Christian Schüle
Was ist Gerechtigkeit heute?
Eine Abrechnung
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Christian Schüle, Jahrgang 1970, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert und ist freier Autor und Publizist. Seine Essays, Feuilletons und Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hansel-Mieth-Preis für Reportage und dem Erich-Klabunde-Preis des Deutschen Journalisten Verbandes Hamburg. Darüber hinaus war er dreimal für den Egon-Erwin-Kisch- bzw. den Henri-Nannen-Preis nominiert. Christian Schüle hat bislang sechs Bücher veröffentlicht, u.a. »Deutschlandvermessung. Abrechnungen eines Mittdreißigers«. 2012 ist bei Pattloch »Das Ende der Welt. Von Ängsten und Hoffnungen in unsicheren Zeiten«, 2013 »Wie wir sterben lernen. Ein Essay« erschienen.
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Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
ISBN 978-3-629-32070-4
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»Suum cuique«
Cicero, De Natura Deorum
Annäherungen
Gerechtigkeit ist die Nullstelle der Gesellschaft. Niemand weiß, was Gerechtigkeit ist, aber jeder spricht darüber. Niemand kann Gerechtigkeit allgemeingültig bestimmen, aber jeder klagt sie ein. Niemand kann exakt erklären, was gerecht sein soll, aber fast jeder fühlt sich ungerecht behandelt. Eine belastbare Definition dessen, was Gerechtigkeit sei, gibt es so wenig, wie es gültige Prinzipien oder einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was gerecht ist (klammern wir die verordnete Gerechtigkeit diktatorischer Despotien aus).
Kein anderer Begriff muss dieser Tage größere weltanschauliche Pfunde schultern. Er trägt zeitweise die gesamte Last gesellschaftspolitischer Diskussionen, weil Interessenvertreter, Lobbyisten und Parteipolitiker das Wort »Gerechtigkeit« mit allzu leichter Hand in den Circus Maximus der Erregungsgesellschaft schleudern, Demoskopen diesen Wurf mit guten Noten honorieren und manche Massenmedien die Raffinesse beherrschen, in gemachte Nester zu springen und sich wahlweise in deren behaglicher Wärme einzurichten oder dieselben zu beschmutzen (was man gleichermaßen »Chronistenpflicht« nennt).
Gerechtigkeit wird permanent thematisiert, in Stellung gebracht, benutzt, ausgenutzt, instrumentalisiert, ideologisiert, zerrüttet, gedehnt, verzerrt. Der Begriff ist das philosophisch aufgegossene Fundament einer ratlosen Gegenwartsgesellschaft und eine der zentralen Ideen einer gewünschten Ordnung.
Immer geht es zugleich um alles: soziales Verhalten, praktizierte Ethik, gesetzliches Recht, gesellschaftliche Selbstorganisation; um das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit und das Spannungsfeld zwischen individueller Tugend und staatlicher Institution. Der Begriff, so leer wie deshalb verlockend, ist ein modisch gewordenes Füllhorn für diverse Erwartungen, diffuse Wünsche und widersprüchliche Ansprüche. Größere Hoffnungen gibt es womöglich nur noch auf die Liebe, die bekanntlich so herrlich wie ungerecht sein kann.
Wer das G-Wort zur rechten Zeit ausspricht, erregt in jedem Fall Aufsehen und schlägt daraus politisch Kapital. Er ist immer auf der sicheren Seite. Er ist der Held einer gewissen Masse, der Volkstribun in der politischen Arena. Oder nicht?
Nein, er ist ein feiger Hund, denn Gerechtigkeit zu fordern ist die wohlfeilste Angelegenheit, die in unseren denkfaulen Tagen denkbar ist.
Ich behaupte, dass es Gerechtigkeit nicht gibt. Gerechtigkeit ist ein Mythos. Eine Hoffnung. Ein Ideal. Ein schöner, edler, vielleicht der schönste, vielleicht der edelste Traum der Menschheit. Das himmlisch-güldne, gelobte Jerusalem. Die unfehlbare Vision angesichts des fehlbaren Menschen. Die romantischste Idee neben der Liebe, hoffnungstrunken, poetisch, unerfüllbar. Aus logischen, psychologischen und intellektuellen Gründen aber ist eine gerechte Gesellschaft nicht möglich.
Die Wirklichkeit ist so wenig gerecht, wie die Natur es ist, weil weder Wirklichkeit noch Natur an sich gerecht oder ungerecht sein können. Gerechtigkeit an sich gibt es so wenig, wie der Mensch an sich gerecht ist, weil der Mensch an sich gar nicht gerecht sein kann, wohingegen es gerecht handelnde Menschen durchaus gibt, aber nur dort, wo ihr Verhalten einer Ordnung entspricht, die als gerecht gilt. Und nun? Nicht gleich zuklappen, liebe Leser, denn mit der Gerechtigkeit verhält es sich wie mit einem irgendwie sympathischen, undurchschaubaren Bekannten, dessen Schatten man nicht loswird. Er ist immer anwesend und entfleucht einem dennoch. Er ist uns vertraut und bleibt uns doch merkwürdig fremd.
Die grundsätzliche Frage heißt folglich: Ist Gerechtigkeit eine Norm, eine Moral, ein Verfahren oder ein Sachverhalt? Oder ist sie nichts von alledem und vielmehr eine Fiktion? Und gesetzt, sie wäre doch eine Tatsache: Könnte man Gerechtigkeit verwalten? Und gesetzt, sie wäre eine Moral: Könnte man sie normieren? Und gesetzt, sie wäre ein Ideal: Könnte man es umsetzen?
Als zentrales Anliegen der Menschheit ist Gerechtigkeit so alt, wie der Mensch selbst es ist – wo zwei Individuen aufeinandertreffen, etabliert sich ein Wertverhältnis, das ein Konkurrenz-, womöglich ein Kompetitiv-, zuletzt immer ein Gerechtigkeitsverhältnis ist: Wer darf wie viel wovon in Anspruch nehmen und nimmt dadurch wem durch wie viel was weg? Die Frage nach den Bedingungen eines gerechten Lebens stellt implizit die weitere, wann denn das Leben gerecht sei. Aber ist das überhaupt beantwortbar? Das Leben ist ja immer ungerecht, weil das Leben als solches nicht gerecht sein kann. Wenn aber schon nicht das Leben als solches gerecht ist, ist es dann nicht vielleicht die Welt? Denn wenn auch die Welt es nicht ist, müsste es ja Gott sein, und wenn selbst dem nicht so wäre, wäre dies eine schlechte Nachricht, zumindest für alle Gläubigen.
Jede Frage nach Voraussetzungen des gerechten Lebens ist letztlich eine nach den Voraussetzungen eines besseren Lebens (abermals vorausgesetzt, man wüsste bereits, was das gute sei). Das heißt also: Gerechtigkeit ist notwendig vergleichend. Sie zielt auf Steigerung und ist komparativ ausgelegt. Nie wird Gerechtigkeit sich mit einem Zustand zufriedengeben. Nie wird es dauerhaften Frieden der Hütten mit den Palästen geben.
Im Gegensatz zu seiner Unbestimmbarkeit führt das G-Wort zu ganz bestimmten Erregungen. Es vermag Gesellschaften zu spalten und Lager zu teilen. Es vermag Gräben aufzureißen, Fraktionen zu bilden, Parteien zu entzweien. Je nach Sichtweise ist die Rede im Namen der Gerechtigkeit gefährlich, fahrlässig, banal oder billig, auf jeden Fall so verführerisch wie allzeit nervös. Jeder wird sofort sagen können, was er als ungerecht empfindet. Sollte dieser Jeder aber eine allgemeine Formel des Gerechten geben, so herrschte – vermutlich – Schweigen.
Die erlauchtesten Geister aller Epochen haben über Gerechtigkeit gegrübelt, sie haben abgeleitet, Antworten konstruiert, Kategorien entworfen und bis heute – über das pauschale Maß der Mitte hinausgehend – Annäherungen, Umkreisungen, Ungefähres und Unverbindliches formuliert. Was lehrt uns die Geistesgeschichte? In erster Linie, dass die Frage nach Gerechtigkeit bis heute anhängig ist. Womöglich ist sie dieser Tage so brisant wie selten zuvor, weil Gerechtigkeit das letzte große Epos ist, das es nach dem Tod Gottes noch mit dem ganzen Dasein aufnehmen kann.
Gerechtigkeit begegnet jedem jederorts jederzeit, Ihnen, mir, uns, weil das ganze Leben, ja, der ganze Sinn des Daseins als Aufwurf der Frage nach Gerechtigkeit aufgefasst werden kann. Vom globalen Universal bis hinunter in die provinzielle Nische vermag alles und jedes im Lichte der Gerechtigkeit betrachtet und nach entsprechender Betrachtung als ungerecht bewertet zu werden. Immer wird es dabei um das Cui bono gehen: Wer profitiert, wer verliert? Wer gibt, wer nimmt? Mehr noch: Wer nimmt wie viel und wer gibt wie wenig?
Jede Begegnung auf dem Trottoir, wenn es um die Verteilung des verfügbaren Platzes geht, stellt unausgesprochen und sofort spürbar ein Gerechtigkeitsverhältnis her: Wem steht wie viel Raum zu? Wer geht wann zur Seite? Wer hat warum Anspruch auf welche Anteile? Vor jeder qualitativen Bestimmbarkeit, scheint es, ist Gerechtigkeit immer zuerst eine quantitative Angelegenheit. Jedes Teil- und Subsystem der Gesellschaft hat seine Gerechtigkeitsvorstellung und argumentiert im Namen der Gerechtigkeit an sich. Jedes Gerechtigkeitsverhältnis aber trägt mindestens ein Ungerechtigkeitsverhältnis in sich. Manchmal widersprechen sich Gerechtigkeiten. Die juristische etwa domestiziert die biblische, weil Rache, Zorn, Errettung oder Erlösung zwar das Gefühl einer Rechtfertigung herzustellen vermag, nach rechtsstaatlichem Verständnis hingegen nicht gerecht sein kann. Globale Gerechtigkeit hebelt lokale aus und die soziale gelegentlich die ökonomische. Jede Behebung einer Ungerechtigkeit führt so gut wie immer zu einer neuen.
Zwar ist Ungerechtigkeit keine der sieben Todsünden, und auch in den zehn Geboten finden wir sie nicht wieder – dennoch könnte man, mit entsprechender Fantasie, mindestens vier der sieben Todsünden auf sie vereinen: Hochmut (Todsünde 1), Habgier (Todsünde 2), Wollust (Todsünde 3) und Völlerei (wahlweise Selbstsucht, Todsünde 5). Wenn Ungerechtigkeit im klassischen Katechismus der Katholischen Kirche nun aber gerade nicht explizit als schlechte Charaktereigenschaft gebrandmarkt wird – was lehrt uns das? Erstens: dass es sie nicht gibt. Zweitens: dass sie weder teuflisch noch göttlich ist. Und drittens: dass, wer Gerechtigkeit im Besonderen herstellen will, sich postwendend an derselben als Allgemeinheit versündigt.
Ich bin weder Sohn eines Professors noch einer Ärztin, stamme aus der bürgerlichen Mittelschicht, habe Abitur und Studienabschluss und nehme unverdrossen mein Wahlrecht wahr. Weder habe ich in die Oberschicht hinauf- noch ins Prekariat hinabgeheiratet, und mein Jahreseinkommen ist überschaubar. Mitglied einer politischen Partei bin ich so wenig wie einer Gewerkschaft, ich gehöre weder einer Amtskirche noch einer anderen Institution an. Ideologien, gleich welcher Art, halte ich für schädlicher als ihre Abwesenheit, Gott, Götter und Gottheiten stellen für mich Erfindungen raffinierter Menschen zum Zweck politischer Propaganda dar.
Weder bin ich Rebell noch Revoltierer, Revolutionsprosa finde ich wahlweise kitschig, kindlich oder gefährlich. An eine Wahrheit im übergeordneten Sinne glaube ich nicht, die Verachtung der Gegenwart finde ich dumm. Weder bin ich libertär noch anarchistisch veranlagt, und wenn ich etwas bin, dann womöglich liberal, aber nicht im Sinne der weiland FDP oder einer sonstigen Partei, die als Partei immer nur partiell zu denken in der Lage ist, und gerade das Partielle, Parteiische führt im Fall der Gerechtigkeit niemals weiter.
Den sozialen Frieden in der Bundesrepublik erachte ich als größte Errungenschaft seit Kriegsende, Kritik für das erste Gebot einer Demokratie und konstruktive Kritik für die Pflicht intellektueller Redlichkeit. Ich schätze das Land, in dem ich lebe, für vieles; stolz darauf bin ich nicht. Nationalstolz ist mir so fremd wie Chauvinismus, positive Gefühle für Hymne und Flagge hingegen finde ich so gesund wie die Loyalität zu jenem Gemeinwesen unabdingbar, in das ich eingewoben bin. Würde man mich einen Patrioten nennen, wäre ich nicht verletzt, ebenso wenig aber geschmeichelt. Ich bin dankbar, hier und jetzt, in dieser Republik, zu dieser Zeit, unter dieser Verfassung leben zu können, möchte hingegen nicht sagen: leben zu dürfen, denn das setzte den gnädigen Akt eines Geschenks voraus, von dem mir bis zum heutigen Tage niemand hätte sagen können, wer da was schenkte (das Leben ist für mich kein Geschenk im göttlichen Sinne, es ist das biologische Ergebnis der Zeugung eines Kindes durch zwei Menschen, die sich hoffentlich im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte der gemeinsamen Verantwortung bewusst gewesen sind).
Mit Gewissheit bin ich, wie jeder es ist, vielfach vorgeprägt, versuche aber, meine Prägungen zu reflektieren. Seit geraumer Zeit befinde ich mich auf Wanderschaft und suche nach Entstehung, Wohl und Wehe meiner Wertvorstellungen. Ab und an gehen Neigungen mit mir durch, aber ich mache sie kenntlich. Bis zum jetzigen Zeitpunkt habe ich keine Antworten, bin aber leidenschaftlich um Selbsterkenntnis bemüht. Aus all diesen Gründen halte ich mich für befugt, über den größten Traum der Menschen nachzudenken. Die Hitze seiner Strahlkraft lässt einen ja kein bisschen kalt, oder?
Man kann Gerechtigkeit nicht messen, be- oder vermessen, und noch weniger lassen sich Quotienten, Wurzeln oder Koeffizienten bestimmen, dafür ist die Angelegenheit zu simpel und komplex zugleich. Man hat bis auf weiteres also davon auszugehen, dass es eine absolute, eine unumstößliche, unerschütterliche, allgemeingültige Gerechtigkeit nicht gibt. Je zersplitterter und fragmentierter die Gesamtgesellschaft ist, je mehr Subsysteme und Subsysteme von Subsystemen es gibt, je ausdifferenzierter der Pluralismus unserer Lebenswelten ist (welch ein Segen!), desto mehr Gerechtigkeitsvorstellungen flirren durch den Äther. Ist heutzutage die Rede von Gerechtigkeit, so ist immer relative Gerechtigkeit gemeint. Relative Gerechtigkeit ist deshalb relativ, weil sie sich über Verhältnisse, über Relationen, konstruiert. Daraus folgt: Eine Ordnung ist gerecht, wenn die in ihr existenten Verhältnisse als gerecht empfunden werden. Wie viele Einzelne aber müssen ein Verhältnis als gerecht empfinden, damit dieses eo ipso nicht nur als gerecht gilt, sondern auch eine gerechte Ordnung begründet?
Der Maßstab für alles Gerechte oder Nichtgerechte erhebt sich höchstrichterlich in der Frage: Quis iudicabit – wer entscheidet über die Antwort? Und, mit ihr verbunden, in der Folgefrage: Quis interpretabitur – wer hat die Deutungshoheit? Beide Fragen gehören zur geistigen Inventur des frühen Christentums, unterliegen aber den Traditionen der europäischen Geistesgeschichte und bilden – reduziert man alle Menschlichkeit auf ihren Kern – die Pole unseres Zusammenlebens: der bürgerlichen Gemeinschaft, der zivilisierten Gesellschaft, der politischen Organisation. In ihnen sind soziale Normen und diskursive Prozesse vereint. Sie stellen die beiden Seiten derselbe Münze dar, die Währung einer Wahrheit, und wenn nicht der Wahrheit, so der Wahrhaftigkeit. Trotz ihrer Unbestimmbarkeit liegt Gerechtigkeit dem gesellschaftlichen Selbstverständnis als Matrix mit Codes und Chiffren zugrunde.
Gerechtigkeit ist das selbstverständliche Paradoxon einer pluralistischen Demokratie: Allgemeingültige, also überindividuelle Maßstäbe sollen dem Anspruch jedes Individuums gerecht werden. Rasch wird man erkennen, dass es sich hier um ein unlösbares Problem handelt, weil Gerechtigkeit ein Gefühl ist, und damit beginnen schon die Schwierigkeiten. Gefühle sind subjektiv. Individuelle Gerechtigkeitsgefühle lassen sich nicht verallgemeinern zu einem, sagen wir, gesamtgesellschaftlichen Grundgefühl. Können wir ernsthaft von einem Gerechtigkeitssinn ausgehen? Und wenn ja: Ist er angeboren, hat ihn jeder? Und ist er kollektiv verlässlich? Und wenn es ihn denn gäbe – ist er in den USA anders verfasst als in Frankreich, Dänemark, der Türkei und Deutschland? Und wenn auch dies zuträfe: Liegen ihm soziokulturelle, mythologische und religiöse Traditionen zugrunde – oder gerade nicht?
Wenn Gerechtigkeit eine als gerecht empfundene Ordnung begründet, gilt das nur dann, wenn Menschen sich so verhalten, wie es dieser Ordnung gemäß ist. Das heißt: Der Mensch stellt durch sein Verhalten eine Ordnung her, die als gerecht empfunden wird; zugleich prägt die Ordnung das Verhalten des Menschen. Es geht, so viel steht jetzt schon fest, immer um das wechselseitige Verhältnis von individuellem Verhalten und überindividueller Ordnung.
So gut wie immer ist die Diskussion um Gerechtigkeit von Interessen geleitet: politischen, ideologischen, finanziellen. Interessen geben Antworten auf ungestellte Fragen, das ist das Wesen des Lobbyismus. Der Gerechtigkeitsdiskurs ist ein hermeneutischer Zirkel: Zu Anfang steht fest, was am Ende herausgefunden werden soll – nämlich, dass das System, das Leben, die Gesellschaft, die Verhältnisse, dass dieses oder jenes Verhalten, diese oder jene Verteilung, diese oder jene Entscheidung nicht gerecht sind, weswegen das große Ganze (das Land, die Nation, das System) als solches ungerecht ist (obwohl ein Land als solches natürlich niemals ungerecht sein kann, weil ein Land kein handelndes Subjekt ist und als Person keine Entscheidung trifft; ein Land ist ein in gegebenen Grenzen vollzogenes Faktum).
Folglich, und auf eine Kritik dieser Plumpheit wollen diese streitbaren Einkreisungen hinaus, lässt sich alles und jedes zu einer Sache der Gerechtigkeit erklären. Der unschätzbare Vorteil des Begriffs »Gerechtigkeit« liegt in seiner herrlichen Unschärferelation.
Ich muss an dieser Stelle gestehen, dass ich ratlos bin. Dennoch erhebe ich das Wort, weil ich glaube, dass jede Generation im Kontext ihrer Werte und Normen den ihr eigenen und gemäßen Begriff der Gerechtigkeit zu untersuchen hat. Jede Generation ist angehalten, sich den großen Fragen aufs Neue zu stellen. Sie ist angehalten, eine Revision der Tugenden vorzunehmen und das Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst zu moderieren, sonst wird es nie zu einer schillernden, epischen, mitreißenden Vision kommen.
Wie jeder andere Zeitgenosse finde auch ich dies oder jenes ungerecht. Frage ich mich dann, warum ich es ungerecht finde, erreiche ich so gut wie nie das Niveau einer befriedigenden Antwort – was einerseits an mir, andererseits an der Gerechtigkeit liegen könnte; sie ist ja eine Diva, und Diven sind gern unergründbar melancholisch. Ich finde, zum Beispiel, ungerecht, dass Frauen seltener erwerbstätig als Männer sind und, wenn sie es sind, im Durchschnitt schlechter bezahlt werden. Vielleicht gibt es dafür Gründe, vielleicht sind Frauen – nicht in ihrer Mehr-, aber doch in beträchtlicher Anzahl – keineswegs unglücklich darüber, seltener erwerbstätig als Männer zu sein, weil erwerbstätig zu sein ja nicht notwendigerweise den Sinn eines guten Lebens ausmachen muss und Frauen erfahrungsgemäß oft das klügere Geschlecht sind (vielleicht drückt sich hier aber auch ein rückständiges Frauenbild aus, das ich allerdings keinesfalls zu haben glaube). Ich finde es ungerecht, dass jemand ohne selbst erbrachte Leistung annähernd so viel Geld erhält wie jemand, der tagaus, tagein für dieses Geld arbeitet. Aber läge Gerechtigkeit allein schon darin begründet, dass der eine weniger erhielte als der andere? Wie viel weniger müsste der eine erhalten, damit die Ordnung vom anderen als gerecht empfunden würde? Oder wäre es gerecht (um nicht zu sagen gerechter), erhielte der Nichtarbeitende gar kein Geld, womit das Verhältnis Arbeit/Nichtarbeit und Geld/kein Geld gewahrt wäre? Was aber, wenn der Nichtarbeitende arbeiten will und keine Arbeit findet? Hat er dann Pech oder selbst Schuld? Und was wäre, wenn der Nichtarbeitende eben auch nicht arbeiten will und dennoch Geld erhält: Lässt sich nur durch prinzipielle Solidarität eine solche Gesellschaft organisieren, die wir als gerecht empfinden? Und was, zu guter Letzt, wenn der Arbeitende gar nicht so viel arbeiten möchte und dem Nichtarbeitenden Geld egal ist?
Ach.
Ich finde es ungerecht, dass ich ohne jedes persönliche Verdienst, ohne individuelle Leistung ein Leben in relativem, aber großem Wohlstand führen darf, in Deutschland, in Europa, in Hamburg und München, dass ich jene Schul- und Universitätsbildung haben konnte, die ich hatte, dass ich in sozialem Frieden lebe und ein relatives Höchstmaß an Freiheit besitze, dass ich weder unter Ressourcenarmut noch Bürgerkriegen zu leiden habe, dass alle deutschen Regierungen zu meinen Lebzeiten weder korrupte noch autoritäre Regime waren und sind, dass ich die garantierte Lizenz zur Entfaltung meiner religiösen und sexuellen Persönlichkeit genießen darf, dass ich aus unerhört vielen Optionen die mir gemäße zu wählen aufgerufen bin, dass ich öffentlich Minister kritisieren und in der Fußgängerzone sogar gegen das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit demonstrieren kann, sollte ich der Meinung sein, das sei sinnvoll. Und dann spreche ich mit Menschen aus Äthiopien, Somalia oder Burkina Faso und fühle angesichts ihres Elends, ihres Leids, ihrer Entbehrungen und Traumata zwar weder Überlegenheit noch Mitleid, aber den üblen Geschmack einer mich hinterrücks attackierenden Gewissensverbitterung, obwohl ich nichts für meine Geburt unter deutschen Nachkriegsumständen kann und der Äthiopier nichts für seine unter äthiopischen.
Aufrechnerei führt nie zur Erkenntnis. Es führte höchstens dann weiter, wenn aus der Erkenntnis jener globalen Ungerechtigkeit meiner deutschen Geburt der Funke einer praktischen Verantwortung zu schlagen wäre, Ideen zu entwickeln, angewandte Nächstenhilfe zu leisten oder sich in einer NGO zu engagieren, welche die Lebensverhältnisse in Somalia oder Burkina Faso oder Äthiopien zu verbessern sich zum Ziel setzt – und das selbstzweckhaft und nicht etwa im Geiste eines missionarischen Christentums, das Brot und Brunnen gegen Glaube und Gott verhandelt.
Ist das nun eine reichlich eitle Selbstanklage? Ja, ist es. Nein, ist es nicht. Zwischen Ja und Nein changiert das so diverse wie diffuse Gerechtigkeitsempfinden. Also frage ich mich: Gibt es einen unhintergehbaren letzten Grund von Gerechtigkeit, ein – um mit Descartes zu sprechen – fundamentum inconcussum?
In den folgenden Betrachtungen verschmelzen auf recht hemmungslose Weise objektive Ideengeschichte, philosophische Hybris, soziologische Analyse, erlebte Alltags-Empirie, erinnerte Gespräche, recherchierte Ereignisse, persönliche Beobachtung, subjektives Werturteil, aufmerksame Zeitungslektüre, selektive Quellenarbeit und die generationelle Befindlichkeit des Autors zu einem Versuch über die Gegenwart im Lichte der Gerechtigkeit. Fragen überwiegen Antworten, Zweifel durchziehen das Gewebe, Aperçus illuminieren unvollendete Gedanken, und das Wörtchen »womöglich« fungiert als berechenbare Geisteshaltung des hochgeschätzten Konjunktivs. Der Ausgang der Erörterung ist offen, ihr Leitmotiv die Suche nach eigenen Gewissheiten. Die Geisteshaltung scheint provokativ, der Ton ist mancherorts pamphletistisch.
Deklinieren wir also im Folgenden die Verhältnisse zwischen Individuum, Gemeinschaft und Welt durch. Setzen wir den Zeitgenossen ins Verhältnis zu Kasus, Numerus, Genus und versuchen eine Grammatik der Gerechtigkeit in Zeiten ihrer unerhörten Ausgesprochenheit. Und nähern wir uns als Erstes von oben, aus der Höhe, aus dem übersinnlichen Reich der Lüfte, des Geistes und seiner Gedanken an und sinken aus der atmosphärischen Kühle langsam hinab in die Erregungshitze irdischer Wirklichkeit mit all den wilden Protonen, feuernden Elektronen und freien Radikalen, wo es die Neutronen einer wertfrei sezierenden Rationalität denkbar schwer haben. Genau das soll jetzt geschehen, damit am Ende des Unterfangens jener Satz zum Tragen kommt, dass ohne Gerechtigkeit alles nichts ist.
Im Reich der Lüfte
Nehmen wir an, eine fünfköpfige Familie lebt in einem Reihenhaus im Neubaubezirk einer mittelgroßen deutschen Stadt. Die Miete beträgt monatlich 1100 Euro warm. Der Vater, 45, ist angestellter Bauingenieur in einem mittelständischen Betrieb, die Mutter, 42, Sachbearbeiterin auf Teilzeit in einer Versicherungsagentur. Der erste Sohn ist 15 Jahre alt, der zweite 10, die Tochter 13. Die Tochter besucht das Gymnasium, der ältere Sohn die Realschule, der jüngste die Grundschule. Vater und Mutter sind seit 15 Jahren verheiratet, Wechselwähler und aus der Kirche ausgetreten. Beide Familien haben über Generationen hinweg deutschen Hintergrund.
Nehmen wir weiter an, die Eltern backen eines Tages einen Kuchen (merkwürdigerweise spielt in politischer Theorie, Wirtschaftswissenschaft und Demoskopie, aber auch in Philosophie oder Sozialforschung ausgerechnet das Bäckerhandwerk eine illustre Rolle, weswegen dies zweifelsohne auch hier geschehen soll). Niemand in der Familie hat Geburtstag, zu feiern gibt es nichts. Der Kuchen wird, das zeigt die Erfahrung, von allen Kindern gern gegessen. Ob er gleich gern gegessen wird, lässt sich nicht genau bestimmen, aber nehmen wir an, alle drei Kinder würden auf einer Skala von 1–10 den zweithöchsten Wert 9 ankreuzen. Hätten die Eltern statt eines Kuchens eine Torte gebacken, hätte der jüngste Sohn sich sehr darüber gefreut, weil er vor allem Sahne mag, Obst hingegen nicht. Die Tochter aber hätte erst gar keinen Appetit entwickelt, weil sie am liebsten Aprikosenkuchen mag und sich vor allem Tortigen ekelt. Dem ältesten Sohn wäre Torte wie Obstkuchen einerlei, denn er mag alles.
Die Familie sitzt am Wohnzimmertisch, und die Mutter (es könnte auch der Vater sein) steht vor der Aufgabe, den Kuchen aufzuteilen. Keines der Kinder stellt Forderungen. Nehmen wir an, dass die Eltern keines der Kinder benachteiligen wollen, weil ihre Sympathie für alle Kinder gleich groß verteilt ist. Die Voraussetzungen sind ideal, bis auf weiteres gibt es keine Unterschiede. Die Mutter (der Vater) sticht das Messer hinab, und mit dem folgenden Schnitt setzen Magie und Probleme der Gerechtigkeit ein.
Gerechtigkeit, lautet eine so populäre wie naheliegende Lesart, sei das Verfahren gerechter Verteilung. Wird Gerechtigkeit in erster Linie als ein Verteilungsverfahren verstanden, geht es in zweiter Linie um die normative Einbettung dieses Verfahrens.
Teilung zieht immer Verteilung nach sich; umgekehrt setzt Verteilung bereits Portioniertes voraus. Damit Gerechtigkeit überhaupt zum Thema werden kann, muss das zu verteilende Gut (der Kuchen also) dividiert werden. Ein Kuchen durch drei bedeutet im Fall der Familie: ein Drittel Kuchen für jedes der drei Kinder; womit nicht gesagt ist, wie groß die Teile sind. Verteilungsgerechtigkeit basiert auf dem rationalen Ansatz einer mathematischen Gleichung: Wie groß oder klein müssen die Teile beschaffen sein, um gerecht verteilt werden zu können?
Nehmen wir an, die zu verteilenden Teile sollen gleich groß (oder gleich klein) und keinesfalls unterschiedlich groß oder klein sein. Wären sie das, würde diese Unterschiedlichkeit der Rechtfertigungspflicht unterliegen. Jede Rechtfertigung wiederum basiert auf einem normativen Vorverständnis, und es ist nicht davon auszugehen, dass diese vorgelagerte Normierung bei allen gleich ist (womöglich in einem Kulturkreis aber ähnlich sein kann). Die Vermeidung von Unterschieden muss im Interesse einer gerechten Verteilung an oberster Stelle stehen, sonst käme man moralisch in Teufels Küche (als Gegenmacht zur Logik), mit der Unterschiede nicht begründet werden müssen (die Moralisierung des Mathematischen ist ohnehin ein großes Problem der Gerechtigkeit, das später ausführlich zu erörtern sein wird).
Es liegt im Interesse aller Kinder, der Mutter (oder dem Vater) insofern zu vertrauen, als sie davon ausgehen können, dass erstens jeder Teil gleich groß oder gleich klein ist und zweitens keines der Kinder bevorzugt oder benachteiligt werden soll. Nehmen wir an, das sei gegeben. Und nehmen wir weiter an, das sei der Idealzustand. Dieser Zustand variiert den Grundsatz »Jedem das Seine« zu »Jedem das Gleiche«.
Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Gleichheit ist des Pudels Kern und ein Problem von geradezu tragischer Dimension. Noch hat es nicht die Reife, durchdrungen zu werden, weshalb eine andere, eher visionäre Frage in den Vordergrund rückt: Was mehr als die abstrakte Angelegenheit einer mathematischen Verhältnisbestimmung könnte Gerechtigkeit noch sein?
Eine gewisse Unfähigkeit, diesen so herrlich wie zugleich furchtbar schillernden Begriff jenseits eines mehr oder weniger diffusen Gefühls zu bestimmen, bedrängt mich, seit ich zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit keinen qualitativen Unterschied mehr zu greifen vermochte. Der Frage, woher dieses diffuse Gefühl kommt: ob es immer schon da war und, wenn nein, wann es einsetzte, inwieweit es durch Gespräche, Lektüren oder geschichtete Lebenserfahrungen zustande gekommen ist oder als Ausdruck einer angeborenen Moral gewertet werden muss (vorausgesetzt, ein Sinn für Moral sei jedem Menschen angeboren, was eine durchaus problematische Annahme ist) – dieser Frage also vermag ich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht auf die Spur zu kommen. Gerechtigkeit ist ein einziger Widerspruch in sich. Die eine Art Gerechtigkeit torpediert die andere. Gerechtigkeit für die Alten von heute ist Ungerechtigkeit für die Jungen von übermorgen. Gerechtigkeit im eigenen Umfeld bedeutet Ungerechtigkeit für das globale Feld. Globale Gerechtigkeit wiederum hat lokale Ungerechtigkeit zur Folge. Gerechtigkeit für alle zu verwirklichen verlangte göttliche Allmacht, Gerechtigkeit für einen Einzigen zu fordern halsbrecherische Hybris.
Was nicht alles gerecht ist und sein soll und noch nicht ist und vielleicht werden kann! Gewerkschaften und Sozialverbände reduzieren so gut wie alle Sozialverhältnisse auf die Frage nach Gerechtigkeit für den kleinen Mann; für den Bundesverkehrsminister von der CSU ist die Ausländermaut auf deutschen Straßen eine Sache der Gerechtigkeit, die Vorsitzende der Grünen sieht eben in dieser Maut eine große Ungerechtigkeit. Die SPD erkennt im Betreuungsgeld eine ungerechte Maßnahme, weil es der Chancengleichheit aller Kinder schadet; für die CDU/CSU ist das gleiche Geld gerecht, weil es junge Familien entlastet. Einen Bonus für städtische Kita-Erzieher finden jene gerecht, die meinen, Erzieher verdienten zu wenig; ungerecht finden andere denselben Bonus, weil private Einrichtungen keinen bekommen. Die Bundesbildungsministerin verspricht für die Zukunft eine gerechte Bafög-Erhöhung, die wiederum ungerecht sei, sagen andere, weil sie nicht mal die Inflation ausgleiche. Die beiden Kirchen finden es gerecht, ihnen zustehendes Geld künftig automatisch aus der Kapitalertragssteuer einzutreiben, viele Bürger hingegen finden schon die Kirchensteuer an sich ungerecht. Universell gerecht wäre, wenn jeder Inder wie jeder Amerikaner ein Auto fahren könnte, ungerecht wäre genau dies, weil dann das Klima kollabierte und in Afrika zu Dürren, Hungersnöten und Seuchen führte. Täglich billiges Fleisch für alle Schichten ist sozial gerecht für jeden Erst-Welt-Bürger, die Vertreibung von Bauern in Lateinamerika wegen des Anbaus von Mais als Tiernahrung für den Zweit- oder Dritt-Welt-Bürger existentiell ungerecht. Als »gerechter Unternehmer« wird kurz nach seinem Tod der reichste Deutsche, Aldi-Gründer Karl Albrecht, gewürdigt; während der Haushaltsexperte der FDP befindet, dass gerecht ein System sei, dem man sich nicht ausgeliefert fühlt.
Im Laufe der Zeit wurde Gerechtigkeit für mich zu einem Phantom, eine stumme, fordernde, rastlose, immer präsente Begleiterin, die, mehr als eine Allegorie im Übrigen, in den Rang einer problematischen Liebschaft aufstieg, an die ich morgens und abends dachte, die mich aufrieb, erregte, marterte und verdross, deren Attraktion ich spürte und deren feige Hinterhältigkeit ich verachtete, die ich suchte und nicht fand und irgendwann gefunden zu haben glaubte, ehe sie mir entfleuchte, als wäre sie eine Art Polarlicht, grüngelb im Firmament tanzend.
Der Mensch ist nicht Ursache seiner selbst, er steht immer schon in Geschichte. Immer schon ist das Individuum eingewoben in einen Traditionshintergrund aus kulturellen Wertvorstellungen, Selbst- und Sozialverhältnissen seines Kulturkreises und seiner Region. Der Vorrat tradierter Wertorientierungen bildet den Kontext, von dem entkoppelt niemand handeln kann. Dem individuellen Gerechtigkeitsempfinden liegt immer schon eine Art kollektive Gerechtigkeitsübereinkunft jener Epoche voraus, in der der Einzelne aufwächst. Über ihre sozialen, moralischen und konventionell-sittlichen Normen gründet die soziale Lebenswelt permanent zahllose Gerechtigkeitsverhältnisse. Dem individuellen Gefühl von Gerechtigkeit ist also immer schon eine Werteordnung dessen vorgängig, was die Gesellschaft als gerecht empfindet und über Zeitungen, Magazine, Hörfunk, Fernsehen, Film, Literatur, Blogs, Kolumnen und vielleicht auch Parlamentsdebatten transportiert.
An diesem Punkt wird es heikel, denn wer interpretiert Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit aufgrund welcher Prägung? Wer spricht darüber auf der Basis welcher Wertüberzeugungen? Wer vertritt welche Norm und woher stammt sie? Können wir einen kulturellen Wertekonsens ebenso voraussetzen wie eine Übereinkunft über das Gerechte an sich? Wenn Gerechtigkeit notwendigerweise Normen voraussetzt, wäre zu klären: Sind es globale, also universell gültige, oder lokale, auf mein Umfeld bezogene Normen? Und zweitens: Sind es absolute oder relative Normen?
Nehmen wir an, dass nun der selbstgebackene Kuchen unter den drei Kindern aufgeteilt werden soll. Es macht einen Unterschied, ob die Mutter oder der Vater das Messer ansetzt. Ist es die Mutter, könnte unterstellt werden, hier handle es sich um eine konservative Familienstruktur mit patriarchalischem Rollenverständnis: Die Frau als Muttchen am Herd kümmert sich um die Kinder, backt Kuchen und verdient kein eigenes Geld, während der Vater der Mutter das mit Kochen und Backen besetzte Feld gönnerhaft überlässt, was geschlechterspezifisch betrachtet ungerecht wäre.
Verhält es sich genau gegenteilig, könnte eine andere Form der Wirklichkeitsverzerrung unterstellt werden: Wenn nämlich die Mutter eine Frau ist, die Beruf und Kinder bestens unter einen Hut brächte, würde sie von den einen als vorbildliches Beispiel herausgestellt, während ihr von den anderen Rabenmutterschaft unterstellt würde, da der Sinn des Lebens aus Sicht dieser anderen in der hundertprozentig gelingenden Erziehung der Kinder und nicht in egoistischer Selbstentfaltung bestehe (würde die Beruf und Kinder in Einklang bringende Mutter übrigens positiv verklärt, würde allen anderen Müttern, die an dieser schwierigen Aufgabe scheitern, vorgehalten, sie träfen die falschen Entscheidungen oder seien unfähig oder strengten sich nicht richtig an oder seien schlicht zu verweichlicht, diese Doppelaufgabe zu meistern).
In allen drei Fällen jedenfalls würde sofort der Vorwurf im Raume stehen, das Verhältnis zwischen Mann und Frau sei ungerecht. Und rasch würde man gegenzufragen haben: Was genau ist daran ungerecht?
Eine Antwort könnte lauten: dass hier eine Mutter heraus- und pars pro toto dargestellt werde, die augenscheinlich mehr zu arbeiten habe als ihr Mann, denn der kümmere sich nur um seinen Job, während die Mutter zu ihrer Berufsarbeit auch noch die Hausarbeit der Kindererziehung und -betreuung übernehme. Eine zweite Antwort könnte lauten: Hier werde eine Mutter pars pro toto genommen, die mit der gesellschaftlichen Realität schlichtweg nichts zu tun habe. Wie aber, würde man abermals gegenfragen, ist denn die gesellschaftliche Realität? Mütter, die Kinder und Beruf auf so einfache Weise unter einen Hut brächten, hieße die Antwort, trügen einen privilegierten Hut. Womöglich sei ihre Herkunft oberschichtig, was allen anderen Frauen gegenüber, die aus der Unter- oder Mittelschicht stammen, ungerecht wäre. Ließe sich das empirisch begründen? Vermutlich nicht. Und wenn doch: Ab welchem Prozentsatz wäre der Vorwurf der Ungerechtigkeit legitim? Und was ist mit jenen Frauen, die sich freiwillig für die Arbeit im Hause, für Erziehung und Haushalt entscheiden – haben sie kein Recht auf Respekt für ihre Haltung, ohne gleich als Heimchen am Herd verspottet zu werden?