Alexandra Jamieson
Frauen, Essen, Sehnsüchte
So bringen Sie Ihre Gefühle und Gelüste in Einklang
Aus dem Englischen von Henning Thies
Knaur e-books
Alexandra Jamieson ist durch den Film Super Size Me auf der ganzen Welt bekannt geworden. Die ganzheitliche Gesundheitsberaterin aus den USA, die Esssucht aus eigener Erfahrung kennt, beschäftigt sich mit Themen rundum Wohlbefinden, Ernährung und weibliche Psyche. Sie schreibt erfolgreich Bücher, bloggt u.a. für Huffington Post und ist ein gern gesehener Gast bei Oprah Winfrey oder bei CNN.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Women, Food, and Desire« bei Gallery Books, USA.
eBook-Ausgabe 2015
Knaur eBook
© 2015 Alexandra Jamieson
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2015 Knaur Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Maria Koettwitz
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-426-42692-0
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Meinen Freunden und meiner Familie, die mich bei der Suche nach Wahrheit immer unterstützt haben.
All meinen Klientinnen und Lesern, die das Verlangen ihrer Seele nach Gesundheit und Glück vernommen und mich eingeladen haben, an ihrer Reise teilzunehmen.
»Dein Körper ist kostbar. Er ist unser Medium für das Erwachen. Behandle ihn sorgsam.«
– Buddha
»Die Alten sind nett. Die Jungen sind heiß. Liebe mag blind sein, das Verlangen ist’s nicht.«
– Leonard Cohen
»Angst ist eine natürliche Reaktion auf das Näherkommen der Wahrheit.«
– Pema Chodron
Was willst du?
Diese Frage mag einfach oder gar kindisch erscheinen, doch ich glaube, dass sie im Leben jeder Frau die zentrale Frage ist. Und das Traurige ist, wir stellen einander diese Frage nur selten und noch viel seltener uns selbst. Denn für viele von uns ist es eine gefährliche Frage, erfordert sie doch, dass wir total ehrlich damit umgehen, wer wir sind, und dass wir bereit sind, diese Wahrheit mit anderen zu teilen. Aus eigener Erfahrung weiß ich allerdings, dass die großen Wendepunkte in meinem Leben sich immer dann ergaben, wenn ich bei dieser entscheidenden Frage angelangt war und keine andere Wahl mehr hatte, als sie mir zu stellen – und zu den Eingeständnissen bereit war, die daraus folgten. Als ich endlich allen Mut zusammennahm und mich dieser Frage mit brutaler Ehrlichkeit öffnete, konnte ich plötzlich die Zweifel hinter mir lassen und tiefes Selbstvertrauen gewinnen. Ich erhielt Zugang zu meiner eigenen wahren Kraft als Frau, und jedes Mal wurde meine Leben sofort lebhafter, potenter, leidenschaftlicher.
Je reifer ich werde, desto weniger Angst habe ich, wenn diese Frage aufkommt, denn inzwischen habe ich genug Erfahrung, um zu wissen, dass etwas Gutes dabei herauskommt, wenn ich mich unter dem Druck dieser Frage ehrlich mache. Und weil ich mir wünsche, dass auch andere Frauen diesen Durchbruch erleben, der nur möglich ist, wenn man sich sein wahres Begehren zunutze macht, habe ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht, anderen tief in die Augen zu schauen und zu fragen: Was ist es, das dein Herz am meisten begehrt? Die Antworten ergeben ein weites Spektrum, von »Ich möchte gern 25 Pfund abnehmen« bis »Ich möchte meinen Partner fürs Leben kennenlernen«, »Ich möchte meine Zuckersucht loswerden« oder »Ich möchte meine Handlungs- und Entschlusskraft wiedergewinnen, um in der Welt etwas Positives zu bewirken«. Das ist ja das Schöne an meiner Arbeit als ganzheitliche Gesundheitsberaterin, dass meine Rolle darin besteht, eine zuverlässige, kundige und vertrauenswürdige Unterstützerin für jede Frau zu sein, die den Weg zurück zu ihrem Herzen und zu ihrem Körper finden will, damit sie sich wieder lebendig und komplett fühlen kann.
Wenn ich einer neuen Klientin diese Frage zum ersten Mal stelle, fängt sie nicht selten zu weinen an, selbst beim allerersten Termin. Das hat damit zu tun, dass diese Frage eine derart umfassende, tiefe Bedeutung hat, dass der Verstand oft übergangen und das Herz direkt angesprochen wird. Außerdem ist es wohl ein wenig schockierend, wenn diese Frage von jemandem gestellt wird, der oder die nicht etwas anderes im Schilde führt, sondern nur echtes Interesse zeigt. Fragt jemand nach unseren geheimsten Wünschen für uns selbst, so werden wir sofort sensibel und verwundbar. Sofort fühlen wir uns durchschaut. Und wenn wir die Frage wahrheitsgemäß beantworten, werden wir – was uns am meisten Angst macht – erkannt.
Durchschaut und wahrhaft erkannt zu werden, das sind Vorgänge, die uns offenbar so sehr erschrecken, dass wir lieber versuchen, unserem Begehren und unseren Wünschen aus dem Weg zu gehen. Anscheinend ist es leichter, gut, brav und anderen gefällig zu sein. Doch ein solches Leben stellt uns nicht zufrieden. Viele von uns verbringen zu viel Lebenszeit mit dem Versuch, zu sein, was sie nicht sind, oder zu sein, was jemand anders von ihnen erwartet, und so wird die entscheidende Frage im geschäftigen Alltagsleben immer wieder unter den Teppich gekehrt. Doch wir alle, jede Einzelne von uns, haben es unabhängig von Alter, Gewicht, Beziehungsstatus oder Bankguthaben verdient, dass wir uns diese Frage stellen: Was will ich wirklich?, und sie dann mit Taten beantworten. Wenn wir diese Frage nämlich nicht stellen und sie unbeantwortet lassen, dann … ja, was machen wir hier dann eigentlich?
»Sich gut zu fühlen, darauf vor allem kommt es an.«
– Danielle LePorte
Die nächste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Wie will ich mich fühlen? Frauen kommen zu mir, weil sie sich nicht gut fühlen. Sie suchen Rat, weil sie sich aus vielerlei Gründen im eigenen Körper unwohl fühlen. Doch letztlich läuft es in den meisten Fällen darauf hinaus, dass sie die Fähigkeit verloren haben, sich selbst zu vertrauen.
Die meisten Frauen können diesen Mangel an Selbstvertrauen nur über ihr Aussehen identifizieren oder dadurch, wie sie sich fühlen. Fühlen wir uns übergewichtig oder müde genug und vermissen wir Körperkontakt, Sex, Lachen oder Sonnenschein intensiv genug, dann kommt normalerweise unser Selbsterhaltungstrieb ins Spiel und leitet Schritte zur Besserung ein. Dann können auch die entscheidenden Fragen gestellt – und beantwortet – werden. Und die erste Frage, die ich meistens zu hören bekomme, lautet: »Wie kann ich mich beim Umgang mit dem Essen besser fühlen?«
Zu meinen wichtigsten Überzeugungen gehört, dass es nicht genügt, allein darauf zu achten, dass wir uns gesund ernähren, damit alles bestens funktioniert. Nein, Essen sollte uns auch glücklich machen. Ja, ganz recht: Essen sollte uns Freude bereiten, uns beflügeln, uns ein gutes Gefühl geben. Ein wirklich gutes Gefühl.
Doch bei den meisten von uns ist das Verhältnis zum Essen das genaue Gegenteil. Wir fühlen uns zu dick, empfinden Scham, haben das Gefühl, unansehnlich und nicht begehrenswert zu sein. Essen verschafft uns das Gefühl, im eigenen Körper fehl am Platze und nicht zu Hause zu sein. Und wenn wir das Wissen verlieren, dass wir unser Verhältnis zum Essen selbst in der Hand haben, ermöglicht uns dies, uns vor dem Leben zu verstecken.
In unserer gegenwärtigen Kultur ist Essen zum zweiten Tabuwort geworden (im Englischen fängt auch food mit einem »F« an). Die meisten unserer Begegnungen mit dem Essen verursachen uns Scham- und Schuldgefühle sowie ein generelles Unbehagen. Wenn wir essen, und speziell wenn wir zu viel oder etwas essen, von dem wir genau wissen, dass es nicht gut für uns ist, neigen wir dazu, unser Essen herunterzuschlingen, als würde es sich um ein notwendiges Übel handeln, das wir so schnell wie möglich hinter uns bringen müssen. Schnell zu essen ist der kulturell akzeptabelste Weg, es zu tun (warum sonst würde man wohl von »Fast Food« sprechen?).
Aber wir sollten beim Essen gar nicht so hastig und verstohlen sein. Wie wäre es, wenn wir das Essen und alles, was damit zu tun hat, ein wenig entschleunigen würden? Wenn wir uns wirklich vornähmen, ein Verhältnis zum Essen zu entwickeln, das Rücksicht darauf nimmt, wie komplex und veränderlich unsere Bedürfnisse sind, überhaupt unser ganzes Leben? Wie wäre es, wenn wir beschließen würden, unser Verhältnis zum Essen im Sinne von Ehre und Aufmerksamkeit zu definieren und nicht vom Standpunkt der Scham- und Schuldgefühle aus? Wie wäre es, wenn wir uns vornähmen, achtsam zu essen und wirklich auf den Geschmack zu achten – das Essen also zu erleben, bei jedem Bissen, den wir zu uns nehmen? Wie wäre es, wenn unser Körper uns so viel bedeuten würde, dass wir wirklich präsent sein wollen, wenn wir ihm Nahrung geben?
Diesen Fragen nach unserer Einstellung zum Essen müssen wir uns stellen, wenn wir je in der Lage sein wollen, unser Essverhalten radikal zu verändern. Wir müssen darauf achten, wie sich unser Körper beim Essen tatsächlich fühlt und welches Gefühl wir uns wünschen. Dann wird uns auffallen, dass wir gegenüber unseren Essgewohnheiten nicht machtlos sind, und wir können beginnen, sie mit Neugier zu betrachten. Dann, und nur dann, können wir anders ans Essen herangehen.
Doch es geht noch um mehr, unsere Beziehung zum Essen ist nicht unsere einzige Baustelle. Wir müssen noch weitere Bedürfnisse befriedigen. Wie steht es mit den Wünschen nach einer sinnvollen Arbeit, befreiendem Spiel, befriedigendem Sex, nach Gesellschaft und Partnerschaft, geistiger Anregung, Schlaf? All diesen Sehnsüchten sollten wir wie dem Verlangen zu essen mit tiefer, nachhaltiger Selbstachtung und mit spielerischer Neugier begegnen. Sonst bleiben wir in der Falle unserer Gelüste stecken, die uns so sehr zerstreuen und ablenken, dass wir von unseren tiefsten, wahren Wünschen keine Notiz nehmen.
Es gibt eine heikle, fragile geistige Dimension, die wir verlieren, wenn wir zu viel essen, zu wenig schlafen, nicht genug spielen, nicht genug Sex oder intimen Körperkontakt haben oder wenn wir unsere Tage mit einer Arbeit verbringen, die uns innerlich nicht befriedigt. Wir resignieren, finden uns damit ab, diese Dinge »nicht zu haben« und »nicht zu verdienen«, und verlieren die Verbindung zu unserem tiefsten Ich. Wer nicht mehr auf seine wahren Bedürfnisse eingestellt ist, neigt dazu, überzureagieren oder nicht genug zu reagieren – besonders beim Essen –, und das bringt uns aus dem Gleichgewicht, versperrt uns den Bereich des Wohlbefindens. Wenn wir nicht beachten, wie wir uns fühlen, neigen wir zu extremen Reaktionen. Wir geben uns den Gelüsten hin und lassen sie über uns herrschen. Und wenn unsere Gelüste das Sagen haben, ist es so, als würden wir ständig mit dem Holzhammer agieren, während eigentlich nur eine federleichte Berührung gefragt ist. Wenn wir nicht auf die Botschaft hinter unseren Gelüsten hören, verlieren wir jedes Gespür für Nuancen und das rechte Maß – all jene Qualitäten, die im Zentrum weiblichen Begehrens stehen. Im Banne der Gelüste ist es unmöglich, auf uns selbst zu hören – zu hören, was wir wirklich brauchen.
»Aus Gelüsten entsteht Kummer, aus Gelüsten entsteht Furcht. Für den, der sich von den Gelüsten befreit hat, gibt es keinen Kummer – warum also Furcht?«
– Buddha
Schokoladensüchtige werden ihren Lieblingskuchen überschwenglich in allen Einzelheiten beschreiben, Käseliebhaber geraten in Ekstase, wenn sie von warmem Brie schwärmen. Unsere Lieblingsgelüste beim Essen haben die Macht, uns in einen unglaublich euphorisierten Zustand des Vergnügens zu versetzen, weil sie die Macht besitzen, unsere Sinne auf ziemlich unvergleichliche Art und Weise zu aktivieren. Wenn wir uns dem hingeben, was wir am liebsten haben, können wir die vollkommene Verzückung von Körper und Geist erleben. Aber es kann auch zu viel des Guten werden, wie alle, die sich von ihren Gelüsten gelähmt fühlen, wissen.
Ohne es überhaupt zu merken, neigen viele von uns dazu, sich in ihren Gelüsten zu verlieren. Wenn wir gegen die Versuchung eines Eisbechers oder einer üppigen Kaffeespezialität ankämpfen, beachten wir nicht länger, wie wir uns gerade fühlen. In Gelüsten kann man sich ja gerade darum leicht verlieren, weil wir dann nicht mehr über den unmittelbaren Kick, über die unmittelbare Dosis an Befriedigung hinausschauen können; Gelüste bringen uns Gewohnheiten bei, die uns kleinhalten und unsere Verbindung zu unserem Selbst stören. Dann geht das Wettrennen wieder los, und der Kreislauf der Gelüste übernimmt die Kontrolle.
Unablässig abgelenkt und dem Karussell der Begierden hingegeben, vermeiden wir die mühsame Aufgabe, auf uns selbst achtzugeben. Denn das ist der unausgesprochene Vorteil, wenn wir uns in der Höhle der Gelüste verstecken: Wir brauchen dann kein aktives, sinnvolles Leben der Selbstfürsorge zu führen.
Doch es gibt durchaus Mittel, diesen Kreislauf zu durchbrechen und sich aus dem Bann der Begierden zu lösen. In diesem Buch werden wir viele Wege erkunden, wie man den Mut finden kann, eine Pause einzulegen, sich frei zu machen, einen klaren Kopf zu bewahren und anders über das zu denken, was uns wirklich dauerhaftes Vergnügen bringen wird. Sie werden Ihre Fähigkeit entdecken, in Ihrem Körper glücklich zu leben, so wie er in diesem Augenblick ist. Es ist höchste Zeit. Sie müssen herausfinden, was Sie wirklich wollen und was Sie in Wahrheit begehren.
»Wir essen so, wie wir essen, weil wir Angst haben, zu fühlen, was wir fühlen.«
– Geneen Roth
Ach ja, der Sirenengesang der verbotenen Essensgenüsse. Den kennen wir alle. Wir fühlen uns nicht wohl und wenden uns zum Trost dem Essen zu. Wir essen, und beim Essen werden wir von den unguten Gefühlen abgelenkt, weshalb wir dann eine Zeitlang Erleichterung spüren. Doch wenn wir die Kekse aufgegessen und die leere Tüte weggeworfen haben, was bleibt uns? Wir bleiben mit unseren ungelösten Problemen und einem Zuckerrausch zurück, auf den ziemlich bald ein Kater folgt. Dann erhebt sich erneut das Gelüst und ruft uns zu: »Füttere mich!«, und wieder wählen wir den leichteren Weg und stopfen uns mit Essen voll, damit es Ruhe gibt. Verzweifelt versuchen wir, die innere Stimme mit Essen zu übertönen, statt einfach mal zuzuhören. Diese Angewohnheit – ja, es ist eine Angewohnheit! –, unseren eingefahrenen Verhaltensmustern nachzugeben, ohne sie je genau untersucht zu haben, führt dazu, dass wir alle uns irgendwann in unserem Leben schwer, müde, einsam und festgefahren fühlen.
Aber was wäre, wenn wir lernten, auf unser Begehren zu hören? Was, wenn wir lernten, uns diese Frage einmal zu stellen, bevor wir erneut einfach nachgeben: Was willst du wirklich? Was, wenn wir lernten, unser Unbehagen einmal lange genug auszuhalten, bis die richtige Antwort gefunden ist? Dann könnten wir durchaus entdecken, dass das, was wir zu begehren meinten, und das, was wir wirklich wollen, zwei vollkommen verschiedene Dinge sind.
Wenn wir ehrlich auf die Weisheit unserer Wünsche hören, können magische Dinge geschehen, die unser Leben von Grund auf ändern. Wenn wir unsere Gelüste als das respektieren, was sie sind, nämlich als Botschaften aus der Tiefe unserer Seele, können sich echte Veränderungen ergeben. Dann kommt es zu einer wahren Verwandlung. Sobald wir nicht mehr Sklavinnen unserer Gelüste sind, können die wahrsten und tiefsten Wünsche aus unserem Herzen hochkommen. Und wenn wir bereit sind, verwundbar, unsicher, ängstlich, offen und tapfer zu sein, dann können wir uns diese Wünsche tatsächlich erfüllen.
Mein bisheriges Leben nenne ich gern eine Reihe »erfolgreicher Fehlschläge«. Als ich fünfundzwanzig war, hatte ich schon drei oder vier Anläufe zu einem Beruf hinter mir – immer auf der Suche nach dem einen Beruf, der mir ein Maximum an Leidenschaft und Engagement bringen würde. Jedes Mal stürzte ich mich mit vollem Einsatz in die Arbeit und probierte jeden Job mindestens ein ganzes Jahr aus, weil ich meinte, nur dann alles richtig lernen und herauszufinden zu können, ob dies die richtige Arbeit für mich war.
Nachdem ich ein Jahr als Assistentin für Medienplanung in einer der größten Werbeagenturen der Welt gearbeitet hatte, wurde mir klar, dass mir Clorox völlig egal war. Ich benutzte das Bleichmittel nicht einmal selbst, warum also sollte ich meine Zeit damit verbringen, es anderen Leuten zu verkaufen? Ich begann mit meinen Freunden über deren Pläne und Jobs zu sprechen und traf zufällig einen alten Collegekumpel, der gerade nach Lake Tahoe ziehen wollte, um dort in einem großen Ski- und Golfhotel zu arbeiten. Nach einem Wochenendbesuch und Sichtung der Stellenangebote in dieser Hotelanlage wusste ich, dass ich das Großstadtleben jetzt hinter mir lassen und in die Berge ziehen wollte. Dort konnte ich einen großen Teil meiner Zeit im Freien verbringen. Mein Herz sagte mir, dass ich jetzt ein Skifreak werden wollte, keine Arbeitsbiene. Aber ich hatte schreckliche Angst davor, meinen Eltern zu erzählen, dass ich den tollen Job aufgeben wollte, für den ich mich so sehr ins Zeug gelegt hatte, um ihn überhaupt zu bekommen. Mein Vater hatte mir sogar etwas zu den Umzugskosten nach San Francisco dazugegeben, und er hatte auch das Flugticket zum Vorstellungsgespräch bezahlt, damit ich die Stelle bekam. Würde er mich jetzt als Aussteigerin ansehen? Als gescheiterte Existenz? Ich dachte lange darüber nach, hatte dann aber das sichere Gefühl, dass mein Vater meinen Schritt wahrscheinlich gutheißen und mich unterstützen würde. Einerseits würde ich zwar die Erfolgsinsignien aufgeben (Hosenanzug, Pendlerleben etc.), doch andererseits für die Arbeit im Skihotel mehr oder weniger das gleiche Gehalt bekommen.
Ich musste mit dieser Angst leben, bis ich meine Entscheidung getroffen hatte. Ich verbrachte viel Zeit mit Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen, aber sobald ich gekündigt hatte und an einer Neuorientierung meines Lebens arbeitete, fand ich heraus, dass ich viel mehr Energie verspürte und der Zukunft mit großer Vorfreude entgegensah. Zu meiner großen Überraschung trat ich auch gleich viel selbstbewusster auf. Ich lernte allmählich, dass ich, als ich auf der Liste der Möglichkeiten Dinge abhakte und Neues ausprobierte, meinem wahren Ich deutlich näherkam. Dinge zu verwerfen, die sich nicht richtig anfühlen, ist genauso wichtig, wie Chancen zu ergreifen, wenn sie sich bieten.
Seither kann ich, wann immer ich einen Arbeitsplatz, eine Stadt und sogar einen Partner verlassen und einen Schritt in unbekannte, offene Weiten getan habe, darauf zählen, dass etwas Magisches geschehen wird.
Diesen Raum der großen Möglichkeiten gibt es für uns alle. Wirklich dorthin gelangen können wir aber nur, wenn wir den Gelüsten widerstehen, die uns in alten Gewohnheiten festhalten – Dingen, die in unserem Leben nicht mehr funktionieren.
Für mich war und ist dieser »Zwischenraum« ein Ort tiefer, körperlich verankerter Weisheit. Wenn ich die Entscheidung treffe, dass ich etwas verändern will, reagiert mein Körper mit deutlichen Signalen, die mir sagen: »Ja, gut. Mach das!« Wann immer ich einen Schritt in die nächste richtige Richtung tue, und sei er auch noch so klein, lasse ich Stillstand und Bammel ein Stück weit zurück. Ich verlasse den Trott der Gewohnheiten und betrete das Reich der Möglichkeiten.
Ich zog also hinauf nach Lake Tahoe und bekam eine Stelle in der Abteilung für Konferenzplanung in einem herrlichen Hotelkomplex in der Sierra Nevada. Party-Planung hatte mir schon immer großen Spaß gemacht, und meine damit verbundenen Fähigkeiten kamen mir hier am Anfang sogleich zugute. Außerdem bekam ich alle Arbeitgeberzuschüsse zu meinen Beiträgen und einen Skipass. Ich war nun von gutaussehenden Skifreaks Mitte/Ende zwanzig umgeben, die, körperlich so gut in Form wie niemals sonst in ihrem Leben, den größten Teil ihrer Freizeit damit verbrachten, Marihuana zu rauchen und Snowboard zu fahren. Mit ihnen herumzuhängen machte ein paar Monate lang wirklich Spaß, doch dann ging mir »das Leben«, wie sie es nannten, ziemlich schnell auf den Geist.
Trotzdem arbeitete ich mit vollem Einsatz, und nachdem ich ein Jahr lang Kisten mit Heftmappen für Erholungsfreizeiten hin und her geschleppt, mich privat mit »Schneemackern« abgegeben und mit arg gestressten Tagungskoordinatoren zu tun gehabt hatte, wurde mir klar, dass Eventplanung nicht unbedingt mein Ding war. Also zog ich nach New York zu meinem Bruder. Dort wohnte ich ein paar Monate in einem Nebenraum seines Büros im East Village und arbeitete tagsüber an der Bar eines berühmten irischen Pubs am St. Mark’s Place. Dieser Treffpunkt war gerade unglaublich angesagt, und so verbrachte ich meine Tage damit, für berühmte Schriftsteller und Schauspieler Bier zu zapfen. Aber es dauerte gar nicht lange, da spürte ich buchstäblich ein Zucken in meinen Beinen. Wieder überkam mich die Wanderlust. Immer im Halbdunkel an der Bar zu stehen, während draußen die Sonne schien, machte mich allmählich so meschugge, dass ich mich als Assistentin in einer Anwaltskanzlei bewarb, die auf Verträge in der Unterhaltungsbranche spezialisiert war.
Sie haben doch sicher schon mal gehört, dass Sitzen das neue Rauchen ist? Nun, in meinem Fall erwies sich das Herumsitzen an einem Schreibtisch als beinahe tödlich. In der Kanzlei, in der ich nun arbeitete, saß ich bei künstlicher Beleuchtung auf einem Schreibtischstuhl, der mir schreckliche Rückenschmerzen bereitete. Internetzugang hatte ich nicht, weil ich nur eine Assistentin war und deshalb dieses Privileg wahrscheinlich »missbraucht« hätte. (Ich denke mal, für die Partner der Firma galt diese Regel nicht, denn ich habe sie mehr als einmal beim Porno-Gucken auf ihren PC-Bildschirmen erwischt.) Zehnstündige Arbeitstage waren die Norm, nicht die Ausnahme. Ich hatte durchaus mit dem Gedanken gespielt, mich um einen Jura-Studienplatz zu bewerben, aber nach einigen Monaten mit Überstunden und öder Arbeit begann ich mich körperlich so furchtbar schlecht zu fühlen, dass meine Gedanken nur noch darum kreisten, wie Abhilfe möglich wäre. Bis zu drei oder vier Mal pro Woche litt ich an Migräne und nahm oft eine ganze Handvoll Pillen ein – im vergeblichen Bemühen, die Schmerzen zu lindern. Ich war deprimiert und erschöpft, obwohl ich an den Wochenenden nachts zehn bis zwölf Stunden schlief. Mein Rücken war völlig im Eimer, ich futterte den ganzen Tag Schokoriegel und Gebäck und trank Unmengen von Kaffee, um all dieses Unwohlsein irgendwie zu bekämpfen.
Schließlich suchte ich einen Arzt auf, weil die Kopfschmerzen völlig außer Kontrolle geraten waren. Die Erzählungen meiner Mutter über die Selbstmorde ihrer Schwester und ihres Vaters durch eine Überdosis und den Missbrauch von Schmerzmitteln spukten mir ständig im Kopf herum, wann immer ich zwei oder drei Ibuprofen nahm. Auch wusste ich, eine solche Häufung von Kopfschmerzen bedeutete, dass irgendetwas mit mir nicht stimmte. Schon nach wenigen Minuten im Sprechzimmer gab mir dieser Arzt, nachdem er meine Symptome nur kurz untersucht hatte, gleich zwei Rezepte mit: eines für Schmerzmittel und eines für Prozac, die »Psychopille«. Ich erstarrte, und alles in mir rebellierte: »Ich brauche keine Pillen, die Schmerzen kaschieren. Ich will geheilt werden!«
Ich verließ die Praxis mit den Rezepten, hatte aber keinesfalls die Absicht, die Medikamente auch zu besorgen. Stattdessen fragte ich herum und erhielt eine Empfehlung für einen ganzheitlich arbeitenden Arzt, bei dem ich gleich für den nächsten Tag einen Termin bekam. Im Wartezimmer fiel mein Blick auf eine Buddha-Statue, einen kleinen Wasserfall und einen grünen Farn, der neben einer Tafel stand, auf der Nahrungsergänzungsmittel aufgelistet waren. So etwas hatte ich noch nie in einer Arztpraxis gesehen, es erschien mir seltsam. Doch an den Wänden hingen auch Diplome, und das gab mir wieder etwas Sicherheit. Eine Schwester führte mich ins Sprechzimmer. Ich setzte mich an den Schreibtisch und wartete.
Der Arzt kam und nahm mir gegenüber Platz. Er stellte sich vor und bat mich, mein Problem zu schildern. Nach ein paar Minuten fragte er mich, was ich äße. Ich war etwas schockiert. Das hatte mich noch nie ein Arzt gefragt. Ich beschrieb meine Ernährung: Hörnchen und Vanillesoße zum Frühstück, Fast Food von Subway oder McDonald’s mit einer Cola am Mittag (am liebsten das Menü mit zwei Cheeseburgern) und abends etwas vom Chinesen oder Pasta.
»Dann ist es auch kein Wunder, dass Sie krank sind. Ihre Ernährung besteht nur aus industriell verarbeiteten, raffinierten Produkten, und daher kommen Ihre Kopfschmerzen.« Er erklärte, dass der Zucker und all die Zusatzstoffe in raffinierten Lebensmitteln in meinem Körper zu einer Überproduktion von Candida, einem Hefepilz, führten, was Kopfschmerzen verursache. Bevor ich ging, erhielt ich eine Liste mit empfohlenen Nahrungsmitteln (frische pflanzliche Lebensmittel) und solchen, die ich lieber meiden sollte (Milchprodukte, Kaffee, Zucker, Weizen, Mais, Fleisch). Er schlug mir auch vor, bestimmte Vitamine zu nehmen, um all die Nährstoffe zu bekommen, die mir bisher fehlten.
Kein Zucker? Kein Koffein? Kein McDonald’s? Dieser Arzt meinte allen Ernstes, ich solle 75 Prozent von dem, was ich damals aß, weglassen, um mich besser zu fühlen. Dass mir dieser Rat einen Schrecken einjagte, ist noch zurückhaltend formuliert. Ich fühlte mich total überwältigt. Aber es ging mir so dreckig, dass ich bereit war, alles auszuprobieren. Ich verließ die Praxis und ging schnurstracks in die Bücherei, um mir Literatur zum Thema zu besorgen. Dort stieß ich auf Kochbücher, die sich auf den neuen, »reinen« Essstil spezialisiert hatten, sowie auf Bücher über gesunde Ernährung. Und als ich so herumstöberte, bemerkte ich, dass es in der Bücherei ganze Abteilungen gab, die sich mit gesunder Ernährung befassten.
Also fing ich an. Zunächst verzichtete ich auf das, was einfach war: Kuchen, Fast Food und Deluxe-Designer-Kaffees. Doch schon bald ging ich über die Empfehlungen des Arztes hinaus und aß hundertprozentig vegan. Innerhalb von ein bis zwei Wochen begann mein ganzer Körper sich zu verändern. Die Kopfschmerzen hörten auf. Meine Depressionen und Erschöpfungszustände verschwanden. Ich fing an, mich wieder konzentriert, leicht und stark zu fühlen. Und die 25 Pfunde, die ich zugenommen hatte, seit ich meinen Job im Skihotel aufgegeben hatte, waren nach ein paar Monaten verschwunden, ohne dass ich es überhaupt bemerkte. Eines Tages wachte ich auf und stellte fest, dass ich mich erstaunlich gut fühlte!
Ich wusste jedoch, wenn ich auf Dauer bei dieser Wunderdiät bleiben wollte, musste ich mir mehr einfallen lassen als Salat und Tofu. Ich stieß auf das Natural Gourmet Institute, eine Kochschule in Manhattan, die Abend- und Wochenendkurse anbot, bei denen fast ausschließlich pflanzliche Nahrungsmittel verwendet wurden. Ich meldete mich für einen Grundkurs am Wochenende an und wollte am Ende dieses Kochkurses unbedingt dabeibleiben. Die Idee, ich könnte mit solchen Mahlzeiten vielleicht meinen Lebensunterhalt verdienen, wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, und so besorgte ich mir Informationen über das professionelle Ausbildungsprogramm, das die Schule ebenfalls anbot.
Mit Hilfe meines Vaters und meiner Stiefmutter nahm ich ein Ausbildungsdarlehen auf, hängte meinen juristischen Job an den Nagel und begann die Ausbildung an der Kochschule. Die Bilanz der folgenden dreizehn Jahre: Ich war an der Entwicklung und Produktion des Dokumentarfilms Super Size Me beteiligt (»Riesenportionen für mich«, 2004, deutscher Verleihtitel: Super Size Me), der für einen Oscar nominiert wurde; ich machte meinen zertifizierten Abschluss am Institute for Integrative Nutrition (Institut für ganzheitliche Ernährung); ich veröffentlichte drei Bücher über Ernährung und trat in etlichen Fernsehmagazinen, Nachrichtensendungen und Dokumentarfilmen auf, um über meine Lebensgeschichte und meine neu entdeckte Essensperspektive zu berichten. Ich traf mich in New York mit den »Chefveganern«, hielt Vorträge über vegane Ernährung für Eltern. Ich heiratete einen berühmten Filmproduzenten, bereiste die Welt und marschierte an seiner Seite über die roten Teppiche.
Doch dann brach die heile Welt plötzlich zusammen. Bald nach der Geburt unseres Sohnes entdeckte ich, dass ich meinem Mann nicht trauen konnte, und so gingen wir in die Eheberatung. Der Therapeut kam nicht wirklich voran mit seinen Bemühungen, den Bruch zwischen uns zu heilen, und so kam es zu einem quälend langsamen, langen Scheidungsprozess. Ich hatte das Gefühl, komplett gescheitert zu sein. Meine Karriere geriet ins Wanken, meine Ehe war erledigt, und ich war jetzt eine alleinerziehende Mutter. Irgendetwas in meinem Körper begann sich in dieser Zeit zu verändern. Mein Menstruationszyklus wurde immer kürzer; ich bekam meine Periode jetzt schon alle vierzehn bis sechzehn Tage. Ich litt unter Krämpfen, war ausgepowert und erschöpft und fühlte mich elend.
Und ich bekam Gelüste auf Fleisch. Und Sex. Beides hatte ich schon so lange nicht mehr gehabt, dass die Gefühle der Unbehaglichkeit, die diese Gelüste in mir auslösten, viele Monate nicht zu identifizieren waren. Ich fand mich in den Gängen zwischen Supermarktregalen wieder, auf der Suche nach etwas, das diese tiefen Gelüste befriedigen konnte, aber ich kam nicht darauf, was es war.
Eines Tages ging ich in meinen Superhippie-Lebensmittelladen in Brooklyn und wanderte zehn Minuten mit leerem Einkaufskorb ziellos umher. Ich muss dabei wie eine verrückte alte Obdachlose ausgesehen haben, denn ich hatte meinen Sohn gerade zum Kindergarten gebracht und tagelang nicht mehr unter der Dusche gestanden. Ich trug eine ausgeleierte Yogahose, schlurfte herum und führte Selbstgespräche, während ich herumsuchte, nach irgendetwas suchte, das mich befriedigen könnte. Doch ich ging hinaus, ohne etwas gekauft zu haben. Ich hatte Schokolade im Korb gehabt, Eiscreme, Kartoffelchips, sogar Grünkohl. Aber nichts davon fühlte sich so an, als hätte ich danach gesucht.
Ich wollte, ich brauchte etwas, konnte aber einfach nicht herausfinden, was dieses Etwas war.
Ungefähr um diese Zeit war ich mit ein paar Freunden zum Essen in Manhattan, und sie bestellten sich Steak oder Fisch. Ich nahm das vegane Nudelgericht mit Tofu und grünem Gemüse, ein Glas Wein und eine schöne Gazpacho (eine kalte Gemüsesuppe aus Spanien). Als das Hauptgericht serviert wurde, konnte ich meine Augen überhaupt nicht von den Fleischgerichten meiner Freunde lassen. Mein Körper und meine Stirn wurden ganz heiß vor Begehren. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Ich wollte ihr Fleisch essen!
Aber das war schlecht.
Ich durfte doch nicht nach Fleisch lechzen! Ich war doch eine vegane Gesundheitsberaterin, um Himmels willen! Ich versuchte dieses »eklige« Gefühl zu ignorieren, konzentrierte mich auf meine Pasta und trank noch mehr Wein. Wir kamen auf die Liebe zu sprechen, und meine Freunde erkundigten sich behutsam, ob ich denn schon für eine neue Beziehung bereit sei. Wie gewohnt protestierte ich; das sei jetzt noch zu früh. Schon eine ganze Weile hatte ich mir das immer wieder eingeredet, doch als meine Freunde jetzt verständnisvoll nickten, wurde ich wütend. Ich war böse, dass sie nicht versuchten, mir diese Enthaltsamkeit auszureden – und weil ihr Essen so viel besser aussah als meines.
Mich gelüstete nach Fleischklößchen. Und nach einem Mann.
Eines Abends in dieser Zeit wühlte ich in der Schublade mit meiner Unterwäsche herum und stieß dabei zufällig auf meinen Vibrator. Ich hatte ihn schon so lange nicht mehr benutzt, dass ich mir anfangs gar nicht mehr sicher war, was er dort zu suchen hatte. Da stand ich nun, etwas verwundert, bis ein fernes, aber doch unmissverständliches Kribbeln mich auf den Trichter brachte, was hier ablief. Mein Körper sagte mir, dass er Lust zum Spielen habe, aber mein Kopf wollte es nicht wahrhaben. Zum Glück hörte ich auf meinen Körper statt auf mein Hirn. Ich legte neue Batterien ein, und auf ging’s.
All diese Frustrationen und »Sackgassen« waren in Wirklichkeit Gelegenheiten für mich, zu fragen, was ich wollte. Beruf interessiert dich nicht mehr? Was willst du? Stadt zu klein? Wo willst du leben? Beziehung zu instabil oder unerfüllt? Mit welcher Art von Person würdest du gern zusammen sein? Was ist es, das dir ein gutes Gefühl verschafft?
Willst du es erneut versuchen? Immer und immer wieder?
Ja. So lautete die Antwort, jetzt und immerdar: Ja.
Denn jedes Mal, wenn ich etwas Neues versuchte, habe ich etwas Wesentliches gelernt. Wenn ich einen neuen Mann ausprobiere? Lerne ich, was sein Körper gerne hat, lerne aber auch, meine eigenen Wünsche zu artikulieren. Wenn ich eine neue Ernährung ausprobiere? Lerne ich, nach welchen Lebensmitteln ich süchtig bin oder auf welche ich empfindlich reagiere, und lasse sie lieber weg. Wenn ich einen neuen Job ausprobiere? Oder bei der Arbeit etwas Neues lerne? Dann lerne ich eine neue Arbeit kennen, die mich mehr erfüllt, oder ein Netzwerk, das mich besser unterstützt, oder eine Karriere, die mir mehr bedeutet.
Und was ist, wenn ich »scheitere«? Was, wenn der Freund, die Ernährung, der Job nicht zu mir passen? Dann habe ich immer noch Informationen von unschätzbarem Wert bekommen über das, was ich wirklich brauche. Ich sammle Daten über meine Bedürfnisse, damit ich dem, was ich wirklich will, immer näherkomme. Der Trick dabei ist, dass man bereit sein muss, es erneut zu versuchen. Denn jedes Mal, wenn ich das Risiko eingegangen bin, herauszufinden, wer ich wirklich bin und was ich wirklich will, habe ich einen Schritt getan, der mich näher ans Ziel führt.
Die Praxis, zu meinen Sehnsüchten, Gelüsten und Wünschen ja zu sagen, hat mich letzten Endes zu einem Leben und zu einem Körper geführt, die ich liebe. Ich höre auf »sie«, meinen weiblichen Körper. Ich frage »sie«, was sie wirklich braucht. Jede Mahlzeit ist eine Gelegenheit, ein Gespräch mit mir selbst zu beginnen, darüber, welche Lebensmittel dazu beitragen können, dass ich mich gut fühle – nicht nur jetzt, in diesem Augenblick, sondern für ein paar Stunden, die nächsten Tage oder sogar die kommenden Jahre. Körperliche Bewegung benutze ich nicht als Mittel, um Kalorien zu verbrennen oder mich selbst für den Nachtisch von gestern Abend zu bestrafen; ich genieße jetzt die Zeiten, in denen ich mich bewegen und strecken kann, und nutze sie, damit ich mich stark, entspannt und sexy fühle. Wie ich meine Zeit verbringe, was ich esse, welche Arbeit ich verrichte, mit wem ich meine Zeit verbringe, das alles richtet sich danach, wie ich mich fühlen möchte. Und wie will ich mich fühlen? Sicher, sexy und frei, ohne Scham. Machen Sie mit!
Wonach gelüstet es Sie?
craving – heftiges Verlangen, Sehnsucht, Gelüst
Wir alle haben Sehnsüchte und Gelüste. Jeder Mensch sehnt sich nach einer Verbindung zu Menschen und Dingen, die ihm das Gefühl geben, komplett, lebendig, geliebt und zufrieden zu sein. Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass dieses ganze menschliche Unterfangen, dessen Teil wir sind, im Wesentlichen auf Gelüsten und Begierden beruht. Letztlich liegt es in der Natur des Menschen, sich zu sehnen, nach etwas zu verlangen, etwas zu begehren, etwas zu wünschen.
Darum frage ich Sie jetzt aus echter Neugier und genuinem Interesse: Wonach sehnen Sie sich, wonach gelüstet es Sie am meisten?
Ich bin sicher, es ist nicht wirklich der Schokoriegel im Handschuhfach Ihres Autos oder die tolle Latte macchiato mit einem Schuss Sirup, die Sie am Nachmittag unbedingt brauchen, um einen weiteren Stresstag im Beruf durchzustehen.
Und ich wette auch, es ist nicht das Glas Wein, zu dem Sie routinemäßig greifen, um sich nach einem langen, harten Tag zu entspannen. Und es sind auch nicht die Kekse, Torten und anderen Süßigkeiten, mit denen Sie in Ihren Tagträumen viel zu viel Zeit verbringen.
Es ist gewiss auch nicht der Impuls, Ihrem Partner davonzurennen, Ihre Kinder anzuschreien oder in einem Wutanfall den Job zu kündigen, der einfach nicht zu Ihnen passt – obgleich wir alle bestimmt auch schon solche Momente erlebt haben.
Was ich wissen möchte, ist, was all diesen lästigen, unbequemen Gefühlen zugrunde liegt. Welche unglaublich wichtigen, lebensnotwendigen Bedürfnisse Sie haben, die nicht befriedigt werden, unerkannt und unbeachtet bleiben. Was fehlt Ihnen beim Essen, in Ihrem Umfeld, in Ihrem ganzen Leben so sehr, dass Sie meinen, keine andere Wahl zu haben, als zu viel zu essen, zu viel zu arbeiten, sich dramatisch in Szene zu setzen, sich zu isolieren oder zu viel Geld auszugeben?
Anders gefragt, wonach sehnen Sie sich am meisten? Was würde Ihnen das Gefühl geben, leidenschaftlich gern zu leben? Das, so meine ich, sind die wahrhaft wichtigen Fragen, die wir uns selbst stellen können. Und die Antworten sind in unseren Sehnsüchten und Gelüsten verborgen.
Was immer es ist, das Sie brauchen, es lässt sich nur selten mit Geld kaufen, sondern ist – was auch so bleiben wird – grundlegend durch das beeinflusst, was Sie in Ihren Mund stecken, was Sie mit Ihren Tagen anfangen und was Sie sagen oder ungesagt lassen. An einem Punkt angelangt zu sein, wo das, was Sie an Essen zu sich nehmen oder was Sie sich sagen, zwar füllt, aber nicht erfüllt, heißt nichts anderes, als dass die Botschaft, die unter Ihren Wünschen und Gelüsten verborgen ist, noch nicht zu Ihnen durchgedrungen ist.
Was die meisten meiner Klientinnen wollen, ist, dass sie sich strahlend vital und wohl fühlen. Sie wollen jeden Tag aufwachen, tief authentisch und ehrlich in ihr Leben treten und dabei wissen: Was immer sie tun und entscheiden, spiegelt die Werte, die ihnen am meisten bedeuten, unverfälscht wider. Sie wollen im tiefsten Innern wirklich glauben, dass sie wertvoll und relevant sind und dass es auf ihre Entscheidungen ankommt. Der Schlüssel zum Erreichen dieses tief entspannten Einklangs mit sich selbst ist einfach: Man muss lernen, auf seine verborgenen Sehnsüchte und Gelüste zu hören. Also, hören Sie darauf und lernen Sie, sie zu respektieren. Das ist einfach, aber trotzdem das Schwerste, was Sie je lernen müssen. Denn dazu gehört, dass Sie sich selbst an die erste Stelle setzen müssen, und zwar auf eine Art und Weise, die für die meisten von uns radikal neu, ja sogar erschreckend ist. Doch es ist höchste Zeit. Es ist Zeit, mit dem unsinnigen Versuch aufzuhören, Ihre Gelüste durch Unterdrückung zum Schweigen zu bringen. Die Ironie ist, dass unsere Gelüste ihren Klammergriff erst lockern, wenn wir uns die Mühe machen, innezuhalten, zuzuhören und von ihnen zu lernen. Nur wenn wir so verfahren, wenn wir also lernen, nicht immer gleich zu reagieren, sondern erst einmal wirklich zuzuhören, werden unsere tiefsten Wünsche und Gelüste zu dem werden, was sie in Wahrheit sind: unsere besten Wegweiser.
In diesem Buch werde ich Ihnen zeigen, wie Sie auf Ihre Sehnsüchte und Gelüste hören können. Ich werde Ihnen helfen, mit Ihrem Körper und Ihrem Herzen in Frieden zu leben, damit Sie endlich mit sich und der Welt im Einklang sind. Denn danach sehnen wir Frauen uns doch alle: dazuzugehören, geliebt zu werden, uns wohl zu fühlen, besonders innerlich. Wir alle wollen wissen, ja wirklich sicher sein, dass wir so, wie wir sind, völlig in Ordnung sind, und zwar ohne jede Einschränkung, was unser Aussehen betrifft, unser Liebesleben und die Beiträge, die wir in unserem Leben für andere leisten wollen. Wir haben schon genug Zeit verloren: beim Kampf gegen unseren Körper, beim Nachgeben auf gesellschaftlichen Druck, der uns zum Beispiel sagt, wir müssten »genau so oder so« aussehen oder sein, und wir haben dabei unsere Wahrheit vor uns selbst verborgen sowie vor allen anderen in unserem Umfeld. Lange genug haben wir uns geschämt und weggeduckt.
Es ist Zeit, Zeit für uns alle, die Waffen der Selbstzerstörung niederzulegen. Zeit für uns, uns mit erlesener Umsicht um die eigenen tiefsten Wünsche zu kümmern.
Und damit wir genau das tun können, müssen wir unsere Gelüste verstehen, respektieren und uns zu eigen machen.