Cover

titel.jpg
Über den Autor
autor.jpg
Dr. Josef Giger-Bütler ist Psychotherapeut mit eigener Praxis in Luzern. Seit vielen Jahren ist er auf die Therapie und Heilung von Depressionen spezialisiert. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Wir schaffen es – Leben mit dem depressiven Menschen« (2014).
Impressum
Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich
(ISBN 978-3-407-85845-0)
Wichtiger Hinweis:
Die im Buch veröffentlichten Ratschläge wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen von den Autoren erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch weder vom Verlag noch von den Verfassern übernommen werden. Die Haftung der Autoren bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Wenn Sie sich unsicher sind, sprechen Sie mit Ihrem Arzt oder Therapeuten.
Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen.
www.beltz.de
© 2010 Beltz Verlag • Weinheim und Basel
Umschlaggestaltung: Büro Hamburg
E-Book: Beltz GmbH Bad Langensalza, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-22271-8

Inhaltsverzeichnis

1. Teil
Die Hauptthemen und Voraussetzungen des Ausstiegs
1.Einführung in dieses Buch
Merkmale, Verlauf und Ausprägungen der Depression
2.Der Ausstieg
Erste Orientierungspunkte: Worum es geht
Den Weg zu sich finden: Wie der Austieg gelingen kann
Sich ins Zentrum stellen
3.Den Weg des Ausstieges allein gehen
Allein und doch nicht allein: Vom Nutzen dieses Buches
Der Depressive selbst bestimmt seinen Weg
Zweifel überwinden
Auf den eigenen Körper achten
4.»Jetzt geht es um mich«
Das neue Lebensmotto beherzigen. Nicht nur für die anderen da sein
Verantwortung für sich und sein Handeln übernehmen
Die neuen Lebenssätze, das neue Wertesystem
Sich annehmen und verstehen
2. Teil
Verändern-Lernen
5.Den eigenen Weg gehen
Eigene Lebenslinien finden
Was will ich?
6.»Ich muss gar nichts«
Vom Wollen und Müssen
7.Sich die Erlaubnis geben
Die neue Freiheit. Selbstwert und Selbstvertrauen
Einen perfekten Ausstieg gibt es nicht
Der Dialog mit sich selbst
Sich Ruhe gönnen
8.An sich denken. Sich um sich kümmern
Sich für sich einsetzen, sich helfen, sich unterstützen
Umgang mit dem Körper und mit der Erschöpfung
Mit kleinen Schritten zum Erfolg
Weiterführende Literatur
1
Die Hauptthemen und Voraussetzungen des Ausstiegs
  
  

1  
Einführung in dieses Buch

Idealerweise und auch vernünftigerweise wäre es richtig, wenn ein Ausstieg aus der Depression begleitet stattfinden würde, nicht zuletzt deswegen, weil ein begleiteter Ausstieg einfacher und freier von Enttäuschungen, Zweifeln und Misserfolgen ist. Begleitet heißt zuerst einmal ganz einfach: nicht allein. Nicht allein alles durchdenken, nicht allein die ersten und ungewohnten Schritte gehen, nicht allein Freude und Zufriedenheit empfinden, aber auch Enttäuschungen, Frust und Unsicherheiten ertragen. Begleitet von jemandem zu sein heißt auch, sich nicht allein immer wieder aufbauen und neu motivieren zu müssen, sich nicht allein immer wieder auf die eigenen Beine zu stellen. Allein den Ausstieg zu versuchen verstärkt die Einsamkeit, die Sprachlosigkeit und kostet enorme Kraft bei jemandem, der sich bereits am Rande der Erschöpfung befindet.
Es gibt wahrscheinlich keinen depressiven Menschen, der nicht versucht hat, anders, besser und unbelasteter zu leben. Immer wieder. Sie oder er hat Niederlagen eingesteckt, hat sich wieder aufgerappelt, es wieder versucht, bis sie oder er nicht mehr konnte, nicht mehr die Kraft hatte, eine weitere Enttäuschung zu ertragen und ein x-tes Mal wieder von vorne zu beginnen. Immer wieder haben depressive Menschen erfahren, dass sie es nicht schaffen, haben sie sich die Bestätigung geholt, dass Hopfen und Malz verloren sind, dass ihre Grundhaltung eben doch stimmt, obwohl etwas in ihnen sich innerlich dagegen wehrte und sie die Erkenntnis: »Was immer du machst, es genügt nicht. Wie oft du auch etwas versuchst, du schaffst es nicht«, immer trauriger und hoffnungsloser stimmte. Sie haben es ja unendlich viele Male versucht, bis sie enttäuscht und ratlos aufgegeben haben. Sicherlich wäre es einfacher gewesen, sich damit abzufinden, wenn sie sich nicht doch immer wieder gesagt hätten: »Wenn du es nicht versuchst, kann auch nichts daraus werden, vielleicht hast du deine Chance noch.«
Dieses Buch ist dafür gedacht, dass sich der depressive Mensch aus dem Teufelskreis, es »allein zu versuchen« und dann zu versagen, noch einmal damit anzufangen und dann wieder stecken zu bleiben im gleichen trostlosen Leben, befreien kann. Wenn der depressive Mensch den Ausstieg allein versucht – und sie oder er versucht ihn, auch wenn alle ihr oder ihm raten, es doch mit professioneller Begleitung zu tun –, dann soll sie oder er etwas zur Hand haben, das den Weg erleichtert, sie oder ihn führt und begleitet. In der Regel weiß sie oder er sehr genau, was sie oder er nicht mehr will, aber hat keine Ahnung, wie man das erreicht. Sie oder er weiß, so wie bisher will sie oder er nicht mehr leben. Wie aber der Weg verläuft, um zu einem andern Leben zu gelangen, kann sie oder er nicht wissen. Dieses Buch soll ihm und ihr diese Hilfe geben. Allein aus der Depression und doch nicht allein, das ist das Motto.1
1 Der Lesbarkeit halber verzichte ich im weiteren Text weitgehend auf das umständliche und leseunfreundliche »sie oder er«, wenn vom depressiven Menschen die Rede ist. Wenn ich hier von »ihm« spreche, sind selbstverständlich beide, Frauen und Männer, gemeint.
Im nächsten wie in den meisten Kursivtexten des Buches stehen Gedanken, Vorsätze und Überlegungen, wie sie depressive Menschen für sich selbst formulieren könnten. Sie sind gedacht als Vorschlag, als Hilfe und Aufforderung, für sich eigene Sätze zu finden oder diese zu übernehmen, wenn sie einem entsprechen. Häufig sind es auch Kernsätze und Leitideen, die wegen ihrer Bedeutung für die Selbsttherapie so hervorgehoben werden.
Ich will ein besseres Leben und bin bereit, einen Weg zu gehen. Aber ich will ihn anders, besser vorbereitet und besser ausgerüstet angehen als bei all den bisherigen Versuchen. Ich will nicht immer die gleichen Fehler machen, ich will nicht mehr alles ganz allein machen, sondern mich begleiten und führen lassen.
Wie viele Ausflüchte nimmt der depressive Mensch zu Hilfe, um nicht fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Er windet sich wie ein Fisch an der Angel. Aufstehen und weitergehen, so ist sein Leben. Ein Aufgeben gibt es für den depressiven Menschen nicht. Über lange Zeit sind ein Arztbesuch oder eine Therapie kein Thema. »Eher gehe ich kaputt, als dass ich zu einem gehe und sage, dass ich spinne.« Es ist ja alles normal, es läuft, wie es immer lief, nur hat sich im Laufe der Jahre eine Müdigkeit eingeschlichen, ein Gefühl von »Ich mag jetzt nicht mehr, das kann es doch nicht sein, ich ertrag es nicht mehr, ich will es nicht mehr so, das ist doch kein Leben, lieber …«. Es dauert lange, bis der depressive Mensch zu ahnen beginnt, dass jeder gescheiterte Versuch, anders zu leben, nur die Erschöpfung steigert, und die Zuversicht mindert. Der Glaube, es noch einmal zu schaffen und unbelasteter leben zu können, verschwindet langsam und der Wille weiterzuleben wird immer schwächer. Entweder wagt er den Schritt zu einem Therapeuten oder er gibt auf, weil er irgendwann einmal einfach nicht mehr kann. Dieses Buch bietet ihm nun eine weitere Möglichkeit, wenn er so nicht mehr weiterleben will, müde ist von den Versuchen, aber dennoch nicht bereit, einfach aufzugeben und sich seinem Schicksal zu fügen.
Alles hat seine Zeit und jeder Mensch hat seine Zeit. Für jeden Schritt, den er macht, ist es wichtig, dass der Zeitpunkt und der Weg für ihn stimmen. Einer muss hundertmal probieren, bis er ganz aufgibt, ein anderer hat nach wenigen Anläufen genug. Sicher aber ist, dass der depressive Mensch nicht so schnell aufgibt. Er ist es gewohnt, sich durchzubeißen und immer wieder neu aufzuraffen. Er hat eine Beharrlichkeit und Zähigkeit, ein Durchhaltevermögen und eine Belastbarkeit wie kaum ein anderer Mensch. Er ist es gewohnt, einzustecken, sich nichts anmerken zu lassen und weiter zu funktionieren, als wäre nichts. Sonst würde er ja das Leiden gar nicht so lange aushalten, würde er viel schneller alle viere von sich strecken und resignieren. Aber diese Anstrengungen und Mühen haben ihren Preis. Wann immer er wieder einen Ausstieg versucht, zeichnet ihn das und macht ihn schwächer. Die Ausgangsbedingungen werden so immer schlechter. Das gilt es auf dem Weg des Ausstieges zu berücksichtigen.
Deshalb ist es so wichtig, dass der depressive Mensch Rücksicht nimmt auf seinen körperlichen Zustand, schonend mit sich umgeht und immer nur so viel macht, wie ihm möglich ist. Das heißt zu Beginn, dass er mehr auslässt, als dass er macht, dass seine Hauptaufgabe darin besteht, wenig zu tun, Nein zu sagen oder auch einmal auf halbem Weg umzukehren. Nichts oder nur sehr wenig zu machen bedeutet für den depressiven Menschen nicht nichts machen, sondern eine Riesenarbeit zu leisten.
Der Ausstieg ist ein Lernprozess und ein Weg der langsamen Änderung von Einstellungen. Er erfolgt über Sensibilisierung und Selbstwahrnehmung, über neue Erfahrungen, Experimentieren, ganz viel Üben und Verändern von Denk- und Handlungsmustern. Wichtig ist daher, dass der depressive Mensch seine Veränderungsprozesse mit den Themen anfängt, die er sich zutraut und die nicht allzu viel Aufwand erfordern, und dass er sich zunehmend bewusst wird, dass ihn all das, was er macht, aus der Depression führt, wenn er es unter das neue Lebens- oder Leitmotiv stellt:
Nimm dich wichtig, kümmere dich um dich selbst und geh sorgfältig und behutsam mit dir um. Mach, was du willst und kannst. Sich das zu erlauben, daran zu glauben und es im Alltag umzusetzen ist Aufgabe und Weg.
Dazu gehört auch, dass er seine Lernschritte so auswählt, dass ein mögliches Gelingen absehbar ist, und nicht zuletzt, dass auch Entwicklungs- und Steigerungsmöglichkeiten gegeben sind. Das wird dann möglich, wenn der depressive Mensch die Themen seines Lernens selbst bestimmt, und zwar entsprechend seiner aktuellen Lebenssituation und seiner individuellen Möglichkeiten. Er wählt aus und entscheidet. Den Schlüssel für das Gelingen des Ausstieges und den Grundsatz bei allem, was er macht, kann er sich nicht häufig genug einprägen:
»Jetzt geht es um mich.« Jetzt will und darf ich mich ernst nehmen und zu mir schauen. Jetzt bin ich Thema. Ich muss gar nichts. Ich kann und darf, wenn ich will und wenn es mir entspricht. Es ist meine Entscheidung und mein freier Wille. Ich bestimme über meinen Ausstieg, indem ich von dem ausgehe, was ich spüre und was ich will.
Dieses Generalthema des Ausstiegs umzusetzen und zu verwirklichen schafft gleichzeitig das Fundament des neuen Lebens. Der depressive Mensch ist maßgebend, er bestimmt. Wenn er nach diesem Grundsatz handelt, sind seine konkreten Schritte der Veränderung auch Schritte zu ihm hin. Dann ist er auf dem richtigen Weg. Das ist der Weg zum Ausstieg, wenn er macht, was er machen will. Darum geht es und nicht um eine bestimmte hochkomplexe Strategie. Das ist die Arbeit, die der depressive Mensch zu leisten hat. Das ist ganz, ganz schwierig. Aber das ist die Arbeit, die auf ihn wartet, wenn er den Weg gehen will.
Jedes Mal, wenn ich mich in meinem Denken und Handeln berücksichtige, wenn ich etwas für mich tue, wenn ich mich schone und rücksichtsvoll und nachsichtig mit mir umgehe, ist es ein Schritt in Richtung Veränderung und ein Schritt aus der Depression. Ich muss aufpassen, dass ich mir nicht unrecht tue und meine, dass das so einfach ist. Das Gegenteil ist der Fall, etwas so Einfaches machen, das sich einzig und allein um mich dreht, ist etwas vom Schwierigsten für mich. Das habe ich nie gemacht, mir nie zugetraut und mir auch nie erlaubt. Und jetzt geht der Weg da durch, furchtbar.
Wenn er sich an diese neuen Prinzipien hält, kann er sicher sein, nichts Falsches zu machen. Und vor allem kann er sich auf sich verlassen. Er spürt sehr genau, was für ihn stimmt, was ihm entspricht, wenn er auf sich hört und sich ernst nimmt. Er hat ein sehr genaues und untrügliches Gespür für sich, wenn er es zulässt oder besser gesagt, wenn er es sich erlaubt und lernt, es zuzulassen. Jeder wählt zuerst die Themen, die für ihn in seinem Leben wichtig sind. Für den einen ist es etwa:
Ich will nicht immer so streng zu mir sein. Ich will mir vornehmen, immer auch etwas Gutes zu mir zu sagen. Ein anderer nimmt sich vor: Ich will immer nur eine Sache machen und nicht mehrere gleichzeitig, oder: Diese Woche beantworte ich maximal 5 Mails am Tag und ich bestimme, wann ich sie schreibe. Ich will mich nicht mehr unter Druck setzen und meinen, jede Mail sofort beantworten zu müssen. Oder: Ich will mir vornehmen, langsam etwas anzugehen und mich immer wieder zu fragen, ob es so stimmt, ob ich mich gut fühle dabei. Wenn ich meine, etwas tun zu müssen, dann will ich mir erlauben, das zu hinterfragen und mich zu fragen, ob ich das wirklich machen will. Ich will mehr Nein sagen und mich durchsetzen. Es passt mir nicht mehr, wie ich zu allem nicke und mich füge. Ich will nicht mehr so ein Schaf sein.
»Es geht um mich, ich will mich wichtig nehmen und sorgfältig mit mir umgehen.« Dieses umfassende Grundthema soll dem depressiven Menschen stets als Hilfs- und Orientierungspunkt dienen. Wann immer er sich an diese Maximen hält, setzt er das um, worum es beim Ausstieg geht:
Alles, was ich mache, ist gut und richtig, wenn ich es machen will und es mir guttut. Ich muss nichts Bestimmtes. Ich mache nur so viel, wie im Moment möglich ist, ich mir zutraue und wofür ich die nötige Kraft dazu habe. Im Zweifelsfall lasse ich es sein und warte, bis ich mich wieder sicherer und stärker fühle. Ich verpasse nichts und nichts geht verloren. Ich erlaube mir, so zu denken und dieses Denken beim Ausstieg in konkrete Übungsschritte umzusetzen.
Diese häufig sich wiederholenden und zum Teil nur unmerklich veränderten Lern- und Merksätze finden sich an den verschiedensten Stellen im Buch. Der depressive Mensch soll sich immer wieder damit konfrontieren. Es ist sinnvoll, wenn er sie von Zeit zu Zeit vor sich hersagt, und es ist auch hilfreich, wenn er sie immer wieder liest. Diese Sätze, die neue Einstellungen und mögliche Lernschritte zum Inhalt haben, sind für ihn so neu und so fremd, dass er sie nicht genug hören und lesen kann. Nur durch ständiges Wiederholen werden sie mit der Zeit in seinem Bewusstsein gespeichert und automatisch in sein Denken und Handeln einfließen und Grundlage seiner Entscheidungen werden. Bis es so weit ist, sagen sie ihm immer wieder von Neuem:
Du musst nichts. Es kommt auch nicht darauf an, möglichst viel zu lernen und zu verändern. Alles, was du tust, genügt, wenn es für dich stimmt. Und du allein weißt, was für dich stimmt. Erlaube dir, so zu denken und danach zu handeln. Es geht um dich, du bist gefragt und auf dich kommt es an. Das ist Thema des Ausstieges und Thema deines neuen Lebens. Mache, was du gerne machst, was du dir zutraust und was dich freut. Es ist dein Weg und dein Leben. Du entscheidest, wo es langgeht.
Die Merk- und Lebenssätze machen dem depressiven Menschen deutlich, worum es beim Ausstieg aus der Depression geht. Das Lesen und Einprägen der kursiv geschriebenen Abschnitte sollen ihm die Möglichkeit geben, sich immer wieder neu zu finden, sich neu zu motivieren, mögliche Lernschritte oder Einstellungsänderungen zu überprüfen und sich zu versöhnen mit der eigenen Fehlerhaftigkeit, Ängstlichkeit und Empfindlichkeit. In diesen Sätzen hört er, wie er mit sich umgehen und sprechen, was ihn betreffen und ihm weiterhelfen kann. Sätze, die bei ihm auf keine Resonanz stoßen und von denen er sich nicht angesprochen fühlt, kann er getrost auf der Seite lassen. Er nimmt nur auf, was ihm wichtig erscheint, ihm hilft und ihm den jeweils nächsten Schritt erleichtert.
Wenn der depressive Mensch immer wieder versucht hat, sein Leben zu verändern, und mit der Zeit resigniert und nicht mehr daran glaubt, dass es überhaupt eine Verbesserung seines Zustandes gibt oder gar ein ganz neues Leben möglich ist, möchte ich mit diesem Buch ein klares Zeichen setzen. Niemand ist der Depression ausgeliefert, und ein anderes Leben ist möglich! »Du kannst es schaffen, wenn du dich auf den Weg begibst.« Der Weg aus der Depression ist ein Weg mit sich und ein Weg zu sich, ein schrittweises Kennenlernen der und Umgehenlernen mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen. Hilfreich ist für den depressiven Menschen, wenn er sich immer wieder besinnt, worauf es beim Ausstieg ankommt:
Es geht zuerst um mich und dann um den Weg. Zuerst komme ich. Ich will mich nicht vergessen, mich nicht übergehen und mich auch nicht überfordern.
Ich muss nicht etwas Bestimmtes lernen und eine neue Strategie anwenden, sondern im Moment ganz einfach versuchen, das zu machen, was mir möglich ist und mir hilft. Das zu lernen und irgendwann einmal auch zu leben ist meine Aufgabe. Das sind die Schritte aus der Depression, anders geht es nicht.
Für Menschen, die es satt haben, weiter so zu leben wie bisher, die rauswollen aus der Depression und noch nicht bereit sind oder auch wahrscheinlich nie bereit sein werden für eine professionelle Begleitung, für sie ist dieses Buch. Es verhindert ein kräfte- und zeitraubendes Umherirren und Verzweifeln. Es bietet ihnen auch die Möglichkeit, gemachte Fehler anderer nicht zu wiederholen. Den Weg gehen müssen sie allein. Aber es sind Leitplanken da und es werden mögliche Schritte vorgeschlagen, die sehr viel Spielraum lassen für eigene Varianten und Versuche. Enttäuschungen und Zweifel können auch so nicht verhindert werden. Aber die nie endenden Selbstbeschuldigungen und Selbstvorwürfe werden erschwert und dadurch auch ein vorzeitiges Aussteigen. Das Buch soll zu einem Begleiter werden, auf den man nicht mehr verzichten will. Es macht Vorschläge, zeigt Wege und lässt doch frei. Jeder kann das und so viel machen, wie er will und wie es ihm entspricht, getreu den Merksätzen:
»Jetzt geht es um mich.« Ich muss nicht irgendwelchen Anforderungen genügen und auch nicht bestimmte Kriterien erfüllen. Alles, was ich mache, wenn ich es machen will und es mir guttut, ist gut und richtig.
Es gibt sie, die Wege, die hinausführen aus der Depression. Genau die gleichen Wege kann jemand gehen, der verhindern will, in ein depressionsähnliches Erleben hineinzugeraten. Damit sind die Menschen angesprochen, die ihr Leben nur als Druck und Krampf empfinden, die es schwerhaben oder sich schwertun im Leben. Auch für diejenigen ist das Buch gedacht, die spüren, dass sie in Verhaltensweisen gefangen sind, die sie hindern, frei und unabhängig zu leben.
Depression ist kein Schicksal, keine Schuld oder Strafe. Depression ist auch nichts Geheimnisvolles, Mystisches oder Verborgenes. Depression kann man verstehen und man muss nicht in alle Ewigkeit in sie verstrickt bleiben. Der Weg geht über die kleinen Schritte, die der depressive Mensch selber bestimmt und auswählt. Über sie verändert sich Grundlegendes: Der depressive Mensch gibt sich eine Bedeutung und bekommt zunehmend mehr an Gewicht und Wichtigkeit. Es geht bei den kleinen Schritten um einen andern Umgang mit sich, um eine neue Sprache und ein Ernstnehmen der eigenen individuellen Persönlichkeit. Die einfachen und kleinen Schritte sind aktive und konkrete Umsetzungen einer neuen und grundlegend anderen Einstellung zu sich:
»Jetzt geht es um mich.« Es geht darum, dass ich mir mit Respekt und Achtung begegne und sorgfältig mit mir umgehe. Es ist mein Leben und ich will es so leben, dass es für mich stimmt und ich die Verantwortung dafür übernehmen kann. Ich habe nur dieses eine Leben und das will ich auf eine gute Weise leben.
Daran zu glauben, dass es diese kleinen Schritte sind, die die großen Veränderungen bewirken, bereitet dem depressiven Menschen immer wieder Mühe. Dass diese klitzekleinen Schritte ihn aus der Depression führen sollen, kommt ihm in Momenten der Verzweiflung und der Zweifel so absurd und unmöglich vor, dass er nicht nur am Weg, sondern auch noch an seinem Verstand zu zweifeln beginnt. Aber es ist so, über die kleinen Schritte kommt er zu einem für ihn lebenswerten Leben. Dass es darum geht, dass der depressive Mensch beim Ausstieg aus der Depression lernt, sich wichtig zu nehmen, sich eine Bedeutung zu geben und in einer verständnisvollen Weise mit sich umzugehen, leitet sich ab vom Umstand, dass sich der depressive Mensch, indem er sich übergangen, überfordert und vernachlässigt hat und in einer lieblosen und strengen Art mit sich umgegangen ist, in die Erschöpfung und Depression manövriert hat.
Mit diesem Buch möchte ich deutlich machen, dass es einen Ausstieg geben kann, wie tief eine Depression auch sein mag, wie lange sie schon dauert, wie viele Hochs und Tiefs der depressive Mensch durchgemacht hat und wie viele Male er wieder aufgestanden ist. Es gibt Wege, jeder kann sie gehen, wie alt er auch ist, wie häufig er in der Klinik gewesen ist. Entscheidend ist, dass er so nicht mehr leben will, dass er aussteigen will aus dem leidvollen und freudlosen Leben und tief in sich spürt, dass er den Weg Richtung Leben einschlagen möchte.
Wir Menschen haben es meist in der Hand, so zu leben, dass die guten Momente überwiegen und es mehr Phasen gibt als andere, die nicht geprägt sind von Krampf und Kampf. Natürlich gibt es Menschen, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte und ihrer Persönlichkeit vermehrt auf sich schauen müssen, die es schwerer haben, zuversichtlich zu sein, und die ihr Leben nicht so leichtnehmen können – was übrigens nichts mit einer Depression zu tun haben muss. Auch sie können besser leben, auch für sie ist es möglich, dem Leben mehr Freude abzugewinnen. Auch für sie ist es hilfreich und bereichernd, wenn sie sich mit den verschiedenen Wegen auseinandersetzen, die zum Ziel haben, zufriedener, leichter und zuversichtlicher leben zu können. Dieses Buch soll auffordern, das Leben nicht einfach als gegeben anzunehmen, sondern es selbst zu gestalten. Es wendet sich auch an all diejenigen, die sich vom Leben mehr versprechen, als einfach so über die Runden zu kommen.
Es gibt keinen Ausstieg ohne Brüche, ohne Unterbrechungen und Pausen und es gibt vor allem keinen Schritt ohne Rückschritt. Deshalb ist dieses Buch für den depressiven Menschen so wichtig, um den Weg und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Der depressive Mensch findet keinen Ausstieg aus der Depression, wenn er gar nicht weiß, was eigentlich mit ihm los ist. Da sind Leitplanken, Orientierungspunkte und Merksätze notwendig und die findet er im Buch. An sie kann er sich halten, sich an ihnen aufrichten und sich neu sammeln. Wenn er gar nichts mehr sieht, keinen Ausweg mehr weiß, dann bringt ihn das weiter, was ihm möglich und machbar erscheint und ihn nicht überfordert. Wenn er sich an dem ausrichtet, was ihn stärkt, ihm Angst nimmt und ein gutes Gefühl vermittelt. Das ist alles, was zählt und wichtig ist: Nur so viel machen, wie im Moment geht. Es gibt kein Müssen und keinen Zwang. Wenn er sich erlaubt, sich daran zu halten, dann ist er auf dem richtigen Weg. Denn das ist das eigentliche Geheimnis jedes erfolgreichen Ausstieges: sich ernst nehmen, auf sich hören und das tun, was für einen stimmt. Von sich ausgehen und nicht einem Programm folgen wollen. Der depressive Mensch bestimmt seinen Weg selbst und er erlaubt sich auch, ihn immer wieder zu ändern und von dem auszugehen, was er im Moment spürt. Er kann den Weg jederzeit abbrechen, eine Pause einlegen und sich neu orientieren. Es ist immer er, der entscheidet, ob und wie er beginnt, wo er anpackt, in welcher Reihenfolge er was ändern und neu lernen will. Auf ihn kommt es an, um ihn geht es. Ich kann diesen Grundsatz nicht oft genug betonen. Der depressive Mensch bestimmt seinen Weg ganz allein. Und seine Schritte sind Konkretisierungen und Folgerungen eines einzigen Themas: Er hat sich verloren und es geht darum, wieder zu sich zu finden, darum, er selbst zu sein. Deshalb gilt immer:
»Jetzt geht es um mich.« Jetzt will und darf ich mich wichtig nehmen und auf mich schauen. Deshalb will ich achtsam und verlässlich mit mir umgehen und mir all das erlauben, was mir guttut, mich stärkt und bestätigt. Es geht darum, dass ich mich nie mehr aus den Augen verliere und mich in meinen Gedanken und Handlungen einbeziehe.
Diese zentralen Punkte sind für den depressiven Menschen so neu und fremd, dass er sich kaum traut, sie in seinem Leben wirklich umzusetzen. Es sind Sätze, die diametral dem entgegenstehen, was er bisher gelebt hat, und fundamental anders sind als das, was er gewohnt war zu denken. Wie soll er, der sich immer übergangen und nicht wichtig genommen hat, plötzlich so eine Kehrtwende vollziehen und sich von sich aus ins Zentrum stellen können? Wo soll er, der sich in dieses Elend hineinmanövriert hat, das Bewusstsein und die Sicherheit hernehmen, dass ausgerechnet er es ist, der weiß, wie er da wieder rauskommt? Wie soll er aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen annehmen können, dass er es ist, der die Kraft besitzt, seinem Leben eine Wende und einen neuen Inhalt zu geben? Wie soll er jetzt selber entscheiden können, wo der Weg langgeht, er, der sich nichts zutraut, sich nicht kennt und nie für sich selbst gesorgt hat? Es ist schlicht nicht möglich, da braucht er eine Unterstützung und Begleitung. Die kann ihm dieses Buch geben. Es sagt dem depressiven Menschen, dass er seinen Weg gehen kann, dass er das darf. Es sagt ihm, weshalb das so ist, warum das so am besten läuft und richtig ist. Er kann nachlesen, dass er sich die Erlaubnis geben darf, an sich zu denken, dass er das Recht hat, für sich zu sorgen, und dass er für sich selbst am besten wissen und spüren kann, was drinliegt und was nicht. Wenn er im Buch die Bestätigung findet, dass er so einen Weg gehen darf und sogar gehen muss, stellt er die Weichen so, dass er selbst anfängt, sich die Erlaubnis zu geben, Entscheidungen für sich zu treffen und das zu machen, was er will. Er macht die Erfahrung, dass er sich immer mehr das Recht zugesteht, auf eine verständnisvolle Art mit sich umzugehen. Er merkt auch, dass es ihm immer weniger passt, wenn er sich vergisst oder übergeht, und er spürt ein immer stärkeres Bedürfnis, sich wichtig zu nehmen. Er erfährt immer deutlicher, dass er vermehrt sich fragen und von sich ausgehen will.
Das Buch macht den depressiven Menschen unabhängiger, freier und selbstbewusster. Es verhilft ihm, sein Leben so zu leben, wie er es will und wie es ihm entspricht. Es ist wie eine Art Geburtshelfer und übernimmt die Funktion eines Anschiebers und Initiators. Es soll sein wie ein Fremdenführer in einer fremden Stadt. Alles dreht sich um diese Stadt und der Führer gibt die Möglichkeit, sie nach eigenen Vorlieben und entsprechend den eigenen Bedürfnissen und Interessen zu erkunden. So geht jeder auf seine Weise an eine neue Stadt heran, sehr zielgerichtet und bestimmt die einen, die sich sofort zu den Museen und Sehenswürdigkeiten aufmachen, während andere die Stadt erst einmal auf sich wirken lassen wollen. Sie schlendern umher, trinken einen Kaffee, schauen den Menschen zu, nehmen die Gerüche auf und wollen die einzigartige Atmosphäre der Stadt erspüren. Jeder hat seine Art, und je mehr er sich auf seine Art besinnt, umso näher kommt er der Stadt und umso persönlicher und vertrauter wird diese für ihn. Es ist ein Sichnähern auf eine je individuelle Weise. Der Führer gibt den Rahmen, zeigt Möglichkeiten und lässt die Freiheit, daraus eine ganz persönliche Reise zusammenzustellen.
Mit dem Buch ist der depressive Mensch nicht allein. Er hat etwas in den Händen. Es ersetzt zwar keinen menschlichen Begleiter, ist aber doch etwas oder jemand, bei dem man Verständnis, Trost und Orientierung holen kann. Einen wichtigen Beitrag dazu liefert sicher die spezielle Form, in der das Buch geschrieben ist. Es hat viele Wiederholungen und Hervorhebungen, die auf die Wichtigkeit des Gesagten hinweisen. Sehr viel ist in Ichform und in direkter Rede geschrieben, damit der Leser sich direkter und unmittelbarer angesprochen und erfahren kann. Bei diesen persönlich formulierten Äußerungen handelt es sich nicht um Zitate von depressiven Menschen. Mit dieser Form soll der depressive Mensch persönlich einbezogen und zum Mitdenken aufgefordert werden.
Stimmt diese Formulierung, passt sie zu mir, bringt sie etwas in mir zum Erklingen, kann ich etwas mit ihr anfangen? Bin ich jetzt sicherer, trittfester auf dem Weg und auch ruhiger? Und: Verstehe ich damit besser, was mit dem Geschriebenen gemeint ist, macht es mir den Weg und die einzelnen Schritte verständlicher und machbarer? Verstehe ich mich besser, werde ich sorgfältiger und aufmerksamer zu mir, geduldiger und zuversichtlicher für den Weg und die zu machenden Schritte?
Damit soll der Abstand zwischen dem Geschriebenen des Buches und dem Erleben des Lesers verkürzt und auch eine Eindringlichkeit geschaffen werden, die es ihm leichter macht, das Gelesene auf sich und seinen Weg des Ausstieges zu übertragen. Es geht um den depressiven Menschen selbst. Er ist gefragt und angesprochen und das soll auf eine unmittelbare und wirksame Weise passieren: Deshalb die Wiederholungen, die Umschreibungen und die vielen Formulierungen in der Ichform. Und genauso entscheidend sind die schon beschriebenen Merksätze. Sie sind das Fundament des späteren Lebens und die Leitplanken des Ausstieges. Sie geben den Rahmen und die Richtung. Sie sind als Kernanliegen und Hauptthemen wie Leuchttürme und Orientierungspunkte.
Wen ich sehr bei diesem Buch im Auge habe, und darum komme ich noch einmal darauf zurück, ist das Heer der latent depressiven Menschen. Für sie bedeutet es die Möglichkeit, jetzt den Ausstieg zu wagen, die Notbremse zu ziehen und zu verhindern, dass sie manifest depressiv werden. Sie sehen sich meist nicht als depressiv, denn es funktioniert ja alles noch. Sie sind nicht wie die, die depressiv sind, trösten sie sich insgeheim. Aber sie sind die Gefährdeten, ohne es zu ahnen. Sie sind das Heer der Abertausenden, die ohne Hilfe und Unterstützung durchs Leben gehen, die ohne Ende leiden und leben, ohne zu leben. Sie sind es, die immer noch gerade so viel Energie haben, um den Ausstieg allein zu schaffen. Aber jetzt leben sie ohne Lebensqualität, immer am Abgrund. Sie laufen auf Eis, ohne zu wissen, wann es einbricht. Und wenn sie versuchen, allein den Weg zu gehen, verstricken sie sich häufig umso mehr. Bei den manifest depressiven Menschen ist die Luft draußen. Sie haben zu lange gewartet, sich zu sehr verausgabt, als dass die Kraft für einen solchen Alleingang reichen würde. Auch sie schaffen den Ausstieg aus der Depression, auch sie können ein anderes Leben leben, nur brauchen sie in jedem Fall eine professionelle Begleitung. Für alle aber gilt, ob sie den Weg nun allein oder mit fremder Hilfe gehen:
Mache, was du willst und kannst. Sich das zu erlauben, daran zu glauben und im Alltag umzusetzen ist die schwierige Aufgabe, die der depressive Mensch für den Ausstieg zu leisten hat und die mit Sicherheit zum Ziel führt.

Merkmale, Verlauf und Ausprägungen der Depression

Meine Vorstellungen über das Wesen und die Entstehung einer depressiven Entwicklung sind in meinen ersten Büchern »Sie haben es doch gut gemeint. Depression und Familie« und »Endlich frei. Schritte aus der Depression« beschrieben. Da ich beide Bücher für die Lektüre dieses Buches nicht voraussetzen möchte, gibt mir das an dieser Stelle die Gelegenheit, mit einem kurzen Abriss darauf hinzuweisen, was mit einer Depression nichts zu tun hat, denn der Begriff »depressiv« muss heute, ähnlich wie der Begriff »traumatisch« für viel zu viel herhalten. Dadurch aber wird das Leiden derer, die wirklich depressiv sind, bagatellisiert, verharmlost und verkannt.
Wir sind Menschen und keine Maschinen, wir haben Stimmungsschwankungen, leiden, sind traurig und fühlen uns schlecht und verzweifelt. Auch Zweifel und Unsicherheiten gehören zu unserem Leben. Es gibt keine Gefühlsnuancen, die zu empfinden wir nicht in der Lage sind. Es gibt keine Höhen und Tiefen der Empfindungen, keine gefühlsmäßige Intensität, die uns fremd ist. Wir reagieren auf Dunkelheit, auf schlechtes Wetter, wir trauern und weinen, verzehren uns vor Sehnsucht und sind abgrundtief enttäuscht und deprimiert. All das gehört zu unserem Leben und hat mit Depression nichts zu tun. Der Mensch ist seiner Natur nach verletzlich, er ist in vielem gebrechlich, empfindsam und seine Haut ist nicht immer die dickste. Wer viel allein und häufig traurig ist, ist noch nicht depressiv. Wer unglücklich in der Liebe ist oder unzufrieden im Beruf und wer vor schwierigen Entscheidungen steht, dreht sich häufig im Kreis, ist gefangen, bedrückt und mag sich an nichts freuen; deswegen ist er aber noch nicht depressiv. Wen eine wichtige Entscheidung belastet, ist nicht frei für anderes, weder für Schönes noch für andere Probleme. Er ist »zu«, nicht ansprechbar, nicht berührbar und auch nicht wirklich präsent. Diese Zustände nenne ich emotionale Verstimmung und auch diese können tief und lang anhaltend sein. Depression ist etwas anderes. Hier gilt es, eine klare Grenze zu ziehen.
Wenn man vor allem die emotionalen Ausdrucksformen betrachtet und sie als Hauptsymptome, als die Indikatoren einer Depression ansieht, dann erfasst man die Depression nicht wirklich. Lustlosigkeit, Interesselosigkeit, Fehlen von Freude und Begeisterung sind nicht spezifisch für eine Depression, obwohl das meist so verstanden wird. Die meisten depressiven Menschen kennen diese Symptome, aber bei ihnen sind es Reaktionen auf einen ganz anderen Zustand. Auch die Länge einer depressiv anmutenden Verstimmung sagt nichts darüber aus, ob jemand depressiv ist oder nicht. Es geht sehr vielen Menschen häufig über sehr lange Zeit sehr schlecht. Sie sind unglücklich, unzufrieden, Geld- und Beziehungsprobleme belasten, der Arbeitspatz ist unsicher, die Arbeitsbedingungen sind stressig und die heutige Zeit bereitet ihnen Sorge und verhindert, dass sie sich wohl und zufrieden fühlen. Auch hier spreche ich von emotionalen Verstimmungen, es würde aber auch genügen, nur von Niedergeschlagenheit, längerer Unlust oder Traurigkeit zu sprechen. Diffuse Gefühle der Trauer oder der Niedergeschlagenheit sind ebenfalls keine Anzeichen der Depression, sondern sie sind das, als was sie daherkommen, nämlich Trauer, Niedergeschlagenheit, ob man die Ursachen nun benennen kann oder nicht. Wir haben sehr viel mehr Begriffe, die negative Gefühlsinhalte präzise bezeichnen, als dass man zu einem in diesem Zusammenhang noch falschen Überbegriff greifen muss. Wenn jemand sagt, er sei schon über längere Zeit traurig, dann sagt das doch schon sehr viel aus und braucht nicht noch ein diagnostisches Etikett. Dem möchte ich aus meiner langjährigen therapeutischen Erfahrung meine Auffassung von dem voranstellen, was eine Depression eigentlich ist:
Menschen sind depressiv,
die ihr Leben lang geleitet sind, das zu machen, was andere von ihnen erwarten, die immer auf die andern ausgerichtet sind,
die sich zurückstellen, sich übergehen, sich nicht spüren und nicht ernst nehmen,
die ständig im Gefühl leben, etwas zu müssen, und sich deshalb ständig verpflichtet fühlen.
Sie geraten in einen Zustand ständiger Überforderung und zunehmender Erschöpfung, den man als Depression bezeichnet.
Entscheidend für die Depression sind daher die Gefühle, sich immer nur verpflichtet zu fühlen, nie frei zu sein, immer fremdgesteuert und nie selber entscheiden können. Zum Sich-ständig-gestresstFühlen gehört ebenso die Erfahrung, nie ausruhen oder mal nichts machen zu dürfen, und schlimmer noch ist das Gefühl, diesem Zustand ausgeliefert zu sein. Deshalb ist es beim Ausstieg für die depressiven Menschen so wichtig, zu verstehen, was sie weshalb machen und dass sie etwas unternehmen können, um aktiv ihren Zustand zu verändern. Alles tun die depressiven Menschen ohne Selbstsicherheit, ohne Selbstvertrauen und immer haben sie Angst, zu versagen. Es fehlt ihnen das Grundvertrauen in sich und das Leben, ebenso der feste Boden und der sichere Halt in dieser Welt. Sie fühlen sich heimatlos, überfordert und permanent erschöpft, ihnen fehlt die Bindung ans Leben. Ständig unter Druck und in Stress leben zu müssen macht müde, erschöpft und bestimmt das ganze Leben der depressiven Menschen. Immer nur müssen, nicht gefragt sein, immer unter diesem Joch, das ist nicht lebensfreundlich, führt nicht dazu, dass sie dem Leben positiv zugetan sind. Dieses ständige Müssen erleben viele als Unfreiheit. Es fällt ihnen nicht weiter auf, weil sie nichts anderes kennen. Andere wiederum reiben sich ständig daran, tun sich schwer mit diesem Sich-verpflichtet-Fühlen und vor allem mit der Erfahrung, dass es ihnen bei allem Bemühen nicht gelingt, es zu verändern.
Die depressiven Menschen bewegen sich ständig am physischen und psychischen Limit, leben im Gefühl, diesem Leben nicht gewachsen und ihm ausgeliefert zu sein – ohne es sich selbst ausgesucht zu haben. Ihren Alltag erleben sie als mühsam, anstrengend, beschwerlich, ohne Freude und Befriedigung, und sich selbst als energielos und unsicher, immer unter Druck, zu leisten, ohne einmal nachlassen zu dürfen. Nichts ist selbstverständlich, nichts geht leicht von der Hand, nichts schaffen sie ohne Anspannung und Angst. Ihr Leiden an sich und am Leben ist riesig. Sie sind erschöpft, fühlen sich überfordert und können sich ihre Müdigkeit wie ihren gesamten Zustand meist nicht erklären. Und dieses Nichtwissen, was mit ihnen los ist, weshalb sie sich ständig so müde und schlecht fühlen, macht einen großen Teil ihres Leidens aus. Leiden, ohne dafür eine Erklärung und einen Namen zu haben, macht alles noch schwieriger. Sie kommen sich noch fremder und ausgelieferter vor. Sie sind depressiv, meist ohne zu wissen, dass sie depressiv sind. Sie leben ein Leben, in dem sie nicht vorkommen, wo es sie gar nicht gibt, wo es nicht wichtig ist, wie es ihnen geht. Deshalb spielt zum Beispiel das Einüben eines neuen und verantwortungsvollen Umgangs mit dem Körper eine zentrale Rolle.
Ich will meine Müdigkeit ernst nehmen, sie nicht bagatellisieren und gering schätzen. Ich möchte lernen, auf die Signale des Körpers zu hören, und mich bemühen, sie zu verstehen und danach zu handeln. Ich möchte nicht die immer gleichen Fehler und Unterlassungen wiederholen und auch dem Körper nicht mehr die Erholung, die er braucht, vorenthalten. Ich weiß, da habe ich große Fehler gemacht. Ich kann nicht ungestraft den Körper schwächen und gleichzeitig Höchstleistungen von ihm verlangen. In Zukunft will ich mit ihm und nicht gegen ihn arbeiten. Ich will lernen, geduldig mit mir zu sein, mir und dem Körper Zeit geben, ihn nicht immer antreiben und über ihn verfügen. Damit, dass ich lerne, den Körper zu achten und meine Ungeduld und Rastlosigkeit zu zügeln, nehme ich eine wichtige Weichenstellung in Richtung Veränderung und Ausstieg aus der Depression vor.
Depressive Menschen leben kräftemäßig über ihre Verhältnisse. Sie mobilisieren Kräfte, die eigentlich gar nicht mehr da sind. Sie leben, ohne das wirklich zu realisieren, kräftemäßig auf Pump und bezahlen das irgendwann einmal mit Zins und Zinseszinsen. Es ist nicht die Müdigkeit, wie wir sie normalerweise kennen, wie nach einem anstrengenden Tag. Es ist vielmehr eine Müdigkeit wie eine Krankheit. Viele spüren allerdings die körperliche Müdigkeit nicht wirklich, weil sie es gar nicht gewohnt sind, darauf zu achten, weil sie so selbstverständlich zu ihrem Leben gehört und auch, weil sie es sich nicht erlauben können, sie sich einzugestehen. Erst wenn die Erschöpfung so groß ist, dass sie sich mit ihr beschäftigen müssen, merken sie, wie abgrundtief diese Müdigkeit ist und dass man sich von ihr nicht mehr erholen kann. Dabei schleppen sie diese schon jahrelang oder lebenslang mit sich herum. Und es ist erschreckend, wie sie gar nicht mehr wissen, wie sich das anfühlt, ohne diese Müdigkeit zu leben. Eine Müdigkeit, die häufig die letzten Tränen vertrocknen lässt, die vielfach macht, dass sie sich leer und tot fühlen und gar keine Traurigkeit mehr aufkommen kann. Nichts bewegt sich mehr, und mechanisch bewegen sie sich durchs Leben, wenn diese Erschöpfung sich chronifiziert.
Wer so leben muss, kann nicht Rücksicht auf sich nehmen, spürt nicht, wenn er über seine Verhältnisse lebt und sich überfordert. Wer nur auf die andern schaut, nimmt nur das auf, was außerhalb von ihm passiert, spürt nur, wie es dem andern geht, was der braucht und was dem wichtig ist. Sich selber aber kennt er nicht. Wer sich nicht kennt, kann sich auch nicht vertrauen und kein Selbstvertrauen aufbauen. So ein Mensch ist nirgends daheim, weder in sich noch in dieser Welt. Bodenlosigkeit, fehlender Halt, fehlende Bindung ans Leben sind die Folgen davon. Wer nur die andern wichtig nimmt, kann sich selbst nicht wichtig nehmen, nicht auf sich schauen und für sich sorgen. Und wer sich nicht um sich kümmert, überfordert sich ständig und treibt Raubbau an sich und seinem Körper. Wer sich missachtet, sich übergeht, und alle und alles andere wichtiger nimmt als sich selbst, kann kein Selbstbewusstsein aufbauen und keinen Selbstwert bekommen. Wer so leben muss, macht sich kaputt. Sich sehen, sich ernst nehmen können oder gar dürfen, auf sich schauen und verantwortlich sein für sein eigenes Wohlergehen, davon findet sich keine Spur bei den depressiven Menschen. Nie geht es ihnen um sich selbst. Sie leben auch nicht sich selbst, sondern die Erwartungen und Anforderungen, die die anderen an sie stellen. Deshalb fühlen sie sich dauernd verantwortlich für die andern, für alle und alles. Das ist anstrengend und macht sie verletzlich. Diese Verhaltensweisen nenne ich depressive Muster, weil sie als Kinder gelernt und eingeübt wurden und später bei den depressiven Menschen fordernd, zwanghaft und automatisch Denken und Verhalten bestimmen. Die depressiven Muster sind starre Fesseln, die das Leben dieser Menschen prägen. Sie werden für sie zu einem »so handeln und denken müssen«, zu einem Zwang. Sie sind so automatisiert und als Müssen in das Leben depressiver Menschen integriert, dass ihnen selbst nicht bewusst ist, dass sie auf diese unfreie Weise handeln. Was sie aber sehr stark und als ihr Leben bestimmend wahrnehmen: Sie fühlen sich bevormundet, eingeengt, fremdbestimmt und unfrei. Sie müssen immer auf dem Sprung sein, alles richtig zu machen, aufpassen, dass ihnen ja keine Fehler passieren, dass ihnen nichts entgeht. Sie sind immer gestresst, immer unter Druck, sind ständig in einer inneren Unruhe und Spannung gefangen, obwohl sie nach außen einen ganz andern Eindruck vermitteln. Nie bei sich und immer nur nach außen gerichtet sein vermittelt keine Sicherheit und damit auch keine Ruhe und Zufriedenheit. Genauso ist ihr Leben, ein einziges freudloses Müssen. Beim Depressiven geht es nie ums Leben, immer nur ums Überleben. »Ich lebe nicht, ich lebe am Leben vorbei, ich bin lebendig tot« ist ihr Lebensgefühl. Wer so in und mit diesen Mustern lebt, überfordert sich ständig und ist depressiv. Jeden Versuch, anders zu handeln, anders mit sich umzugehen, bezahlen sie mit Schuldgefühlen, Angst und Panik. Beim Ausstieg wird es also darum gehen, neues Verhalten zu lernen und die damit aufkommenden belastenden Gefühle auszuhalten.
Ein paar Hinweise nur, wie depressive Menschen erleben, denken und handeln: Positive Erfahrungen, wie zum Beispiel Erfolge, Zuwendungen oder Bestätigungen, gibt es für sie nicht, nehmen sie nicht wahr oder so, dass sie sie gleich auf die Seite schieben und sich anderem zuwenden. Sie haben keine Nachwirkung, keinen Einfluss auf ihr Erleben oder Selbstbild. Sie sind wie Schall und Rauch, sie verpuffen, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Anders die negativen Erfahrungen, wie scheinbar ungenügende Leistungen, Zurechtweisungen oder Kritik. Diese bleiben hängen, bestätigen ihr negatives Selbstbild und verstärken noch den strengen und unnachgiebigen Umgang mit sich. Der depressive Mensch vergleicht sich ständig mit den andern und jeder dieser Vergleiche fällt aus seiner Sicht zu seinen Ungunsten aus. Er kommt bei sich immer schlecht weg. Was er hat oder ist, erscheint ihm ungenügend, durchschnittlich, selbstverständlich und mickrig und kommt nicht an das heran, was andere haben oder sind, oder an das, was ihm noch fehlt und er noch müsste. Er ist sich nichts wert, nichts zählt und nichts zeichnet ihn aus. Er kann nichts und er ist nichts. Auch wenn sich einzelne depressive Menschen wohl bewusst sind, über gewisse Fähigkeiten zu verfügen, geben ihnen diese kein gutes Gefühl, baut sie das nicht auf und schafft auch kein starkes Selbstbewusstsein. Ein depressiver Mensch würde zum Beispiel sich und sein Leben folgendermaßen beschreiben: »Ich arbeite nur, es geht immer weiter wie bisher, nichts ändert sich. Ich habe keine Ruhe, die Gedanken kreisen fortwährend und landen immer beim »worst case«, dem schlimmstmöglichen Ausgang. Ich muss nur funktionieren und fühle mich nie frei und gelöst. Das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit, sein eigener Herr und Meister zu sein und selber entscheiden zu können, kenne ich nicht. Ich mache alles ohne Feuer und Begeisterung und muss mich immer wieder von neuem aufraffen, bin ständig mit der Frage beschäftigt, mache ich es richtig, schaffe ich es. Zufriedenheit kenne ich nicht, alles kostet unendlich viel Energie, ohne dass sich das auszahlt oder dass es mir besser geht.« Ein anderer depressiver Mensch könnte seinen Zustand und sein Erleben folgendermaßen schildern: »Nichts ist richtig, alles ist nicht so, wie es für mich richtig wäre. Nichts ist recht, nichts genügt, nie ist etwas genug und gut. Immer gibt es etwas, was ich zu bemängeln habe. Nie ist etwas so, dass ich mit mir zufrieden bin. Mir passt es nicht, wie ich bin, wie ich denke und mein Leben handhabe. Ich gefalle mir nicht. Ich mag nicht mehr, alles ist mir zu viel. Ich mache nur noch das Nötigste und ich habe immer Angst, Angst, nicht zu genügen, nicht fertig zu werden und keine Kraft mehr zu haben. Ständig gehen diese Gedanken in meinem Kopf herum.«
latenter oder verborgener Depression