Herbert Berchtold · Die Rezeptionistinnen
DIE
REZEPTIONISTINNEN
Ein Psycho-Krimi
Illustriert von Johann Ulrich
Dank an die Sponsoren
Roland Kaufmann, Logotype, 8272 Ermatingen
Johann Ulrich, Illustrator, 8575 Bürglen
© 2014 by Neptun Verlag AG
Waldeggstrasse 82, CH-3800 Interlaken
neptun@rikiverlag.ch · www.neptunart.ch
e-Book: mbassador GmbH, Luzern
Umschlagbild: Evelin Ketterer, 8280 Kreuzlingen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-85820-299-4
eISBN 978-3-85820-402-8
Meinen Enkelinnen
Larissa, Celina, Alessia und Flora
gewidmet, verbunden
mit dem Wunsch auf eine
glückliche, friedvolle Zukunft
Pessimisten schwärzen
nebst der Seele auch die Herzen.
Die besten Ärzte, die ich traf,
sind gratis: Es sind Zeit und Schlaf!
Christoph Sutter
Eine Art Prolog
Wie konnte einem ausgewiesenen Rechtsanwalt und einem anerkannten Psychiater so etwas passieren? Ein offensichtlich nicht therapierbarer Vergewaltiger wird ohne sorgfältige Abklärung in den offenen Vollzug überwiesen. Politiker jeglicher Couleur und die Medien nahmen das Thema engagiert und ausführlich auf und auch die Tagesschau war mit ausführlichen Berichten und heftigen Kommentaren am Bildschirm präsent. Das Fernsehen plante bereits Sondersendungen zum aktuellen Thema ‚Wegsperren oder Verwahren’.
Was war passiert?
H.B. ist aus der Psychiatrischen Klinik Bergholz in Zürich, wo er zur Therapie untergebracht war, entwichen. Seine Therapeutin war mit ihm unterwegs in die Therapiestunde, aber in der Reithalle sind sie nie angekommen. H.B. nutzte eine einsame Stelle kurz vor dem Ziel, schlug die wehrlose Begleiterin mit einem Faustschlag nie-der und machte sich aus dem Staub. Ein älterer Herr hat die Tat beobachtet, schaffte aber die Verfolgung nicht. Der Täter ist wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung in drei Fällen (in einem Fall betraf es sogar eine Minderjährige) rechtskräftig verurteilt worden. H.B. hat eine unrühmliche Vergangenheit. Beziehungsprobleme, Diebstahl, Enkeltricks – unter anderem hat er seine Position in der Personalabteilung eines Einkaufzentrums dazu benutzt, Bewerberinnen gegen Sex einen Job im Betrieb zu versprechen. Oft kam die Masche an, denn die Frauen, die darauf hereinfielen und keine Anstellung bekamen, schämten sich, Anzeige zu erstatten.
Dr. Kurt Nerlinger, Chefarzt der Klinik Bergholz, nahm nur zögernd und sichtbar ungern zum Vorfall Stellung:
H.B. wurde uns, nach drei Jahren klaglos abgesessener Haftstrafe, vor vierzehn Monaten zur Therapie in der geschlossenen Abteilung zugewiesen. Dies auf richterlichen Entscheid hin. Wir stuften den Mann als Soziopathe ein, hart an der Grenze zur Psychose. In unserem Sprachgebrauch nennt man das Analgesie, und meint damit einen genetischen Fehler, bei dem verschiedene Transmitter (Reizübertragungen zuständiger Substanzen im Nervensystem) nicht so funktionieren wie sie sollten. Wir haben den aktuellen Zustand sorgfältig analysiert und den Patientenals schwer therapierbar beurteilt. Besonders auch wegen der hohen Rückfallwahrscheinlichkeit haben wir für den Verbleib in der geschlossenen Abteilung plädiert. Trotz bisher eher dürftigen therapeutischen Erfolgen, beurteilte ein Psychiater den Verbleib in der geschlossene Abteilung als nicht mehr gegeben und ein Rechtsanwalt setzte die Überweisung in die offene Abteilung durch. Unsere Proteste und Einwände halfen nicht.
Was Dr. Nerlinger nicht sagte, aber im neuesten Klinikbericht steht:
Hannes Barth wähnt sich dauernd verfolgt. In der Klinik fühlt er sich zwar überwacht, aber vor der Justiz sicher. Der Patient hat vor einigen Monaten eine Reihe von abstrusen Beziehungsideen entwickelt. Sie sind, nach seinen Vorstellungen, natürlich alle gegen seine Person, auf eine psychische und physische Vernichtung ausgerichtet. Die Wahnvorstellungen von vermeintlich auf ihn gerichteten Überwachungsapparaten lässt die Diagnose einer beginnenden Schizophrenie zu. Da dieses Erscheinungsbild akut aufgetreten ist, lässt sich keine günstige Prognose mehr stellen. Es wird angeordnet, dass der Patient regelmäßig, auch außerhalb der ordentlichen Kontroll-Maßnahmen, von Spezialisten betreut und regelmäßig getestet wird.
Der verantwortliche Psychiater war zu einer Stellungnahme nicht bereit. Er liesst ausrichten, dass er den Patienten erst seit knapp sechs Monaten betreut und ihn als sehr gut therapierbar, äußerst hilfsbereit, rechtschaffen und sehr gut integriert einstuft. Eine Wiederholungstat mutet er ihm absolut nicht zu.
Der Rechtsanwalt nahm zugunsten seines Mandanten Stellung, warf der Klinik mangelnde Informationssorgfalt, Fehler in der internen Beurteilung und Betreuung vor. Das Personal sei zu wenig professionell geschult und die Aufsicht mangelhaft oder oft gar nicht existent. Abhauen sei für einen Insassen viel zu leicht möglich. Geradezu als fahrlässig einzuordnen ist die folgenschwere Anordnung, den Patienten allein mit einer jungen Therapeutin zur Reithalle gehen zu lassen.
Die Polizei fahndet mit einem Großaufgebot nach dem Entwichenen und bittet gleichzeitig die Bevölkerung um Hinweise. Grenzübergänge, Flughäfen und Bahnhöfe unterstehen besonde-rer Aufmerksamkeit. Man will unter allen Umständen eine Wiederholungstat verhindern und H.B. möglichst schnell dingfest machen. Natürlich ist er auch über Interpol zur Fahndung ausgeschrieben.
Der Einsatz-Leiter bat in einem Gespräch den persönlichen Betreuer von Hannes Barth um eine Stellungnahme. Seine Einschätzungen geben zu großer Sorge Anlass. Im Vorfeld hat er eine Kollegin, die H.B. stellvertretend hätte betreuen sollen, hinterlistig, unter Vorgabe von Bauchkrämpfen und gespielten Hustenanfällen, zur medizinischen Hilfeleistung gezwungen – mit welchen Absichten auch immer. Pflegepersonal behandelte er ruppig und unfreundlich. H.B. bemängelte ständig die Verpflegung, die Unterkunft und die mangelnde Rücksichtnahme auf seine labile Gesundheit.
Nach seiner Ansicht gehört er in ein Sanatorium mit vier Sternen.
Bei der Polizei laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Die Bevölkerung ist sensibilisiert und auch eine gewisse Angst, aber auch Wut und Unverständnis macht sich breit. Man hofft, dass der Flüchtige schnell wieder in Gewahrsam gebracht und diesmal korrekt verwahrt wird.
Wie kann man künftig solche Fehlleistungen vermeiden und die zuständigen Behörden zu mehr Sorgfalt zwingen?
1
Wie zerbrechlich ist der Schutz, der uns vor dem psychischen Zusammenbruch bewahrt? Niemand weiß wie viel Druck der Mensch überhaupt aushalten kann. Ist es nicht nur ein ganz kleiner Schritt bis man nachgibt – vielleicht gar nachgeben muss? Wir wollen den eigenen, bequemeren Weg gehen, verpassen dabei aber die sich bietenden guten Gelegenheiten, lassen uns immer wieder fremd bestimmen und vergessen, das echte Leben zu leben.
Lässt sich auch Vera Gander zu sehr fremd bestimmen?
Vera hat lange geschlafen, es war ja schließlich auch Sonntag. Aber immer, wenn sie lange schläft, belasten sie danach unangenehme (zum Glück nur kurzfristige), Persönlichkeitsprobleme und es verfolgen sie schwer erklärbare Ereignisse aus Träumen, die sie zu deuten versucht – aber wer schafft es schon, Träume vernünftig und umsetzbar zu deuten.
Seit Monaten trägt sie sich mit dem Gedanken, wegen den steigenden Belastungen und den vielen kleinen und unnötigen rechtlichen Auseinandersetzungen von geltungsbedürftigen Menschen, den Arbeitsplatz bei Rechtsanwalt Dr. Hans Wunderlin in Zürich, aufzugeben.
Sie ist dort längst nicht mehr nur Schreibkraft. Auch ohne Jus-Studium wurde sie immer wieder in Problemlösungen miteinbezogen. Aktuell beschäftigt sie schon wieder ein Nachbarstreit. Auf dieses Thema war sie beinahe schon spezialisiert.
Kaum zu glauben, dass heutzutage jemand ohne Baubewilligung, frischfröhlich größere Umbauten vornimmt. Und, darauf hingewiesen, erklärt: Wir machen was wir wollen und das geht niemanden was an. Wenn dazu die direkt betroffene Nachbarin über siebzig Jahre alt und alleinstehend ist, kann man es ja mal versuchen. Anwaltsfutter wird es dann, wenn die Gemeinde zugunsten des Bauherrn beide Augen zudrückt. Rita Zimbase fiel aus allen Wolken, als sogar ihre Pflanzen auf der Grenze und ein geliebter Baum auf ihrem Land beschnitten wurden. Bei Vera war Rita aber gut aufgehoben und der vom Bauherr bevollmächtigte Ulli Zitrini verstrickte sich immer mehr in Widersprüche und begann mit beleidigenden Briefen und Verleumdungen sein Unwesen zu treiben. Genau solche Unfreundlichkeiten sind es, die Vera immer mehr am Job zweifeln lassen.
Privat läuft es Vera auch nicht gerade prächtig. Funkstille mit Franz, ihrem Freund, den sie erneut beim Fremdgehen ertappte, und aus diesem Grund Schluss gemacht hatte. Damit endete eine lange Freundschaft, die streng genommen bereits im Kindergarten begann. Franz war eine emotional sehr instabile Persönlichkeit mit narzisstischen Tendenzen. An den disharmonischen sexuellen Störungen hat sich Vera auch nicht mehr länger quälen wollen.
Zudem hat Mutter Romi zunehmend Probleme mit ihrem Gatten. Der Außendienstmann scheint unter der Last seiner vielfältigen, selbst aufgebürdeten Verantwortungen langsam zusammenzubrechen. Natürlich findet man für Freiwilligenarbeit kaum mehr geeignete Leute. Aber dann gleich alle Anfragen annehmen … Er nimmt heimlich Stimulanzien aller Art und versucht, so ungehindert weiter arbeiten und funktionieren zu können.
Wie lange kann das noch gut gehen?
Vera fühlt sich zunehmend unglücklicher und gesundheitlich angeschlagen. Soll sie noch ein Burn-out riskieren? Leichte Depressionen plagen sie schon seit längerem. Sie fühlt sich taub in der Seele. Zum Selbstschutz suchte sie Hilfe in der Literatur und holte gute Ratschläge bei Freundinnen und Kollegen.
Nach nutzlosen Diskussionen mit Hans Wunderlin über Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitverkürzungen, flexiblere Arbeitszeiten und neue Aufgabenzuordnungen stand für Vera fest: Neuen Arbeitsplatz suchen. Als eine Stelle als Rezeptionistin in einer Psychiatrischen Klinik in Bern ausgeschrieben war, empfand sie dies als Chance und bewarb sich.
Überraschend schnell kam eine positive Antwort aus der Bundesstadt, mit einem Terminvorschlag für ein Vorstellungsgespräch in der Klinik Waldrain bei Bern. Von Zürich kommend, wollte sie sich dort als Rezeptionistin vorstellen. Doch bereits am Wohnort begannen die Probleme. Der außergewöhnlich heftige Schneefall legte auch die Strassenbahn lahm, die Vera zur Fahrt auf den Bahnhof nutzen wollte.
Jetzt galt es, möglichst schnell eine brauchbare Lösung zu finden um überhaupt noch eine Chance zu haben, zeitgerecht nach Bern zu kommen. Unbedingte Pünktlichkeit war angesagt. Niemals darf man zu einem Vorstellungsgespräch – dazu noch in einer Psychiatrischen Klinik – zu spät kommen. Die mahnenden Worte der Mutter im Hinterkopf und das vergebliche Warten an der Haltestelle brachten Vera zur Verzweiflung. Zu viel Zeit für das Make-up verschwendet und dazu noch zweimal die Klamotten gewechselt. Schließlich will man ja dem Chefarzt Eindruck machen und gefallen. Nun noch solcherlei Unbill. Bei diesen Verhältnissen ein Taxi zu bemühen, wäre wohl auch nicht Erfolg versprechend. Also blieb der Versuch, per Handy den Termin zu verschieben. Davon wollte die aufgebracht reagierende Sekretärin, oder war es gar Frau Direktor, in Bern jedoch nichts wissen. Kommen sie am Nachmittag oder verzichten sie gleich auf die Stelle. Wir haben genug Anmeldungen.
Das war Klartext.
Um 14.02 bestand eine weitere Möglichkeit, im Schnellzug nach Bern zu gelangen. Vera nahm sie wahr und beschloss, den Weg zum Bahnhof mühsam zu Fuß zu bewältigen. Mit einer Fahrkarte 2. Klasse in der Tasche bestieg sie den zweithintersten Wagen. Vera fuhr oft mit dem Zug, sie besaß weder ein Auto, noch hatte sie Lust, den Führerschein zu erwerben. Sie bevorzugte das bequeme, staufreie Reisen mit dem Zug, wenngleich sie sich oft darüber ärgerte, mit Schlägertypen oder Anmacher konfrontiert zu werden.
Die attraktive, schlanke Blondine ist mit ihren 24 Jahren ja auch im begehrten Alter und ihr extrovertiertes Auftreten erleichtert jedem Burschen die Kontaktaufnahme erheblich. Schon als Teenager zählte sie zu den begehrten Mädchen. Zudem waren ihre schulischen Leistungen so gut, dass sie problemlos die Matura schaffte. Zu einem Studium der Jurisprudenz konnte man sie jedoch nicht überzeugen. Immerhin wurde Vera zu einer kompetenten Sekretärin eines bekannten Rechtsanwaltes.
So war es dann auch an diesem besagten Montagnachmittag im Schnellzug nach Bern. Vorerst blieb das Abteil ungewohnt leer. Vera war gewohnt, dass besonders die Männerwelt sich gerne zu ihr hinsetzte. Lange dauerte die Einsamkeit, die ihr heute allerdings von der Stimmung her eher zugesagt hätte, nicht. Zwei junge Angebertypen (so schien es Vera wenigstens), machten es sich im Nebenabteil bequem. Junge Männer, die es im Geschäftsleben scheinbar doch schon zu etwas gebracht hatten.
Vera versuchte sich vorerst mal hinter einer liegengebliebenen Zeitung zu verschanzen. Ein sicherer Ort um das Gespräch der beiden unbemerkt mithören zu können. Von untauglichen Vorgesetzten, mühsamen Sekretärinnen und von Problemen mit neuen Mitarbeiterinnen war die Rede. Träume von Liebesnächten unter Palmen am Sandstrand könnten wahr werden, wenn nun endlich ihre neue Haarpflege-Produktelinie für die anspruchsvolle Dame am Markt eingeführt würde und erfolreich Fuß fassen könnte.
Als Marketingleiter einer Großfirma für Damenunterwäsche konnte man Markus bezüglich den gehobenen Ansprüchen der Damenwelt nun wirklich nichts vormachen. Der Chemiker Patrick, als Produkteplaner und Verantwortlicher für die Produktestandards in einer Shampoofabrik tätig, hat längst die richtigen wohlriechenden Essenzen zu einem brauchbaren Ganzen zusammengestellt. Trotz dem Hang zum Angeben, ein harmonierendes Team, stellte Vera fest. Sie wusste die Vornamen und die Berufe und der Zug hatte noch nicht einmal Olten erreicht.
Unerwartet schnell endete die Gemütlichkeit.
„Entschuldigung Madame, dass ich beim Lesen störe”, suchte Patrick Kontakt zu Vera, „darf ich Sie bitte etwas fragen?“
Gefasst auf eine möglicherweise unangebrachte, oder gar unanständige Frage gab Vera freundlich, aber bestimmt zur Antwort: „Ja bitte, wenn Ihr Anliegen für mich überhaupt lösbar ist.“
„Das wäre es sicher,“ fuhr Patrick, erleichtert über den funktionierenden Kontakt, fort, „aber lassen Sie sich doch kurz über unser Anliegen informieren. Wir suchen einerseits einen einprägsamen Namen für unsere in der Aufbauphase stehende neue Haarpflege-Produktelinie für die anspruchsvolle Dame und dazu eine geeignete Testperson für die Einführungsphase. Wir glauben, Sie würden sich dazu sehr gut eignen. Ihre Dienste würden wir selbstverständlich erfolgsbezogen honorieren”.
„Was soll es denn für eine Produktelinie werden?”, warf Vera ein, überrascht, dass es sich für einmal nicht um biedere Anmache handelt, sondern scheinbar um ein echtes Interesse an ihrer Person. Trotz, oder wohl gerade wegen dem reizvollen Thema, stellte sie sich absichtlich schüchtern und unbeholfen an. „Ich bin sehr ausgebucht und meine Freizeit ist auch nicht gerade reichlich bemessen. Dazu treibe ich intensiv Sport und betreue meine kranke Mutter” faselte sie daher, hoffend, dass die beiden Herren weiter insistieren würden.
Das tat Markus, der sich nun ebenfalls am Gespräch beteiligen wollte, auch umgehend: „Sie betreiben intensiv Sport, meine ich gehört zu haben. Wenn ich es richtig beurteile, könnten Sie eine sehr gut klassierte Tennisspielerin sein”.
„Wie kommt man denn auf solch ein Urteil? – Sie haben natürlich völlig richtig geraten. Ich bin R1 klassiert (mit N-Resultaten) und spiele mit dem Grasshopper-Club Interclub. Ich habe als junges Mädchen, mit meinem Vater als Trainer, auch schon Gedanken an eine Profikarriere verschwendet – aber dann fehlte der Familie das Geld und mir die Geduld zum Durchhalten.”