Ursula Özdemir
IM REICH DER SCHAFE
-Wetter und Leben in Anatolien-
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Bauernweisheit
Im Reich der Schafe
Mit den Eisheiligen unterwegs
Teewasser aufsetzen
Hagel und Hunde
Viehhändler zu Gast
Der hinkende Hirte
Kugelhagel im Kuhstall
Kaplan-Anhänger
Dreiste Bettlerinnen
Gib mir Mal ‘ne Lira
Türkische Pfirsiche
Ein Tag im Fastenmonat Ramadan
Hochzeitsfeier im Festsalon
Tod und Trauer in Anatolien
Heldentod
Verliebt, verlobt, verheiratet
Murtaza’s Traum
Picknick in der Wildnis
Dorfversammlung
Männergespräch
Bullentraum
Korankurs
Seelenmesse
Naturgewalt
Sonne, Wind und Wettergott
Eine unglaubliche Geschichte
Fermude
Silberhochzeit?
Geistergeschichte
Heißer Sand und goldene Palmen
Impressum neobooks
Hat das heute herrlich geschneit…..! Ich habe mich in die Wärme unter der schweren Schafwollbettdecke gekuschelt und zugesehen, wie hinter den Fensterscheiben unablässig Schneelappen herunter segelten. Zwei Stunden lang schaute ich in das Schneetreiben. Heute muß ich wohl wieder die Winterpullover aus dem Schrank holen. Gestern noch hatte die April-Sonne warm ins Dorf geschienen. Auf allen Wegen quirlte unter azurblauem Himmel das Leben. Frauen in kunterbunten Pluderhosen schmückten gleich Blumen die erdigen Gassen und Hänge. Junge Mädchen schrubbten mit Geklapper große Kupferkessel und Töpfe unter dem Wasserstrahl am Quellstein blank. Die Perlenborte ihrer Kopftücher funkelte und glitzerte in der Sonne. Gänse wackelten schnatternd über den Platz vor der Moschee. Über die Mauern von manchem Gehöft hingen frisch gewaschene Kelims zum Trocknen, ließen ihre bunten Streifen farbenfroh in den Tag leuchten. Hier und da wurde mit einem Reisigbesen der Hof gekehrt und anschließend aus einem Henkelkrug mit Wasser besprengt. Der schwerhörige Schafhirt saß auf seiner Bank vor dem Stall, ließ sich von der Sonne bescheinen und palaberte weithin hörbar mit seiner fast blinden Frau. Hier karrte ein Junge seine kleine Schwester in einer Schubkarre den Hang hinauf. Dort flitzten ein paar Halbwüchsige auf dem Haupttrampelpfad des Dorfes einem Hund hinterher und bewarfen ihn mit Steinen. Das Leben war aus den Berghütten hinaus ins Freie gequollen, hinaus in Licht, Luft und Sonne.
Doch heute ist das Dorf still geworden. Scheinbar reglos liegt es unter einem weißen Glitzerteppich. Der Frühling ist in hüfthohem Schnee verschwunden. Oberhalb des Dorfes ist der Gebirgspaß nicht mehr passierbar. Schneewehen haben das kleine Bergdorf von der übrigen Welt abgeschnitten. Da kommt kein Bus mehr ins Dorf herein, da fährt auch kein Bus mehr hinaus. Es ist bitter kalt geworden. Deshalb wurde der Kanonenofen mit seinem langen Ofenrohr wieder aus dem Schuppen geholt und auf einem Holzpodest in der Mitte der Stube aufgebaut. Heute wird Holz von einer Pappel verheizt, die im vergangenen Jahr gefällt worden war. Ihren Stamm konnten damals gerade Mal vier Männerhände umfassen. Zwei dicke Holzscheite brennen im Ofen etwa 20 Minuten lang, dann muß wieder Holz auf die Glut nachgelegt werden. Eine anatolische Bauernweisheit sagt:
„Kannst du im März vor die Tür dich trauen, dann verheizt du bald Stumpf und Stiel von Hacke und Spaten.“
Aber noch haben wir im Schuppen einen ansehnlichen Stapel mit Holzscheiten von der zersägten und zerhackten Pappel. Das war übrigens eine unserer Pappeln, die wir selbst oben auf dem Berg gesetzt und jahrein jahraus bewässert haben. Ich fülle einen zehn Liter fassenden Blechkrug mit Wasser und stelle ihn auf die Herdplatte des inzwischen bullernden Kanonenofens.
Der Regenguß vor ein paar Tagen hatte das Ackerland oben in den Bergen gründlich aufgeweicht. Warmer Wind aus dem Süden aber hat den Boden über’s Wochenende wieder ausgetrocknet. Die Mai-Sonne scheint warm ins Dorf. Der Traktor wird aus der Scheune geholt. Ein Sitzkissen kommt auf das Schutzblech des rechten Hinterrads, das mit einer Rücken- bzw. Seitenlehne aus Eisenstangen versehen ist. Mein Mann schwingt sich in den Fahrersitz des Traktors, ich nehme auf der Sitzfläche über dem Riesenhinterrad Platz und halte mich im Eisengestänge fest. Wir knattern über die unbefestigten Trampelpfade des dörflichen Wegenetzes zur Brücke unterhalb der Moschee, hier über den Bach und dann weiter den Schotterweg zum Stausee hinauf. Schon bald liegen das Tausendseelendorf und der Stausee hinter uns. Eine atemberaubende Geländefahrt beginnt, eine Fahrt über Abgründe, durch Schluchten, über die rissigen Erdschollen einer Salzsohle, querfeldein über brach liegendes Land, hinauf auf die Alm. Ein Debiler aus dem Dorf kommt uns auf der Alm mit Riesenschritten entgegen. Er schwenkt bedrohlich einen Stock gegen unseren Traktor, läßt uns aber unbeschadet vorbeifahren und zieht forsch weiter seines Weges. Wir sind unterwegs zu unserem Feld an der Grenze zum Nachbardorf Samankaya. Die Kontrolle des Getreidestands auf diesem Feld am äußersten Rand unseres Landkreises steht an. Unterhalb des violetten Samankaya-Bergzugs sprudelt in einer Senke eine Quelle aus der Felswand. Wir legen einen Stop ein und laben uns an dem Quell. Ein Kanister wird mit dem köstlichen Wasser gefüllt, und weiter geht die Fahrt.
In der Hochebene Schafe über Schafe. Schafe, so weit das Auge reicht. Ihre Wollrücken wogen gleich einem Meer über die Alm. Die saftigen Wiesen verschwinden unter dem grauen Wollwusel der Schafe. Sie kräuseln sich über die Alm und fressen sich am Grün satt. Unten am Rand der Salzsohle liegt ein totes Schaf. Ob der Hirte es bemerkt hat? Liegt er vielleicht irgendwo hinter der Herde im Gras und läßt sich die Sonne auf den Bauch scheinen? Ein Geier kreist am Himmel. Die sich schier endlos aneinander reihenden Wollrücken der Schafe lassen den Gedanken an eine wohl jahrtausendealte Schafkultur Kleinasiens aufkommen. Eine Kultur mit Schafwolle in den Matratzen, in den Bettdecken, in den Kopfkeilkissen, den Sitzkissen.
Und wir sind ja gerade aus solch einem Dorf mit Schafwollkultur in die Berge aufgebrochen. In dieses Dorf kam ich das erste Mal in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, ein kleines Bergdorf in der Kornkammer der Türkei mit an den Berghängen klebenden Lehmhütten. Damals gab es im Dorf noch keinen Strom. Also auch keine Straßenlaternen. Da saß man nach Einbruch der Dunkelheit im Schein der Petroleum-Lampe beisammen, ließ den Teekessel kreisen und hat sich über Gott, die Welt und die Nachbarn unterhalten. Draußen vor dem Haus war es nachts stockfinster, nur bei wolkenfreiem Himmel funkelten blitzmunter die Sterne im Schwarz der Nacht. Nach Mitternacht bellten da die Hunde vom einen Ende des Dorfes hinüber zum anderen Ende. Mindestens eine Stunde lang durchschnitt ihr Gebell die Nacht über den Flachdächern der Hütten, als wollten sie sich alles über den gerade gelaufenen Tag erzählen.
Es gab in diesem Dorf auf den Bergen mitten zwischen Ankara und dem Iran nicht nur keinen Strom, es gab in den Hütten auch kein fließendes Wasser. Neben einigen Häusern im Dorf gab es Wasserstellen. Dort sprudelte aus einem Stein von den Bergen heran geleitetes Quellwasser.
Es gab in den 70-er Jahren in diesem Dorf zwar noch keinen Strom und kein fließendes Wasser in den Hütten, aber eines gab es im Dorf in Hülle und Fülle: Schafe! Schafe, Schafe, Schafe…..
Schafe geben Milch, daraus macht die Hausfrau Schafsbutter, Käse und Joghurt – richtig einmalig sauren Schafsjoghurt. Das Fleisch der Schafe landet irgendwann im Kochtopf. Der Nutzwert der Schafe erschöpft sich aber nicht in Milch und Fleisch. Schafe liefern vor allem auch Wolle.
So basiert das Interieur einer zentralanatolischen Berghütte hauptsächlich auf Schafwolle. Dort hinter den sieben Bergen in Kleinasien lebt man nicht gut möbliert, dort lebt man gut gepolstert. Die geschorene Wolle der Schafe wird von den Frauen im Dorf am Bach im fließenden Wasser gewaschen und anschließend zum Trocknen über Dornengestrüpp gehängt. Dann wird die Wolle entweder mit einem dünnen langen Eisenstab watteweich geschlagen, gestochert und gefetzt für die Füllung von Matratzen und Kissen, oder sie wird auf einer Spindel zu Garn versponnen. Aus der versponnenen Wolle weben Frauen im Dorf mit ihren Töchtern Kelims, die in meist leuchtenden Rot-Tönen auf dem gestampften Lehmboden im Eingangsraum der Lehmhütte liegen. Auf dem Schafwoll-Teppich im Gästezimmer liegen an den Wänden entlang mit weichgeklopfter Schafwolle prall gefüllte Sitzkissen, etwa 70 x 70 cm in ihrer Ausdehnung und circa 15 cm dick - die Alternative zu mitteleuropäischen Sitzmöbeln. Auch im Eingangsraum der Hütten liegen solche bequemen Sitzkissen. Hätten sie da oben in den Bergen nicht so viele Schafe – vielleicht hätten sie ja Stühle erfunden? Auf den Sitzkissen stehen zum Anlehnen für den Rücken je zwei kleinere, hübsch bestickte Kissen übereinander, gestopft mit Schafwolle. Hinter den Sitzkissen zieht sich an den Wänden entlang ein durchgehender Sims aus aneinandergereihten quaderförmigen Keilkissen. Die Keilkissen dienen als Rückenlehne und für das Auflegen der Unterarme. Sie sind mit Stroh gefüllt und bezogen mit kelimartigem Gewebe aus Schafwolle. Über dem Keilkissensims hängen in manchen Hütten exotische Wandteppiche aus Schafwolle an der Wand. In der Schlafstube stapeln sich in einer Ecke bis fast an die Zimmerdecke dicke schwere Matratzen, Steppdecken und Keilkopfkissen – alle prall gefüllt mit Schafwolle. Der Bettenstapel ist abgedeckt mit einer großen schweren Schafwolldecke. Drei solche Matratzen auf dem Teppich übereinander ausgebreitet und dann mit einem Bettlaken überzogen – eine Schlafstatt wie im Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“.
Die Säcke für Mehl und Weizengrütze in der Vorratskammer sind aus Schafwolle gewebt. Aus der Wolle strickt man natürlich auch Socken, Pullover und anderes mehr.
Selbst Schafsmist findet Verwendung. Mit Hammelkacke gedüngte Tomaten sind ein Gaumenschmaus. Der Stallmist aus dem Schafsstall wird in der Sonne getrocknet, dazu wird er an der Hofmauer entlang batzenweise gestapelt. In der kalten Jahreszeit wird er dann als Heizmaterial für den Kanonenofen verwendet, aber auch für das Beheizen des Tandir genannten Lehmlochs, in dem Brot gebacken wird. Der Schafstall selbst ist an die Lehmhütte angebaut und gibt im Winter seine Wärme über die Wand an die angrenzenden Wohnräume ab.
Das Interieur der zentralanatolischen Berghütte erschöpft sich allerdings nicht nur in Schafwolle. Die Alternative zum mitteleuropäischen Tisch ist ein großes rundes Silbertablett auf einem Holzbock. Solch ein Riesentablett kann selbst von kleinen Mädchen ruck-zuck in die Mitte der Stube auf den Teppich gerollt werden. Ein großes Tuch wird inmitten der Sitzkissen auf dem Teppich ausgebreitet, darauf ein vierbeiniger, auseinanderklappbarer Holzbock gestellt, etwa 30 cm hoch, und dann das herein gerollte Tablett darauf gekippt. Fertig ist der Tisch. Das Tuch unter dem Tablett dient als Krümeltuch. Jeder, der mit oder ohne Sitzkissen zum Essen an das gedeckte Tablett heran rückt, zieht sich das Tuch über die Knie. So wird nicht auf den Teppich, sondern in das Tuch gekrümelt, das nach dem Wegräumen von Tablett und Holzbock dann mit zwei Handgriffen zusammengerafft und nach draußen zum Ausschütteln gebracht wird. Ein Krümeltuch unter dem Tisch also die Alternative zur mitteleuropäischen Tischdecke auf dem Tisch.
In einer Stubenecke stehen ineinander geschoben leicht größenunterschiedliche Beistelltischchen, die für die Gäste neben die Sitzkissen gestellt werden, wenn der Teekessel rund geht.
In die dicken Lehmmauern der Hütten sind nur kleine, mit Eisenstäben vergitterte Fenster eingelassen. Als ich zum ersten Mal in solch einer schafwollenen Stube saß, direkt neben mir solch ein vergittertes Fenster, denn ich saß als Einzige in der Stube erhöht, also mit einem Ellenbogen in die Fensternische gestützt auf einem potthäßlichen europäischen Stuhl, den man irgendwoher wunderbarerweise für mich hervorgezaubert hatte, um meiner abendländischen Sitzgewohnheit zu hofieren, und man hatte mir ein weißes Handtuch über die Knie gelegt, damit mir die an den Wänden entlang weiter unten auf Sitzkissen thronenden Gäste nicht unter den Rock gucken können, und mir war verklickert worden, daß ich hier ein Kopftuch tragen muß und nicht ohne Begleitperson nach draußen auf die Gasse darf, weil mich in meinem noch jugendlichen Alter da ja ein kecker Dorfbursche anbaggern könnte, und das wäre schlimm für meinen Mann, denn wer die Ehre seiner Frau und seiner Töchter nicht im Griff hat bzw. über sie weniger weiß, als die tratschende Dorfgemeinschaft, der wird von den Machos östlich des Bosporus zum Weichei degradiert und hat in der Folge in der Dorfgemeinschaft nichts mehr zu sagen, befindet sich außerhalb jedweder Entscheidungsbefugnis in der Öffentlichkeit - als ich also neben einem der vergitterten Fenster saß, im Hinterkopf die ortsübliche Bewegungseinschränkung, die der Gewalt der Ehre geschuldet ist, hätte ich am liebsten die Flucht ergriffen. Aber wohin in diesem fremden Dorf am anderen Ende der Welt? Da war kein Flughafen vor der Haustür. Ruhig bleiben, habe ich mir gesagt, das hältst Du jetzt einfach erst Mal aus. Und ich hielt aus. Mein Mann hatte seinerzeit zu mir in Berlin ja gesagt: „Ich nehm‘ dich mit in die Türkei, setz‘ dich auf ein Sofa und laß dich erzählen.“
Das Sofa war jetzt halt der Stuhl. Und die da unten auf den Sitzkissen hatten tausend Fragen an mich. Hauptsächlich Männer saßen da an den Wänden entlang. Und ich habe gesagt, wenn ich mir eine Zigarette anzünden darf, dann kann ich besser erzählen. Ich erhielt die Erlaubnis, ich durfte rauchen. Das war eigentlich eine Sensation. Denn in der Türkei darf eine Frau nicht in der Gegenwart eines Mannes rauchen. Nicht einmal der Sohn darf in Gegenwart seines Vaters rauchen. Das geziemt sich einfach nicht. Aber mir wurde betreffs Nikotin von der Männerwelt des Dorfes Narrenfreiheit zugebilligt. Dafür fragten sie mir Löcher in den Bauch. Und sie waren baß erstaunt, daß ich den frisch gebrühten heißen Tee aus dem Teeglas trinken konnte, ohne vernehmlich laut zu schlürfen. Als ich eines Tages mitten in der Runde zwischen lauter Männern auf einem Sitzkissen saß, steckte der Älteste im Raum, ein ehrwürdiger weißbärtiger Gast aus einem Nachbardorf, neben dem ich sitzen durfte, seinen Kopf fast in mein Teeglas, als ich einen Schluck nahm, und verkündete dann begeistert: „Sie trinkt tatsächlich lautlos!“
Auch das war etwas Besonderes, daß ich neben dem ältesten Gast sitzen durfte, also neben dem, dem vom Alter her die meiste Ehre gebührte, denn es gibt ein ungeschriebenes Gesetz, daß der Älteste im Zimmer immer in der Zimmerecke diagonal zur Eingangstür Platz nimmt, die Jüngeren nehmen dem Alter nach absteigend neben ihm an den Wänden Platz. Kommt ein älterer Gast hinzu, beginnt auf den Sitzkissen das Platzrücken, damit die Rangordnung wieder ihre Richtigkeit bekommt.
Die Hausfrau im Dorf ist übrigens immer vollbeschäftigt. Neben der Versorgung von Kindern und Vieh arbeitet sie im Sommer auf dem Feld mit. Sie fertigt Grundnahrungsmittel wie Joghurt, Butter, Sahne, Käse, Nudeln und Weizengrütze selbst. Das für die Essenzubereitung notwendige Salz kauft sie von einem Hänger herunter, der ein Mal im Jahr auf den Dreschplatz des Dorfes kommt. Brot backt sie in einem Lehmloch. Dieses in ein Lehmpodest eingelassene Backloch nennt sich Tandir und ist etwas breiter und tiefer als ein normaler Wassereimer. Auch ich habe mit bloßer Hand solche Teigfladen für Fladenbrote in Blitzgeschwindigkeit über der heißen Glut an die Wand solch eines Lehmlochs gestrichen. Und ich bin stolz darauf, daß die Teigfladen tatsächlich an der Wand hängen blieben und nicht hinunter in die glühende Asche des Lehmlochs plumpsten.
Inzwischen stehen im Dorf neben Lehmhütten auch Häuser aus Hohlblock- und Backsteinen mit schrägen Ziegeldächern. Mein Mann hatte Ende der 60-er Jahre aus vielen Familien Männer in Arbeit und Brot nach Frankreich gebracht. Die kamen nach Jahren zurück in ihr Heimatdorf und bauten Häuser. Im Dorf gibt es inzwischen eine Kanalisation. In den Häusern gibt es jetzt zwar fließendes Wasser, aber das benutzt man nur zum Geschirrspülen, Duschen und dergleichen mehr. Das Wasser aber für die Essenzubereitung oder für den Teekessel holt man sich generell draußen an der Wasserstelle, wo Quellwasser von den Bergen aus einem Rohr sprudelt. Ein Minarett wurde gebaut. Eine zweite Moschee wurde gebaut. Demirel schickte damals seine Wahlhelfer ins Dorf und versprach, einen Stausee für das Dorf bauen zu lassen, wenn er vom Dorf alle Stimmen zur Wahl bekäme und die Wahl gewinne. Er hat aus dem Dorf alle Stimmen bekommen. Er hat die Wahl gewonnen. Das Dorf hat den versprochenen Stausee bekommen. Einen Stausee mit vielen Wasserschleusen, die die Bauern gegen Bezahlung stundenweise zur Bewässerung ihrer Felder öffnen lassen können. Die Elektrifizierung kam in unser Dorf. Kühlschränke und Elektro-Wasserkochtöpfe zogen in die Haushalte ein, vereinzelt auch Waschmaschinen. Auf den Dächern der Lehmhütten mehren sich die Satelliten-Schüsseln und Sonnen-Kollektoren.
Aber weht Mal ein lautloser Wind über die Berge, der an den feinen Staubwehen über den Feldern in der Ferne zu erkennen ist, die sich immer wieder vom Boden erheben, dann erahnt man ein nahendes Gewitter. Kracht das Gewitter dann über das Dorf herein, liegen in der Regel auf den Bergen gleich ein paar Strommasten flach, und es kann schon Mal 24 Stunden und länger dauern, ehe wieder Strom auf der Leitung ist. Der Kühlschrank steht dann ganz lautlos in seiner Ecke, und mit den Stunden entsteht vor dem Kühlschrank eine Pfütze.
Inzwischen gibt es im Dorf auch drei Geschäfte. Sogar ein Leichenwagen mit bogenförmiger Überdachung steht vor dem Bürgermeisteramt, dessen Wasser elektrisch, bei Stromausfall aber auch mit Propangas erwärmt werden kann. Im Dorf wird gemunkelt, daß manch einer ganz gerne Mal vorübergehend sterben würde, um in diesem Superleichenwagen gewaschen zu werden.
Wir holpern mit unserem Traktor weiter aufwärts bis zum äußersten Feld unseres Dorfes, bis hin zum Samankaya-Terrain. Hier auf der Höhe halten wir mit unserem Traktor. Von meinem Hochsitz auf dem Hinterrad-Schutzblech aus habe ich bis zum Horizont hin einen herrlichen Panoramablick über die bewirtschafteten Felder unseres Dorfes. Nur eine Ebene zum Tscherkessen-Dorf auf dem Berg Karatonuz hin ist nicht einsehbar. Dort steht ein Hain mit uralten Bäumen. Bäume – eine Rarität hier in den Bergen. Mein Mann reißt aus seinem noch grünen Kornfeld ein Bündel Weizenähren aus und klemmt es unter den Traktorsitz. Die Saat steht gut, aber Regen wäre jetzt günstig. Im Nachbardorf hat es gestern ja geregnet. Aber bei uns auf dem Hof hatten nur die Bäume im Wind gewackelt.
Auf meinen Armen und den Handrücken machte sich ein Sonnenbrand bemerkbar. Das Gesicht blieb verschont, da ich mir den breitkrempigen Cowboyhut meines Mannes auf’s Haupt gesetzt hatte, denn ihm selbst drohte er bei der Crash-Tour durch die Schluchten Kleinasiens vom Kopf zu fliegen. Ich konnte den Hut immerhin mit einer Hand festhalten. Zurück ging es im Schleudergalopp durch und über die schroffe Naturwildnis. In einer Hand die Hutkrempe, die andere fest um die Sitz-Lehne auf dem Schutzblech gekrampft, versuchte ich, das Schütteltrauma tapfer zu überleben. In etwa 35 Grad seitlich zum Abgrund geneigt nahmen wir eine Kurve oberhalb eines steilen Abgrunds und bremsten uns kurz darauf bei 60 Grad Gefälle in einen Wassergraben, den wir dann mit Karacho nahmen. Die Geschwindigkeit trug uns am anderen Ufer in eine steile Aufwärtskurve. Wohl dem, der keine Wirbelsäule hat! Wir fuhren nicht zurück auf dem normalen langen Weg, auf dem wir gekommen waren, der immerhin zu einer leidlich befahrbaren Sandstraße führt, sondern nahmen eine gefährliche Abkürzung, die gar keinen irgendwie befahrbaren Weg hat. Diese Abkürzung über raue Berge mit teilweise aus dem Boden ragenden Felsflächen ist nur bei einer gesunden Portion Gottvertrauen und unverwüstlichem Traktor machbar.
Schließlich landeten wir wieder am Stausee oberhalb des Dorfes, auf dessen Grund der ehemalige Dorffriedhof liegt. Nur diesmal umfuhren wir die andere Seite des Stausees. Hier steht an seinem Rand ein einzelnes Grab. An seiner Seite vorbei führt ein weites Wasserstromtal, in dessen Tiefe ein von den Bergen kommendes Rinnsal plätschert, hin zu einer in der Mitte durchbrochenen Staumauer. Der Stausee prangt in leuchtendem Türkis in der Hochebene. Aus der Ferne schauen die Spitze des Minaretts und die Baumwipfel des Dorfes über das jenseitige Ufer des Stausees zu uns herüber. Kurz darauf sind wir wieder im Dorf. Das Schütteltrauma ist mir eine Weile geblieben.
Dreizehnter April. Die Eisheiligen toben hoch oben in den Bergen. Sie fetzen einen Rock’n Roll über das waldlose Bergmassiv Zentralanatoliens. Weiße Ekstase wirbelt durch die Gassen eines Tausendseelendorfes in der Hochebene, pfeift eisig um die geduckten Lehmhütten. Ab und an mengt sich in das stürmische Pfeifen das Heulen eines Hundes. Gestern noch hatten wir kurzärmligen Sonnenschein, und alles, was Beine hat, tummelte sich auf dem Dorfplatz, an der Wasserstelle oder auf den grünenden Wiesen oben am Stausee. Jetzt sitzen gut ein Dutzend Dorfbewohner dicht gedrängt um den Kanonenofen aus dünnem Eisenblech, der mitten im Gästezimmer auf einem türkisfarbenen Holzpodest thront. Nach dem morgendlichen Wetterumschlag war er samt Holzpodest und Ofenrohren aus dem Keller geholt und mit wenigen Handgriffen mitten in der Stube auf dem Teppich aufgestellt worden. Die Stubentür geht auf, Selma bringt eine Kiepe mit Dornengestrüpp und getrocknetem Stalldung herein. Die Gäste rücken beiseite und machen den Zugang zum Ofen frei. Selma klappt die runde Herdplatte auf dem Ofen hoch, füllt auf die verbliebene Glut im Ofen die Dornenwische, schichtet darauf die in der Sonne des vergangenen Jahres getrockneten Stalldung-Batzen und gießt aus einer Flasche Petroleum darüber. Sie schließt die Herdplatte wieder und stellt einen Doppelstock-Teekessel darauf. Dann öffnet sie die untere Ofentür und bläst in die unter dem Dornengestrüpp noch glimmende Glut. Der Ofen füllt sich mit Knistern, erst zaghaft, dann hemmungslos. Ein prasselndes Feuer-Crescendo füllt den Raum und ergießt sich heiß in kalte Ohren. Das Eisenblech des Kanonenofens glüht in Ofenmitte nach und nach hellrot auf, wohlige Wärme schlägt in gleißende Hitze um, daß einem der Atem stockt. Man hält es in der Hitze direkt am Ofen nicht mehr aus, sie versengt einem unversehens die Kleidung. Die Stühle werden vom Ofen weggerückt. Die großflächigen schafwollgefüllten Sitzkissen entlang der Wände laden zum bequemen Schneidersitz ein. Sie liegen nicht mehr im eisigen Abseits, sie sind eingetaucht in die wohlige Wärme.
Die Eisheiligen draußen scheinen verstummt. Lautlos wirbeln sie einen Derwischreigen hinter den Fensterscheiben, fesseln mit ihrem Tanz meine Blicke. Ich schaue von meinem Fensterplatz aus in das weiße Treiben. Von den Sitzkissen klingen muntere Bauernweisheiten zu mir herüber. Doch sie verblassen im Schneegestöber auf meiner Netzhaut. Ich kann den Blick nicht wenden, gebannt versinke ich im Flockentanz draußen vor dem Fenster. Leicht und turbulent schlüpft er in meinen Kopf, weckt in mir eine Ahnung von Schwerelosigkeit.
Ich stehe auf und wickel mich aus der Wolldecke. Es ist sehr warm geworden. Ich schaue in den Teekessel, doch das Wasser sprudelt noch nicht. Ich reiche den Gästen Zigaretten, und alsbald steigt blauer Dunst von den Sitzkissen auf, verschwindet im abendlichen Dämmerlicht zur Stubendecke. Dort oben flirten die Kristalle des Kronleuchters rot funkelnd mit dem glühenden Ofen. Der Lichtschalter ist tot. Der Sturm muß in den Bergen wieder mal Strommasten flachgelegt haben. Ich nehme die Petroleumlampe aus dem Wandschrank, zünde sie an und hänge sie an die Wand. Jetzt kann 1001 Nacht beginnen. Ich lege noch ein paar Dornenzweige nach und lasse mich dann auf einem noch freien Sitzkissen an der Wand nieder. Behaglich lehne ich mich in die weichen Rückenkissen. In diesem Raum hat die Kälte ihre Aggression verloren.
Der Bauernplausch läßt mir die Ohren klingen. Da hat doch der Mahmut mit der Hasenscharte aus dem Tscherkessen-Dorf oben hinter dem Berggipfel des Karatonuz einen Tonkrug voller alter Goldmünzen auf seinem Acker ausgebuddelt und flink versteckt. Er wurde beim Buddeln aber beobachtet und angezeigt. Nun haben die Gendarmen ihn schon zwei Mal oben vom Berg herunter ins Dorf Tonuz auf die Gendarmerie gebracht und ihn dort über Nacht grün und blau geschlagen, damit er das Gold herausrückt. Denn solch vergrabene Armenier-Schätze gehören dem Staat bzw. ins Museum. Der Mahmut habe also saftig Prügel bekommen. Von dem Gold aber bis heute keine Spur.
Gleich neben dem Fundacker, auf dem Mahmut den Tonkrug ausgegraben haben soll, liegt ein Acker unserer Familie. Auf diesem Acker sitzt gleichsam wie ein erhobener Zeigefinger ein weit in die Hochebene sichtbarer Felsen. Durch Mahmut’s Fund einerseits und andererseits beflügelt durch den selbstredenden Spitzfelsen soll die Armee kurz darauf diesen Acker mit schwerem Gerät auf der Suche nach vergrabenen Schätzen umgebrochen haben. Gefunden hat die Armee wohl nichts. Aber auf dem Acker liegen jetzt Scherben von uralten Tonkrügen herum.
Mustafa fällt ins Gespräch ein. Er hat von Gold geträumt, das unter einer Hausruine vergraben ist. Er hat die Hausruine im Traum ganz deutlich gesehen. Dann hat er sie gesucht und gesucht. Er habe diese Hausruine tatsächlich gefunden. Sie sehe genauso aus, wie die im Traum. Den Schatz habe er leider noch nicht heben können, da eine Schlangensippe in der Ruine sitze. Dies sei auch ein Beweis für die Richtigkeit seines Traumes, denn Schlangen seien ja bekannt als Hüter des Goldes. Der Traum war also ein Fingerzeig Allah’s. Es beginnt eine ernsthafte Diskussion, wie der Schatz zu heben ist – wer macht mit, wie werden die Schlangen überlistet, wie werden unerwünschte Gaffer vermieden ....
Plötzlich öffnet sich die Stubentür. Eine eisige Brise weht von draußen herein. Im Türrahmen steht unter fescher Schiebermütze ein weiter dunkler Mantel auf dünnen Beinen. Begeisterte Willkommensgrüße fordern den Gast aus der Kälte auf, in der guten Stube Platz zu nehmen. Selma huscht hinter dem Gast herein, nimmt ihm den klamm nassen Mantel ab und breitet ihn über einen Stuhl in der Nähe des Ofens. Der Neuankömmling steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein Riechzinken auf dem Rundrücken zieht genüßlich das ihm entgegenschlagende Wohlwollen ein, scheint seinen Rücken noch runder zu spannen. Der Schalk springt ihm aus den Augen, setzt sich in jeden Nacken. Da steht er nun, der drahtige Vagabund, der vor 40 Jahren der reichste Bauer im Dorf war, sich damals in eine reiche Schöne aus dem fernen Malatya Hals über Kopf verliebt hatte und all sein Land verkaufte, um zu seiner auserkorenen Perle nach Malatya zu ziehen. Er verlebte mit seiner Frau glückliche Jahre bis ins hohe Alter. Dann nahm der Tod ihm seine Frau, und ihre Brüder jagten ihn ohne jeden Pfennig aus dem Haus. Er ging. Zunächst in eine Zigarettenfabrik. Er organisierte sich ein Zubrot, indem er 200 g oder auch 200 kg Tabak privat auf dem Schwarzmarkt verhökerte. So genau hat er über das Gewicht des privat verhökerten Tabaks nie Auskunft geben können, denn Tabak sei ja sehr leicht. Und wegen dieser paar Gramm wird er von den Gendarmen der Türkei seit 10 Jahren gesucht. Der Prozeß wurde ihm dazumal ja gemacht. Er sollte einen hohen Geldbetrag als Strafe zahlen oder eine Pritsche in der Haftanstalt belegen. Er beschloß zu zahlen, um dem Staat nicht noch die Kosten für die Pritschenbelegung aufzubürden. Seitdem ist er spurlos verschwunden. Doch manchmal taucht er plötzlich bei Freunden auf. So steht er jetzt neben dem Ofen, schaut schlitzäugig in die Runde, schmunzelt und schiebt seinen rechten Arm bis zum Ellenbogen in die Hosentasche. Er zieht einen warm blinkenden Metalltaler hervor, der sofort von Hand zu Hand geht und anerkennend als Goldtaler bestaunt wird. Mustafa beißt ein Mal auf den Taler, und auch er erkennt ihn dann als echtes Goldstück an. Wir sind also wieder beim Thema. Mustafa’s Traum vom Schatz in der Hausruine lebt erneut auf. Aber wie ist dieser Schatz ohne Aufsehen zu heben? Unser Vagabund durchmißt in mäßigem Wanderschritt einige Mal die Stube, bleibt dann am Ofen stehen und macht plötzlich aus dem Stand eine Drehung um 180 Grad in die Grätsche, so daß seine Jacke auffliegt und beinah das Ofenrohr vom Sockel holt. Er schnipst mit den Fingern, und alle Ohren harren der Worte, die da nicht kommen. Doch dann sprudelt es aus ihm heraus: Kaufen soll Mustafa das Grundstück mit der Ruine, kaufen. Dann mit Hausbau beginnen. Da falle beim Abriß der Ruine die Schatzsuche gar nicht auf. Und die Kauf- bzw. Bauschulden lassen sich dann aus dem Schatz bezahlen. So einfach sei das.
Stimmung kommt auf. Selma serviert Tee. Aus dem kleinen Teekessel füllt sie starken Teesud in die Teegläser, aus dem etwas größeren Kessel füllt sie heißes Wasser auf. Sie stellt die Teegläser auf kleine Beistelltische, die an die Sitzkissen gerückt werden, und reicht den Gästen Würfelzucker. Nur unser Vagabund bleibt inmitten der Stube auf den Beinen. Das Teeglas in der einen Hand, schwenkt er mit der anderen den Teelöffel durch die Rauchschwaden und beschreibt seinen Weg ins Dorf. Eigentlich wollte er schon gestern kommen, erzählt er. Aber zwei Stunden vom Dorf entfernt, etwa in Höhe des Grauen Felsens, traf er auf Hühnerpascha Zeki, der im Dorf gerade 120 Eier verkauft hatte. Von ihm erfuhr er, daß die Gendarmen im Dorf gerade wieder Mal nach ihm suchen. Also änderte er seine Richtung und machte einen Umweg über das Bergdorf Samankaya, da dies im Frühjahr, wenn der Schnee auf den Bergen schmilzt, so im Matsch versinkt, daß es für die fahrbaren Untersätze der Gendarmen nicht passierbar ist. Und als er so über die Hochebene wanderte, was lachte ihn da aus klebrig glitschigem Lehmschlamm an? Ein Goldstück. Das Goldstück, das soeben die Runde gemacht hatte. In dieser Region wurden schon viele alte Münzen und Schmuckstücke gefunden, immer im Frühjahr, wenn das Wasser von den Bergen kommt. Von wo sie aus alten Verstecken herausgespült werden, ist noch ein Rätsel. Ja, und nach Übernachtung bei entfernten Verwandten in Samankaya ist unser Vagabund im Schutz der Eisheiligen einen Tag nach den Gendarmen in unser Dorf gekommen. Nun schlürft er andächtig seinen Tee, und die Bauern im Raum beschließen, ihm auf dem Friedhof außerhalb des Dorfes einen Grabstein mit eingehauenem Namen zu setzen. Bei der nächsten Suchaktion sollen die Gendarmen dort vor vollendete Tatsachen gestellt werden. So können Suche und Flucht endlich ein Ende nehmen, eine arme Seele kann ihre Ruhe finden.
Vom Minarett erschallt das Allah akbar. Die Mä