Urs Berner · Fussfassen schmerzt
Fussfassen schmerzt
Roman
© 2012 by Neptun Verlag AG
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ISBN 978-3-858520-305-2
eISBN 978-3-85820-406-6
Auch eine Reise über tausend Meilen
beginnt mit einem Schritt.
Buddhistische Weisheit
Prolog
Manuela Posada, eine junge Kolumbianerin, lernt fleissig Deutsch in Zürich. Sie ist eine der Lebhaftesten und Fantasievollsten im Unterricht. Eines Morgens fehlt sie. Auch an den folgenden Tagen bleibt ihr Platz im Klassenzimmer leer. Was ist passiert? Hat sie untertauchen müssen? Ist ihr ein Leid geschehen? Hat ihr jemand etwas angetan? Ihr mächtiger, einflussreicher, früherer Geliebter, den sie verlassen hatte? Ihr eifersüchtiger Ehemann? Ihr Bruder, in dessen Haus auf der Insel Providencia sie eine Zeitlang gelebt hatte? Was haben sie mit ihrem Verschwinden zu tun? Was weiss der Besenzauberer, der Dinge sehen kann, die sonst niemand sieht?
Fragen über Fragen für ihren Deutschlehrer Arturo Amon Ammann. Sie lassen ihm keine Ruhe. Arturo macht sich auf den Weg, um Manuela zu finden. Aus einem Weg werden viele Wege. Die Wahrheit über sie entpuppt sich als eine Wahrheit, hinter der sich nochmals eine andere verbirgt.
Eins
Manuela würde Haifisch essen. Sie war nicht auf der Insel aufgewachsen. Einheimische assen keinen Hai. Niemals. Sein Fleisch, sagten sie, sei schwarz, Fleisch aus der Tiefe. Sie fürchteten sich, es sich einzuverleiben. Es würde in ihnen rumoren, sie hätten keine Ruhe mehr. Sie würden aus ihren kleinen Booten geworfen, glaubten sie. Wie ferngesteuert schwämmen sie dann aus der Bucht aufs offene Meer. One way.
Manuela war auf dem Festland gross geworden. In Cartagena de Indias, der kolumbianischen Stadt am Karibischen Meer, in der es viele Häuser mit üppigen Holzbalkonen gab. Spanische Kolonialisten waren früher eine lange Zeit dort gewesen, hatten schöne Häuser gebaut und getötet. In dieser Stadt hatte sie die Schulen besucht. Bis zu einem Abschluss im College. Sie hatte bei ihrer zwanzig Jahre älteren, verheirateten Schwester Estela gelebt in einem gesichtslosen Randquartier, wo es ein Fussballfeld gab. Die Schwester hatte die Rolle ihrer Mutter übernommen und sie neben ihren eigenen zwei Kindern grossgezogen.
Ihren Vater hatte sie nicht gekannt. Er hatte im Hafen von Cartagena de Indias gearbeitet und war vor ihrer Geburt davongelaufen. „Hund” hatte ihn Estela genannt. Solche Hunde laufen einem eines Tages zu, und dann laufen sie einem irgendwann wieder davon. Zum Wildern. Du hörst nie mehr von ihnen. Auch kein Bellen. Bellen konnte er gut. Deine Mutter liebte sein Bellen, hatte ihr Estela erzählt.
Sie hatte sich als Mädchen ausgemalt, wie das klingen musste: Schaurig-schön. Wenn bei Vollmond die Hunde im Quartier heulten, dachte sie immer an ihren Vater, der davongelaufen war vor ihrer Geburt.
An ihre Mutter, die zwei Jahre nach der Geburt an Dengue-Fieber gestorben war, hatte sie nur eine verschwommene Erinnerung.
Sie war das jüngste, Estela das älteste von sechs Kindern. Ihre Geschwister wohnten verstreut. In Nordamerika. In Kanada. Ihr Bruder Alvaro, der Zweitjüngste, zwei Jahre älter als sie, lebte auf der kleinen Insel Providencia. Sie hatte ihn schon oft besucht. Alvaro war ihr Lieblingsbruder, Providencia ihre Lieblingsinsel. Sie hatte dort ihre Plätze, an denen sie sich für ihr Leben gern aufhielt. Kleine Verstecke, Unterschlüpfe, Blattdächer, Hochsitze, Astgabeln. Vergessene Ecken. Eine befand sich im Südwesten der Insel am Ende der Mangrovenbucht. Beim Felsbrocken, wo selten Touristen hinkamen.
Da stand sie jetzt bis zum Bauch mutterseelenallein im warmen Wasser. Diesmal war sie nicht nur zu Besuch gekommen, diesmal würde sie bleiben. Sie hatte das Gefühl, die Insel gehöre ihr. Ihr und ihrem Bruder. Kein Wind ging an diesem Nachmittag. Sie setzte sich wie in eine riesige Badewanne. Sie klatschte mit flachen Händen aufs spiegelglatte Wasser. Dann wieder fächelte sie sich Wellen zu.
Dem offenen Meer den Rücken zugekehrt, liess sie ihren Blick über die Bucht schweifen. Brauner Sandstrand. Drei Imbissbuden, die am Mittag frischen, auf offenem Feuer gebratenen Fisch anboten. An Holztischen unter Kokospalmen. Dahinter die Mangroven. Am andern Ende der Bucht einige Häuser. Die beiden zweistöckigen Hotels, das Wave und das Palm, nah am Wasser, daneben das Haus des Bauern. Sie wusste, dass Faustino um diese Zeit in seiner Hängematte lag. Und dass sein Pfau um den schnarchenden Bauern herumstolzierte. Sie sah den letzten Abschnitt der Strasse, die schnurgerade ans Wasser führte. Kein Mensch darauf, aber ein rennendes Schwein, aufs Meer zu. Ein grosser Vogel, der über dem Schwein kreiste. Der über die Mangroven flog und höher über grüne Hänge, Dickicht, Buschwald. Bis zum Round Hill, wo die Mangobäume wuchsen. Dann vor El Pico, dem höchsten Berg der Insel, verschwand, wie weggezaubert aus ihrem Blickfeld.
Sie tauchte unter, hielts lange aus, tauchte auf, Wasser von den Lippen blasend und nach Luft schnappend. Nichts hatte sich verändert. Sie ging weg, sie kam zurück, auf Providencia blieb alles gleich. Es wurden keine Hotelkästen gebaut. Bauer Faustino hatte noch immer seine Kühe, mal zwei weniger, mal zwei mehr, die unter den Mangobäumen auf dem Round Hill grasten. Das Wasser war immer gleich warm. Die Badewanne schön voll. Sie planschte friedlich, mutterseelenallein.
Aber dann wurde sie aufgeschreckt. Ein Dröhnen hinter ihr. Es konnte keines der grossen Schiffe sein, die manchmal draussen vorüberfuhren. Sie drehte sich um und blickte hinaus. Um die Landzunge bog eine Motorjacht, nahm Kurs auf sie zu. Auf einmal dieses Dröhnen in der Badewanne, ein dumpfes Grollen, das anschwoll, dann schwenkte die Jacht ab und ankerte am anderen Ende der Bucht. Ein Mann sprang ins Wasser, watete ans Ufer, und der Bauer Faustino kam hinter seinem Haus hervor gerannt. Er eilte auf den Holzschuppen zu, in dem er die Benzinfässer lagerte, und zog einen Plastikschlauch bis ans Ufer, wo er ihn dem Mann übergab, der ihn weiterzog bis zur Jacht.
Diese wurde aufgetankt.
Sie hatte schon beobachtet, dass Fischer mit Kanistern Benzin bei Faustino holten. Das war ihr vertraut. Aber das hier? Dieses schnittige, gestylte, dröhnende Ungetüm in der Badewanne? Das war neu. Auf Deck stand ein Mann, in Weiss gekleidet, und blickte durch ein Fernglas. Dann setzte er es ab. Er fuchtelte mit den Armen. Es sah wie ein Winken aus. Ein Herbeiwinken. Sie tauchte unter.
Nach dem College hatte Manuela Posada in New York drei Monate lang als Kellnerin geschuftet und Geld gespart und Englisch gelernt. Es war ein Restaurant, in dem viele Nachkommen von ehemaligen Immigranten verkehrten. Es war hart, aber nicht die Arbeit selbst, das Drumherum war hart, besonders am Anfang, als sie noch keine Erfahrung hatte. Männer, die sie immer wieder in ein kurzes Gespräch verwickelten, die mehr von ihr wollten als Bier, Fleisch, Pommes und Bohnen. Sie waren nie allein, sie kamen in kleinen Rudeln, sie lachten viel. Und einer sprach sie dann an. Es fing immer lustig an, und irgendwie waren sie rührend wie die Jungs auf dem Fussballfeld bei ihrer Schwester Estela in Cartagena de Indias. Sie liess sich auf ein Gespräch ein. Ihre hohe, aber trotzdem sanfte, einschmeichelnde Stimme gefiel den Männern. Einer sagte: Hallo, glänzend schöne Kakaobohne. Und alle lachten. Auch sie lachte. Sie schwärmten von ihrer glatten Haut, dem bronzenen Schimmer. Ihren grossen Augen. Mit ihrer Augensprache liess sich Trinkgeld machen. Aber jetzt lachten auch ihre Augen nicht mehr. Einer drückte sein Bein an ihr Bein, sie wich aus und gab den amerikanischen Schwärmern auf Spanisch zurück: Hola libertinos, que hay!
Das kleine Rudel verstand Fussball. Okay, rief einer entzückt, wir sind die Liberos, wir starten einen Angriff auf dein Goal.
Als sie das Fleisch und die Bohnen brachte, wurde sie als Schokolade begrüsst. Wie ist deine Füllung?
Sie antwortete nicht. Sie stellte das Zeug hart auf den Tisch. Im Rudel kippte die Stimmung. Einer knurrte. Noch so jung und schon so alte Kochschokolade. Hat viel zu lang im Silberpapier gelegen. Hab viel lieber weisse Schokolade.
Dann hatte sich das Rudel über ihr Essen hergemacht.
Als Kind hatten sie ihr in der katholischen Schule Bilder von Engeln gezeigt. Sie waren männlich und immer weiss gekleidet. Manchmal waren weiss gekleidete Männer, die auch noch weisse Schuhe und weisse Hüte trugen, ins Lokal gekommen. Sie waren allein und sie waren stumm. Sie setzten sich in eine Ecke, bestellten, und sonst redeten sie nichts. Wortlos waren sie wieder gegangen.
Die Jacht fuhr die Bucht entlang. Zögerlich. Bis fast zum anderen Ende, wo sie sich befand. Jetzt konnte sie es deutlich erkennen, der Weissgekleidete winkte ihr, fröhlich kam es ihr vor, doch schräg hinter ihm stand der Bursche, der ins Wasser gesprungen war, um den Schlauch zu holen, und machte eine obszöne Gebärde. Sie streckte den Mittelfinger, tauchte wieder unter, den Arm mit dem gestreckten Finger über Wasser wie das Ausfuhrgerät eines U-Bootes.
Als sie aus dem Wasser stieg, fiel ein Schwarm Inselkinder über sie her. Hell zwitschernd. „Manuela, Manuela ist wieder da.“ Wie ein flacher Stein hüpfte ihr Name übers Wasser. Die fröhliche Begrüssung wollte kein Ende nehmen. Die Kinder umringten sie, streichelten ihre salzige Haut, zupften an ihrem blauen Badekleid. Ein Junge umschlang sie, presste sein Gesicht auf ihren nassen Bauch. „Manuela darf nicht mehr fort gehen!“ Und dann wie aus einem Mund: „Was hast du uns mitgebracht?“
Nichts. Sie hatte nichts. Sie hatte in New York nicht an die Kinder auf der Insel gedacht, sagte jetzt aber schnell: „Habs nicht hier. Habs bei Alvaro versteckt.“
Die Kinder liebten sie, weil sie Alvaros Schwester war. Alvaro besass einen Krämerladen. Victoria, die grösste von allen, eine Neunjährige, war Wortführerin. Sie trug zwei rote Maschen in ihrem Kraushaar. Wie Manuela hatte sie eine gerade Nase. Die Nasen der andern waren aufgebogen. Victoria wollte wissen, wo sie so lange gewesen war, während die Kleineren sich weiter an sie drängten, mit ihr schmusten, ihr über die dunklen Härchen auf den Armen strichen. Sie bekam eine Gänsehaut aus Wohlgefühl.
„Ich war in New York.“
„Ist das auch eine Insel im Meer?“
„New York ist ein Häusermeer. Es gibt dort so hohe Häuser.“ Sie dehnte sich und streckte auch noch ihre Arme in den blauen Himmel, erzählte, dass sie zwischen den Häusern die Sonne gesucht und nicht habe finden können.
Die Kinder staunten, wie gross ihre Manuela auf einmal war, gross und fremd. Victoria wollte nichts mehr über New York wissen. Etwas anderes beschäftigte sie. Immer war sie Manuela allein begegnet oder dann mit ihrem Bruder zusammen.
„Hast du einen Mann?“ Victoria kannte nur Frauen mit Männern. Viele von ihnen waren jünger als Manuela.
„Nein, hab ich nicht.“
„Willst du keinen?“
„Doch!“
„Wann?“
„Bald.“
„Wann bald?“
„Bald ist bald!“
„Manuela will morgen einen Mann“, summte Victoria, stutzte: „Alvaro hat keine Frau. Warum nicht?“
„Weiss ich nicht.“
„Aber du weisst, wann du uns die Geschenke gibst?“
„Heute Abend bei Alvaro.“
Das war eine Antwort! Die Kinder wollten schon davonrennen, aber Manuela packte Victoria am Arm. „Du, sag mal, das Schnellboot, das bei Faustino zum Tanken war, das so hässlich ist – kommt es schon lange in unsere Bucht?“
Victoria zuckte mit den Schultern. „Es kommt einfach. Dann kommt es wieder. Das Boot ist nicht hässlich. Es ist komisch schön.“
„Warum?“
„Wenn es kommt, lacht Faustino immer. Und wenn es weg ist, gibt uns Faustino immer Bananen.“
Es war früher Nachmittag. Zwei Fischer fuhren mit ihren kleinen Motorbooten in die Bucht ein. Die Kinder stoben auf dem feinen Sand davon, um sich den Fang anzuschauen und bei Faustino die Bananen zu holen.
Manuela würde Haifisch essen. Ihr Lieblingsbruder nicht. Er gehörte zu den Einheimischen. Er war beim Bürgermeister und seiner Frau auf der Insel aufgewachsen.
Zwei
Jetzt sass sie nicht mehr im Wasser, sie sass in Alvaros Krämerladen. Auf dem Sofa ganz hinten. Hinter einer Holzwand. Niemand konnte sie sehen. Ihr Bruder hatte hier ein kleines Zimmer, sein Spielzimmer. Er spielte Gitarre, schlug manchmal die Trommel, wenn die Kunden ausblieben. Alvaro war Detailhändler und Musiker. Seinen Krämerladen am Ausgang der Siedlung hatte er in roten Buchstaben auf Spanisch und Englisch als „Supermercado”, „Supermarked” deklariert. Er bestand aus einem schmalen, langen, mit Wellblech gedeckten Schuppen, der auf vier Zementpfosten ruhte. Wenn es regnete: dieser ohrenbetäubende Sound auf dem Blech. Sie mochte das nicht. Dann konnte sie Alvaros Stimme nicht mehr hören, wenn er bediente.
Alvaro hatte Kundschaft. Mehrere Frauen. Sie hörte sie vorne reden. Es klang mehr wie ein Singsang. Die Kundinnen sangen Alvaro in einem vereinfachten, mit spanischen Bröckchen durchmischten Englisch vor, was sie wollten.
Hatten sie eingekauft, gingen sie nicht. Die Unterhaltung floss noch lange munter dahin.
Manuela liebte es, unsichtbar zu sein. Die junge Dame auf dem Sofa hinter der Holzwand, eine Unsichtbare ohne Schminke im Gesicht. Und jetzt auf einmal, Alvaro hob seine Stimme an und sagte etwas, aus dem die Frauen im Laden nicht klug wurden. Aber sie verstand, sie verstand dieses Kompliment, diese Schmeichelei, die er ihr durch die Wand zurief: „Nicht eine Wolke heute. Der Himmel ungeschminkt. So liebe ich ihn.“
„Sag das nochmals“, flüsterte sie, „sags noch tausend Mal. Du magst mich ungeschminkt.“ Aber da verstummten die Stimmen im Laden. Dafür war von der Strasse her, die zur Mangrovenbucht hinab führte, Gegröle zu vernehmen. Von betrunkenen Insel-Männern. Der Rum war billig. Ron de Medellin. Stark war er, und die Tropen multiplizierten seine Wirkung. Alvaro verkaufte ihn auch, obwohl sein Vater darüber wütend wurde.
Alvaro war der jüngste Detailhändler auf Providencia. Das hatte er Juan, dem Insel-Bürgermeister, und dessen Frau Rosarida zu verdanken. Sie hatten ihn nach dem Tod seiner Mutter aufgenommen und später adoptiert. Juan hatte ihm Geld für den Krämerladen gegeben. Einkaufen, verkaufen. Alvaro war ganz zufrieden mit dieser Arbeit, solange ihm Zeit blieb für seine Musik.
Er wohnte nicht weit von seinem Laden entfernt vor dem kleinen Wald in einem Holzhaus mit vier Zimmern, das er von einem Fischer gemietet hatte. Nun hatte er noch eine Untermieterin. Seine Schwester. Manuela gab ihm die Hälfte der Miete. Er war froh darüber. Er hatte nichts haben wollen, aber sie hatte gespürt, dass er das Geld brauchte.
Oft kam auch seine Adoptivmutter bei ihm einkaufen. Die Frau des Insel-Bürgermeisters hatte eine hochgebürstete Haarpracht. Rosarida war rund. Sie konnte niemandem wehtun. Im Schatten ihres Mannes machte sie ihre eigene Politik. Eine Politik des Friedens. Sie schickte einige ihrer Freundinnen zu Alvaro. Nur einige. Es gab noch andere Krämer auf der Insel. Die mussten auch verkaufen können.
Ihr Mann Juan, der Insel-Bürgermeister, war ein Riese, der von schwarzen Plantagearbeitern abstammte. Seine Hände, gross wie kleine Schaufeln, waren ständig in Bewegung, wenn er politisierte. An Feiertagen pflegte eine solche Hand Alvaro einen Geldschein zu geben, schüchtern, verschämt. Wie man jemandem einen Liebeszettel zusteckt.
Manuela kannte ihn und seine Frau gut. Schon als kleines Mädchen hatte sie monatelang bei ihnen gelebt. Manchmal war es ihrer Schwester Estela, ihrer Ersatzmutter in Cartagena de Indias, die neben ihren beiden Kindern noch einen verwöhnten Mann hatte, zu viel geworden, dann hatte sie Manuela zu ihrem Bruder auf die Insel verfrachtet.
Wenn es Juan und Rosarida mit Alvaro zu viel wurde, schoben sie ihn für eine Weile zu Manuela aufs Festland. Das war hin und her gegangen.
Wenn sich beide Familien überfordert gefühlt hatten, waren die zwei Geschwister bei einem Metzger auf der Insel untergebracht worden. Temporär.
Estela hatte Zwillinge. Zwei Buben, Claudio und Placido. Als sie noch nicht dreijährig waren, musste Manuela schon zu ihnen schauen. Sie, die kleine Tante, war damals erst siebenjährig. Die Buben, ihre Neffen, waren wild und zum Verwechseln ähnlich. Aber sie verwechselte sie nie. Die Buben hingen an ihr. Sie spielte die Rolle der kleinen und doch schon so grossen, pflichtbewussten Tante sehr gut. In dieser Rolle mochte Estela sie sehr. Estela nahm sie in die Arme, streichelte, hätschelte sie, las ihr aus Büchern vor, erzählte ihr Geschichten, schöpfte ihr zuerst Essen auf den Teller. Noch vor Cristo, vor ihrem Mann, der schneller beleidigt sein konnte als ein Kind.
Juan, der Insel-Bürgermeister, mochte sie, wenn sie sich kleiner, jünger gab, als sie war. Wenn sie sich wie ein kleines Mädchen an ihn schmiegte. Wenn sie zu seiner Erheiterung zwischendurch wieder mit den Fingern ass, obwohl sie längst mit Messer und Gabel umgehen konnte. Sein süsses Urwaldkind, wie entzückend das war, es so essen zu sehen. Er mochte sie, wenn sie noch als Schulkind begeistert an seinen Fingern zerrte, diesen Zapfen, an diesen grossen Fingerzapfen. Und ihre hohe Stimme, die mochte er. Sie konnte das, konnte hoch sprechen, als hätte sie es lange geübt. Manuela redete mit Kopfstimme. Sie quiekte, die herzige Maus. Dann nahm sich der Bürgermeister viel Zeit für sie und ihren Lieblingsbruder. Sie waren auf den Round Hill gestiegen, wo er zuerst sie und dann ihren Bruder hochhob, unglaublich wie hoch, bis sie den untersten Ast eines Mangobaumes erlangen konnten. Sie schwangen sich darauf, kletterten von da höher bis zum Wipfel. Nichts konnte ihnen geschehen. Ruhig stand Juan unten, stark wie ein Baum.
Juan hatte sie einiges gelehrt. Er nahm sie im Boot mit aufs Meer. Er lehrte sie, wie man mit den Wellen umging. Respektvoll müsse man ihnen begegnen wie einem übermächtigen Mann, der plötzlich sehr viel mehr Kraft haben könne, als man selbst je haben werde. Er lehrte sie fischen. Zeigte ihnen, wie man dem Fisch den Bauch aufschlitzte und ihn ausnahm. Die Innereien warfen sie ins Meer. Grosse Vögel stürzten sich darauf. Fast senkrecht aus dem Himmel herab unter Gekreische. Diese Flugschau! Sie und ihr Bruder hatten in die Hände geklatscht, bis ihnen die Innenflächen wehgetan hatten.
Als Juan wieder mit ihnen ausfuhr, schlüpfte Manuela, die damals elfjährig war, unbemerkt aus ihrem Badekleid und schleuderte es ins Meer, so weit weg, wie sie nur konnte. Sie wollte auf der Insel bleiben. Sie hatte sich überlegt: Wenn ich nackt bin, getrauen sie sich nicht, mich aufs Festland zurückzuschicken.
Juan machte einen Hechtsprung, um das Kleid zu holen. Auf der anderen Seite sprangen Manuela und ihr Bruder ins Wasser und schwammen vom Boot weg. Juan fing sie schnell ein. Manuela zog das Kleid wieder an. Trotzig, widerstrebend. Beides war salzig gewesen: Das nasse Kleid und ihre Tränen.
Plötzlich stand ihr Bruder im Hinterzimmer des Krämerladens. Barfuss wie sie. Sagte, er habe ein Schild an die Tür gehängt und sie dann verriegelt. Er hatte zwei Schilder, die anzeigten, dass sein Supermarkt geschlossen war. Auf dem einen stand „Cerrado” auf dem andern „Closed”. Jetzt hatte er das mit „Closed” hingehängt. Ihr schöner Bruder, dem hinten in der oberen linken Reihe ein Zahn fehlte. Die Lücke zeigte sich, wenn er lachte. Sie machte sein Lachen speziell.
Ihr grosser, ihr langer Bruder im ärmellosen, olivfarbenen Shirt, in einer weiten Hose, die ihm um Hintern und Beine schlotterte. Sein Haar trug er lang, es reichte ihm fast auf die Schultern.
Und jetzt fiel es ihm ins Gesicht. Er sass auf dem Stuhl und beugte sich über die Gitarre. Er spielte den Round-Hill-Song. Ihr Lied. Das spielte er immer, wenn sie auf die Insel zurückkam. Buschwaldgezwitscher. Plaudernd. Dann überschäumend. Die Schreie der Meervögel, der Sturmvögel, lockend, klagend. Das wehe Sirren ihrer Schwingen.
Sie kniete hinter Alvaro und schloss die Arme um seinen Bauch. Sie sprach zu seinem Rücken. Erzählte von New York. Von ihrer Arbeit als Kellnerin. Den Männern, die sie bediente. Sie redete nicht mit Kopfstimme. Bei ihrem Bruder brauchte sie keine Rolle zu spielen. Aus ihr drangen ganz andere Töne. Sie rieb die Stirne an seinem Rücken. Sie lachte. Sie hatte zwei Lachen. Das kindliche, das zur Kopfstimme passte. Aber jetzt lachte sie anders, ein Lachen, das nur ihr Bruder zu hören bekam, das dunkle, heisere, das animalische.
„Die Männer kamen fast immer in Gruppen, schauten und glaubten schon, gesiegt zu haben“, erzählte sie. „Sie redeten wie mit vollem Mund. So mit aufgeblasenen Backen fingen sie an, mit mir zu flirten.“
Ihr Bruder spielte leiser. Es war ein nervöses Saitenzupfen.
„Alvaro, Alvaro, das sah doch nur komisch aus. Zum Schreien komisch. Beeindrucken konnte es mich nicht. Aufgeblasene Flirtversuche. Ich musste ständig lachen, aber dann wurden die Männer böse. Sie beschimpften mich.“
„Was sagten sie?“ Alvaro legte die Gitarre auf den Boden und klemmte die Trommel zwischen die Beine. „Was sagten sie?“, wiederholte er ungestüm seine Frage.
„Du bist Schokolade. Ist keine Kunst, dich zum Schmelzen zu bringen.“
Er trommelte sich in Wut. „Wir hauen sie zusammen. Wir hauen sie alle zusammen.“
Ihr sanfter Bruder, seine Haut im Nacken glänzte vor Schweiss. „Reg dich nicht auf. So weit weg sind sie doch, die New Yorker. Nicht alle Männer in der Gruppe sind gleich gewesen. Als sie das Restaurant verliessen, gab es unter ihnen solche, die mir Luftküsse zuschickten, und einer sagte: Mach weiter so!“ Sie schmiegte sich enger an ihren Bruder. Ihre Hände schlüpften unter das Shirt und streichelten seinen flachen Bauch. Sie redete weiter zu seinem Rücken, erzählte ihm auch von den Schneeweissen, den Engeln, den Unnahbaren, den Stummen.
Da brach er das Trommeln ab. „Du bist so schön.“
„Du auch, du auch so schön.“
Sie neckten sich wie früher, als wäre Manuela nie weg gewesen. Sie setzten sich aufs Sofa und auf einmal verstummten sie. Das Sofa knarrte. Sonst war nichts zu hören. Bis von draussen eine grelle Stimme hereindrang: „Alvari! Alvari! Open! Rápido! Give me sugar!“
Beide erkannten die Stimme. „Ich öffne Cielo nicht“, flüsterte Alvaro. Er wischte sich Schweiss von der Stirne.
Es gab Inselmenschen, die glaubten, Cielo sei verrückt. Sie fürchteten ihn. Sie glaubten, er könne Dinge sehen, die niemand sonst sähe.
Cielo hüpfte, tanzte einmal um den Supermarkt herum, rief dabei immer wieder: „Alvari, Alvari, sugaaar, sugaaar“ – wurde still und verschwand.
Die Sonne stand tief. In einer Stunde würde sie verschwinden und die Nacht hereinbrechen und schlagartig in eine undurchdringliche Schwärze übergehen.
Strahlen drangen durch Spalten zwischen den Brettern der einen Seitenwand in Alvaros Musikzimmer und warfen zwei Schatten an die Wand, die zu einem einzigen verschmolzen. Aber dann schossen Alvaro und sein Schatten in die Höhe und liessen die Köpfe hängen, als erwarteten sie eine Strafpredigt des Insel-Bürgermeisters.
Der Supermarkt hatte auf der Hinterseite noch einen Ausgang. Alvaro stürmte da hinaus. Mit gesenktem Kopf ins Freie zu einem Gehege, in dem er Hühner hielt. Kürzlich waren Küken aus dem Ei geschlüpft. Zwanzig Winzlinge. Sie würden wachsen, Eier legen, die er dann verkaufen konnte.
Die Vermehrung seines Besitzes wollte er seiner Schwester unbedingt zeigen. Als er ein Küken fangen wollte, stoben sie piepsend davon, zu Tode erschreckt, aber er erwischte eines. Die Hände zu einem Körbchen geformt, hielt er es liebevoll Manuela hin, die am Rand des Geheges stehen geblieben war. Sie strich dem Küken mit einer Fingerbeere übers Schnäbelchen, über die flaumigen Federchen. So niedlich, dieses vor Angst zitternde Wesen. Sie streichelte es immerfort, sie berührte auch Alvaros Hände. Er räusperte sich. Sagte: „Wenn es gross ist, legt es Eier für uns. Wenn es alt ist, schlachten wir es und kochen uns eine Hühnersuppe.“
„Nein, wir schlachten es nicht. Wir behalten es. Wir lassen es unter neuen Küken umherspazieren, bis es von selbst tot umfällt.“
„Du hast Träume.“ Alvaros Augen funkelten. Ein bewundernder Blick, den er seiner Schwester zuschoss, aber auch ein missfallender. „Was soll das, Nutztiere leben lassen, bis sie vor Altersschwäche sterben? Wer nicht töten kann, überlebt nicht!“
Manuela lachte, musste immer weiter lachen. Ihr Bruder, ihr sanfter Bruder. Sie konnte nicht ernst nehmen, was er sagte. Sie zupfte ihn an seinem schönen Haar. Er beugte schnell den Kopf, küsste sie in den Nacken und sah sich erschrocken um.
Kurz vor Sonnenuntergang gingen sie in sein Haus, wo Manuela ihr eigenes Zimmer hatte. Ihr Zimmer war für Alvaro tabu. Er klopfte höchstens an die Tür, aber hinein kam er nie. Sie trafen sich in der Küche oder setzten sich im Wohnzimmer hin, um fernzusehen.
Drei
Sie war weggegangen, ohne etwas zu haben, und war mit Geld zurückgekommen.
Sie ging am Strand entlang. Der Sand war angenehm kühl nach dem Regen. Auf der Insel regnete es nicht täglich, aber mehrmals wöchentlich. Zuerst kam starker Wind auf. Die schwarze Wand über El Pico stürzte zusammen. Die Wolken leerten sich aus. Der Wind tobte.
Nach dem Unwetter dampfte die Insel im gleissenden, verschwenderischen Sonnenschein. Blau, so blau, dass sie immer aufs Neue ins Staunen geriet. Wolken da oben? Kaum zu glauben! Sie hatte ein Tuch um den Kopf geschlungen, das ihrem Bruder gehörte, und trug über dem Bikini ein T-Shirt. Ebenfalls von Alvaro ausgeliehen. Es war ihr zu gross. Sie trug es wie einen Mini.
Weggehen müssen, um zurückkehren zu können: Würde das denn nie aufhören? Ich – will – hier – bleiben, sagte sie sich trotzig. Jeder Schritt ein Wort. Und dann ein Schlag aufs Bein mit der flachen Hand, ein Schlag nach einem saugenden Moskito.
Hier bleiben? Aber wie? Es gab wenig Arbeit. Junge Leute mussten die Insel verlassen und sich anderswo ihr Arbeitsglück suchen. Auf der grossen und lauten, der hektischen Insel San Andres? Wo die Drogenmafia über viele Jobs herrschte?
Im Krämerladen ihres Bruders würde sie nicht arbeiten können. Er verdiente selbst kaum genug zum Leben. Und bei den Imbissbuden am Strand? Das waren Familienbetriebe, die zahlreiche Kinder zu ernähren hatten. Touristen gab es wenige, und die, die kamen, blieben nicht lange. Es war ihnen hier zu still. Die Insel schien in einem verlorenen Winkel des Karibischen Meeres zu liegen. Manchmal kamen Boote mit Tagestouristen aus Santa Isabel, dem Hauptort, der sich am anderen Ende der Insel befand. Eine Schar setzte sich an die Holztische einer Imbissbude unter Kokospalmen. Grillfeuer rauchten. Die Touristen liessen sich Fisch, Reis und gekochte Bananen servieren. Kinder planschten still vergnügt in der Riesenbadewanne. Andere kreischten und quietschten. Sie ritten in Schwimmwesten auf einer Gummibanane, die ein Motorboot hinter sich durch die Mangrovenbucht zog. Zwei Stunden später war der Spuk zu Ende. Niemand kam mehr. Der Imbissbudenbesitzer schloss den Laden. Ging mit den übriggebliebenen Fischen nach Hause zu seiner kinderreichen Familie. Dann brach die Nacht herein. Immer mit der gleichen plötzlichen Heftigkeit, als sause ein Vorhang herab. Dann gingen die Fernseher an. Dann strahlte blaues Licht aus den Häusern und Hütten. Die ersten Abendprogramme. Süsse Telenovelas. Dann fielen schon die ersten Menschen in Schlaf.
Hatte sie vergessen, wie monoton das Leben auf der Insel manchmal war? Dass sie nichts unternehmen konnte, ohne dass die Einheimischen davon erfahren würden? Die Insel als Käfig? Die klare Begrenzung. Land und dann nichts als Wasser. Was ist, wenn einer über den Rand hinausgehen möchte? Und jeder im Käfig, was macht er? Starrt er nicht auf den andern? Beobachtet er nicht jeden seiner Schritte?
Sie verscheuchte, verdrängte alle Fragen. Sie war vom Gedanken besessen, hier zu bleiben.
Inzwischen war sie am Ende des Strandes angelangt bei den kleinen Hotels, dem Palm und dem Wave, und der Strasse, die zu Alvaros Krämerladen hinaufführte.
Cielo, in der Hand einen Zweig mit grünen Blättern, verfolgte ein quietschendes Schwein. Cielo quietschte auch. Als er Manuela erblickte, liess er vom Schwein ab, juchzte, rannte auf sie zu, rannte sie fast um. Er brach wie ein Sturm über sie herein.
„Cielo, nicht so stürmisch“, wehrte sie ihn ab.
Er nahm einen neuen Anlauf. Dabei purzelten die Wörter vergnügt aus ihm. „Manuela gut riechen.“ Er rieb seine Nase an Alvaros T-Shirt und wollte sie dann zwischen ihre Brüste ins Grübchen stecken. Sie stiess ihn bös zurück. Er strahlte sie an. „Manuela geht Supermarkt?“, fragte er.
„Nein!“ Sie schrie das Nein und versuchte zu lachen. „Kein Zucker, Cielo, auch heute nicht.“
Vier
Manuela duschte, wusch sich das Haar, rasierte sich die Haare unter den Armen, setzte sich, ein Badetuch umgeschlungen, vor Alvaros blaues Haus, bis das Haar trocken war. Wieder zurück im Innern kämmte sie es straff nach hinten, raffte es zu einem Rossschwanz, um den sie ein rotes Band knüpfte. Es kostete sie einige Mühe, aber schliesslich brachte sie doch ein entzückendes Schwänzchen zustande. Sie bürstete die Augenbrauen, zupfte ein widerspenstiges Haar aus. Sie schminkte sich die Lippen.
In einem geblümten Rock, einem schwarzen Top und schicken Sandalen wartete sie am Rand der Uferstrasse, die rings um die Insel führte. Zwei Stunden nach Mittag herrschte wenig Verkehr. Sie rechnete nicht damit, dass ein Auto sie mitnähme. Aber es gab billige Taxis, kleine Lieferwagen mit offener Ladefläche, längsseits Bänke. Sie fuhren nicht in regelmässigen Abständen. Manchmal wartete man eine Stunde oder noch länger am Strassenrand. Wo Manuela stand, gab es keinen Schatten. Aber sie brauchte diesmal nicht lange in der Sonne zu stehen. Schon nach zehn Minuten hob sie die Hand und ein Taxi hielt an, das bereits mit zehn Personen beladen war. Es wurde eng. Ein älterer, hagerer Mann in staubigen Kleidern stand auf und setzte sich mit gekreuzten Beinen auf die Ladefläche zu Manuelas Füssen. Sie schaute auf ihn herab, strahlte. Der Mann strahlte auch. Er hatte ihr gerne Platz gemacht.
Die herausgeputzte Manuela kam – und Türen gingen auf. Fast wie von selbst.
In Santa Isabel ging sie in die banco popular, stellte sich nicht in die Reihe der vor der Kasse Wartenden, stieg die Treppe hoch. Im oberen Stock wurde sie von einem Bankwächter aufgehalten. Keine Bange, Manuela! Sie hob den Kopf. Sie erklärte, dass sie mit Juan Llosa, dem Bürgermeister, verwandt sei und dass sie zur Person müsse, die mit dem Personalwesen zu tun habe. Da versperrte ihr der Wächter nicht länger den Weg, er führte sie in einen klimatisierten Raum, der zwei Türen hatte, die einander direkt gegenüber lagen. Wenn sie geradeaus weitergegangen und über den Schreibtisch in der Mitte und über die kräftigen Schultern des Mannes, der daran sass, gestiegen wäre, hätte sie direkt durch die Tür dahinter aus dem Büro gehen können. Der Mann war nicht mehr als zehn Jahre älter als sie. Sein Haar war kurz geschnitten. Er trug ein hellblaues Hemd und hatte eine bunte Krawatte umgebunden. Manuela Posada begrüsste ihn artig und machte ihm ein Kompliment.
„Ihre Dolores-Blanca-Krawatte ist heiss!“, sagte sie, während sie im unterkühlten Büro fror. Das Kompliment brachte sie näher an den Manager heran. Sozusagen schon auf die andere Seite des Schreibtisches. Seine Neugier war nicht mehr gespielt. Eine junge Dame, die sich auskannte. Er bat sie, Platz zu nehmen. Als sie ihm sagte, dass sie Arbeit suche, verhärteten sich seine Gesichtszüge wieder. Aber sie redete weiter. Manuela gab nicht auf. Sie trug eine kleine Mappe bei sich, aus der sie geschäftstüchtig einige Papiere hervorholte. Sie zeigte ihm ihren Abschluss, den sie im College gemacht hatte. Sie hatte auch ein Zeugnis in Informatik vorzuweisen, und sie sprach Englisch. Er testete sie sogleich. Aber er brach den fremdsprachigen Dialog schnell ab. Sie sprach besser Englisch als er. Er nickte anerkennend. Sie fühlte sich sicherer und glaubte noch einen weiteren Trumpf zu haben. Erneut brachte sie Juan Llosa ins Spiel, den Vater ihres Bruders Alvaro. Sie sei zum Teil sogar bei ihm aufgewachsen. Sie konnte nicht wissen, dass die banco popular auf der Insel eine zweite Filiale eröffnen wollte, und wusste nicht, dass ausgerechnet Juan das verhindert hatte. Er wollte kein Bankenparadies auf Providencia.
Der Manager warf einen letzten Blick auf ihre Papiere, sagte: „Sehr gut!“, und bat sie um ein wenig Geduld, ehe er durch die hintere Tür verschwand.
Das „sehr gut” hing im Raum, der so stark klimatisiert war, dass sie sich darin wie in einer Leichenhalle fühlte. Einmal streckte ein Mann den Kopf zur vorderen Tür herein. Der Mann trug eine Salvador-Dali-Krawatte mit dem Motiv der weichen Uhren.
Der Manager liess sie lange warten. Als er zurückkam, überbrachte er ihr die freudige Nachricht, dass er Arbeit für sie habe. Als Putzfrau.
Sie schluckte leer und sagte dann, sie nehme die Arbeit an. „Wann kann ich anfangen?“
„Am nächsten Montag.“
„Gut. Sehr gut“, sagte sie im gleichen Tonfall wie der Manager, als er ihren College-Abschluss kommentiert hatte. Manuela gab nicht auf. Sie würde dem Mann, wenn sie ihn das nächste Mal sah, noch ein Kompliment machen für seinen Kurzhaarschnitt.
Sie verliess die Bank, kaufte am Kiosk beim Hafen, in den eben ein Frachtschiff einlief, eine Ansichtskarte, auf der das hügelige Inland der Insel mit dem schroffen El Pico im Sonnenschein abgebildet war, und setzte sich in den Schatten eines Tamarindenbaumes. Im Geäst zwitscherten eine Menge bunter Vögel. Sie schrieb gerne Karten. Telefonieren war ihr zuwider. Sie vergass immer wieder ihr Handy einzuschalten. Gegen Ende ihres Aufenthalts in New York hatte sie Estela mehrere Karten geschickt. Schnelle übermütige Botschaften. Dann auch etwas längere, verzagte, traurige Sätze, die am Ende der Zeile abwärts wiesen.
Auf der Karte mit dem El Pico schrieb sie Estela, dass sie schon nach einer Woche Arbeit als Putzfrau gefunden habe. Das sei viel besser als nichts! Sie werde recht bezahlt – oder vielleicht doch nicht so recht. Aber es sei ein Anfang. Sie schrieb: „Estela, Schwesterherz! Habe wenigstens mit den Zehenspitzen Fuss gefasst auf der Insel.“
Sie wollte noch etwas über die Dolores-Blanca-Krawatte des Bankmanagers schreiben, doch dazu reichte der Platz nicht aus. Sie würde das nächste Mal eine ganze Karte nur über Krawatten schreiben.
Manuela hatte Hunger. Doch zuerst ging sie zum nahe beim Hafen gelegenen Postbüro, um die Karte abzugeben. Alles war hier nicht weit voneinander entfernt.
Als sie das Büro verliess, trat Carlos Lima ein. Sie sagte: „Hallo!“, und er wünschte ihr einen guten Abend und warf ihr einen starken Blick zu. Sie ging weiter, und nur ein paar Schritte später fuhr sie zusammen. Was für ein Knall! Wie eine Detonation! Klirrendes Glas? Schreiendes Blech? Wo? Auf der Kreuzung beim Warenhaus? Erwachsene und Kinder rannten in die Richtung, wo der Lärm herkam. Sie lief den Schaulustigen nicht hinterher. Hunger lenkte ihre Schritte zum Nostromo, dem Restaurant, das einem Inder gehörte, der vor Jahren auf die Insel gekommen war. Er hatte lange kämpfen müssen, bis die Einheimischen sich ihm gegenüber nicht mehr fremd verhielten. Bis er ganz Fuss gefasst hatte. Nicht nur mit den Zehenspitzen.
Sie bestellte ein Curry-Huhn und eine Cola.
Als die Kellnerin das Getränk vor sie hinstellte, kam ihr Carlos Lima in den Sinn. Sein starker Blick. Fast schwarz wie ihre Cola. Er war der Besitzer des kleinen Hotels Wave, das sechs Gästezimmer hatte. Sie schätzte ihn ungefähr doppelt so alt wie sie. Er war vor zwei Jahren auf die Insel gekommen, hatte sich umgesehen und das Wave gekauft.
Sie kannte ihn schlecht. Niemand kannte ihn gut. Er redete nicht mit den andern Hotelbesitzern. Ein Mann, von Geheimnissen umwittert? Aber vielleicht gab er nur vor, das zu sein? War das Rätselhafte nicht Überheblichkeit, die sich geheimnisvoll tarnte? Inselmenschen standen zusammen, palaverten und palaverten, kümmerten sich überhaupt nicht um das Dahinfliegen der Zeit.
Carlos Lima hatte nie Zeit. Warum denn nicht? Alvaro hatte ihr erzählt, dass Carlos immer wieder von der Insel verschwinde. Manchmal länger als einen Monat. Als er das letzte Mal zurückgekommen sei, habe er viel Geld bei sich gehabt, habe das Land hinter dem Hotel dazugekauft, habe auf dem Dach den alten Regensammler abmontieren und einen doppelt so grossen neuen installieren, habe neue Duschen einbauen lassen. Habe … Was noch? Sie erinnerte sich nicht mehr, was Alvaro weiter erzählt hatte. Ihr Bruder, wie genau er beobachtete und registrierte, was andere taten … Irgendwie unheimlich. Nein, nicht unheimlich. Aber etwas mulmig war ihr plötzlich zumute. Wie jemandem, der nicht frei ist, der das Gefühl hat, an einer Leine zu laufen und nicht zu wissen, wie weit sie reicht.
Neue Duschen, grösserer Wassersammler … Eigentlich war ihr das völlig egal. Ihr war auch egal, dass Carlos‘ Hotel nicht gerade eine Goldgrube war. Vor dem Eingang hatte sie ständig das Schild hängen sehen:
ZIMMER FREI.
Blöde Cola. Hätte ich ein Mineralwasser bestellt, wäre mir der Mann nicht in den Sinn gekommen.
Als sie zur Tür schaute, kam Carlos Lima herein.
Er verfolgt mich. Ich bin nicht da. Bin unsichtbar.
Sie tat, als hätte sie ihn nicht bemerkt, beugte den Kopf über das Curry-Huhn. Mampfte. Im Moment gab es nichts auf der Insel ausser Huhn.
Er trat zu ihr heran. Ob er sich an ihren Tisch setzen dürfe? Seine Frage klang sehr höflich.
An ihrer Kopfbewegung war nicht zu erkennen, ob sie eine Einladung oder eine Abweisung bedeutete.
Carlos Lima setzte sich, sagte leise und schnell: „Ihr Bruder ist sehr viel netter und offener als Sie. Sie sind hochnäsig.“
Manuela warf den Oberkörper zurück. Messer und Gabel noch in Händen lachte sie schallend. Ihr gegenüber sass plötzlich ein verdutzter Hotelbesitzer. Nachdem er bestellt hatte, sagte sie ihm, warum sie gelacht habe. Als sie ihm in der Post begegnet sei, habe sie das Gleiche von ihm gedacht. Warum so überheblich? Warum so eingebildet?
Nun lachte er. Er mochte offenbar Frauen, die nicht auf den Mund gefallen waren.
Sie mochte sein Lachen. Es klang zurückhaltend. Er riss den Mund nicht auf. Aber sie mochte nicht, wie er sie ansah. Wieder dieser starke Blick. Sie war ihm nicht gewachsen. Sie wandte sich dem Rest ihres Curry-Huhns zu.
Er ass auch etwas. Wie geblendet von seinem Blick, hätte sie später, als sie allein war, nicht sagen können, was er gegessen hatte. Sein Teller war ein weisser Fleck.
Während des Essens gab sie sich betont uninteressiert. Sie wollte nichts von ihm wissen. Sie stellte keine einzige Frage. Er fragte. Ihm war ihre Abwesenheit aufgefallen. Bereitwillig erzählte sie ihm von ihrer Zeit in New York. Berichtete von Ausflügen mit Kolleginnen. Von Kinobesuchen. Von Discos, in denen sie unter lauter Landsleuten gewesen sei. Discos, in denen der Verputz von den Wänden geblättert sei. Und wie sie sich glücklich gefühlt habe. Wie daheim, sagte sie. Ihre Arbeit als Kellnerin erwähnte sie nur am Rand. Von den Erfahrungen, die sie mit Gästen gemacht hatte, erzählte sie überhaupt nichts.
Er hatte von Alvaro gehört, dass sie einen College-Abschluss hatte.
„Stimmt“, sagte sie, „da liegt er drin.“ Sie streichelte das Mäppchen.
„Dann fliegen Sie bald nach Cartagena zurück“, fragte er weiter, „um zu studieren? Was studieren Sie?“
„Ich bleibe hier“… Fast wäre ihr noch der Satz herausgerutscht: Ich suche mein Glück auf der Insel … Aber sie sagte weiter: „Ich habe Arbeit gefunden bei der banco popular. Ich bin dort Putzfrau.“
Er nahm das zur Kenntnis. Nichts änderte sich in seinem Verhalten.
Sie hatte erwartet, er würde in Entrüstung ausbrechen. Würde ein paar leere Worte von sich geben. Sie und diese Arbeit! Sie vergeude ihre Fähigkeiten.
Nein. Da sass er und nahms mit einem Nicken zur Kenntnis. Seine Reaktion verunsicherte sie. Sie wusste nicht, woran sie bei ihm war.
Dann glaubte sie es plötzlich doch zu wissen.
Die Nacht war hereingebrochen. Zusammen verliessen sie das Nostromo. Neben dem Eingang stand Carlos’ Motorrad. Gross und nachtblau. Er anerbot sich, sie nach Hause zu fahren. Ihr Blick glitt über das Motorrad, blieb an etwas hängen, sie zögerte einen Augenblick und lehnte dann freundlich ab. Sie gab vor, noch in Santa Isabel bleiben zu wollen, um beim Bürgermeister hineinzuschauen.
Beim Zweiersitz auf dem Motorrad gab es in der Mitte keinen Riemen. Sie hätte Carlos um den Bauch fassen müssen.
Die billigen Taxis mit offener Ladefläche fuhren nur tagsüber. Beim Frachthafen stieg sie in den Fond eines alten Buick und hatte auf einmal das Gefühl, verloren in New York zu sein.
In Alvaros blauem Haus brannte überall Licht. Sogar in ihrem Zimmer. Etwas stimmte nicht. Etwas war falsch.
Aber Alvaro war nur aufgeregt. Manuela geschminkt. Sein Himmel nicht wolkenlos. Und ein Top trug sie, bauchfrei. Lackierte Fingernägel. „Wo warst du? Warum hast du mich nicht angerufen?“
Manuelas Handy lag oben in ihrem Zimmer. Er liess sie nicht zu Wort kommen.
„Du warst im Luna! Du warst tanzen.“
„Nein, war ich nicht. Die kleine Schwester war nicht in der Disco.“
Sie standen in der Küche. Jeder in einer Ecke. Manuela lief auf ihren Bruder zu, blies ihn an. Ihr Atem warf ihn beinahe um. Manuela hatte im Nostromo noch einen Salat mit viel Knoblauch und Zwiebeln gegessen. „Nur du würdest so tanzen gehen“, warf sie ihm an den Kopf. Dann ging sie schnurstracks in ihr Zimmer. Schlug die Tür zu. Es knallte beinahe so laut wie beim Autozusammenstoss in Santa Isabel. Das Holzhaus erzitterte. Ihr Bruder wagte sich kaum mehr zu bewegen. Als er in sein Zimmer schlich, stampfte sie ins Badezimmer, um sich abzuschminken. Sehr gründlich abzuschminken.
Normalerweise fand sie sofort Schlaf. Heute aber nicht. Als sie im Bett lag, erschien ihr Alvaros aufgeregtes Gesicht. Sie war wütend auf sich. Warum nur war sie nicht später nach Hause gefahren! Sie hätte doch ins Luna gehen sollen. Die ganze Nacht tanzen, durchtanzen bis zum Sonnenaufgang. Erhitzt, zerzaust, mit verschmierter Schminke zurückkommen. Dann hätte ihr Bruder Augen machen können, gross wie die einer Comicfigur, die etwas nicht fassen kann.
Der Gedanke, Alvaro zu provozieren, wurde aber plötzlich von einer kleinen Begebenheit verdrängt, die sich gestern in seinem Laden zugetragen hatte. Da war ein kleines Mädchen hereingekommen, in der Hand eine volle Flasche Cola, und hatte gefragt, ob es sie eintauschen dürfe.
Selbstverständlich! Er hatte ihm eine eisgekühlte Cola ausgehändigt. Das Mädchen war davon gehüpft, hatte sich nochmals umgedreht, hatte ihm zugewinkt – ihrem Bruder, der so gut zu den Inselkindern war.
Sie wälzte sich im Bett.
Fest die Augen schliessen, um Schönes, all das Schöne deutlicher zu sehen: Den Strand. Die friedlichen Kokospalmen. Im Wind sich wiegende Blätter. Die am Himmel kreisenden Vögel, wenn Fischerboote in die Bucht einlaufen. Das grünliche Meer. Das satte Grün auf dem Round Hill, wo Faustinos Kühe friedlich grasen.
Doch was sie gern gesehen hätte, sah sie nicht. Weitere Gesichter, bedrohlich im schnellen Wechsel, erschienen ihr. Und dann hielt ein Bild an. Verharrte hartnäckig. Carlos Limas’ breites Gesicht mit den starken Backenknochen und dem schweren Kinn. Es liess ihr keine Ruhe.
Starr mich nicht so an! Was fällt dir eigentlich ein! Wer bist du schon? Hör auf zu starren. Ich hasse das. Du hast intelligente Augen, die in die falsche Richtung blicken. Ich mag dich nicht. Was bildest du dir bloss ein. Mag dich überhaupt nicht!
Da kam Bewegung in das Gesicht. Es lächelte und hörte einfach nicht mehr auf zu strahlen.
Er mag mich auch, wenn ich nur Putzfrau bin, durchfuhr es sie. Sie seufzte, holte ein paar Mal tief Luft und schlief ein.
Fünf
Sobald die Kundenschalter geschlossen wurden, begann Manuela zu putzen. Der Personalmanager war um diese Zeit noch im Haus. Sie begegnete ihm manchmal. Er war sehr zufrieden mit ihrer Arbeit. Er nannte sie „unser junges Glanzlicht” und versprach, sie bald auch noch mit Übersetzungsarbeiten aus dem Englischen ins Spanische zu beschäftigen.
Sie fragte ihn, warum er sie Glanzlicht nenne.
Er sagte, immer wenn sie das Messinggeländer im Treppenhaus poliere, glänze es so schön.
Manuela fror beim Putzen. Der Schweiss brach ihr aus allen Poren, wenn sie danach in die feuchtheisse Nacht hinaustrat.
Sie hatte eine Woche gearbeitet, als sie Carlos’ Motorrad vor dem Nostromo bemerkte. Sie ging nicht hinein. Am nächsten Tag stand es wieder dort. Sie ging wieder vorbei.
Um nicht mehr Taxi fahren zu müssen, kaufte sie sich einen Motorroller, der weniger schnell fuhr, als sein Name verhiess: „Tornado”.