Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Zwischenspiel
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Epilog
Leserkontaktseite
Kommentar
Glossar
Clubnachrichten
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2785
Der Ritter und die Richterin
Psychoduell in der WIEGE DER LIEBE – eine Atopin erzählt aus der Zukunft
Leo Lukas
Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Längst sind die Terraner in ferne Sterneninseln vorgestoßen, wo sie auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte getroffen sind, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1517 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Milchstraße steht weitgehend unter dem Einfluss des Atopischen Tribunals. Dessen Richter behaupten, nur sie könnten den Weltenbrand aufhalten, der sonst unweigerlich die Galaxis zerstören würde. Auf diese Weise zementiert das Tribunal in der Milchstraße seinen Machtanspruch, während der Widerstand dagegen massiv aufrüstet.
Perry Rhodan und die Besatzung des Fernraumschiffes RAS TSCHUBAI haben in der fernen Galaxis Larhatoon in Erfahrung gebracht, dass das eigentliche Reich der Richter die Jenzeitigen Lande seien. Um dorthin zu gelangen, braucht es aber Atlan als Piloten und ein Richterschiff als Transportmittel.
Ein solches zu besorgen, ist die aktuelle Mission des Terraners. Es geht um die CHEMMA DHURGA der Atopin Saeqaer. Und so begegnen einander DER RITTER UND DIE RICHTERIN ...
Saeqaer – Die Atopische Richterin trifft eine schwerwiegende Entscheidung.
Atlan – Der letzte Ritter der Tiefe will Pilot eines Richterschiffs werden.
Perry Rhodan – Der Kardinal-Fraktor bekommt es mit Schwarmgötzen zu tun.
Pi Ta Äl-Khen und Struugh – Die Atreoponten möchten die Richterin nicht enttäuschen
»Bitte verzeiht und akzeptiert meine Weigerung, mit euch über die Zeit zu disputieren. Die verschiedenen Vokabulare, die ihr benutzt, selbst jene eurer Mathematik und Hyperphysik, sind weder im intrinsischen Sinne konvergierend noch im phänomenologischen Sinn inkommensurabel; sie unterliegen selbst einem häufigen und raschen, zeitlichen Wandel. Metaphorisch gesprochen: Über die begrifflichen Schatten, die ihr werft, könnt ihr leider nicht springen, so hoch ihr auch hüpft.«
Eldhoverds beiläufige Weisheiten
Prolog:
Die Unauffälligen
Viele Stimmen, durcheinander, in unterschiedlichen Tonfällen, Sprachen und abgeschirmten Funkfrequenzbereichen ...
»Der erste Teil des Plans ist aufgegangen.«
»Aber auch erst beim zweiten Anlauf.«
»Immerhin. Weil wir dazugelernt haben und raffinierter geworden sind.«
»Perfekte Tarnung. Mimikry in höchster Vollendung!«
»Exzellent, Leute. Wir haben sie so was von abgezockt. Nicht den Hauch von Verdacht geschöpft haben die!«
»Jaja, suhlt euch in Selbstbeweihräucherung. Was haben wir denn bis jetzt erreicht?«
»Sag ich doch: Wir sind drin.«
»Sagt sie doch! Ohne dass jemand bemerkt hätte, was sie sich in Wirklichkeit eingefangen haben.«
»Toll. Hurra. Und nun?«
»Kommt Teil Zwei des Plans.«
»Wann?«
»Bald.«
»Das höre ich seit Jahrzehnten. Bald. Schön, wir haben uns eingeschlichen. Aber seither sitzen wir fest.«
»Blödsinn. Wer denn? Du kannst nicht mal richtig sitzen.«
»Geht das wieder ins persönlich Beleidigende oder was? Du weißt genau, wie ich das gemeint habe. In Jahrzehnten sind wir nicht einen Schritt weitergekommen.«
»Du sicher nicht. Ohne Beine schreitet sich's schwer, hihi.«
»Da! Die nächste Beleidigung!«
»Hab dich nicht so. Wie soll mir für dich eine Beleidigung einfallen?«
(Großes, lang anhaltendes Gelächter.)
»Danke. Mir reicht's. Auf diesem Niveau debattiere ich nicht.«
»Huch, der Herr ist beleidigt. Mimimimi ...«
»Anfra'e.«
»Oje. Mir schwant Übles.«
»Am besten nicht einmal ignorieren.«
»Im Ernst, wir haben einiges erreicht. Wir können uns relativ ungehindert bewegen, ohne dabei aufzufallen.«
»Ich will keine Namen nennen, aber ich kenne jemanden, der praktisch immer unangenehm auffällt.«
»Drin'ende Anfra'e.«
»Wenn man davon spricht ...«
»Himmel und Inferno! Ein einziges Mal möchte ich erleben, dass man hier ungestört drei vernünftige Sätze anbringt.«
»Als ich angeregt habe, manche Spaßquassler zu sperren, wollte man gleich mich sperren.«
»Tja, wie heißt es so schön: Die Revolution beginnt bei dir selbst.«
»Und sie kommt auf dich zurück, ob du willst oder nicht, hehe.«
»Un'emein drin'ende Anfra'e.«
»Ich wäre schon froh, wenn mehr zugehört und weniger drauflosgebrabbelt würde.«
»Ich höre zu.«
»Ich auch.«
»Ich auch.«
»Ich auch! Permanent.«
»Zwardstunc-F und ich ebenfalls. Und dabei schweigen wir wie zwei Gräber.«
»Man merkt's. – Leute, ich bitte um konkrete Vorschläge. Für mich war der Test am Tag der Gunst ein echter Lichtblick.«
»Stimmt. Keine einzige unserer unglaublich verwegenen Aktionen wurde als solche bemerkt. Frecher Taschendiebstahl, ungehöriges Benehmen ...«
»Spar dir den Sarkasmus. Im Einzelnen waren das Kleinigkeiten, gewiss, aber doch auch erfolgreiche Versuche, wie weit wir gehen können, ohne Argwohn zu erregen.«
»Der lange Superwurm hat mit keinem Maulfinger gezuckt.«
»Dieser Büttel der Richterin!«
»Das elende Aas!«
»Schlangenschädel, verfluchter!«
(Mehrere weitere, recht unflätige Beschimpfungen.)
»Kriegt euch wieder ein! Darum ging's ja gerade, dass er unsere Masken nicht durchschaut.«
»Ruamzhuc-B hat sogar seinen bescheuerten Adlatus in einem Wettstreit besiegt.«
»Eben. Bravo!«
»Bravo!«
»Du nimmst mir das Wort aus dem Schalltrichter.«
»'enau. Übri'ens, ich hätte eine un'emein drin'ende ...«
»Klappe, Flachbot!«
»Moment mal. Hier herrscht immer noch Redefreiheit.«
»Hier herrscht nichts und niemand. Das ist ja das Problem.«
»Der kleine Kryptodiktator, was?«
»Das sagst du mir?«
»Keine Scharmützel! So lasst Haomtac-X halt endlich anbringen, was er unbedingt mitteilen will.«
»Bitte.«
»Geht schon.«
»Raus damit!«
»...«
»Na?«
»Hab's ver'essen ...«
»Aaargh! So wird das nie was. Ich fasse zusammen. Wir haben den Beweis erbracht, dass wir unter den Sichtverstärkern des Erzfeinds agieren können, ohne enttarnt zu werden.«
»Wir waren echt toll, finde ich.«
»Muss auch einmal gesagt werden. Oder?«
»Bin völlig deiner Meinung. Nicht zu vergessen, wir haben reichlich Beute gemacht.«
»Speziell in den letzten Jahren. Die Schreine quellen über.«
»Freilich hauptsächlich deswegen, weil gewisse Herrschaften säumig sind und keine neuen bauen.«
»Falls das eine Rüge sein soll, schieb sie dir in ...«
»Achtung! Ich kriege gerade eine Nachricht herein. Seid mal kurz still. Alle. Das ist wirklich wichtig.«
»Ich bin still.«
»Ich auch.«
»Ich auch. Permanent.«
»Zwardstunc-F und ich schweigen wie zwei ...«
»... Endversorgungsbehälter, in denen ihr hoffentlich bald vergammelt. – Leute, es ist etwas passiert. Unser goldener Käfig hat Zuwachs bekommen.«
»Boah, welche Sensation! Als wäre das noch nie vorgefallen.«
»Der Einwand ist berechtigt, jedoch hinfällig. So etwas hatten wir noch nicht.«
»Sagst du immer.«
»Diesmal ist es was anderes. Falls die versteckten Analysesonden nicht durchgeschmort sind, winkt uns eben die Chance, auf die wir schon viel zu lange warten.«
»Zwardstunc-F und ich legen Wert auf die Feststellung, dass wir weiter eisern schweigen werden.«
»Gut so.«
»Jedoch unter harschem Protest gegen die unflätige Beleidigung, die uns vor wenigen Zeitzähl-Impulsen widerfahren ist.«
»Verzeichnet. – Ich übermittle die Ortsangabe. Wir sollten uns alle, ich wiederhole alle, die irgendwie abkömmlich sind, dorthin begeben, auf schnellstem Wege.«
»Aber trotzdem mit höchster Heimlichkeitsstufe! Die fetten Schlängler sind nämlich auch bereits im Anflug.«
»Ich eile!«
»Ich düse.«
»Ich wühle.«
»Ich 'ebe Voll'as!«
»Ausgezeichnet. Leute, lasst uns das bloß nicht verhunzen. Was uns in den Schoß fallen könnte, ist ein Geschenk des Schicksals, ein machtvolles Instrument.«
»Sehe ich genauso. Wenn wir ausnahmsweise einmal ordentlich abgestimmt vorgehen, erstürmen wir damit eventuell sogar ...«
»Sag's!«
»Nein, sag's nicht!«
»Umschreib das Unaussprechliche lieber.«
»Ihr versteht sowieso, was ich meine. Und jetzt – Attacke!«
Das Chronofossil
Der erste Tag meines Lebens, an den ich mich bewusst erinnere, war ein Gerichtstag.
In meiner Heimat lief das so ab: Wer teilnehmen wollte, kam frühmorgens zu einem beliebigen Justizkiosk und meldete sich an. Die meisten deponierten dabei auch strittige Fälle, die ihrer Meinung nach der Klärung bedurften. Bedingung war das jedoch nicht.
Dann wurden zentral für jede Verhandlung unter den Angemeldeten die Rollen ausgelost: Richter und Beisitzer, Anwälte für alle Parteien, Schöffen, Schriftführer, Ordnungsdienst. Direkt persönlich Betroffene durften selbstverständlich keine dieser Funktionen ausüben.
Ebenfalls durch das Los bestimmt wurde, in welchem Justiztheater welcher Fall verhandelt werden sollte. Die imposanten Bauwerke waren zu Hunderttausenden über den Planeten verteilt. Sogar an den Polen gab es welche, allerdings geringer dimensioniert, nur für knapp fünfzigtausend Zuseher.
Das Publikum hatte den ganzen Vormittag Zeit, das Theater und damit die Rechtssache der Wahl aus- und aufzusuchen. Dank der reichlich vorhandenen Verkehrsmittel musste niemand hetzen. Gleiches galt für die Darsteller.
Teleportationsmatten, die sich und bis zu drei Personen an jeden beliebigen Ort des Sonnensystems versetzen konnten, besaß sowieso fast jeder Haushalt. Eher aus ästhetischen oder sportlichen Gründen benutzten manche Reisende jedoch lieber Sonnensegeljachten oder gar Retro-Technologien wie Rohrbahnen, Schwebegleiter und Suborbitalraketen.
Alle Prozesse begannen zur Mittagsstunde und dauerten gewöhnlich bis zum Abend. Theoretisch waren die gesprochenen Urteile bindend; in der Praxis hatten sie selten schwerwiegende Auswirkungen.
Das Hauptaugenmerk lag ja weniger auf Rechtsprechung als auf den dramatischen Elementen. Manche Justiztheater versuchten mit Spezialeffekten zu punkten. Andere lockten durch künstlerisches Rahmenprogramm wie Improvisationsballett oder orchestrale Untermalungsmusik. Deswegen kamen Zuschauermassen auch zu Fällen, die sonst auf kein großes Interesse gestoßen wären.
Schwerverbrechen wurden so gut wie nie verhandelt – ganz einfach deshalb, weil so gut wie nie welche vorkamen.
In unserer Gesellschaft hätte niemand etwas davon gehabt, dass er einem anderen Schaden zufügte. Warum sollte er es also tun?
Natürliche Aggressionen abbauen oder einen gewissen Zerstörungstrieb ausleben konnte man auf vielerlei, für die Zeitgenossen oder das Gemeinwesen harmlose Arten. Allein am ebenfalls wöchentlichen Demoliertag gab es dafür eine systemweite, bunte Palette von Angeboten.
Die Schauprozesse gerieten daher häufig zu rechtsphilosophischen Streitgesprächen. Spitzfindigkeiten und gewiefte Winkelzüge in den Plädoyers erfreuten sich großer Beliebtheit beim Publikum.
Freilich griffen viele Darsteller auf oftmals erprobtes Material zurück. Wirklich originelle Neuauslegungen der seit Jahrmillionen kanonisierten Gesetze waren rar. Entsprechend gefeiert wurden sie, wenn sie doch einmal gelangen.
Jeder Gerichtstag klang mit der abendlichen Veröffentlichung der Justiztheaterkritiken aus. Einige der besten, wortgewaltigsten Schreiber hatten sich auf dieses Genre spezialisiert. Die Berichte strotzten nur so vor pointierten Schmähungen oder aber, deutlich seltener, vor ähnlich überschwänglichem, blumig ausformuliertem Lob.
Manchmal ergaben sich daraus gleich wieder brisante Fälle für die nächste Verhandlungsrunde ...
*
Von all dem bekam ich damals naturgemäß nur Bruchstücke mit, die ich höchstens ansatzweise verstand.
Ich sah und hörte sehr schlecht. Jene Informationen, die zu mir durchdrangen, vermochte mein Gehirn wiederum nur mangelhaft zu verarbeiten.
Auch meine Gliedmaßen gehorchten mir kaum. Ich konnte mich aus eigener Kraft nicht einmal aus der Rückenlage auf den Bauch drehen, geschweige denn stehen oder gehen.
Zur Nahrungsaufnahme und Körperpflege war ich auf Hilfe angewiesen. Diese ließen Roboter mir zuteil werden. Meiner Erinnerung zufolge waren es unzählige, die mich betreuten; allerdings konnte ich in dieser Phase nicht weiter zählen als bis drei.
Sehr wohl glaube ich, nicht falsch zu liegen, wenn ich sage, dass sie mich äußerst sorgsam und zärtlich behandelten – gewiss liebevoller, als das die allermeisten hoch entwickelten Tiere handhaben. Mir wurde tatsächlich jeder Wunsch von den Augen abgelesen.
Etwas später, als ich bereits imstande war, einige voneinander unterscheidbare Laute von mir zu geben, interpretierten meine robotischen Pfleger diese primitiven Äußerungen ebenso flott und ebenso fehlerfrei. Wenn ich Hunger oder Durst verspürte, musste ich nur kurz aufschluchzen, und schon wurde das Bedürfnis gestillt. Plagten mich Verdauungsbeschwerden, gab es flugs die entsprechende Medizin, und so weiter.
Fühlte ich mich also wohl, wähnte ich mich im Paradies? Mitnichten.
*
Bei aller Fürsorge, die man mir permanent angedeihen ließ, ertrug ich es doch nur schwer, für die simpelsten Verrichtungen fremden Beistand zu benötigen.
Ich wollte mein Leben eigenständig und aktiv gestalten! Vor Ungeduld agierte ich nicht selten bockig, durchaus ungnädig und manchmal geradezu rabiat meinen dienstbaren Geistern gegenüber.
Aus purer Widerspenstigkeit gab ich mich noch tollpatschiger, als ich war. Ich ließ Dinge fallen und am Boden zerschellen, die ich eigentlich bereits sehr gut in der Hand halten konnte.
Obwohl ich längst meine Ausscheidungen kontrollierte, besudelte ich mich in unregelmäßigen Abständen. Ich schreckte nicht einmal davor zurück, mich absichtlich selbst in Verletzungsgefahr zu bringen – und ärgerte mich dann fast, wenn die Roboter doch wieder rechtzeitig zur Stelle waren und verhinderten, dass ich mir Schaden zufügte.
Die Maschinenwesen erduldeten all das mit der stoischen Ruhe, die ihnen einprogrammiert war. Nie wurde ich zurechtgewiesen, getadelt oder gar für meine Renitenz bestraft.
Unter den ersten Wörtern und Sätzen, die ich zu formulieren lernte, waren recht viele Beschimpfungen. Führten diese zu negativen Reaktionen? Natürlich nicht.
Hörte ich deshalb damit auf? Natürlich nicht.
Ich fürchte, ich war ein ziemlich unleidliches, unsympathisches Miststück.
Brachten mich die Roboter aus dem Anwesen, das ich allein mit ihnen bewohnte, in öffentliche Bereiche und in Kontakt mit anderen biologischen Intelligenzwesen, so beschwerte ich mich bei diesen, hysterisch gellend, über meine Betreuer. Aber auch da erntete ich stets nur vorgetäuschtes Verständnis und maximal Erheiterung über mein kindisches Gezeter und Gekeife.
*
Anfangs transportierte man mich auf einer mittels Antigrav-Technologie schwebenden Liege, dann in einem ebensolchen Sessel.
Wieder etwas später stützte und beschützte mich eine halbautomatische Gehhilfe. Damit kam ich mir noch um einiges lächerlicher und erbärmlicher vor. Während ich so tapsig durch die Welt stakste, wäre ich bei jedem mitleidigen Blick, der mich traf, am liebsten vor Scham im Erdboden versunken.
Die Ausflüge zu verweigern, war trotzdem keine Option. Wie ich quälend langsam, Schritt für Schritt, meinen störrischen Körper zu beherrschen lernte, wollte ich gleichermaßen meinen geistigen Horizont erweitern.
Mit Trainingsmöglichkeiten für Physis und Psyche war auch das durchaus luxuriöse Anwesen, das ich mein Heim nannte, reich bestückt. Der Zentralrechner, der die mobilen Roboter koordinierte, lieferte mir stündlich neue Anreize in Form vielfältiger Unterhaltungsgeräte.
Ich machte häufig, wenngleich widerwillig und lamentierend, davon Gebrauch. Langeweile hielt ich noch viel schlechter aus als das Gefühl, sanft und schleichend manipuliert zu werden.
Aber die Außenwelt war etwas anderes, wenn man sie unmittelbar erlebte und nicht durch Simulationen oder dreidimensionale Projektionen, mochten diese noch so perfekt und wirklichkeitsgetreu gestaltet sein. Ich begann, Gerüche zu lieben: solche, bei denen mir das Wasser im Mund zusammenlief, und noch mehr solche, die Übelkeit erregten oder mir einen unergründlichen Schrecken einjagten.
Haptische Sinneseindrücke genoss ich ebenfalls. Wind auf meiner Schuppenhaut. Wassertropfen oder Schneeflocken, die mir trotz des Prallschirmdachs ins Gesicht geweht wurden. Stiche von Dornen eines Schlinggewächses, in dem sich, nicht ganz zufällig, mein Fuß verfangen hatte.
Sprach ich von Genuss? In jener Phase hätte ich diesen Begriff mit Vehemenz zurückgewiesen. Nach wie vor war ich fast immer missmutig und ungenießbar.
Die Eroberung der Welt ging mir einfach nicht schnell genug vonstatten.
*
Als ich die Gehhilfen ablegte, weil ich sie endlich nicht mehr benötigte, empfand ich ein intensives Gefühl der Befreiung.
Es war an einem Bergetag. Diesen jeweils sechsten von neun Wochentagen widmete die planetare Bevölkerung der Suche nach Hinweisen auf Strandgut der Zeit.
»Chronofossilien« nannte man sie, analog zu den Versteinerungen und anderen Zeugnissen toter Lebewesen, die herkömmliche Geologen ausgruben, klassifizierten und konservierten. Alle Bewohner unseres – und übrigens auch vieler weiterer – Planeten, die dazu Lust hatten, verwandelten sich am Bergetag in Chronostratigraphen.
Mit Instrumenten, die sie bei einem der zahlreichen Metachronologischen Stützpunkte entliehen hatten, forschten sie nach Spuren Verschollener, chronal Verirrter oder aus der Zeit Gefallener. Das konnten absichtliche Hinterlassenschaften sein, etwa das Relikt eines Hyperfunkspruchs, aber auch zufällige Abdrücke im übergeordneten Kontinuum, wie der schwache Widerhall eines Benutzers in einem lange schon inaktiven Zeitbrunnen.
Nur selten wurde jemand fündig. Trotzdem beteiligten sich jeden Bergetag wieder fast zwei Drittel aller Zeitgenossen an dieser Unternehmung.
Schließlich war das Infinitum seit Jahrmillionen, nein: Jahrmilliarden stabilisiert. Die Galaxis, die in ferner Vergangenheit einmal Larhatoon geheißen hatte, war mehrfach chronoarchitektonischen Eingriffen unterzogen worden. Ein undurchdringlicher Wall schützte die eigene, solide Raumzeit vor jeglichen potenziell verderblichen, äußeren Einflüssen.
Die aus Larhatoon entstandene, große Chronosingularität bot für die darin Lebenden fast nur Vorteile. Immerwährenden Frieden, beispielsweise – ein Traum, der in unzähligen anderen Sterneninseln noch seiner Verwirklichung harrte oder längst ausgeträumt war, weil totale Verwüstung sie entvölkert hatte.
Zu den wenigen Nachteilen gehörte, dass wegen der lückenlosen Abschottung ein gewisser Mangel an neuen Erkenntnissen herrschte. Darin gründete das Infragestellen und Umdeuten der Gesetzestexte am Gerichtstag, das Experimentieren mit immer anders kombinierten Regeländerungen am Wettkampftag, und eben das Graben und Wühlen in der Vorzeit am Bergetag.
Wie erwähnt, rechnete gewöhnlich niemand mit einem Sensationserfolg. Es handelte sich eher um Traditionspflege, um einen lieb gewonnenen Brauch. Man kann sich deshalb vorstellen, welches Aufsehen der Fund einer vollständig erhaltenen, achronalen Person erregt haben muss.
Dieses Chronofossil war ich.
*