Inhaltsverzeichnis
Aufbruch - 24. März 2012: Hamburg Flughafen
Tag 1 - 25. März 2012: Bilbao
Tag 2 - 26. März 2012: Burgos
Tag 3 - 27. März 2012: Tardajos
Tag 4 - 28. März 2012: Hontanas
Tag 5 - 29. März 2012: Castrojeriz
Tag 6 - 30. März 2012: Itero de la Vega
Tag 7 - 31. März 2012: Frómista
Tag 8 - 1. April 2012: Carrión de los Condes
Tag 9 - 2. April 2012: Ledigos
Tag 10 - 3. April 2012: Sahagún
Tag 11 - 4. April 2012: El Burgo Ranero
Tag 12 - 5. April 2012: Masilla de las Mulas
Tag 13 - Karfreitag, 6. April 2012: León
Tag 14 - 7. April 2012: León
Tag 15 - Ostersonntag, 8. April 2012: León
Tag 16 - 9. April 2012: León
Tag 17 - 10. April 2012: San Martín Camino
Tag 18 - 11. April 2012: Astorga
Tag 19 - 12. April 2012: El Ganso
Tag 20 - 13. April 2012: Foncebadón
Tag 21 - 14. April 2012: Molinaseca
Tag 22 - 15. April 2012: Fuentesnuevas
Tag 23 - 16. April 2012: Villafranca Bierzo
Tag 24 - 17. April 2012: Ruitelán
Tag 25 - 18. April 2012: Alto do Poio
Tag 26 - 19. April 2012: Triacastela
Tag 27 - 20. April 2012: Barbadelo
Tag 28 - 21. April 2012: Portomarín
Tag 29 - 22. April 2012: Palas de Rei
Tag 30 - 23. April 2012: Melide
Tag 31 - 24. April 2012: Santa Irene
Santiago de Compostela
Nach der Reise
Impressum neobooks
Nicht die Erfahrungen sind es,
die dich prägen,
sondern das,
was du daraus machst
Aufbruch - 24. März 2012: Hamburg Flughafen
14,5 Kilo zeigt das Display am Tresen der freundlich lächelnden Lufthansamitarbeiterin an. Kommentarlos befestigt sie eine Klebebanderole an meinem roten Rucksack. Mir stockt der Atem. Wie soll ich denn das Gewicht einen Monat lang auf meinen Rücken tragen? In meinem Reiseführer steht, dass der Rucksack maximal fünfzehn Prozent des eigenen Körpergewichtes wiegen sollte. Das sind bei mir zehn Kilo.
Eine Personenwaage besitze ich nicht. Vergangene Woche habe ich zu Hause alle einzelnen Stücke mit meiner Küchenwaage ausgewogen. Der Schlafsack wiegt siebenhundertdreißig Gramm, der Wanderhut sechzig Gramm, die dringend empfohlene viertel Rolle Toilettenpapier vierzig Gramm, die drei Unterhosen je sechsundzwanzig Gramm. Alles in allem ergibt das sechs Kilo. Zusätzlich habe ich am Abend vorher noch eine Taschenlampe, einen Föhn, eine Wärmflasche und zwei Bücher eingesteckt. Wiegen die so viel? Oder habe ich mich beim Addieren der Werte vertan? Es sind fast fünf Kilo Übergepäck!
Wie werde ich die wieder los? Überflüssiges auspacken - sobald ich auf dem Jakobsweg bin! Die Wärmflasche brauche ich vielleicht nicht, mit einer Unterhose weniger komme ich auch aus, und vom Föhn hat mir meine Freundin eh abgeraten.
Andererseits hasse ich es, mit ungewaschenen Haaren herumzulaufen. Die Vorstellung, in einer ungeheizten Herberge nachts vor Kälte nicht schlafen zu können, lässt mich erschaudern. Föhn und Wärmflasche sollen bei mir bleiben! Leider schmerzt auch mein rechter Fuß - wenn ich recht überlege schon seit dem Weg zum Flughafen. Ich habe zu viel Gepäck und Kummer.
„Verlier nicht den Mut“, mein Freund Thomas umarmt mich, „und komm zur Ruhe.“
Mir stehen beim Abschied die Tränen in den Augen. Doch es ist gut, dass ich mich jetzt auf den Weg mache.
In den letzten Wochen hat mein Herz gerast, sobald ich das Großraumbüro betreten habe. Ich mag gar nicht mehr daran denken. Beim Essen an meinem Küchentisch habe ich Abend für Abend Hape Kerkelings Hörbuch „Ich bin dann mal weg“ gehört. Schließlich habe ich mich in meiner Firma auf eine andere Stelle beworben, obwohl ich in diese Abteilung erst vor sechs Monaten gewechselt bin. Die Entscheidung über meine Versetzung steht noch aus. In den folgenden Tagen habe ich nach einer Ausrüstungsliste für den Jakobsweg gegoogelt und mir als erstes ein Paar Wanderstiefel gekauft. Nach und nach habe ich alle weiteren Ausrüstungsgegenstände erstanden und fünf Wochen Urlaub eingereicht.
Ich bin auf unbestimmte Zeit erst mal fort, auf der Suche nach einem neuen Leben. Wie das funktionieren soll, ist mir selber noch nicht klar. Auf jeden Fall will ich Thomas regelmäßig schreiben.
Die erste Postkarte schicke ich ihm schon von der Zwischenlandung in Frankfurt.
Um halb elf lande ich schließlich in Bilbao. Der Pilot wünscht einen schönen Sonntag und „Viel Erfolg am Montag bei allem was Sie vorhaben“. Lächelnd falte ich den ungelesenen Teil der Zeitung zusammen.
Glücklicherweise steht ein Shuttlebus vor dem Terminalausgang, der mich ohne Wartezeit zu meinem übers Internet gebuchten Hotel fährt. Nach dem Einchecken gehe ich sofort ins Bett. Jetzt bin ich schon in Spanien, denke ich, fühle mich im dem Vier-Sterne-Hotel aber eher wie auf einer der Dienstreisen, die ich in den letzten Jahren unternommen habe.
Tag 1 - 25. März 2012: Bilbao
Nach der ersten Übernachtung und einem ausgiebigen Frühstück checke ich aus dem Holiday Inn am Flughafen in Bilbao wieder aus. Am Ausgang steht eine Waage mit großem Leuchtdisplay. Neugierig gehe ich zu ihr hin. Weggeschmissen habe ich bisher nur die Wäscheleine und eines von zwei Büchern. In der Hoffnung, dass die Waage am Flughafen ein falsches Gewicht angezeigt haben möge, werfe ich einen Euro in den Geldschlitz. Ich stelle den Rucksack auf die Waage: Acht Kilogramm.
Aber er liegt nicht richtig auf dem Waagenteller, sondern lehnt am Ständer mit dem Display. Das verfälscht das Ergebnis, befürchte ich und positioniere ihn neu, doch der eine Euro ist bereits durchgefallen und ein weiteres Ein-Euro-Stück habe ich nicht.
Mit Schwung hebe ich meinen nun leicht gewordenen Rucksack hoch. Den Gurt über den Hüften spüre ich kaum noch. Der eine Euro war gut investiert - das Gepäck ist offenbar nur so schwer, wie ich es mir denke.
Direkt vor dem Hotel wartet wieder der Shuttlebus zum Flughafen, dort angekommen steige ich um und sitze bald im Bus zum Bahnhof. Mein Gepäck lehnt an meinem Oberschenkel, und ich taste, ob mein Brustbeutel noch da ist. Ungefähr zweihundertfünfzig Euro habe ich aus Unsicherheit, ob es unterwegs genügend Geldautomaten gibt, eingesteckt. Ob das eine gute Idee war?
Ein bisschen ängstlich bin ich, als Frau alleine auf dem Jakobsweg. Mein Pilgerführer hält das allerdings für völlig ungefährlich. Das will ich nun mal glauben.
Neugierig und etwas angespannt gucke ich aus dem Fenster. Am Bahnhof muss ich aussteigen. Anschließend werde ich nach Burgos, meinem Startpunkt auf dem Camino fahren.
Der „Camino Francés“ beginnt schon im französischen Saint-Jean-Pied-de-Port und führt quer durch Nordspanien bis nach Santiago de Compostela, nahe der Atlantikküste. Schlusspunkt ist das Grab des Apostels Jakob in der dortigen Kathedrale. Ich werde allerdings erst in Burgos starten, was mir die ersten zweihundertneunzig Kilometer erspart. Es bleiben noch fünfhundert Kilometer, die ich dann hoffentlich in den fünf Wochen Urlaub zu Fuß schaffen werde.
Kurz nachdem der Bus eine Brücke überquert hat, entdecke ich ein Gebäude mit spitzen Kanten und geschwungen Wänden. Die Fassade funkelt in der Sonne. Was ist das für ein Gebäude? Wenn ich Zeit hätte, würde ich es mir gerne ansehen. Ohnehin sehne ich mich danach, mich treiben zu lassen.
Dann erst bemerke ich, dass ich schon frei bin. Ich habe Urlaub, ich kann den Tag spontan gestalten! Ich gebe dem Entdeckerimpuls nach und steige an der folgenden Bushaltestelle aus. Die Sonne scheint, es sind 23 Grad, ich habe den ganzen Tag zur freien Verfügung und genieße die neu entdeckte Freiheit. So gelöst war ich schon Monate nicht mehr. Leichten Schrittes nähere ich mich auf dem Rückweg über viele Querstraßen wieder dem mysteriösen Gebäude.
Noch eine Brücke überquere ich. Erst, als ich das Gebäude am Fluss zur Hälfte umrundet habe, sehe ich das Schild „Museo Guggenheim Bilbao“. Ach - habe ich davon nicht schon mal in einer Werbung für einen Wochenendtrip gehört? Ich biege links um die Ecke und stehe vor dem Museumsbistro. Hunger habe ich, kurzentschlossen trete ich ein, deute auf einige Happen und bestelle eine Cola Light dazu. Schon sitze ich an einem kleinen Bistrotisch, meinen Rucksack stelle ich in Sichtweite ab, um mich herum spielen Kinder. Das Kartoffelomelette, Tortilla genannt, schmeckt köstlich.
Ich könnte gleich noch ins Museum gehen, überlege ich. Andererseits, so meldet sich mein Kontrollorgan, verpasse ich dann möglicherweise die in Deutschland herausgesuchte Bahnverbindung nach Burgos. Eine dreiviertel Stunde Zeit für einen Museumsbesuch bliebe mir. Falls es länger dauert, weiß ich aber nicht, wann der nächste Zug fährt.
Ach was, ich habe viel mehr Zeit als nur fünfundvierzig Minuten! Wieder meldet sich das neue Gefühl der Freiheit, und es erweitert sich noch. Ich könnte mich sogar entscheiden, den ganzen Jakobsweg nicht zu gehen und statt dessen hier ein Zimmer nehmen, um fünf Wochen lang jeden Tag ins Guggenheim Museum zu gehen. Das sind ganz ungewohnte Gedanken für mich. Obwohl die Vorstellung, fünf Wochen lang dasselbe Museum zu besuchen, schon etwas ungewöhnlich ist.
Nachdenklich stehe ich vor der Kasse und entschließe mich endlich, eine Eintrittskarte zu kaufen. Zeit, zu tun, wozu ich Lust habe - das soll für die nächsten fünf Wochen mein Motto sein.
Im Museum stehe ich lange vor einem Bild von Anselm Kiefer. Ein Mann liegt ausgestreckt auf dem lehmfarbenen Boden, der schwarze Himmel, der drei viertel des Bildes ausmacht, ist voller Sterne. Ich versetze mich in die Lage des Mannes, lasse so das Bild auf mich wirken.
Mein Kopf ist leer verglichen mit dem Tosen der Gedanken in den letzten Wochen. So wie der Mann, fast tot, habe ich mich auch gefühlt. Hoffentlich muss ich nie wieder in diese Abteilung zurück.
Gegenüber hängt ein Wellenbild von Gerhard Richter. Mein Rücken entspannt sich. Auch alle anderen Objekte in diesem Raum schaue ich mir aufmerksam an. Die weiteren Räume durchschreite ich eher schnellen Schrittes, ich achte mehr auf die Architektur: Riesige Foyers und asymmetrische Wände lassen den Raum sehr offen wirken. Nach einer Stunde habe ich genug gesehen, es zieht mich weiter.
Am Bahnhof angekommen ist der geplante Zug schon weg, und der nächste fährt erst in vier Stunden. Die verbleibende Zeit verbringe ich mit einem Spaziergang durch den Park, in einem Café und schließlich beim Burger King im Bahnhof. Ich bin froh, als ich endlich in den Zug einsteigen kann.
Die Fahrt mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Bilbao nach Burgos dauert zweieinhalb Stunden. Dabei lese ich den übriggebliebenen Teil der „Zeit“, die es im Flugzeug gab. Mit dem beiliegenden Magazin werde ich jedoch nicht ganz fertig und reiße die ungelesenen Seiten als Lektüre für die nächsten Tage heraus. Dann werde ich etwas unruhig. Es ist schon fast 20 Uhr. Zu Hause habe ich noch überlegt, mir auch in Burgos ein Hotel für die erste Nacht zu buchen, die Idee aber verworfen.
Schließlich kommt der Zug am Bahnhof an. Ich stürze eilig in die Touristeninformation. Der Mann hinter dem Tresen sagt nur „I don’t speak English.“ Er zeigt aber noch in eine Richtung, brummt „autobus“ und gibt mir einen Stadtplan.
Ich gehe durch die Schiebetür, sehe jedoch nur Straßen und Grünflächen. Dieser Bahnhof liegt offenbar außerhalb des Stadtzentrums. Auch die Bushaltestelle ist nirgends zu sehen. Ich zögere erst noch, zu Fuß in die Stadt zu gehen. Dann beschließe ich: Hier ist der offizielle Startpunkt meines Jakobsweges. Jetzt beginne ich, nicht erst morgen! Mit weit ausladenden Schritten und schwingenden Armen mache ich mich auf in die Richtung, in der ich die Innenstadt vermute.
Es ist noch sehr hell für die Uhrzeit, viel heller als in Deutschland. Ich gehe auf einem kleinen Fußweg. Rechts neben mir eine Hauptverkehrsstraße, links Wohnblocks und Hochhäuser. Viele junge Paare mit Kindern sind unterwegs. Ich blicke auf meinem Kompass, der am Rucksack baumelt und spreche dann doch eine junge Frau auf Englisch an. Sie zeigt auf meine Frage nach dem Zentrum in die Richtung, in die ich schon unterwegs bin. Anschließend redet sie mit ihrem Partner und holt mich extra noch einmal ein, um zu fragen, ob ich nicht doch zum Bahnhof will.
Sechs Kilometer weiter erreiche ich die Innenstadt. Ich sehe kein einziges Hotel, auch keinen Imbiss, dabei habe ich ein starkes Leeregefühl im Magen. Da, ein Vier-Sterne-Hotel, aber diesen Luxus brauche ich jetzt nicht. Ich bin schon fast daran vorbei, als ich beschließe, nach dem Preis zu fragen. Achtzig Euro. Immerhin habe ich jetzt einen Anhaltspunkt, was ein Hotelzimmer hier kostet.
Eine halbe Stunde später sehe ich das „Hotel Jacobeo“. Für vierzig Euro ohne Frühstück bekomme ich einen fensterlosen Raum. Den verlasse ich, ohne viel auszupacken, sofort wieder in Richtung Innenstadt und finde schnell eine Tapas-Bar.
Beim Eintreten sieht sie mit den bunten Fliesen und den dunklen Barhockern noch ganz ansprechend aus. Mein Blick wandert durch den Raum. Auf dem Fußboden, direkt am Tresen, liegt alles voller Papierschnipsel - und was ist das andere? Ein Mann am Tresen schiebt sich eine Olive mit Hilfe eines Zahnstochers in den Mund und spukt den Kern auf den Boden. Olivenkerne - alles liegt voller Kerne! Ein Qualitätsmerkmal für die Bar, wie ich später erfahre, daran erkennt man eine Lokalität, die nicht nur Touristen, sondern auch viele Einheimische besuchen.
Mein Abendessen, ein Sandwich mit Rührei sowie einige Oliven kostet 3,20 Euro. Das Sandwich ist so groß, dass ich nach der Hälfte satt bin. Ich packe den Rest als Wegzehrung für den nächsten Tag ein.
Zurück im Hotel ziehe ich als Schlafanzugersatz meine lange Unterhose und das langärmeliges Unterziehshirt an. Beim Betrachten der Füße finde ich sogar schon die erste Blase am großen Zeh rechts. Lächelnd klebe ich ein kleines Blasenpflaster aus meiner Reiseapotheke darüber. Ist das nicht blöd, dass ich mich jetzt über eine Blase freue? Aber irgendwie bin ich zufrieden. Eine ist nicht schlimm - sie schmerzt schließlich kaum. Viel wichtiger finde ich, dass ich jetzt auf meinem persönlichen Jakobsweg bin.
Tag 2 - 26. März 2012: Burgos
Im Frühstücksraum ist es so kalt, dass ich rasch zwei Scheiben Brot in den Toaster schiebe und dann meine graue Fleecejacke aus dem Zimmer hole. Toast mit Marmelade, ein Glas Organgensaft, ein Joghurt, das ist heute mein Frühstück. Ich bin der einzige Gast. Auch in diesem Raum gibt es keine Fenster, ich vermute, es ist bewölkt - vielleicht kommt mir der Gedanke, weil es in dem Raum so dunkel ist. Es wird bald schon 10 Uhr.
Eine Stunde später breche ich auf. Draußen strahlt die Sonne am wolkenlosen Himmel. Ich tausche meine Brille gegen meine Sonnenbrille. Schnell stelle ich fest, dass der Jakobsweg direkt am Hotel Jacobeo vorbei läuft. Das hätte ich mir bei diesem Hotelnamen denken können! Der Weg ist gut ausgeschildert. Es gibt an den Häusern Kacheln mit der Jakobsmuschel und einem Pfeil darauf. Oft ist auch ein gelber Pfeil auf dem Weg oder an den Hauswänden aufgemalt. Jeder Schritt mit dem rechten Fuß schmerzt. Ich frage mich, ob ich das jetzt die ganzen fünfhundert Kilometer aushalten muss, schiebe den Gedanken aber wieder beiseite.
Um halb zwölf mache ich einen Stopp an der Kathedrale. Zwei Störche bauen auf einem der gotischen Türmchen ein Nest. Ich höre sie klappern. Vor der Kathedrale steht ein kleiner Informationscontainer. Dort hole ich mir den allerersten Stempel für meinen Pilgerpass und betrachte diesen mit Stolz. Den Pass habe ich mir übers Internet von der Sankt-Jakobus Gesellschaft in Würzburg bestellt. Er ist quasi meine Eintrittskarte in die Pilgerherbergen. Außerdem soll er mit mindestens einem Stempel pro Tag dokumentieren, dass ich tatsächlich die gesamte Strecke zu Fuß gegangen bin.
Als Pilger kostet der Eintritt für die Besichtigung der Kathedrale zwei Euro. Beim Verlassen des Containers entnehme ich dem Schild „no aseos“, dass es dort keine Toiletten gibt. Das hätte ich ohnehin nicht vermutet. Bei der Besichtigung überfällt mich allerdings bald ein dringendes Bedürfnis, weshalb dieser kulturelle Programmpunkt etwas kurz gerät.
Nach dem Toilettenbesuch studiere ich die Auslagen des Souvenirshops. Ein gelber Pfeil als Kettenanhänger gefällt mir besonders gut. Ach da kommen ja noch hunderte Souvenirläden, denke ich und verlasse den Laden wieder.
Zum Mittagessen kaufe ich mir zwei Kilometer weiter in einem Supermarkt Brot, ein Säckchen Mini-Babybels, eine Packung Cherrytomaten, eine Dose Limonade und Frischkäse, der wie diese Stadt „Burgos“ heißt. Ich setze mich einige hundert Meter weiter auf die Wiese an einem kleinen Fluss auf meine blaue Sitzunterlage und streiche mir den Frischkäse mit meinem Taschenmesser aufs Brot. Auch von den kleinen Käsestücken genehmige ich mir zwei.
Ein Dackel kommt angelaufen, er drängt mit seiner Schnauze zu meiner Frischkäsepackung hin, die ich eilig wieder einpacke. Ich drehe mich um. Sein Herrchen sitzt auf einer Treppe und sieht zu. Erst als der Hund ohnehin schon von selbst wegläuft, pfeift er ihn heran.
Auf der anderen Seite der Wiese sehe ich etwas, was ich nur Männerspielplatz nennen kann. Viele Sportgeräte, Reckstangen, Vorrichtungen zum Bauchmuskeltraining und Kreisel stehen auf dem Rasen. Einige ältere Herren, sitzen entweder auf der Bank oder machen Übungen. Einer winkt mich heran. Ich zögere etwas, denke aber an mein neues Motto. „Zeit zu tun, wozu ich Lust habe.“ Ich könnte den Jakobsweg auch nutzen, um meine Schüchternheit zu überwinden. Ich steige zu ihm auf eine Konstruktion, die man am ehesten als Wippe bezeichnen kann. Wir sitzen uns gegenüber, es geht darum, den Körper seitwärts zu neigen, sodass das Gerät pendelt. Nach einigen Minuten verabschiede ich mich mit einem lächelnden Nicken.
Schwungvoll gehe ich weiter. An mehreren Straßenkreuzungen laufe ich geradeaus, ohne einen Wegweiser zu entdecken und steige die hohen Bordsteine runter und wieder hoch.
Schnell befürchte ich allerdings, dass ich vom Jakobsweg abgekommen bin. Eine viertel Stunde irre ich nervös durch die Stadt, halte vergebens nach gelben Pfeilen Ausschau, bis ich auf zwei freundliche Passanten treffe. Der Rucksack lässt sie mich eindeutig als Pilgerin identifizieren, weshalb die beiden mir ungefragt den Weg weisen.
Zurück auf dem Camino laufe ich am Universitätscampus entlang, die Stadt ist immer dünner besiedelt, stattdessen säumen Bäume die Straße. Einige Jogger kommen mir entgegen, aber keinem einzigen Pilger bin ich bisher begegnet. Ein Geistlicher in schwarzem Gewand überquert vor mir die Straße. „Buen Camino“, grüßt er. Das bedeutet so viel wie „Guten Pilgerweg“. Ich wiederhole den Gruß und freue mich, dass ich mit dieser besonderen Formel nun zum ersten Mal angeredet werde.
Gegen 14 Uhr verlasse ich auch die letzten Ausläufer von Burgos. Ein Stück des Weges führt parallel an einer Autobahn vorbei. Ich stelle mir vor, dass dort wie in Deutschland üblich ein braunes Hinweisschild mit der Abbildung eines Weges und der Aufschrift „Kulturhistorischer Pilgerweg: Camino de Santiago“ steht. In meiner Fantasie sagt eine Beifahrerin zum Fahrer, als sie mich sehen: „Guck mal, da läuft sogar eine!“
Daneben wird eine Straße neu gebaut. Kurz stoppe ich, um meine Jacke zusammengerollt hinter die Verschlusslasche meines Rucksacks zu stopfen. Ein Bauarbeiter überquert vor mir die staubige Schotterpiste. Plötzlich ist er vor einem LKW verschwunden, ich sehe eine riesige Sandwolke, die anfängt, sich zu bewegen - eine Windhose. Mit meinen Augen verfolge ich den Miniwirbelsturm bestimmt fünfzig Meter, bis er sich auflöst. Der Bauarbeiter ist auch weg. Ich kann ihn zumindest nirgends mehr entdecken. Ich glaube nicht wirklich, dass ihn die Windhose aufgesogen hat, aber das Ganze hat etwas Mysteriöses.
Eineinhalb Stunden später mache ich Rast im Schatten einer Autobahnbrücke. Dort hat ein Pilger seinen Lacoste-Pullover und seine rote Regenjacke vergessen oder kurzzeitig deponiert. Vielleicht war ihm auch sein Gepäck zu schwer.
Als ich weiter wandere, bemerke ich, dass sich mein Rucksack nach den mittlerweile acht Kilometern auch schwerer anfühlt. Kurz setze ich ihn ab und kreise mit den Schultern.
Einen halben Kilometer vor Tardajos, der nächsten Ortschaft nach Burgos, holen mich auf einem von Bäumen flankierten Feld zwei Pilger ein. Anja, eine große, sonnengebräunte, blonde Frau mit Kurzhaarschnitt und ihr Mann Michael kommen aus Dänemark, sie sind vor einer Woche in Pamplona gestartet.
„Ihr seid die ersten Pilger die ich auf dem Jakobsweg treffe“, stelle ich auf Englisch fest.
Sie erzählen von einem Mann aus Rumänien, den sie kürzlich trafen, und der auf einer Nebenstrecke des Jakobsweges fünf Tage lang keinen anderen Pilger traf, bis er überglücklich den beiden begegnete. Ich bin auch froh, so nette Bekanntschaft zu machen. Michael und Anja wollen heute ebenfalls nur bis Tardajos und schmunzeln, als ich berichte, dass ich heute in Burgos gestartet bin. Alles in allem bin ich elf Kilometer gelaufen. Mittlerweile ist es auch schon 17 Uhr.
In Tardajos folgen wir einem auf den Asphalt gemalten gelben Pfeil mit dem Wort „Albergue“- Herberge, bis wir vor einem roten zweistöckigem Häuschen stehen. Das ist ja einfach zu finden, stelle ich erleichtert fest.
Die Herberge ist eingerichtet, wie ich es aus meiner Kindheit von deutschen Jugendherbergen kenne. Ein Acht- und ein Vierbettzimmer mit Doppelstockbetten, ein Badezimmer mit je zwei durch einen kleinen Schieber verriegelbaren Duschkabinen und zwei Toiletten. Im Badezimmer stehen Putzmittel. Es wirkt auf mich sehr sauber und ordentlich. Als erstes dusche ich und frage mich dann, was ein Pilger mit dem Rest des Tages anstellt.
Die Sonne scheint noch immer. Mit meinem Tagebuch setze ich mich vor der Herberge an einen großen Holztisch mit zwei Bänken. Anja und Michael setzen sich dazu. Kurze Zeit später treffen John und Tom ein, Vater und Sohn aus Leeds. Ich freue mich, weitere Pilger kennen zu lernen. John packt eine Packung Zigaretten aus und beide beginnen zu rauchen. John bezeichnet sich als Jakobsweg-süchtig. Er sei den ganzen Weg schon drei Mal gegangen und wolle davon jetzt los kommen, aber einmal müsse es jetzt noch sein, denn er wolle seinem Sohn den Camino zeigen. Tom geht aufs College, vom Aussehen hätte ich ihn jünger, etwa auf fünfzehn geschätzt.
Kurz darauf stoßen Dagmar und Kirsten aus Österreich zu uns. Michael und Anja begrüßen sie mit großem Hallo. Ich denke erst, die sind die letzten zweihundert Kilometer gemeinsam gegangen, erfahre aber, dass sich die vier erst am vorherigen Tag in einer Herberge kennen gelernt haben.
In einem Mix aus Deutsch und Englisch werde ich über die wesentlichen Prinzipien des Jakobweges unterrichtet.
„Es geht nichts verloren auf dem Camino“, behauptet Kirsten. „Gestern habe ich meine Kamera verloren. In der Herberge habe ich bemerkt, dass sie sich nicht mehr in meinem Rucksack befindet. Zuletzt hatte ich sie auf einem Rastplatz. Da ist der Herbergsvater extra mit mir hin gefahren, und genau, wo ich gesessen habe, lag der Fotoapparat.“
„Ich habe fünfzig Euro gefunden“, ergänzt Dagmar, „und sie dem Besitzer wieder zurückgegeben.“
Ich lache.
„Nein, wirklich!“, bekräftigt Dagmar, „der Schein lag mitten auf dem Weg, und der musste von jemanden direkt vor uns verloren worden sein, sonst hätte ihn jemand anderes aufgehoben. Ich habe beim nächsten Stopp die Brasilianerin vor uns eingeholt und gefragt Where do you have your money? Da hat sie bemerkt, dass ihr Fünfziger aus der hinteren Hosentasche verschwunden ist. Taaaraaa! habe ich gesagt und ihr den Schein zurückgegeben. Die hat sich vielleicht gefreut.“
Wir unterhalten uns noch eine ganze Weile, ich genieße die Gesellschaft.
„Wollen wir abends in der Bar an der Straße essen gehen?“, fragt Kirsten auf Englisch, alle nicken. Eine Bar bezeichnet in Spanien eine Lokalität, in der es kleine Imbisse und Getränke gibt. Meist hat sie vom Frühstück bis zum späten Abend geöffnet.
Um kurz vor acht stehen wir tatsächlich allesamt in der einzigen Kneipe von Tardajos. Abendessen gibt es noch nicht, so erfahren wir, erst ab 20:30 Uhr. Kurz setzen wir uns daher an einen Tisch im Hauptraum. Ich bemühe mich, nicht auf die zahlreichen ausgestopften Tiere an den Wänden zu sehen. Dann werden wir in einen separaten Raum geführt, an der Tür steht „Comedor“.
Die Bedienung, eine resolute Frau in den Fünfzigern nimmt unsere Bestellung auf. Ich bin froh, dass Anja etwas Spanisch spricht, denn es gibt keine Speisekarte. Stattdessen zählt die Dame für Vorspeise, Hauptgericht und Nachtisch jeweils drei Möglichkeiten auf.
Alles versteht Anja auch nicht, außerdem ist keines der Hauptgerichte vegetarisch, und Dagmar möchte nur einen Salat ohne Hauptspeise. So dauert es eine Weile, bis wir Vorspeisen und Hauptgerichte ausgewählt haben. Ich nehme einen Salat und anschließend Nudeln mit Tomatensoße, was eigentlich eine weitere Vorspeise gewesen wäre. Mit großem Seufzen verschwindet die Dame in der Küche und kehrt zurück mit einer Orange, einem Joghurt und einem Becher Vanillepudding. „Postre?“- Nachtisch?, fragt sie.
Unter großem Gelächter zeigt jeder von uns auf eine der Nachtischvarianten.
Gespannt sehe ich in die Runde, hier sitze ich also mit sechs Pilgern aus Dänemark, England und Österreich, die ich vor ein paar Stunden noch nicht kannte. Die Bedienung stellt unaufgefordert eine Flasche Wein und zwei Flaschen Wasser auf den Tisch.
Mit seinem nicht ganz einfach zu verstehenden nordenglischen Akzent berichtet John: „Die Ankunft in Santiago ist gar nicht so sensationell. Das ist letztlich auch nur eine Großstadt mit viel Verkehr. Am schönsten finde ich immer den Punkt, an dem ich Santiago zum ersten Mal sehe.“
Unsere weitere Unterhaltung dreht sich um die Erlebnisse auf den vergangenen Kilometern und die Frage, ob Spanischkenntnisse hier notwendig sind. Hoffentlich nicht, denke ich. Aber solange immer jemand dabei ist, der Spanisch und mindestens noch Englisch spricht, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.
Beim Bezahlen um 22 Uhr freue ich mich, dass die Getränke in den zehn Euro für das Menü schon enthalten sind. Wir brechen eilig auf, denn um diese Uhrzeit schließt die Herberge.
„Keine Panik“, sagt Michael „die müssen eh auf uns warten, außer uns gibt keine weiteren Gäste.“
Trotzdem bin ich froh, als wir eine viertel Stunde später endlich ins Gebäude kommen. Wir übernachten im Achtbettzimmer, nur die beiden Österreicherinnen schlafen im Nebenraum. Schon fünf Minuten später liegen alle in den Betten. Jeder wünscht jedem eine gute Nacht. Ich murmle mich in meinen Schlafsack ein und decke mich außerdem mit einer der ausliegenden Wolldecken zu. Ein wohliges Kindheitsgefühl aus alten Klassenfahrtzeiten sammelt sich in meinem Bauch. Zufrieden schlafe ich ein.
Tag 3 - 27. März 2012: Tardajos
Als ich die Augen öffne, packen die beiden Engländer gerade ihre Sachen ein. Michaels Bett ist bereits leer, Anja rollt ihren Schlafsack zusammen. Ich stehe auf und ziehe meine Schultern nach hinten, der Rücken fühlt sich vom ungewohnten Rucksacktragen verspannt an. Anja präsentiert mir stolz ihre Flipflops: „Die habe ich in einer Herberge gefunden, kann ich gut gebrauchen.“ Sie setzt ihren Rucksack auf, an dem eine Alu-Tasse baumelt. Unverkennbar, Anja ist eine Pilgerin. Ich auch! Sehe ich auch so aus? Ich ziehe meine pikobello saubere, beige Wanderhose und meine lila-rosa-karierte Bluse an. Ich fühle mich nicht anders als noch zu Hause, frage mich aber, wie ich aussehe, wenn ich tiefer in das Pilgerleben eintauche und ob ich dann auch irgendwann liegengelassene Badelatschen von anderen Pilgern auftrage.
Wir essen gemeinsam im Frühstücksraum. Der Herbergsvater, „Hospitalero“ genannt, heißt Paolo, ich schätze ihn auf Mitte zwanzig. Er hat Baguettes und ein Glas Marmelade besorgt. Alle greifen kräftig zu, ich esse an die zehn Minischeiben. Die sauersüße Himbeermarmelade kommt von der „Gamle Fabrik“, eine Marke, die mir vage aus meinem letzten Dänemarkurlaub bekannt vorkommt. Die Dänen sind über die heimische Marmelade begeistert und loben das Frühstück. Paolo berichtet in passablem Englisch, dass er diesen Herbergsdienst eine Woche lang unentgeltlich verrichtet. Den Jakobsweg ist er selber schon viele Male gegangen - oft die klassische Variante, auf der wir unterwegs sind, aber auch die Nordstrecke oder die von Madrid nach Santiago. „Der Herbergsdienst ist auch eine Form, den Jakobsweg zu begehen“, stellt Anja fest.
Nach dem Frühstück verschwinden alle auf die Toilette. Bevor wir die Herberge verlassen, bezahlen wir noch unseren Obolus. Einen festen Preis für die Unterkunft gibt es nicht. Ich werfe zwölf Euro in den dafür vorgesehenen Briefkasten.
Gegen 8:30 Uhr brechen wir nacheinander auf, die Dänen als erste.
„Wir brauchen uns nicht zu verabschieden, wir sehen uns ohnehin unterwegs“, ruft mir eine der Österreicherinnen zu. Die kennen mein Tempo nicht, denke ich. Gestern bin ich elf Kilometer gegangen. Für den zweiten Wandertag nehme ich mir ebenfalls vor, den Fußmarsch kurz zu halten. Die Sonne geht gerade auf, und die Morgenröte taucht die Landschaft in ein sanftes Licht. Eine halbe Stunde später durchquere ich das Dorf Rabé de las Calzadas. Dann wandere ich acht Kilometer weit über einen Weg mit rotem Boden quer durch die weite Landschaft aus sanften Hügeln. Links und rechts liegen Felder. Diese Hochebene heißt Mesata und ist bei Pilgern berüchtigt, denn kaum ein Baum bremst die Sonneneinstrahlung. Selbst jetzt an einem Vormittag im März ist es warm. Ich passiere einen Rastplatz mit Brunnen, ohne dort zu halten.
In Hornillos del Camino, ein Dorf mit Häusern aus groben Natursteinen, begegne ich tatsächlich den beiden Engländern und den Österreicherinnen wieder. Mein Herz hüpft, als sie mich mit Winken und Hallo-Rufen begrüßen. Wir kaufen uns einen kleinen Imbiss im Lädchen und rasten gemeinsam am zwei Meter hohen Dorfbrunnen aus grauem Stein. Mein „Bocadillo de Queso“ besteht aus Baguettebrot und dicken Käsescheiben. Leider ist kein Salatblatt dabei. Hätte ich es zusammenstellen können, hätte ich saftige Tomatenscheiben dazu gefügt, auch ein paar Zwiebelringe wären schön gewesen. Der Verkäufer hat mich noch gefragt, ob er genügend Käse draufgetan habe. Obwohl ich genickt habe, hat er das Baguette wieder ausgewickelt und doch noch eine weitere Scheibe würzigen Käse drauf gelegt. Ich esse das belegte Brot bis auf ein kleines Stück, das ich in eine Plastiktüte einpacke.
Anschließend versorge ich Tom noch mit einen Pflaster für eine Schnittwunde an der Hand, fülle meine Wasserflaschen am spritzenden Hahn des Brunnens auf und breche nach den Österreicherinnen auf.
Meisen flattern von einem Busch zum nächsten. Meine Gedanken wandern zurück zu meiner Arbeit. Es kommt mir vor, als wären die unangenehmen Erlebnisse der letzten Wochen zwei, drei Jahre her. Da mich der Marsch bergauf anstrengt, drossle ich mein Tempo.
Der weite, sandige Weg mit einer Grasspur in der Mitte führt durch die karge Landschaft. Die Sonne brennt, der Felsbrockenwall zu meiner Rechten spendet nicht genügend Schatten. Ich fühle mich mittlerweile erschöpft. Hoch am Himmel fliegt ein Flugzeug. Ich bemerke, dass der Schall von weit hinter der sichtbaren Flugzeugposition kommt. Das physikalische Prinzip, dass Licht schneller als Schall ist, kenne ich. Aber bei Flugzeugen habe ich das noch nie beobachtet. Nach kurzem Überlegen komme ich darauf, dass es normalerweise gar nicht so ruhig ist, dass ich den Schall eines hoch fliegenden Flugzeugs hören kann.
Ich finde kein schattiges Plätzchen und mache nur eine kurze Mittagspause. Stunde um Stunde laufe ich weiter durch die Mittagshitze, die Jacke habe ich längst ausgezogen, meine Bluse ist schweißdurchtränkt. Wie halten die Pilger das im Sommer aus? Ich bin froh über meinen weißen Sonnenhut. Da ich nach Westen wandere, kommt die Sonne von links. Habe ich in Santiago dann eine gebräunte linke und eine blasse rechte Gesichtshälfte? Ich creme noch einmal mit Sonnencreme nach.
Kurz vor Hontanas holen mich am Nachmittag zum ersten Mal seit dem Aufbruch wieder zwei Pilger ein, langsam kommen der Mann mit dem Strohhut und die Frau näher. Es sind schon wieder Michael und Anja! Wie kann denn das sein? Ich habe sie vor mir gewähnt und freue mich, sie wieder zu sehen. Sie berichten von einem Abstecher zum Kloster, die Herberge dort habe aber geschlossen.
Gleich hinter dem Ortseingang setzen wir uns in ein Café. Nach und nach treffen weitere Pilger ein, auch die beiden Österreicherinnen und die Engländer, die mich unterwegs überholt haben. Sie haben im Schatten eines kleinen Walls pausiert, als ich vorbeizogen bin und berichten, dass sie sich amüsiert hätten, weil ich sie nicht bemerkt habe.
Hontanas ist ein mittelalterliches Dorf. Seine erdfarbenen Mauern passen zum hellen Licht. Es gibt drei Herbergen, eine „municipal“, die ich mit „städtisch“ übersetzten würde, und zwei private. Wir entscheiden uns, alle zusammen in der städtischen zu übernachten, die sich in einem Natursteinhaus aus dem vierzehnten Jahrhundert befindet.
Als erstes dusche ich dort und schamponiere genüsslich meine schulterlangen Haare. Die Schuhe mag ich nun nicht wieder anziehen. Also verlasse ich das Haus auf Badelatschen und mache einen kleinen Rundgang durch den Ort. Das Dorf besteht fast nur aus einer Straße.
Ich biege auf ein unbebautes Grundstück, ziehe die Latschen aus, spüre das Gras an meinen Füßen kitzeln und hüpfe leicht und unbeschwert über die Wiese. Nach der langen Wanderung habe ich keine Sorgen, keine Pläne, mein Kopf ist leer, und es gibt für mich auf der Welt nichts Schöneres, als barfuß auf dieser Grasfläche zu laufen. Zukünftig werde ich alle Urlaube auf diese Weise verbringen!
Zurück in der Herberge, die ausschließlich von uns sieben belegt ist, verkündet John, dass er heute Abend kochen werde. „You are welcome to join us“, lädt er mich ein. Er fragt mich, ob ich einen Salat oder einen Nachtisch zubereiten kann. Im Lädchen gegenüber kaufe ich Tomaten, grünen Salat, eine Gurke und noch eine Tafel Schokolade.
John kocht Nudeln mit Tomatensoße auf dem Elektroherd, und ich schnipple die Salatzutaten in Stücke. Das Prozedere dauert länger als eine Stunde.
Als die Teller endlich gefüllt sind, hauen wir ordentlich rein. Wir sitzen dabei gemeinsam am großen Holztisch in der Küche und trinken Rotwein. Nach einer Weile kommt die Frage auf, wer was beruflich macht. Michael ist Programmierer, Anja freie Künstlerin. John vermutet, dass sie malt. „Nein“, berichtigt sie auf Englisch, „ich mache Objektkunst. Früher habe ich gemalt. Ich habe auch einen Skizzenblock dabei, habe bis heute aber erst eine Skizze angefertigt.“
Als Malerin hat Anja hin und wieder ein Bild verkauft - aber seit sie Objekte herstellt, habe sie nichts mehr eingenommen. John fragt, welchen Künstler sie am liebsten mag. „Anselm Kiefer“, sagt sie.
„Oh, den kenne ich“, bemerke ich, „und zwar seit vorgestern. Ich war vor meinen Start noch in Bilbao.“
Bei der Frage nach meinem Beruf berichte ich, dass ich Ingenieurin bin. Zu Michael hingewandt ergänze ich: „Ich war wie du in der Softwareentwicklung. Aber letzten Sommer bin ich ins Projektmanagement gewechselt, weil ich mal etwas Neues machen wollte.“
Inzwischen haben wir die Pasta komplett verspeist. Da alle noch hungrig sind, holt Anja die Flasche Olivenöl, in das wir das übrig gebliebene Brot tunken, dazu verzehren wir den Rest Salat. Zum Schluss hole ich die Tafel Schokolade und setze mich diesmal an den Rand der Bank nahe dem Herd.
John berichtet, dass er mit Antiquitäten handelt, was aber nicht sein ursprünglicher Beruf sei. Vor einigen Jahren habe er noch als Lehrer gearbeitet, das sei nun aufgrund der Stressbelastung nicht mehr möglich.
Als er fertig ist, gucken alle mich an. Offenbar haben sie das zuvor Gesagte vergessen, woraufhin ich ein weiteres Mal an der Reihe bin. Das animiert mich, meine Situation vollkommen anders als eben zu beschreiben: „I'm trying to get rid of my job, because I found out, that it makes me sick.“ Mein Herz klopft. Auf Deutsch bedeutet das „ich versuche meinen Job loszuwerden, weil ich herausgefunden habe, dass er mich krank macht“. Nur hätte ich das auf Deutsch nie so direkt formuliert. Was sagen sie jetzt wohl? Alle in der Runde nicken.
Ich spüre viel ehrliches Interesse in Michaels Blick und schildere meine Erlebnisse.
Insgeheim habe ich mir vor dem Beginn des Jakobsweges vorgenommen, hier nichts von meinem Kummer zu erzählen. So dachte ich, könne ich ihn leichter vergessen. Jetzt tu ich das Gegenteil und rede mir alles von der Seele.
„So you were supposed to be the trouble shooter“ - du solltest also die Problemlöserin sein, kommentiert Michael, als ich meine Erzählung beende.
„I thought I was the trouble shooter, but for my colleagues I was the trouble“ - ich dachte, ich wäre eine Problemlöserin, aber für meine Kollegen war ich das Problem - antworte ich.
Auf Englisch formuliere ich häufig direkter als auf Deutsch, weil mir differenzierenderes Vokabular fehlt. Zu meiner Überraschung erklärt mir dieser englische Satz, was mir bis dahin noch nicht klar war: Es ist alles eine Frage der Sichtweise.
In dem alten Haus ist es kühl geworden. Kirsten schaltet die Herdplatten an, eine andere Heizquelle gibt es nicht. Wir sitzen noch lange zusammen und trinken den trockenen Rotwein. Ich trage keine Uhr, auch meine Mitpilger kümmern sich nicht um die Zeit.
Tag 4 - 28. März 2012: Hontanas
„Du hast gestern deine Strecke verdoppelt“, merkt Michael auf Englisch an. Tatsächlich, zweiundzwanzig Kilometer bin ich gelaufen. „Ich würde die Strecke heute nicht noch einmal verdoppeln“, rät er mir mit Lachen in der Stimme.
Nein, das plane ich in der Tat nicht. Nicht nur meine Beine schmerzen, auch im Po und Bauch habe ich Muskelkater. Hier gibt es kein Frühstück, also besuche ich die private Herberge nebenan und treffe Dagmar am Tresen. Ich setze mich dazu und nehme auch ein „Desayuno“ - Frühstück. Dabei habe ich die Wahl zwischen einem Stück in durchsichtiger Plastikfolie eingepacktem Kuchen oder vier kleinen geröstete Baguettescheiben, „tostadas“ genannt. Nachdem ich die etwas angebrannt schmeckenden Brotscheiben verschlungen habe, nehme ich zusätzlich noch den Kuchen mit Kakao-Fettglasur.
Vor der Herberge sitzt ein etwa sechzigjähriger Amerikaner aus Florida. Er erzählt, dass er seine Gruppe verloren habe.
„Du wirst eine neue Gruppe finden“, prognostiziert Dagmar.
Der Amerikaner berichtet, dass er sich viel Zeit nehme um zu meditieren. Ich nicke zustimmend. Ihm gegenüber sitzen zwei Österreicher, die den ganzen Camino joggen oder das zumindest vorhaben. Aha, denke ich, das gibt es also auch - die joggen mal so eben siebenhundertneunzig Kilometer. Mich wundert ohnehin nichts mehr. Der dunkelhaarige der beiden berichtet bedauernd, dass bei ihm „der Wurm drin“ sei, weshalb er am gestrigen Tag die meiste Zeit gegangen statt gelaufen sei. Also unterscheidet er sich nicht sehr von uns Normalpilgern.