werden es noch rechtzeitig zu spüren bekommen. Dabei füllt er einen Zettel aus. Und ich bin sicher, Sie denken an diesen Tag. Ich würde es auch an Ihrer Stelle. Den Tag sollten Sie nicht vergessen!
Hülsmann würde solche Tage auch so nicht vergessen. Er braucht keine Erinnerung. Denn Hülsmann hat ja sein Büchlein. Hier wird auch dieser Tag seine Erwähnung finden. Und Sätze wie: Dann können wir Ihnen auch nicht helfen. Oder: Das haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben! Sätze, die keiner Erklärung bedürfen. Schreiben gegen das Vergessen, nennt das Hülsmann.
Also, sagt der Mann und lehnt sich über den Schreibtisch. Dabei streift die Spitze des braunen Binders über die Tischplatte. Ab sofort halten Sie sich zu unserer Verfügung. Was das heißt, muss ich Ihnen nicht erklären, die Stadt jedenfalls verlassen Sie nur noch nach unserer Genehmigung. Ich würde Ihnen raten, sich danach zu richten. Wenn nicht, dann müssen Sie mit Konsequenzen rechnen! Ich jedenfalls habe Sie gewarnt.
Hülsmann spürt einen eisernen Handgriff um seinen Oberarm.