Inhalt
Wolfsangriffe
Impressum
Warum dieses Buch?
Das Rotkäppchensyndrom
Warum greifen Wölfe nicht an?
Furchtlosigkeit oder Angst – was ist »natürlich«?
Angriffe auf Menschen durch andere Tierarten
Wolfsangriffe in der Geschichte
Probleme bei der Untersuchung historischer Fälle
Berühmte historische Fälle
Wolfsangriffe in der Neuzeit
Tollwut
Beutemotivierte Angriffe
»Testen« von Beute
Verteidigung
Verwechslung/Neugier
Hunde
Futterkonditionierung/Habituierung
Sonderfall Nationalparks / Schutzgebiete
Management von Wölfen und Menschen
Vom Umgang mit wilden Wölfen
Die sieben Stadien eines möglichen Wolfsangriffes auf Menschen
Problem: Wolfshybriden
Wie gefährlich sind Wolfshybriden?
Angriffe durch Zoo- und Gehegewölfe
Ausgebrochene Zoowölfe
Verletzte Wölfe
Wölfe und Nutztiere
Angriffe auf Weidetiere
Der Wirtschaftsfaktor
Herdenschutz
Keine Angst vorm Wolf
Quellenangaben
Danke
Anhang
Wolfsangriffe
Fakt oder Fiktion?
Elli H. Radinger
Impressum
Wolfsangriffe. Fakt oder Fiktion?
Elli H. Radinger
1. Auflage 2004
2. Auflage 2013
3. aktualisierte Auflage 2014
Coverfoto: Jimmy Jones, www.jimmyjonesphotography.com
Umschlaggestaltung: Tanja Stoll
Druckausgabe ISBN 9783738601466
© Elli H. Radinger, Wetzlar, 2014
Der Text dieses Buches und die Fotos sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit schriftlicher Genehmigung des Urhebers; die Verwendung in anderen Medien oder in Seminaren, Vorträgen etc. ist verboten.
Warum dieses Buch?
Seit 1990 beschäftige ich mich mit Wölfen und ihrem Schutz – sowohl als Herausgeberin des Wolf Magazins, als Mitgründerin und langjährige Vorsitzende der »Gesellschaft zum Schutz der Wölfe«, als Autorin von Fachbüchern und besonders als unabhängige Freilandforscherin von wild lebenden Wölfen in den USA. Ich liebe diese Tiere; ein Buch über Wolfsangriffe zu schreiben, scheint da auf den ersten Blick widersprüchlich. Schlage ich damit nicht gerade in die Bresche der Jäger und Geschichtenerzähler? Gebe ich so nicht den Wolfsgegnern Munition gegen den gehassten Vierbeiner?
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil es besonders in der heutigen Zeit wichtig ist, ehrlich und realistisch über den Wolf aufzuklären. Bisher gibt es nur wenige Wolfsexperten, die bereit sind, die Fakten über Wolfsangriffe auf den Tisch zu legen. Und wir, die es tun, gelten als »Nestbeschmutzer«, während die Realität weiter geleugnet und verdreht wird, aus Angst, dass sich die Stimmung gegen den Wolf richtet. Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass Ehrlichkeit der beste Weg ist, Wölfe langfristig zu schützen. Ein Leugnen spielt nur in die Hände der Anti-Wolf-Fraktion, die die Berichte von Wolfsangriffen oder anderen Vorfällen nutzen werden, um zu zeigen, dass wir Wolfsschützer absichtlich die Öffentlichkeit belügen. Die Gegner nutzten die Furcht vor dem Wolf, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Ehrlichkeit und Fakten über bekannte Angriffe, ihre Gründe und wie wir sie vermeiden, sind der beste Weg, dagegen zu kontern. Menschen haben weniger Angst, wenn man ihnen Wissen statt Gerüchte in die Hand gibt.
Deutschland ist wieder Wolfsland. Die Beutegreifer leben inzwischen in vielen Bundesländern: Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt. Hinzu kommen vereinzelte Tiere auf der Wanderschaft, die in Niedersachsen, Hessen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein aufgetaucht sind.
Gleichzeitig werden weiterhin streng geschützte Wölfe widerrechtlich erschossen. Entweder man hat sie mit »wildernden Hunden verwechselt«, man glaubte, ein verletztes Tier »erlösen« zu müssen oder letztendlich mit dem Argument, sie seien »gefährlich« für die Bevölkerung. Unbekannt ist die Zahl der Wölfe, die nach dem Motto »Schießen, Vergraben, Schweigen« verschwinden.
Da nützt es wenig, wenn wir Wolfsschützer immer wieder mit dem gleichen abgedroschenen Spruch kommen, dass noch nie ein gesunder wilder Wolf einen Menschen angegriffen habe, denn dieses Argument lässt sich anhand von Fakten leicht widerlegen. Die Wahrheit ist, dass es durchaus Wolfsangriffe gegeben hat. Wichtig ist jedoch, zu verstehen, warum dies geschehen ist. Weiß man um die Gründe und Umstände, dann erkennt man auch, dass jede Angst vor dem großen Kaniden in den Wäldern und in der Nähe unserer Dörfer unsinnig ist und dass wir sehr gut mit Wölfen leben können.
Ich arbeite seit über 20 Jahren für den Schutz des Wolfes und habe alle Phasen der Furcht und Euphorie erlebt, die 2000 mit der offiziellen Rückkehr der Wölfe nach Deutschland ausbrachen. Erfreulich ist, dass in letzter Zeit eine Ära der Akzeptanz begonnen hat. Früher war es wichtig, überhaupt den Wolf zu schützen, über sein Leben und Verhalten aufzuklären und Druck auf die Regierung auszuüben, damit diese sich für Wölfe einsetzt. Heute hat sich unsere Zielsetzung verändert. Wir versuchen nicht mehr den Wolf zu »retten«, sondern mit ihm zu leben. Wir müssen ihn nicht mehr vor dem Aussterben bewahren, sondern in unsere Landschaft, unsere Heimat integrieren. Dazu bedarf es einer Vielfalt pragmatischer Lösungen auf echte Probleme, dort, wo Wölfe in Konflikt mit Menschen geraten. Es muss nicht jeder den Wolf lieben, aber es wäre ein erster Schritt, wenn wir seine Gegenwart als Teil unserer Landschaft und unseres Lebens akzeptieren.
Darum habe ich dieses Buch geschrieben – als aktiven Beitrag zur Aufklärung und zum Wolfsschutz. »Wolfsangriffe« ist kein wissenschaftliches Fachbuch. Vielmehr versucht es, auf verständliche Weise aufzuklären über die Ungefährlichkeit des Wolfes.
Meine eigenen Erfahrungen mit wild lebenden Wölfen beschränken sich auf über 20 Jahre Freilandbeobachtungen in den USA und hier insbesondere im Yellowstone-Nationalpark (einschließlich mehrerer Nahbegegnungen in bis zu drei Meter Entfernung zu Wölfen). Daher muss ich darauf hinweisen, dass das Verhalten von Wölfen in Nordamerika (speziell in der geschützten Umgebung eines Nationalparks) nur unter Vorbehalt mit dem Verhalten europäischer Populationen vergleichbar ist, denn Europäische Wölfe sind sehr viel scheuer. Ich werde später noch detaillierter darauf eingehen.
Das Rotkäppchensyndrom
Seit Tagen schon hat es nicht mehr aufgehört zu schneien. Ein Blizzard hat das kleine Dorf in Sibiriens Taiga fest im Griff. Bei eisigem Sturm und Minustemperaturen um 40 Grad Celsius können die Bewohner keinen Schritt mehr aus dem Haus machen. Sie schaffen es noch nicht einmal zu den Vorratshäusern, wo sie die magere Ernte der letzten Jahre in tief in die Erde eingegrabenen Räumen aufbewahren. Die Menschen haben Hunger. Aber nicht nur sie.
Draußen hören sie ein Heulen. Zunächst ist es nur ein einzelner Ton, aber in den nächsten Nächten werden es immer mehr – und sie kommen näher. Sobald es dunkel wird, sehen die Dorfbewohner graue Schatten um die Häuser huschen. Gelegentlich blicken glühende Augen durch die Fenster in ihre Stuben hinein. Die Wölfe sind da! Hungrig belagern sie das Dorf ...
Solche oder ähnliche Geschichten können wir auch heute noch lesen – und nicht nur in alten Büchern. Auch manche Jagdzeitschrift lässt gerne das Klischee auferstehen, und am nächtlichen Lagerfeuer wird zum hundertsten Mal die Story erzählt von der russischen Troika, die von einem Rudel glutäugiger, blutrünstiger Wölfe verfolgt wird.
Wölfe wecken schon immer ambivalente Gefühle in uns Menschen. Märchen wie »Rotkäppchen« oder »Der Wolf und die sieben Geißlein« haben uns von Kindesbeinen an das Fürchten gelehrt. Und dennoch sind sie uns so vertraut wie kein anderes Tier, denn ihre domestizierten Brüder und Schwestern leben seit Jahrtausenden gemeinsam mit uns in unseren Familien.
Dank steter Aufklärungsbemühungen gibt es heute zum Glück immer mehr Menschen, die von sich behaupten, Wölfe zu lieben und keine Angst vor ihnen zu haben. Fragt man aber jemanden direkt, ob er denn etwas dagegen hätten, wenn in seinem Stadtwald ein Rudel Wölfe leben würde, dann kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: »Nein! So war das nicht gemeint. Im Stadtwald? Dann können wir ja mit den Kindern dort nicht mehr spazieren gehen!«
Wölfe ja, aber nicht vor der eigenen Haustür. So lautet die Devise.
Die Angst der Menschen vor dem Beutegreifer und insbesondere vor möglichen Angriffen nimmt teilweise bizarre Züge an. In New Mexico, der Heimat des seltenen Mexikanischen Wolfes, stellten die Behörden an Schulbushaltestellen vergitterte Holzverschläge auf, in denen sich die Kinder aufhalten sollten. In Whitehorse, Yukon, eskortierten bewaffnete Eltern ihre Kinder zur Schule. Und in Norwegen wurde der Nachwuchs selbst kürzeste Strecken mit dem Bus zur Schule gefahren.
Die Angst vor dem Wolf war einer der Hauptgründe für die Vernichtung ganzer Populationen – und ist es bis heute noch. Jeder aufgeklärte Mensch weiß, dass Wölfe keine Menschen fressen. Gleichzeitig haben aber die meisten Angst davor, sie in ihrer Nähe zu haben, weil sie fürchten, dass der Wolf vielleicht doch einmal, »wenn er sich bedroht fühlt« oder »wenn er Hunger hat«, sie angreifen könnte. Ist diese Angst berechtigt?
Warum greifen Wölfe nicht an?
Bevor wir uns fragen, ob und warum Wölfe Menschen angreifen, sollten wir uns die wichtigste Frage stellen: Warum greifen sie uns nicht an?
Wenn ich sehe, wie ein Rudel Wölfe einen tonnenschweren kräftigen Elch niederreißt oder ein einzelner Wolf mit Leichtigkeit den Kopf eines Hirschen zerknackt, dann frage ich mich, warum wir, die wir doch so leichte Beute für sie wären, nicht von ihnen angegriffen werden.
Der amerikanische Biologe Douglas Pimlott erklärt das mit dem Respekt des Wolfes vor dem Menschen auf der Grundlage der Körpersprache: »Wölfe haben die instinktive Fähigkeit, Aggression oder Angst zu erkennen, die sich auf unterschwellige Weise durch unser Verhalten oder unsere Taten ausdrücken. Wir bewegen uns bewusst so wie viele Beutegreifer. Selbstbewusst streifen wir durch Wald und Feld, so wie ein Wolf, der auf der Suche nach Nahrung sein Revier durchquert.« Nach Ansicht von Pimlott können unsere Verhaltensmuster den Wölfen zu verstehen geben, dass wir gleichgestellte Jäger sind – nicht Beute.
Der Wolfsforscher Dave Mech sieht einen weiteren Grund für die Vorsicht des Wolfes gegenüber dem Menschen darin, dass Menschen aufrecht gehen, was kein Beutetier des Wolfes tut. Auch stehen Bären manchmal auf ihren Hinterbeinen, und Bären versucht der Wolf möglichst zu meiden.
Einen dritten, wichtigen Faktor führt der kanadische Wolfsforscher Dick Dekker an: die tödliche »Durchschlagskraft« menschlicher Waffen. Dies müssen nicht nur die heutigen Schusswaffen sein. Auch die Speere und Lanzen, die schon unsere Urahnen in der Steinzeit fertigten, sind bei entsprechender Übung erschreckend effiziente Tötungsmittel.
Ein weiterer Grund, warum Wölfe keine Menschen angreifen, könnte in der Jagdmethode der Beutegreifer begründet sein. Im Gegensatz zu Katzen, die sich an ihr Opfer heranschleichen, benötigen Kaniden für die Jagd einen Auslösereiz in Form eines fliehenden Tieres. Erst diese Flucht setzt die Verfolgung durch die Beutegreifer in Gang. Wir Zweibeiner passen einfach nicht in dieses Beuteschema. Dies ist übrigens auch der Erfolg von Lamas als Herdenschutztiere. Auf dieses Thema gehe ich im Kapitel »Wölfe und Nutztiere« noch näher ein.
Die Angst vor uns ist tief in die Gene der Wölfe eingebettet und wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wölfe, die Menschen nicht gemieden haben, sind gestorben. Die Europäischen Wölfe gehören zu den scheuesten Kaniden – gerade, weil sie so viele Jahre verfolgt wurden. Weniger ängstlich sind die nordamerikanischen Wölfe, und von diesen die Arktischen Wölfe, die keine Verfolgung durch den Menschen kennen.
Wilde Wölfe, die Menschen angreifen, sind äußerst selten, und fast immer ist der Mensch selbst der Grund für einen solchen Angriff. Auf diese Gründe werde ich noch im Einzelnen eingehen.
Tatsache ist, dass Canis lupus extrem scheu ist und uns meidet. Wir aber drängen massiv in seinen Lebensraum ein und schränken seine Möglichkeiten ein, Beute zu machen. Stellen Sie sich vor, ein wildfremder Mensch zieht mit seiner kompletten Familie plötzlich in Ihr Haus, plündert Ihren Kühlschrank und macht sich es in Ihren Betten bequem. Was würden Sie tun? Die Toleranz und Anpassungsfähigkeit der Wölfe ist ungeheuer groß. Und es ist erstaunlich, dass es bisher noch nicht zu viel mehr Angriffen auf Menschen gekommen ist. Die Frage ist, wie viel können wir einem wilden Beutegreifer noch zumuten, bevor er anfängt, sich zu wehren?
Furchtlosigkeit oder Angst – was ist »natürlich«?
Für die meisten Menschen sind Wölfe ein Symbol der Wildnis. »Sie gehören nicht in die Zivilisation« heißt es immer wieder. Während viele Wölfe in Kanada, Alaska oder Russland niemals im Leben einen Zweibeiner riechen, hören oder sehen werden, leben die meisten Wölfe dieser Welt in der Nähe von Menschen. Sie passen ihr Verhalten an das Leben mit uns an. In Italien leben sie an der Stadtgrenze von Rom und in Deutschland auf Truppenübungsplätzen. In Spanien oder Rumänien beispielsweise sind sie tagsüber nur selten aktiv und laufen auf der Suche nach Futter nachts durch die Bergdörfer. In Yellowstone, wo die Wölfe von ihren Fans und Fotopaparazzi regelrecht »verfolgt« werden, haben es einige von ihnen aufgegeben, das Fleisch eines Kadavers zu den Welpen zu transportieren, weil sie dabei eine Straße überqueren müssen. Sie legen sich in das hohe Gebüsch und warten, bis die Touristen die Geduld verlieren und weiterfahren. Erst dann machen sie sich auf den Weg zur Höhle. Rumänische Wölfe marschieren nachts durch die Städte – unerkannt von späten Zechern, weil der »Hund« ein Halsband trägt (Radiohalsband).
Selbst innerhalb einer Wolfspopulation variiert die Vorsicht vor Menschen von Wolf zu Wolf. Die Yellowstone-Leitwölfin der Lamars marschierte ungerührt an eine Gruppe Fotografen vorbei und ignorierte sie vollständig. Ihre Schwester dagegen geriet beim Anblick der Zweibeiner in Panik und wagte sich erst nachts über die Straße.
Das Titelbild des Buches zeigt die Leitwölfin der Lamar-Canyon-Wolfsfamilie in Yellowstone. Während wir mit unseren Spektiven die Wölfe suchten, lief sie völlig entspannt hinter uns vorbei, ohne dass wir sie bemerkten.
Die Frage, ob die Angst des Wolfes vor dem Menschen ererbt oder erlernt ist, ist umstritten. Manche glauben, dass die Tiere von Natur aus jeden Zweibeiner fürchten, weil sie über Hunderte Jahre von ihm gejagt und verfolgt wurden.
Dem widersprechen viele Experten. Wölfe sind hochintelligente und anpassungsfähige Tiere. Viel von ihrem Verhalten wird nicht durch Instinkt geformt, sondern durch soziales und individuelles Lernen. Sie beobachten genau, sind flexibel und ändern blitzschnell ihr Verhalten, wenn sich ihr Umfeld verändert.
Mutige oder dreiste Tiere gibt es überall. Sie sind oft die Ersten, deren Begegnung mit uns tödlich endet. Leben sie in einem geschützten Gebiet, können sie überleben, dort haben sie im Allgemeinen weniger Scheu vor Menschen als dort, wo sie gejagt werden. Dennoch gilt das nicht für alle. So meiden die Wölfe auf der Isle Royale (Michigan) immer noch Menschen, obwohl sie seit mehr als 50 Jahren unter strengem Schutz stehen.
Es ist kaum möglich, eine klare Linie zwischen »natürlichem« und »unnatürlichem«, zwischen »wildem« und »habituiertem« Verhalten zu ziehen, denn jeder individuelle Wolf und jedes individuelle Rudel reagiert anders.
Bei Wölfen in stark frequentierten Nationalparks kann man von einem hohen Grad an Toleranz gegenüber Menschen ausgehen. Das Lamar Canyon-Rudel in Yellowstones Lamar Valley lebte ein ganz normales »Wolfsleben« vor der Kulisse einer riesigen Menschenmenge. Die Tiere jagten, paarten sich, zogen ihren Nachwuchs auf und verhielten sich wie ganz normale wilde Wölfe, während sie gleichzeitig die Touristen, die sie das ganze Jahr hindurch beobachteten, zur Kenntnis nahmen und ignorierten. Oft sah ich die Leitwölfin gelassen die Straße überqueren und auf die ängstlicheren Familienmitglieder warten, während nur wenige Meter von ihr entfernt Hunderte begeisterte Fotografen die Fotos ihres Lebens machten. Als im Herbst 2012 die Wolfsjagd an den Grenzen zu Yellowstone begann, waren es die furchtlosen Wölfe, die zuerst starben – auch die Lamar Leitwölfin. Ihre Familie hat sich für mehrere Monate ins Hinterland zurückgezogen, ist aber inzwischen wieder ins Lamar Valley zurückgekehrt und lebt erneut mit dem Touristentrubel.
Wölfe zeigen im Allgemeinen wenig Angst vor anderen Tierarten. Warum sollten sie sich also Menschen gegenüber anders verhalten? Die hochintelligenten Tiere erkennen schnell, wenn sie nicht gejagt oder verfolgt werden, und kehren sofort zu ihrem »natürlichen« Verhalten zurück. Daraus lässt sich schließen, dass bei Wölfen Furchtlosigkeit natürlich ist und nicht Angst.
Angriffe auf Menschen durch andere Tierarten
Um Wolfsangriffe in einen Zusammenhang zu setzen, müssen wir sie mit Angriffen anderer großer Wildtiere auf Menschen vergleichen.
So wurden zum Beispiel zwischen 1890 und 2011 in Nordamerika rund 20 Menschen von Berglöwen getötet. Im gesamten 20. Jahrhundert starben 128 Menschen durch Bären, 56 davon allein in den letzten zwei Jahrzehnten, was ein Hinweis darauf ist, dass der Mensch immer mehr in die Gebiete wilder Tiere eindringt (beispielsweise durch Besiedlung). Dennoch sind meine Chancen, von einem Serienkiller in der Großstadt ermordet zu werden, 60.000fach höher, als durch einen Bären zu sterben.
Von 1980 bis 2002 besuchten über 62 Millionen Menschen den Yellowstone-Nationalpark. 32 von ihnen wurden von Bären angegriffen. Die Chance, hier von einem Bären verletzt zu werden, stehen also 1:1.9 Mio.
Außerhalb von Nordamerika fielen im 20. Jahrhundert 6.297 Menschen Tigern, Löwen, Leoparden und Bären zum Opfer.
In Tansania töten Löwen und Elefanten jeweils an die 100 Menschen jährlich.
Aber nicht nur Fleischfresser greifen Menschen an. Andere Wildtierarten scheinen viel gefährlicher: Durchschnittlich werden in den USA jährlich 27.000 Menschen von Nagetieren gebissen und 500 Menschen von Füchsen. Es wird geschätzt, dass jährlich 94.000 Menschen an Schlangenbissen sterben. In den USA wurden zwischen 2003 und 2008 21 Menschen von Rindern getötet. In Deutschland übrigens in den ersten 10 Monaten des Jahres 2014 schon vier. Winzige Zecken sind die Ursache dafür, dass in Deutschland allein 2009 798.400 Menschen an Borreliose erkrankten. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge verursachen Jahr für Jahr Bisse streunender Hunde rund 40.000 bis 70.000 tödliche Tollwutinfektionen. Und Millionen Menschen werden jährlich von ihren eigenen Haushunden gebissen.
Wenn man die Häufigkeit von Wolfsangriffen auf Menschen mit der von anderen Tierarten vergleicht, wird deutlich, dass Wölfe für ihre Größe und ihr Tötungspotenzial die am wenigsten gefährliche Wildtierart sind.
Wolfsangriffe in der Geschichte
»Es gibt keinen dokumentierten Fall, in dem ein gesunder, wilder Wolf einen Menschen angegriffen hat.« Wenn ich für jedes Mal, wo ich diesen Satz gehört oder ihn auch selber ausgesprochen habe, einen Euro bekommen hätte, bräuchte ich mir um meine Altersversorgung keine Gedanken mehr zu machen.
Dieser Satz ist falsch! Tatsache ist, dass es bis vor Kurzem noch keine einzige Studie gab, die Angriffe von Wölfen auf Menschen genauer untersucht hat. Erst in den Jahren 2000 und 2002 kamen zwei umfangreiche Studien heraus, die sich mit Wolfsangriffen beschäftigen und auf die ich im Folgenden noch öfter eingehen werde:
Die Angst vor dem Wolf war in den vergangenen Jahrhunderten einer der wichtigsten Gründe für die Vernichtung von Wölfen weltweit. Dagegen betrachteten andere Kulturen, wie Indianer oder Inuit, den Wolf nie als gefährlich, im Gegenteil, er war ihr Totemtier, und sie verehrten ihn.