Michael Schulte-Markwort

Burnout-Kids

Wie das Prinzip Leistung unsere
Kinder überfordert

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Michael Schulte-Markwort

Für Professor Dr. Schulte-Markwort gibt es keinen Zweifel: Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an einem Burnout. Er weiß, wovon er spricht, denn er behandelt die jungen Patienten täglich. Anhand vieler Beispiele aus seiner Ambulanz schildert er, wie es den Kindern geht, und er gibt wertvolle Ratschläge zur Risikominimierung.
Die wichtigste Frage aber lautet: Was treibt die Mädchen und Jungen über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus? Der falsche Ehrgeiz der Eltern? Die eigene Unfähigkeit, mit den Kräften zu haushalten? Die innere Zerrissenheit, sich im medialen Zeitalter überall optimal präsentieren zu müssen?
Schulte Markworts Ursachensuche hat ein erschreckendes Resultat, denn der renommierte Kinder- und Jugendpsychiater macht eine ganze Reihe von Gründen aus, und sie ähneln fatal denen, die auch Erwachsene in die Erschöpfung treiben. So steht am Ende seiner Diagose eine alarmierende Feststellung: Die Verantwortung trägt unsere Gesellschaft mir ihrem unbarmherzigen Prinzip Leistung.

Impressum

© 2016 der eBook-Ausgabe Pattloch eBook.

Ein Imprint der Verlagsgruppe

Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH

ISBN 978-3-629-32082-7

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Fußnoten

Dilling H, Mombour W, Schmidt MH, Schulte-Markwort E, Remschmidt H (Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen. 8. überarbeitete Auflage. Verlag Hans Huber, Bern 2011

Ravens-Sieberer U, Wille N, Bettge S, Erhart M (2007): Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt, 50:871-878

Barkmann C, Schulte-Markwort M (2012): Prevalence of Emotional and Behavioral Disorders in German Children and Adolescents – a Meta-Analysis. Journal of Epidemiology and Community Health, 66, 194-203

HBSC-Team Deutschland (2011) Faktenblätter. Bielefeld: WHO-Collaborating Centre for Child and Adolescent Health Promotion. http://hbsc-germany.de/downloads

 

 

 

Für Anna, Felix, Charlotte, Denise,
Emilia und all die anderen

Vorwort

»Ich kann nicht mehr!«, sagt Bea, 14 Jahre alt. Sie kommt mit ihren Eltern in meine Sprechstunde und berichtet mit erstaunlich nüchternen Worten, dass sie seit einem Jahr zunehmend müde ist. Sie fühlt sich bei der kleinsten Kleinigkeit angestrengt, erschöpft, ist danach niedergeschlagen und oft grundlos traurig. Seit Monaten hat sie keinen Appetit mehr, an Durchschlafen ist nicht zu denken. In der Schule kann sie nicht mehr aufpassen, von ihren Freundinnen hat sie sich zurückgezogen. Ihre Eltern sind hochgradig besorgt und ratlos. Als ich Bea genauer nach ihrer seelischen Verfassung befrage, fängt sie schnell an zu weinen. Sie ist immer eine gute Schülerin gewesen, und jetzt quält sie sich nur noch und weiß nicht, wie sie alles schaffen soll.

Bea ist ein hochgewachsenes Mädchen mit langen dunklen Haaren und unauffällig-modischer Kleidung. Ihre Eltern sind ausgesprochen liebevoll, und auch ihre beiden jüngeren Geschwister machen sich Sorgen um ihre Schwester. Die Familienanamnese ist völlig unauffällig, und die Diagnostik ergibt keinerlei Hinweise weder auf eine spezifische Form einer Depression noch auf eine körperliche Krankheit.

Meine Diagnose: Bea leidet unter einer Erschöpfungsdepression. Bea gehört zu den Burnout-Kids.

Burnout ist bei unseren Kindern angekommen. Erschöpfte und depressive Kinder und Jugendliche haben meinen Blick in den letzten Jahren auf diese Gruppe unserer Kinder gelenkt. Die Burnout-Kids fordern unsere Aufmerksamkeit. Deshalb ist dieses Buch entstanden.

 

Burnout bei Kindern? Ist das nicht wieder einer dieser effekthascherischen Versuche, unsere Kinder krankzureden? Müssen Ärzte uns immer wieder beunruhigen? Alles wieder nur Übertreibungen, um an mehr Patienten zu kommen?

Ich persönlich mag es nicht, wenn man übertreibt. Insbesondere dann nicht, wenn es um Beschreibungen unserer Kinder geht. Oder um Zuschreibungen an sie. Als Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie gehört es seit 27 Jahren zu meinen zentralen Aufgaben, Kinder zu verstehen, nicht, sie krankzureden. Abgesehen davon, dass ich nicht auf Patientensuche bin und wir Kinder- und Jugendpsychiater den Ansturm kaum bewältigen können. Und Kinder verstehen, das heißt für mich: nichts in sie hineinzuinterpretieren, was nicht zu ihnen gehört. Meine eigene Vorannahme sorgfältig abzugrenzen. Das ist nicht immer leicht, weil vieles von dem, was wir tun, notwendigerweise theoriegeleitet ist. Und weil Kindheit sich verändert.

Ein Beispiel: Entwicklungspsychologisch galt lange Zeit, dass die Pubertät als Phase der Autonomieentwicklung und Identitätsbildung nur gelingen kann, wenn die Jugendlichen sich hart und heftig im Rahmen einer Sturm- und Drangzeit von der Elternwelt abgrenzen. Heute fragen mich Eltern oft ratlos, was sie falsch gemacht haben, wenn das ausbleibt und der Jugendliche friedlich und freundlich erwachsen wird. Ich bin überzeugt davon, dass dies etwas damit zu tun hat, dass Eltern heute verständnisvoller sind, besser von Beginn an auf die Bedürfnisse ihrer Kinder eingehen und weil Autonomie zu einem Thema geworden ist, das nicht erst in der Pubertät plötzlich aufkommt. Kinder fühlen sich heutzutage zu Recht mehr verstanden. Ich bin nicht nur von den Kindern, die zu mir kommen, berührt, sondern auch von den Eltern, die sich mit großer Ernsthaftigkeit um ein Verstehen und Fördern ihrer Kinder bemühen. Deshalb bin ich inzwischen dazu übergegangen, meine Arztbriefe direkt an die Kinder zu richten und nur noch nachrichtlich an die Eltern. Mir scheint dieses Verhalten ein gutes Beispiel dafür zu sein, welche Beziehungsqualität wir zwischen unseren Kindern und uns hergestellt haben. Erziehen heißt vorleben, heißt auf Augenhöhe mit den Kindern wahrnehmen, fördern, schützen, fordern, lieben. Und viele Eltern machen das hervorragend, und ihre Kinder entwickeln sich entsprechend. Das ist die eine, die gute Seite.

Die andere Seite ist, dass auch diese verständnisvolle Begleitung seitens der Eltern und der Umwelt unsere Kinder heute nicht vor dem Burnout schützen kann. Ich muss darauf hinweisen, auch auf die Gefahr hin, eingereiht zu werden in ein Phänomen unserer Zeit der misstrauischen und pessimistischen Übertreibungen, dieser ständigen Verdächtigungen unseren Kindern gegenüber, die Wirkung zeigen und die ich immer schwerer ertrage!

Wie oft bin ich in meiner beruflichen Tätigkeit von Journalisten gefragt worden, warum unsere Kinder immer aggressiver werden, warum sie immer kränker werden, warum es überhaupt immer schlimmer um sie bestellt ist. Ständig sehe ich Bücher, in denen unsere Kinder als Tyrannen beschrieben werden oder als verdummt und dement. Die Liste der Verdächtigungen ist lang. Und wie oft habe ich schon darüber nachgedacht, Gegenbücher zu schreiben, weil in meinen Augen alle diese Zuschreibungen falsch sind! Denn unsere Kinder sind liebenswert, freundlich, sozial kompetent, reflektiert, leistungsorientiert … Ich könnte die Liste gerne verlängern.

Sie werden fragen: Erst so ein romantisch-verklärter Blick auf die Kinder, und jetzt ein Buch über Burnout? Bin ich damit nicht in die Falle gegangen und stecke sie in dieselbe Schublade, in der sie schon als »Tyrannen« oder mit »digitale Demenz« eingeordnet wurden?

Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, mich öffentlich zu Wort zu melden, und habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Am Ende habe ich mich – wie immer – von den Kids selbst überzeugen lassen. In meinem Bemühen, möglichst nah, aufmerksam und gewissenhaft an den Kindern »dran zu sein«, ist mir seit fünf Jahren ein neues Phänomen aufgefallen.

Ich begegnete Jugendlichen, meistens Mädchen, die sich mit dem Vollbild einer Depression zeigten, die aber bei genauem Hinsehen, bei genauer Diagnostik nicht in die gängigen Kategorien passten. Erst habe ich mich innerlich gewehrt gegen das, was sich mir da aufdrängte, denn ich war grundsätzlich skeptisch gegenüber der Diagnose Burnout eingestellt. Alles, was ich von der Erwachsenenpsychiatrie darüber mitbekam, ließ für mich bei manchen Erwachsenen mit Burnout nur den Schluss zu, dass sie sich bloß eine Auszeit nehmen wollten. Kurz: Ich war misstrauisch. Da ich aber bis dahin nichts wirklich Fachliches über Burnout wusste, begann ich, mich damit zu beschäftigen. Ich ließ mich ein auf eine regelrechte Expedition in ein Phänomen, das mir über meine Patienten hinaus den Blick öffnete für gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge.

Die Tatsache selbst aber ließ sich nicht länger verdrängen: Ich begegnete in der Ambulanz Jugendlichen mit Burnout. Und schnell wurde für mich deutlich, dass die reflexhafte Zuschreibung der Schuld an die Eltern oder an die Schulen zu kurz griff.

Eine Zeitlang dachte ich bei mir, ich hätte es eben mit besonders empfindlichen und überforderten Jugendlichen zu tun. Je mehr es wurden, desto mehr wurde mir klar, dass sich tatsächlich ein Krankheitsbild aus der Erwachsenenwelt zu den Kindern verschiebt. Meine Unruhe wuchs.

Anfänglich stieß ich auch bei meinen Fachkollegen auf Skepsis. Wenn wir Kinder- und Jugendpsychiater unserer Verpflichtung, Kindern maximal gerecht zu werden, nachkommen wollen, dann müssen wir auf Veränderungen reagieren. Nicht nur auf neue Bedingungen des Aufwachsens, sondern auf veränderte Krankheiten, Symptome, psychische Reaktionen. Ich hatte den Eindruck, dass ich auf einmal die Journalisten nicht beruhigen musste und ihnen nicht mehr vorwarf, unsere Kinder misstrauisch zu verfolgen, sondern dass ich sie tatsächlich auf ein neues Krankheitsbild hinweisen musste.

Die Balance zwischen medizinisch-sachlichem Hinweis und populistischer Übertreibung ist nicht immer einfach. Und ein kurzer Zeitungsartikel oder ein Interview können Denkanstöße liefern. Doch wenn ich meinen Beobachtungen und den Hypothesen Raum geben wollte, blieb nur ein Schluss: Ich wollte ein Buch schreiben. Denn ich wollte etwas dafür tun, dass unsere Kinder weiterhin und immer intensiver von uns Erwachsenen verstanden werden. Dass wir ihnen helfen können. Wie aber sollte ich es vermeiden, eingereiht zu werden in die Liste populistischer Kinder-Schwarzseher?

Am Ende war mir mein Bemühen um die Kinder wichtiger. Wollte ich ihnen gerecht werden, musste ich meine Sorge öffentlich machen. Denn ich bin überzeugt davon, dass wir alle, Eltern wie Ärzte, Lehrer wie Politiker zur Kenntnis nehmen müssen, dass es die Burnout-Kids gibt, und dass wir uns Gedanken darüber machen müssen, woher Burnout bei Kindern und Jugendlichen kommt. Wir brauchen eine Debatte darüber, was für eine Welt wir unseren Kindern präsentieren – und welche Welt wir eigentlich für sie gestalten möchten. Welche Werte wir vermitteln, welche Pädagogik wir uns für sie wünschen, was sie lernen sollen – was für Kinder wir uns wünschen. Dazu soll dieses Buch ein Anstoß sein. Unsere Kinder sind es wert, dass wir uns intensiv mit ihnen, ihrer seelischen Verfassung und ihrer Zukunft beschäftigen.

 

In diesem Buch möchte ich Sie, die geneigte Leserin (ich unterstelle, dass Mütter, Großmütter, Tanten und Pädagoginnen sich mehr für das Thema interessieren als ihre männlichen Ergänzungen; entschuldigt, lesende Väter!), mitnehmen auf diese Expedition, zu der mich meine Patienten selbst eingeladen haben. So beginne ich mit einem ganz normalen Alltag in meiner Ambulanz der Klinik in Hamburg. Die Zusammenstellung der Patienten hier im Buch entspricht – ein wenig verdichtet – tatsächlich dem Alltag meiner Ambulanz, in der ich an zwei Vormittagen der Woche Erstgespräche führe. Diese Ambulanz bedeutet mir viel, weil sie mich erdet, mich neben der klinischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sowie dem Studentenunterricht immer wieder zum Kern unseres Faches zurückführt: dem direkten Kontakt zu »Kindern« zwischen 4 und 24 Jahren. Die Gruppe von Patienten, die ich selbst ambulant behandele – und das sind immer etwa 25 –, lehrt mich darüber hinaus, die Verläufe seelischer Entwicklungen zu verstehen. In Langzeittherapien bis zu acht Jahren darf ich den Übergang in das Erwachsenenleben begleiten. Das Vertrauen der Kinder und die Einblicke, die Familien mir immer wieder gewähren, sind zutiefst anrührend und lassen Beziehungswerte entstehen, die mit nichts Materiellem aufzuwerten sind.

Die Kinder und ihre Eltern haben mir ihr Einverständnis dafür gegeben, ihre Geschichte hier wiedergeben zu dürfen, die Namen habe ich natürlich verändert, ebenso wie persönliche Daten, so dass niemand wiederzuerkennen ist. Der Kern jeder Kranken- und Familiengeschichte ist authentisch.

Die ausführlich geschilderten Fallgeschichten zu Beginn des Buches sind das Kernstück der Expedition, denn mit ihnen begann alles, als ich vor ein paar Jahren plötzlich unsicher wurde, wie ich die Symptome der vor mir sitzenden Kinder und Jugendlichen in die gängigen Krankheitsdiagnosen einordnen sollte. Was diese Kids erzählen, spiegelt unseren Alltag, und bestimmt entdecken Sie Ähnlichkeiten und Unterschiede zu sich selbst. Der Befund ergibt eindeutig: Die Symptome lassen keine andere Diagnose als Burnout und Erschöpfungsdepression zu. Erhebt der Arzt einen Befund, schließt sich daran die Diagnostik an – und meine Diagnose lässt keinen anderen Schluss zu: Burnout bei Kids nimmt zu.

In einem zweiten Schritt gehe ich noch einmal detaillierter auf die Symptome ein, denn es ist wichtig, dass Sie verstehen, wie ich zu meinem Schluss, also meiner Diagnose komme. Welche anderen Krankheitsbilder kämen in Frage? Ich halte Diagnose und die Differenzialdiagnosen gegeneinander, damit für alle deutlich wird, wie gesichert meine Erkenntnisse sind. Und natürlich sollen Eltern und das Umfeld in die Lage versetzt werden, bei dem eigenen Kind darüber nachdenken zu können, ob die Diagnose Burnout zutreffen könnte.

Dann hat sich mir die Frage nach der Ursache aufgedrängt: Warum entwickeln unsere Kinder ein Burnout? Die Antwort darauf ist nicht einfach, aber ich möchte Sie mitnehmen auf den Weg, den auch ich gegangen bin, um zu verstehen, was da gerade passiert. Ich blicke zurück in die Geschichte und versuche daraus die aktuelle Entwicklung herzuleiten. Daher kann ich die Augen nicht davor verschließen, dass die alles durchdringende leistungsorientierte Ökonomisierung unserer Gesellschaft Strukturen, Werte und Prozesse produziert, die – wenn es so weitergeht – zu einem signifikanten Prozentsatz Kinder und Jugendliche ins Abseits stellt. Kinder, die nicht mithalten können. Obwohl sie das intellektuelle Potenzial dazu hätten. Und auch das emotionale. Was fehlt, ist oft ein Schutzmechanismus, der bei zu hohen inneren und äußeren Anforderungen greifen könnte. Die Ursache ist komplex, aber wir können und müssen etwas dazutun, dass Burnout nicht weiter um sich greift. Und wir müssen dafür Sorge tragen, dass diejenigen, die schon betroffen sind, schnell und effektiv diagnostiziert und behandelt werden.

 

Da es unbefriedigend wäre, »die Gesellschaft« verantwortlich zu machen, geht es im letzten Abschnitt ganz konkret um die »Behandlung«. Es ist mir nämlich nicht etwa ein Anliegen, Leistung als wichtiges Prinzip unserer Gesellschaft zu verteufeln oder abschaffen zu wollen. Doch wir müssen umdenken. Für mich ist der naheliegende Lösungsansatz, erst einmal die Werte zu hinterfragen, die wir vermitteln. Wir als Gesellschaft müssen zu einer anderen Gewichtung kommen, um Erschöpfungskrankheiten wie Burnout einzudämmen. Und dann geht es mir sehr wohl auch um die Frage, wie jeder für sich und seine Kinder tatsächliches oder drohendes Burnout verhindern kann. Damit ist im ersten Schritt nicht die fachärztliche Behandlung gemeint, sondern ich beschreibe, was jeder Einzelne, jede Familie für sich tun kann, um Erschöpfungsdepressionen bei den eigenen Kindern – und bei den Eltern – zu verhindern.

 

Während des Schreibens habe ich mich oft an die eigene Nase fassen müssen. Was ich manchmal so leicht dahersage – gerne auch in einem kurzen Interview –, wollte ich hier nun durchdeklinieren. Und ich muss gestehen: Ich kann nur Ansätze aufzeigen, kann auf diesem Wege nicht umfassend alles einbeziehen, was Wirkung auf Kinderseelen entfaltet. Manche Aspekte sind unberührt und müssen durch Sie, liebe Leserin, ergänzt werden. Im inneren Dialog, aber noch mehr in einer gesamtgesellschaftlichen Debatte, die wir dringend führen sollten. Denn die zentralen Fragen, die ich anstoßen will, lauten: Was für Kinder möchten wir haben? Welche Werte wollen wir ihnen vermitteln? Welche Pädagogik soll unsere Kinder zu was für Menschen ausbilden? Wie sehen Schulen aus, die unsere Kinder zufrieden und schlau ins Leben entlassen?

Der Prozess des Schreibens hat mich nicht beruhigt. So sehr ich zutiefst zufrieden und beglückt auf die Mehrheit unserer Kinder schaue, so sehr beunruhigen mich diejenigen, die wir ausschließen. Welche Werte vermitteln wir ihnen? Sind es die richtigen? Bleiben unsere Wunschwerte blanke Theorie – und geben wir ihnen in der Wirklichkeit ganz andere Dinge mit auf den Weg?

Ich bin gespannt auf die Diskussion, die wir führen müssen. Ich bin gespannt auf einen konstruktiven Disput zum Wohle unserer Kinder – auf ein Ringen für eine bessere, gesündere Entwicklung unserer Kinder ohne Burnout.

Kinder von heute sind wunderbar. Sie sind aufgeschlossen, zugewandt, sozial kompetent, reflektiert – eine Liste, die sich noch lange fortsetzen ließe. Mich haben meine gesamte bisherige Berufslaufbahn lang die Kinder an die Hand genommen – nachdem ich begriffen hatte, dass ich mich darauf einlassen muss. Diese Mitnahme in ihr Leben ist für mich zu einer Expedition geworden, die nach wie vor jeden Tag neue Erkenntnisse, neues Verstehen und überraschende Kinder zutage treten lässt. Wenn diese positive Neugier und diese Begeisterung sich mit Respekt paart, entstehen gemeinsame Wege voller Zufriedenheit und Perspektive, auch wenn das Ergebnis manchmal bescheiden bleiben muss.

 

Wenn aber die Kinder so kompetent sind, warum dann die ständige Kritik? Unsere Gesellschaft versichert sich durch stete Wiederholung, dass sie richtigliegt mit ihrem Eindruck von den gestörten Kindern, und wenn gefühlt alle diese Meinung teilen, die Medien, die Kollegen, die Lehrer und die befreundeten Eltern, muss das noch lange nicht richtig sein. Plötzlich aber steht eine ganze Generation am Pranger. Das will ich hier im Buch bewusst nicht tun. Im Gegenteil: Mich treibt die Sorge um, warum in dieser verbesserten Welt immer mehr Kinder unter dem Druck zusammenbrechen, den sie selbst sich machen, um den Ansprüchen, unartikuliert oder nicht, ihrer Umwelt zu gehorchen.

 

Meine täglichen tiefen und berührenden Begegnungen mit Kindern machen dankbar und demütig. Dankbar für die Offenheit und das Vertrauen, mit dem sich Kinder an uns wenden. Demütig, weil sie verdeutlichen, was wir mit ein wenig Geduld und Hellhörigkeit aus ihnen machen können. Demütig manchmal auch in der Anerkennung von Grenzen. Von Kindern, die unter unveränderbaren Bedingungen aufwachsen. Veränderungen stellen sich nicht über Nacht ein, aber manchmal genügt ein erster Anstoß … Sosehr ich mit dem Unglück lebe, das »meine Kinder« durchmachen und ertragen, so sehr bin ich aufgerufen, sie zu schützen und lebensfähig zu machen. Für Lebensbedingungen zu sorgen, die erstrebenswert sind. Dahin ist es noch ein langer Weg. Wir müssen noch einiges mehr tun. Für unsere Kinder. Für unsere gemeinsame Zukunft.

Der Befund

Burnout – das klingt nach Menschen in der zweiten Hälfte ihres Berufslebens, die ausgebrannt, erschöpft und depressiv auf der Suche nach Hilfe sind. Burnout ist eine der brennendsten Diagnosen unserer Zeit. Es kann jeden treffen, oft hört man etwas über die Berühmten. Die Stars. Aber es kann auch der Nachbar im Büro sein, der plötzlich eine Auszeit braucht. Für Burnout muss man erwachsen sein, ein paar Jahre gearbeitet und sich abgemüht haben. So haben wir alle bislang gedacht und uns in dem Glauben gewiegt, dass Kinder und Jugendliche nicht betroffen sind, weil die Kindheit und die Jugend als solche schon vor Burnout schützen. Kinder haben doch noch Kraftreserven. Wir denken an die in unserer Erinnerung unendlich scheinenden sechs Wochen Sommerferien. Ans Herumtoben. Die Freiheit. Kindheit, das ist eine Zeit des Glücks. Unsere Kids sind bestimmt kraftvoll und von Sorgen unbeeinträchtigt.

Dass Kinder – und von ihnen immerhin etwa zwanzig Prozent – von seelischen Erkrankungen betroffen sein können, ist mir als Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 27 Jahren vertraut. Doch auch ich habe bis vor ein paar Jahren gedacht, dass es kein Burnout im Jugendalter gibt – oder bei Kindern. Damals habe ich weder in unseren Ambulanzen noch in unserer Klinik solche Patienten gesehen. Um die Diagnose Burnout habe ich mich nicht gekümmert, weil ich davon ausgegangen bin, dass es sich um eine Krankheit handelt, die im Kindesalter nicht vorkommt, ähnlich wie Demenz.

Bis mich seit fünf Jahren die Kids selbst mit ihren Symptomen eines Besseren belehrt haben. Zuerst habe ich gedacht, dass es nicht sein kann. Ich habe wie vorher die meisten der Symptome als Depressionen diagnostiziert – heute weiß ich, dass meine Diagnose z.T. falsch war.

Mich beunruhigt das. Erst habe ich den Gedanken weggeschoben, habe die Einzelfälle gesehen und keinen Zusammenhang hergestellt. Allerdings: Wenn man verantwortlich und respektvoll mit Kindern arbeitet, ist man auch in der Pflicht, Veränderungen an ihnen wahrzunehmen und einzuordnen. Deshalb müssen wir uns als verantwortliche Erwachsene mit dieser Symptomatik, die unsere Kids uns zeigen, auseinandersetzen. Wir müssen uns dem Phämomen Burnout bei Kindern und Jugendlichen stellen. Wir müssen darüber aufklären und für eine schnelle und effektive Behandlung sorgen. Und wir müssen dringend darüber nachdenken, was wir tun können, um die Erschöpfung unserer Kinder zu verringern und damit das Burnout-Syndrom als Diagnose überflüssig zu machen.

Aber ich greife vor. Erst einmal war da der Moment, als mir die Kinder selbst mit ihren Klagen und Symptomen gezeigt haben, dass sich etwas Entscheidendes verändert hat. Das wird schon an einem ganz normalen Vormittag in meiner Ambulanz sichtbar. Fünf Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters kommen zu mir. Und vielleicht muss man sie alle nacheinander kennenlernen, um das Ausmaß zu erahnen, mit dem wir Kinderpsychiater es zu tun haben.

Anna (16)

Anna stellt sich gemeinsam mit ihrer Mutter vor. Sie ist ein hübsches, groß gewachsenes Mädchen mit langen blonden Haaren, geschmackvoll, aber nicht übertrieben modisch gekleidet, etwas stark geschminkt und einerseits angemessen neugierig und gleichzeitig scheu und zurückhaltend. Auf die Frage, was sie denn zu mir führt und ob sie denkt, sie ist richtig bei mir als Kinder- und Jugendpsychiater, zögert Anna und schaut verlegen ihre Mutter an. Sie weiß es auch nicht so ganz genau, antwortet sie. Denn sie fragt sich tatsächlich, was der Termin bei mir jetzt soll. Als die Mutter ihn für sie ausgemacht hatte, war sie schon einverstanden, aber jetzt, wo sie vor mir sitzt, kommt es Anna doch wieder übertrieben vor.

Übertrieben? Was ist übertrieben? Ich stelle die Frage mit anderen Worten noch einmal: Was war vor einigen Wochen bei der Verabredung des Termins anders?

Vordergründig wirkt Anna komplett unauffällig. Wenn man sie so auf der Straße oder in der Schule sehen würde, käme man nicht auf die Idee, dass massive Probleme sie zu einem Kinder- und Jugendpsychiater führen könnten. Auch wenn mir der Gedanke natürlich zutiefst vertraut ist, dass man es den meisten Kindern und Jugendlichen nicht ansieht, ob oder gar welche psychischen Probleme oder Auffälligkeiten sie haben, so sticht Anna mit ihrer vordergründigen Unauffälligkeit noch etwas hervor. Sie macht den Eindruck, als dürfe auf keinen Fall etwas von dem, was sie zu mir führt, nach außen dringen. Es ist, als wenn Unauffälligkeit und Normalität ein inneres Gebot für sie sein könnten. Ihre Schminke wirkt auf mich wie eine Maske und unterstützt damit meinen ersten Eindruck, der seltsamerweise mit einem Gefühl der Anstrengung einhergeht. Aber diese Anstrengung bezieht sich nicht auf meinen Kontakt, meine Arbeit mit Anna, sondern ich bin mir schnell sicher, dass es auf einem Gefühl der Gegenübertragung beruht, d. h. Anna löst in mir ihr eigenes Gefühl aus. Das ist diagnostisch wichtig für mich: Ich erlebe ein Mädchen, das sich um Normalität und Unauffälligkeit bemüht, und schon beim allerersten Kontakt vermittelt sie mir ein Gefühl der Anstrengung.

Anna schießen die Tränen in die Augen. Offensichtlich ist sie so verzweifelt, dass diese Mutlosigkeit und diese Ausweglosigkeit schon nach kurzer Ansprache von mir zum Vorschein kommen. Sie wird unsicher und schaut ihre Mutter auffordernd an. Ich erkläre ihr, dass es nicht darum geht, sie zu beschämen, aber dass es für mich von großer Bedeutung ist, von ihr selbst und durch ihre eigenen Worte zu erfahren, was sie zu mir führt. Sie kann sich Zeit lassen und selbstverständlich selbst bestimmen, wie weit sie auf meine Fragen antworten möchte. Ich erkläre ihr weiter, dass ich ihre Mutter anschließend in ihrer Gegenwart befragen werde, und weise sie darauf hin, dass sie es nur sagen muss, wenn sie gerne etwas ohne ihre Mutter besprechen möchte.

Diese Art Vorgespräch ist mir wichtig, denn wie alle Kinder und Jugendlichen soll auch Anna am Ende auf keinen Fall das Gefühl haben, ich hätte ihr »ein Problem an die Backe geredet«. Denn dann wäre etwas schiefgelaufen. Ich möchte sicherstellen, dass die Kids sich nicht manipuliert fühlen. Sie sollen sich vielmehr bei mir so authentisch wie möglich geben können. Sie sollen sich bestenfalls von mir dort abgeholt fühlen, wo sie selbst sind. Es geht jetzt nur um sie und nicht darum, für irgendjemanden irgendwie zu sein.

Anna entspannt sich etwas nach meinen Worten und berichtet: Sie besucht das erste Halbjahr der 11. Klasse. Ihre ganze Schulzeit über macht sie sich schon große Sorgen um ihre Leistungen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt. Sie war und ist eine gute Schülerin. Das war in der Grundschule noch mit Freude und Schullust gekoppelt, gegen Ende der Mittelstufe und vor allem nun in der Oberstufe sind ihre Leistungen zwar nicht schlechter geworden – eher im Gegenteil –, aber seit über einem Jahr ist Anna nicht nur besorgter um ihre Noten und Ergebnisse, sondern sie hat ihren Lernumfang noch einmal gesteigert. Sie beschreibt das so: Sie muss sich enorm anstrengen, weil ein Abitur mit einem Durchschnitt schlechter als 1,5 ja »nichts wert« ist und man damit keine umfassende Studienauswahl mehr hat. Sie macht mir deutlich, dass sie mit großem Fleiß und sehr vorausschauend arbeitet. Anna hat sich die anstehenden Klausuren im Kalender markiert und fängt immer rechtzeitig zu lernen an. Ihre Eltern unterstützen sie in ihren Bemühungen, aber in der letzten Zeit sagen sie ihr auch, dass sie nicht so viel tun soll. Das würde aber gar nichts nützen, findet Anna, denn die müssten ja nicht mehr studieren. Sie ist nicht der Meinung, dass sie übertreibt. Sie ist eben nun mal nicht so klug, dass ihr alles zufällt. Sie muss sich ihren Erfolg erarbeiten.

Seit einigen Monaten hat sie massive Einschlafstörungen, Konzentrationsprobleme, die alles schlimmer machen, und manchmal quälen sie regelrechte »Heulkrämpfe«. Anna ist dann zutiefst verzweifelt, traurig und wütend gleichzeitig. Jeden Abend liegt sie in ihrem Bett und empfindet sich eigentlich auch als ausreichend müde, erschöpft fühlt sie sich sowieso. Kaum liegt sie aber, beginnen ihre Gedanken zu kreisen. Sie grübelt darüber nach, ob sie genug gelernt hat, und die Angst beherrscht sie, dass es nicht reicht. Sie malt sich düstere Szenarien ihrer Zukunft aus. Dann wälzt sie sich hin und her und schaut um halb zwei immer noch auf die Uhr. Deutlich vor dem Wecker um halb sieben ist sie wieder wach, fühlt sich gerädert und steht schließlich mit demselben Erschöpfungsgefühl wieder auf, mit dem sie eingeschlafen ist. Ihre Laune am Morgen ist schlecht, sie ist missmutig und kaum ansprechbar. Lange steht sie vor dem Spiegel, um sich gründlich zu schminken. Wenigstens das gibt ihr etwas Halt.

Beschwichtigungsversuche ihrer Eltern machen sie wütend, und sie fühlt sich dann von der ganzen Welt missverstanden. Anna ist unzufrieden mit sich selbst und kann die Gedanken nicht aus dem Kopf bekommen, dass sie sich nur anstellt und alles selbst schaffen muss. Von ihren Freundinnen hat sich Anna in den letzten Wochen komplett zurückgezogen. Diese versuchen schon gar nicht mehr, sie aufzumuntern und mitzunehmen zu ihren Unternehmungen oder den Partys. Annas soziales Leben ist komplett in den Hintergrund gerückt. Auch für einen Freund hat sie »keine Zeit«. Annäherungsversuche von Jungen wehrt sie angstvoll mit der Begründung ab, dass sie dann noch weniger zum Lernen kommt. Und tief in ihrem Innern verzweifelt Anna an sich, sie glaubt, dass sie zu dumm und zu faul ist. Nur manchmal blitzt der Gedanke in ihr auf, und sie kann für einen kurzen Moment sehen, dass sie in einem Karussell der Arbeit gefangen ist und wie ein Hamster im Rad versucht, dagegen anzurennen. Je mehr sie sich anstrengt, desto schlimmer wird es.

Inzwischen sind noch Appetitprobleme dazugekommen, was zu weiteren Streitigkeiten zwischen ihr und ihrer Mutter führt. Frau A hat Angst, Anna könnte magersüchtig werden, sie hört so viel von diesem Schreckgespenst jeder Mutter. Deshalb glaubt Frau A es Anna oft nicht, wenn diese sagt, dass sie keinen Hunger hat. Die Aufforderung der Mutter, mehr zu essen, ist für Anna ein »Wackerstein« mehr in ihrem von Anstrengung und Erschöpfung gekennzeichneten Leben.

Annas Lebensumstände

Ich lasse mir von den Kindern und Jugendlichen oft sehr genau schildern, wie sie leben. Deshalb wirkt es manchmal so, als sei ich in den Familien zu Hause gewesen. Anna berichtete hierzu: Sie lebt mit ihrer Familie in einer Vierzimmerwohnung in einem Stadtteil nahe der Innenstadt. Sie hat ihr Zimmer noch ein wenig mädchentypisch in Rosa eingerichtet, mit einer rosafarbenen Tagesdecke auf dem Bett, Tierbildern an der Wand, einem kleinen Sessel mit rosafarbenem Überwurf und ihrem kleinen Schreibtisch. Alles ist aufgeräumt, darum muss man sich bei Anna keine Gedanken machen. Auf dem Bett liegen ihre Kuscheltiere, die jeden Morgen von ihr neu angeordnet werden. Wenn Anna nicht am Schreibtisch sitzt, ist sie am liebsten auf ihrem Bett und hört Musik oder ist mit ihrem Handy beschäftigt.

Anna zeigt sich nicht gerne ungeschminkt. Sie hat das Gefühl, sie müsse etwas von sich verbergen, außerdem fühlt sie sich dann hässlich und unansehnlich. Es gibt nichts, womit Anna bei sich wirklich zufrieden ist. Sie gerät immer wieder in einen Strudel aus Selbstvorwürfen und trauriger Stimmung, weint viel und versucht, sich das zu erklären, indem sie innerlich ihren Eltern die Schuld gibt, was aber sofort wieder zu Selbstvorwürfen führt. Annas Leben kreist um die Schule. Wenn sie nach Hause kommt, isst sie kurz und hektisch, um sofort an ihren Schreibtisch zu gehen. Kurze Unterbrechungen zum Ballett oder Klavierunterricht empfindet sie meistens als Störung, und sie beeilt sich, möglichst schnell zurück am Schreibtisch zu sein. Abends steigert sich regelmäßig dieses Gefühl, nicht genug geschafft zu haben, dann gerät Anna häufig mit ihrer Mutter in einen »hysterischen« Streit, wie sie selbst in ruhigen Minuten einräumen kann.

Anna ist in der Pubertät, aber ihre Symptome reichen weit über normale pubertäre Gefühlsschwankungen hinaus. Sie lässt sich auch nicht fallen, sondern bemüht sich sehr, gegen den depressiven Sog anzuarbeiten. Das aber verstärkt ihren Teufelskreis nur noch mehr.

Annas Familie

Die Mutter von Anna ist Rechtsanwältin wie der Vater und arbeitet, seitdem die Kinder das Gymnasium besuchen, halbtags in einer kleinen Kanzlei. Sie hat mit großer Freude und Ernsthaftigkeit ihren Beruf mit der Geburt von Anna aufgegeben, denn es war immer ihr Wunsch, eine Familie zu gründen. Da ihr der Beruf großen Spaß gemacht hat, war es keine Frage, dass sie wieder damit beginnen wollte, sobald die Entwicklung der Kinder dies zulassen würde. Obwohl die ersten Jahre mit den zwei Kindern allein zu Hause bisweilen sehr anstrengend gewesen sind, würde Frau A nie auf die Erfahrung verzichten wollen. Frau A zeigt sich zutiefst zufrieden und beglückt, dass sie gesunde und sich gut und komplikationslos entwickelnde Kinder hat. Auch der zwei Jahre jüngere Bruder von Anna macht sich gut. Er ist sehr sportlich und ein unauffälliger Schüler der Mittelstufe, der mit seinen Leistungen etwas schlechter als seine Schwester im Zweier-Bereich liegt. Die Beziehung zwischen den Geschwistern schildert auch Anna als liebevoll mit den normalen Streitigkeiten. Nur in letzter Zeit sei der Bruder bisweilen genervt, wenn Anna so »rumzickt«. Ihre Ehe beschreibt Frau A als glücklich, die Eltern haben sich im Studium kennen- und lieben gelernt. Ihr Mann ist ihr Traummann gewesen und auch geblieben. Allerdings war und ist die Frage der Arbeitsteilung abends und an den Wochenenden ein strittiges Thema zwischen den Eheleuten, und das in eher zunehmendem Maße. So findet Frau A es auch nicht gut, »mal wieder« ohne ihren Mann in der Ambulanz zu sein. Er ist zwar nicht dagegen, sieht aber die Ernsthaftigkeit der Probleme seiner Tochter nicht ganz. Frau A macht sich Vorwürfe, dass sie Annas Symptome nicht rechtzeitig beachtet hat. Außerdem fragt sie sich, was sie selbst dazu beigetragen haben könnte, dass es Anna so schlechtgeht.

Die Diagnose

Anna zeigt alle Zeichen einer Erschöpfungsdepression. Sie strengt sich schon lange so sehr an, dass sich Schlaf- und Appetitstörungen, Selbstzweifel, Erschöpfung und ausgeprägte Gefühlsschwankungen eingestellt haben. Diagnostisch entscheidend ist, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass sie primär depressiv war oder dass ihre Stimmungslage durch äußere Auslöser entstanden sein könnte. Mit großer Leistungsbereitschaft – die als solches weder schlimm noch pathologisch, d. h. auffällig war und ist – muss Anna vor dem Hintergrund eines realen Leistungsdrucks in diese andauernde Erschöpfung geraten sein, die schließlich das Vollbild einer Depression, in diesem Fall einer Erschöpfungsdepression entwickelt hat. Erschöpfungsdepression, ein angemessenes Fachwort für das populärere Wort Burnout-Syndrom.

Wichtig ist, Anna und ihrer Familie deutlich zu machen, was dieses Burnout-Syndrom bedeutet: Allein kann Anna nicht aus der Symptomatik herauskommen, auch nicht mit Hilfe ihrer Familie. Sie darauf hinzuweisen, sie möge weniger tun, würde nichts bewirken, ebenso wenig wie der Hinweis, dass auch ein schlechteres Abitur eigentlich gut genug ist, um etwas aus ihrem Leben zu machen.

Da stehe ich also mit dem ersten Burnout-Fall des Tages. Und muss überlegen, wie ich die Behandlung angehen möchte – immerhin die Behandlung einer Krankheit, die offiziell diagnostisch so nicht beschrieben ist. Ich betrete Neuland. Die ersten Male war ich unsicher – inzwischen habe ich so viele Kinder und Jugendliche mit Burnout behandelt, dass ich weiß, wie ich schnell und effektiv helfen kann.