Die Autorin
Johanna Lindsey wächst auf Hawaii auf. Sie heiratet nach der Highschool und hat bereits zwei kleine Kinder zu versorgen, als sie sich zum Schreiben gedrängt fühlt.1976 veröffentlicht sie ihren ersten Roman. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen historischer Liebesromane. Weltweit hat sie über 60 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft, die nicht selten die ersten Plätze der Bestsellerliste der New York Times erreichen. Johanna Lindsey schreibt und lebt mit ihrer Familie in Maine.
Buckingham Palace. Rebecca Marshall fiel es schwer, zu glauben, dass sie von nun an dort leben würde. Obwohl sie bereits vor über einer Woche die Kunde erhalten hatte, konnte sie es immer noch nicht recht fassen.
Als die Kutsche vor dem Palast vorfuhr, machte ihr Herz einen Satz.
Hofdame am Hofe von Königin Victoria zu sein, war die schönste Überraschung, die das Schicksal bislang für sie in petto gehabt hatte. Rebeccas Mutter Lilly, die seit Langem hoffte, ihre Tochter würde eines schönen Tages mit ebendieser prestigeträchtigen Position betraut, hatte ihrer Tochter wohlweislich vorenthalten, dass sie dafür den einen oder anderen Gefallen von einflussreichen Leuten hatte einfordern müssen. Warum sie das getan hatte? Um einer möglichen Enttäuschung ihrer Tochter vorzubeugen, gesetzt den Fall, ihr Plan ging nicht auf.
Doch Lillys Sorgen waren vollkommen unbegründet. Rebecca wäre keineswegs betrübt gewesen, hatte sie doch nicht im Traum damit gerechnet, mit ihren achtzehn Lenzen zur Hofdame zu avancieren.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Rebeccas Mutter sich stets sehnlichst gewünscht hatte, dass ihre Tochter eines Tages für die Krone arbeitete. Wie oft hatte Lilly über ihre verpasste Chance, selbst Hofdame zu sein, gesprochen? Doch das Leben – sprich: die Liebe – hatte ihr einen gehörigen Strich durch die Rechnung gemacht. Lilly hatte geheiratet.
Genau wie ihr Gemahl war Lillys Familie tief im konservativen Lager der Tories verwurzelt. Angesichts der Tatsache, dass die eher liberalen Whigs an der Macht waren und somit auch die Zügel am Hofe in der Hand hielten, war es Lilly schließlich verwehrt geblieben, ihren Traum zu leben. Irgendwann hatte sie die Hoffnung schließlich begraben.
Als nach einer halben Ewigkeit die konservativen Tories das Zepter übernahmen und Sir Robert Peel zum neuen Premierminister erklärten, hatte Lilly keine Zeit verloren und war an wichtige Parteimitglieder herangetreten, um Rebecca zu einer Anstellung am Hofe zu verhelfen. Trotz ihres Engagements war lange nicht klar gewesen, ob Rebecca tatsächlich einen der begehrten Posten bekäme – bis in der vorangegangenen Woche das heiß ersehnte Schreiben eingetroffen war. Als Lilly den Brief las, hatte sie vor lauter Freude gejohlt, als wäre sie selbst an den Hof berufen worden.
Die letzten Tage waren wie im Flug vergangen. Mutter und Tochter hatten nämlich erst kurz vorher damit begonnen, Rebeccas Debüt für die Wintersaison zu planen, wenngleich es noch Monate bis dahin dauerte. Aus ebendiesem Grunde hatte es bisher nur erste Entwürfe für Rebeccas neue Garderobe gegeben. Es war unglaublich, wie viele Näherinnen Mutter und Tochter beauftragen mussten und wie viele Entscheidungen es in der Kürze der Zeit zu fällen gab – ganz zu schweigen von den vielen Fahrten in das nahe gelegene Norford. An manchen Tagen hatten sie die Strecke mit Hin- und Rückfahrt vier bis sechs Mal zurückgelegt. Mit jedem Tag, an dem Rebeccas Abreise näherrückte, wuchs die Aufregung bei Mutter und Tochter. Rebecca konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft Lilly ihr erzählt hatte, dass die Anstellung am Hofe eine einmalige Chance darstellte.
Gemessen an Rebeccas bisherigem Leben war es der größte Einschnitt seit dem Ableben ihres Vaters. Der Earl of Ryne hatte das Zeitliche gesegnet, als Rebecca gerade einmal acht Jahre alt gewesen war. Schnell war klar, dass Lilly nie wieder heiraten würde. Es hatte sie nicht beeindruckt, dass Adelstitel und die Besitztümer des Earls an einen seiner männlichen Verwandten fielen. Einzig das Anwesen unweit von Norford, Rebeccas Elternhaus, war Lilly geblieben, und sie hatte das Beste daraus gemacht und klug gewirtschaftet, sodass sie finanziell gut aufgestellt war.
Im Gegensatz zu ihren Freundinnen hatte Rebecca ihr gesamtes Leben in ihrem Elternhaus verbracht, war nicht weggegangen, um anderswo ein Internat für Mädchen zu besuchen. Lilly, die es nicht über das Herz gebracht hatte, Rebecca ziehen zu lassen, hatte als Ausgleich die besten Hauslehrer engagiert.
Rebecca hatte sich nicht weiter daran gestört, konnte sie doch unendlich viel Zeit mit ihrer Mutter verbringen. Morgens, vorausgesetzt, das Wetter erlaubte es, frönten sie ihrer Lieblingsbeschäftigung: dem Reiten. Doch das war nicht das Einzige, was Rebecca am Hofe vermissen würde.
Da Mutter und Tochter in der Umgebung um Norford einen guten Ruf genossen, bekamen sie fast täglich Besuch oder wurden eingeladen. Die Gewissheit, dass Norford nur wenige Stunden nördlich von London lag, spendete Rebecca ein wenig Trost. Nichtsdestoweniger hatte Lilly sich fest vorgenommen, Rebecca erst einmal genügend Zeit zu lassen, um sich am Hofe einzugewöhnen, ehe sie ihr einen Besuch abstattete. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck einer gluckenhaften Mutter entstehen lassen, wenngleich das der Wahrheit sehr nahe kam.
Bei genauer Betrachtung stellte sich heraus, dass Rebeccas Berufung an den Hof nicht ihre erste Chance darstellte, ihrem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Die erste Gelegenheit hatte sich vor fünf Jahren ergeben, als Mutter und Tochter sich darüber einig gewesen waren, wen Rebecca einmal heiraten sollte. Wenn es Rebecca gelungen wäre, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wäre ihre Einführung in die Gesellschaft hinfällig gewesen. Doch wie das Schicksal es wollte, war sie noch nicht alt genug für ihn gewesen. Die Rede war von Raphael Locke, dem Erben des Herzogs von Norford. Diese Verbindung wäre äußerst bequem gewesen, zumal es sich bei Raphael um ein besonders schmuckes Mannsbild handelte. Doch dann kam alles anders. Rebeccas Schwarm hatte einfach eine andere geehelicht.
Eine gar herbe Enttäuschung für Mutter und Tochter. Rebecca hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als Teil der illustren Lock’schen Familie zu werden, an deren Spitze der Herzog Preston Locke stand. Preston hatte noch fünf Schwestern, die allesamt verheiratet waren. Und obwohl die fünf über das ganze Land verstreut lebten, kehrten sie regelmäßig nach Norford zurück, um ihrem Bruder einen Besuch abzustatten.
Wie oft hatte Lilly Rebecca in schillernden Farben Geschichten von früher erzählt, als die Locke-Töchter noch zu Hause gewohnt hatten und die Familie Dreh- und Angelpunkt der ortsansässigen Gesellschaft gewesen war. Als Kind war Rebecca regelmäßig in den Genuss rauschender Bälle in Norford Hall gekommen. Es hatte nicht viel gefehlt, und Rebecca hätte sich mit Prestons jüngster Tochter, Amanda Locke, angefreundet, die nur wenige Jahre älter als sie selbst war. Noch heute bedauerte Rebecca, dass Amanda, der Familientradition folgend, auf eine entfernt gelegene Privatschule geschickt worden war. Als auch das Nesthäkchen ausgezogen war, hatte es, sehr zum Leidwesen von Mutter und Tochter, kaum noch Festivitäten auf Norford Hall gegeben. Obschon die Gemahlin des Herzogs bereits Jahre zuvor verschieden war und jede alleinstehende Frau in der näheren Umgebung mindestens ein Mal versucht hatte, das Herz des Herzogs zu erobern, war er Witwer geblieben. Der Hausherr von Norford Hall zog es vor, mit seiner betagten Mutter unter einem Dach zu leben. Irgendwann hatte Ophelia Locke es übernommen, Empfänge und Feste im Hause des Herzogs auszurichten. Dieselbe Ophelia, der es gelungen war, Raphaels Herz zu erobern, ehe Rebecca die Chance hatte, zum Angriff überzugehen.
Somit waren es streng genommen schon zwei verpasste Gelegenheiten, Bande zwischen den Marshalls und dieser hochgradig ungewöhnlichen Familie zu knüpfen: als beste Freundin und als Gemahlin. Aber das war Schnee von gestern. Das Leben ging weiter – und zwar als Hofdame am Hofe von Königin Victoria. Rebecca war sich der Vorteile, die sich daraus ergaben, durchaus bewusst. Mit ein wenig Glück lernte sie die wichtigsten Persönlichkeiten Englands sowie Repräsentanten anderer Königshäuser kennen. Oder die Königin persönlich war ihr bei der Wahl ihres Gemahls behilflich.
Es grenzte an ein Wunder, dass Rebeccas Garderobe noch rechtzeitig vor der Abreise nach London fertig wurde. Besonders erfreulich war, dass die Gewänder um einiges glamouröser ausgefallen waren als für ein herkömmliches Gesellschaftsdebüt. Lilly hatte weder Kosten noch Mühen gescheut und es sich nicht nehmen lassen, Rebecca und ihre Magd Flora von Norford bis zum Palast zu begleiten.
Es war nicht das erste Mal, dass Rebecca nach London kam. Im Laufe der Jahre hatten sich mehrfach Möglickeiten dazu ergeben; sei es, um Einkäufe zu erledigen, Pferderennen beizuwohnen, an denen der Vater von Lillys Stute teilnahm, oder um die Vermählung einer alten Freundin der Familie zu feiern. Rebecca hatte schon viel von der Hauptstadt gesehen – mit Ausnahme des Buckingham Palace. Das war jedoch dem Umstand geschuldet, dass der Palast erst seit wenigen Jahren wieder bewohnt war.
Als Rebecca aus der Kutsche stieg und das beeindruckende Gebäude, in dem sie die nächsten Monate oder vielleicht Jahre verbringen würde, ausgiebig musterte, gingen ihr fast die Augen über. Der Palast war größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Die edlen Marmorbögen, die den Haupteingang säumten und bis in den Himmel zu ragen schienen, verschlugen Rebecca die Sprache. Sie konnte kaum glauben, dass sie in wenigen Minuten durch ebendiese Bögen den Palast betreten würde.
Vorausgesetzt, sie konnte ihre Füße dazu überreden, sich in Bewegung zu setzen. Die Nervosität, die sie vom Kopf bis in die Zehenspitzen erfüllte, war überwältigend. Rebecca wusste bereits, dass Lilly sie nicht mit in den Palast begleiten würde, fühlte sich aber noch nicht bereit, sich von ihr zu verabschieden.
Lilly nahm Rebeccas Hand und drückte sie. Sie wusste, wie es in ihrer Tochter aussah. Die einfache Geste sollte Rebecca den nötigen Mut verleihen.
»Dein Vater wäre unsäglich stolz, wenn er diesen Moment miterleben könnte.«
Rebecca warf ihrer Mutter einen hastigen Blick zu. Ein wahrlich ergreifender Augenblick! Obwohl Lilly sich aufrichtig für ihre Tochter freute, war ihr anzusehen, dass sie noch immer der verpassten Gelegenheit in ihrem eigenen Leben nachtrauerte. Ihr Lächeln konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihr Tränen in den Augen standen.
»Ihr werdet jetzt doch nicht etwa weinen, oder?«, fragte Flora entnervt.
Lilly lachte, Rebecca grinste. Es war nicht das erste Mal, dass Flora es mit ihrer schonungslos offenen Art geschafft hatte, Spannungen abzubauen.
Rebecca bedauerte ein wenig, dass Flora nicht mit ihr am Hofe leben würde, weil es dort nicht genug Platz für sämtliche Bedienstete gab. Sobald Rebecca sich häuslich eingerichtet hatte, würde Flora den Palast verlassen und eine angemietete Kammer ganz in der Nähe beziehen und dann täglich in den Palast kommen, um ihre Arbeit zu verrichten. Der Mangel an geeignetem Wohnraum im Palast ging so weit, dass Rebecca sich mit einer anderen Hofdame das Gemach würde teilen müssen.
Ursprünglich hatte Lilly mit dem Gedanken gespielt, eine Stadtvilla für Rebeccas erste Saison zu erwerben. Jetzt, da Rebeccas Debüt jedoch im Palast stattfand, war Lillys Entscheidung ins Wanken geraten. Zugegeben, es gab eine Reihe von Hofdamen, die eine Stadtvilla besaßen, wo sie auch nächtigten, aber Lilly war es wichtig, dass Rebecca das höfische Leben mit all seinen Facetten kennenlernte.
Lilly schlang ihre Arme um Rebecca und herzte sie ausgiebig. »In wenigen Wochen sehen wir uns ja bereits wieder, Liebling. Du hast mein Ehrenwort darauf, dass ich versuchen werde, dich nicht vorher zu besuchen.«
»Es ist nicht nötig, dass du ...«
»Doch, das ist es«, unterbrach Lilly sie. »Dies ist deine Zeit, nicht meine. Du wirst jeden Moment davon genießen. Versprich mir, dass du mir jeden Tag schreibst! Ich möchte jedes noch so kleine Detail erfahren.«
»Versprochen.«
»Am allerwichtigsten ist jedoch, dass du dich amüsierst, Becky. Dir stehen glanzvolle Zeiten ins Haus, das spüre ich.«
Rebecca wünschte, sie teilte den Enthusiasmus ihrer Mutter. Doch jetzt, wo ihre Trennung unmittelbar bevorstand, schlug ihre Aufregung in tiefe Melancholie um. Dies war eigentlich Lillys Traum, und Rebecca wünschte, ihre Mutter könnte ihn selbst leben.
Um Lilly nicht zu enttäuschen, setzte Rebecca ein breites Lächeln auf, schloss sie ein letztes Mal in ihre Arme und lief schnellen Schrittes in Richtung Torbogen.
Ob wir wohl jemals ankommen werden?«, flüsterte Flora mit einem breiten Grinsen, während Rebecca und sie einem livrierten Dienstboten folgten, der prächtiger gekleidet war als so mancher Adlige. Es kam ihnen vor, als würde der Korridor kein Ende nehmen.
Die Magd hatte lediglich im Scherz gesprochen, doch der Bedienstete wandte seinen Kopf zur Seite und antwortete: »Lady Rebeccas Gemach befindet sich hinter der nächsten Abzweigung. Ihr könnt von Glück sprechen, dass es näher an den Haupträumen liegt als die Gemächer der meisten Hofdamen. Die Königin hat sich an eine Begegnung aus Kindertagen mit dem Earl of Ryne erinnert und daraufhin besagtes Gemach vorgeschlagen. Ein gelungener Einstieg, Mylady, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.«
Floras Augen glänzten. Rebecca errötete. Wie konnte es sein, dass ein Bediensteter über so etwas Bescheid wusste? Doch sie durfte nicht vergessen, dass sie am Hofe war. Vermutlich wussten die Bediensteten mehr über das Privatleben der Höflinge als jeder andere. Hatte ihre Mutter sie nicht eindringlich gebeten, ihnen stets voller Respekt zu begegnen?
»Ich behandle Untergebene stets mit Respekt«, hatte Rebecca ihr bei dieser Gelegenheit in Erinnerung gerufen.
»Das weiß ich doch, mein Liebes. Ich möchte lediglich sichergehen, dass du nicht ausgerechnet jetzt damit beginnst, dich auf ein hohes Ross zu setzen.«
Das war nur eines der vielen törichten Dinge, die Lilly vor lauter Erschöpfung wegen der kräftezehrenden Vorbereitungen für Rebeccas neues Leben von sich gegeben hatte. Selbst nach einer Mütze Schlaf hatte ihre Mutter das Thema am nächsten Tag gleich noch einmal angeschnitten.
»Wenn es dir gelingt, dir die Gunst der Bediensteten zu sichern, kann sich das unter Umständen als sehr hilfreich erweisen. Einige von ihnen handeln mit brisanten Informationen. Und wenn sie dir wohlgesinnt sind, wird es ihnen eine Freude sein, dich daran teilhaben zu lassen.«
Die Worte ihrer Mutter beherzigend, schenkte sie dem Bediensteten ein Lächeln und sagte: »Herzlichen Dank ...«
»John Keets, Mylady.«
»Danke, John. Es tut gut, zu wissen, dass mein Vater in guter Erinnerung geblieben ist.«
Der junge gertenschlanke Mann, der einen stoischen Gesichtsausdruck wahrte, wenn er nicht sprach, nickte. Verzückt warf die schwarzhaarige Flora, die schon so manchem Mann den Kopf verdreht hatte, dem Pagen bewundernde Blicke zu.
Vor nunmehr sechs Jahren war Flora in den Dienst der Marshalls getreten. Obwohl sie noch verhältnismäßig jung war, war sie eine Meisterin ihres Metiers, hatte das Rüstzeug von ihrer Mutter erlernt, die ebenfalls als Magd gearbeitet hatte. Rebecca war froh, nicht auf Floras begnadete Frisierkünste verzichten zu müssen.
Als John Floras Blicke bemerkte, schlich sich ein sinnliches Funkeln in seine Augen. Im selben Moment erreichten sie das Ende des Korridors, John bog nach rechts ab und öffnete die erste Tür auf der linken Seite.
»Eure Kleidertruhen werden in Bälde hergebracht«, ließ er sie wissen, als er die beiden in das kleine Gemach führte. »Und wieder abgeholt, sobald sie ausgepackt sind. Ihr werdet hier gemeinsam mit Lady Elizabeth Marly wohnen. Bedauerlicherweise ist die Königin sich nicht darüber im Klaren, dass Lady Elizabeth eine ziemliche Unruhestifterin ist. Es wäre ratsam, keine zu enge Bindung zu dieser Dame aufzubauen.«
Rebecca war verdutzt. Was meinte er damit, dass ihre Mitbewohnerin eine Unruhestifterin wäre?
Floras Gedanken schienen in dieselbe Richtung zu gehen. Kaum war die Tür hinter John ins Schloss gefallen, fragte sie: »Klingt höchst ominös, findet Ihr nicht auch?«
Rebecca nickte, wehrte sich aber dagegen, voreilige Schlüsse zu ziehen. »Das könnte zum Beispiel bedeuten, dass sie Dinge in Gang setzt, die aber nicht per se von schlimmer Natur sind, sondern lediglich am falschen Ort zur falschen Zeit geschehen.« Als sie Floras zweifelnden Blick auffing, setzte sie rasch hinzu: »Sobald ich diese Elizabeth näher kennengelernt habe, kann ich mir ein besseres Bild von ihr machen.«
Mit einem Schnauben wechselte Flora das Thema. »Dieses Zimmer ist viel kleiner, als ich es mir vorgestellt habe. Es ist ja kaum größer als Euer Ankleidezimmer zu Hause.«
Die Verachtung, die sich in Floras Stimme mischte, trieb Rebecca ein Schmunzeln auf die Lippen. Das Gemach war natürlich größer als ihr Ankleidezimmer, jedoch um einiges kleiner als ihr Schlafgemach.
»Ich gehe ohnehin nicht davon aus, dass wir sonderlich viel Zeit hier verbringen werden. Der Raum dient lediglich dazu, hier zu schlafen und sich umzuziehen«, antwortete Rebecca.
»Was ganz schön eng werden dürfte.«
Damit hatte die Magd nicht ganz unrecht. Sonderlich viel Bewegungsfreiheit ließ die Einrichtung nicht zu. Ein Doppelbett, das eher an eine breite Pritsche erinnerte, nahm den meisten Raum ein. Hinzu kamen zwei schmale Nachttischchen, auf denen jeweils eine Lampe stand. Einen Kamin gab es nicht, dafür eine Kohlenpfanne, die allerdings frühestens in einem Monat zum Einsatz kommen würde. In einer der Ecken, hinter einer spanischen Wand, befand sich eine kleine Badewanne sowie eine Kommode, auf der Rebecca eine Waschschüssel und einen Stapel Handtücher entdeckte. In der anderen Ecke stand ein winziger runder Tisch, auf den gerade einmal ein einziges Essenstablett passte. Außer einem Schemel bot das Zimmer keine weitere Sitzgelegenheit. Blickfang des Gemachs bildeten jedoch die zahlreichen Kleiderschränke, die sich über zweieinhalb Wände erstreckten und sogar das einzige Fenster blockierten und nur dünne Lichtstrahlen in den Raum ließen.
Flora und Rebecca starrten die Kleiderschränke mit großen Augen an. »Das darf doch nicht wahr sein! Ich dachte, Ihr bekämet ein eigenes Ankleidezimmer zugewiesen, das Ihr Euch mit anderen teilt. Dass Euer Gemach zugleich auch zum Umkleiden dient, damit hätte ich nun wahrlich nicht gerechnet! Auf der anderen Seite sollten wir uns freuen, dass es genug Stauraum für Eure prächtigen Gewänder gibt«, stellte Flora fest. Als sie wahllos einen der Schränke öffnete, war dieser bereits zum Bersten mit Kleidern voll – genau wie der nächste und der übernächste. Lady Elizabeth hatte augenscheinlich die ganze Wand für sich in Anspruch genommen. Als Flora vor die Schränke trat, die das Fenster blockierten, erwartete sie derselbe Anblick wie zuvor. Insgesamt gab es nur einen halb leeren und zwei leere Schränke.
Flora lachte höhnisch. »Habt Ihr nicht auch den Eindruck, Lady Elizabeth hätte das Gemach am liebsten für sich allein?«
»Das könnte man in der Tat meinen«, pflichtete Rebecca ihr bei.
»Die Dame scheint im Besitz zu vieler Kleider zu sein, so viel steht fest. Aber ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als einen Teil davon zu beseitigen, wenn sie nicht möchte, dass sie zerknittern, denn ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, Rebecca, dass Ihr die Hälfte der Schränke bekommt, wie es Euch zusteht. Am besten, wir fangen direkt damit an.«
Gesagt, getan. Mit Rebeccas Hilfe machte Flora sich daran, die Schränke zu leeren. In Ermangelung eines Schreibpultes – dafür wäre nun wahrlich kein Platz mehr gewesen – verstaute Rebecca jene Utensilien, die nicht aufgehängt werden mussten, in den geräumigen Schubladen im Sockel der Schränke.
Wie sich herausstellte, blieb es ihnen erspart, Elizabeth’ Kleider in ihre Schränke zu quetschen. In einem hingen beispielsweise lediglich zwei Ballkleider und in einem anderen nichts als Kostüme, die sie zusammenfalteten.
»Das wäre geschafft«, resümierte Flora, zufrieden mit der neuen Ordnung. »Mit ein wenig Glück brauchen wir nur diese eine Wand, sodass Lady Elizabeth die beiden zusätzlichen Schränke haben kann. Aber das muss reichen. Ihr werdet kein Leben am Hofe mit zerknautschten Kleidern führen, nur weil sie zu viel mitgebracht hat! Und außerdem«, fügte Flora hinzu, den Blick auf die leeren Schränke gerichtet, die Rebeccas Gewänder füllen würden, »gibt es keinen Grund, warum nicht mehr Licht in den Raum fallen sollte. Die Schränke sind denkbar schlecht aufgestellt. Es ist gar nicht nötig, dass sie das Fenster blockieren. Wenn wir sie ein wenig verschieben ließen, reichte der Platz, um sich durchzuquetschen und eines der Fenster zu öffnen, falls nötig. Sobald Eure Kleidertruhen kommen, werde ich einen der Männer fragen, ob er uns hilft.«
Und genau das tat Flora auch. Zwei der Diener, die die Aufgabe hatten, die vier Kleidertruhen in das Gemach zu bringen, gingen Rebecca und Flora nur zu gern zur Hand, nachdem die Magd ihnen ein verführerisches Lächeln geschenkt hatte. Der dünne Vorhang aus weißem Stoff, der dabei zum Vorschein kam, war nach monatelanger Verbannung so verstaubt, dass Flora versprach, sich darum zu kümmern, dass er gewaschen wurde.
Wenig später verabschiedete die Magd sich, damit sie sich um ihre eigene Behausung kümmern konnte. Dabei bemerkte sie glucksend: »Mein Zimmer dürfte größer sein als Euer Gemach.«
Rebecca lächelte.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis von ihrer Vergnügtheit nichts mehr zu spüren war. Die Erkenntnis, ohne ihre Mutter und Flora am Hofe leben zu müssen, drohte sie zu erdrücken.
Dem Umstand, dass Rebecca stets Hauslehrer gehabt hatte, war es zu verdanken, dass Mutter und Tochter noch nie getrennt waren. Rebeccas Berufung an den Hof bedeutete unweigerlich, dass die Bindung zu ihrer Mutter, die nicht einmal einen Mann an ihrer Seite hatte, der ihr Halt gab, nie wieder so eng sein würde wie früher. Die Tatsache, dass Rebecca nun ein Leben bevorstand, in dem sie viele neue Menschen kennenlernte und rauschende Bälle feierte, ja vielleicht sogar ihren zukünftigen Gemahl traf, spendeten Rebecca in diesem Moment nur wenig Trost. Tief in ihrem Innern hätte sie nichts gegen ein stinknormales Gesellschaftsdebüt an der Seite ihrer Mutter einzuwenden gehabt. Rebecca hatte es aber einfach nicht übers Herz gebracht, ihrer Mutter die Freude über ihre Stellung als Hofdame zu verderben. Schließlich waren Rebecca und Lilly weitaus mehr als Mutter und Tochter. Sie waren Freundinnen. Und genau deshalb hätte sie ihr eigentlich davon erzählen müssen. Eigentlich ...
Nachdem Flora sich verabschiedet hatte, beschloss Rebecca, die freie Zeit dazu zu nutzen, sich ein wenig zu entspannen. Die Woche war anstrengend gewesen. Sie konnte von Glück sagen, dass für den heutigen Tag keine weiteren Termine anberaumt waren. Die Herzogin von Kent, Königin Victorias Mutter, der sie unterstellt war, weilte außerhalb des Palastes und wurde erst morgen zurückerwartet.
Rebecca, die es sich auf dem Bett gemütlich gemacht hatte, dachte ein wenig über die Königin nach. Obwohl sie im Dienste ihrer Mutter stand, konnte es sein, dass sie der Monarchin niemals begegnen würde. Rund die Hälfte all jener, die den Palast ihr Zuhause nannten, bekam die Königin nie zu Gesicht oder machte erst gar nicht ihre Bekanntschaft. Auf der anderen Seite könnte es aber auch sein, dass sie vielleicht sogar so etwas wie gute Freundinnen würden. Alles ist möglich, wenn man im Palast wohnt, dachte Rebecca, kurz bevor sie wegdöste.
»Was habt Ihr getan?«, ertönte eine schrille Stimme. »Wie kommt Ihr dazu, die Schränke zu verrücken? Ich schlafe gern lange und kann es auf den Tod nicht ausstehen, von der Sonne geweckt zu werden. Wenn Ihr erst einmal ein paar Tage am Hofe wart, werdet Ihr wissen, wovon ich rede.«
So barsch war Rebecca noch nie aus dem Schlaf gerissen worden! Nachdem sie einige Male geblinzelt hatte, entdeckte sie eine junge untersetzte Frau mit smaragdgrünen Augen, die wie ein Rohrspatz schimpfte, während sie ungehalten an den Ärmeln ihres orangefarbenen Kleides zupfte. Zierliche Korkenzieherlöckchen rahmten ihr engelhaft anmutendes Antlitz ein, während der Rest der dunkelblonden Locken eng an ihrem Kopf festgesteckt war. Jemand sollte ihr sagen, dass Orange nicht ihre Farbe ist, dachte Rebecca schlaftrunken bei sich. Es macht sie blass. Wenn sie nicht so wütend dreinblicken würde, wäre sie vielleicht sogar recht hübsch.
Erst jetzt merkte Rebecca, dass die Sonne längst untergegangen und eine Öllampe entzündet worden war. Als sie sah, wie der funkelnde Blick des pummeligen Mädchens zum Fenster wanderte, schlug sie schnell vor: »Wir können ja wieder Gardinen davorhängen.«
»Aber nur, wenn sie kein Licht durchlassen«, kam prompt die schnippische Antwort.
Jetzt war Rebecca hellwach. Das Mädchen schäumte nur so vor Wut und versuchte erst gar nicht, damit hinter dem Berg zu halten. Die Frage war nur, weshalb sie sich über etwas so Belangloses so echauffierte.
Nachdem Rebecca sich aufgesetzt hatte, blickte sie stirnrunzelnd zu dem Fenster, das für so viel Aufsehen sorgte. Kein besonders guter Start. Rebecca war sich sicher, dass sie es mit niemand Geringerem zu tun hatte als mit ihrer zukünftigen Zimmergenossin – Lady Elizabeth.
»Ich könnte das Fenster mit einem Unterrock verhängen und ihn morgen Früh abnehmen, sobald Ihr erwacht seid«, brachte sie vor, um die Wogen ein wenig zu glätten. »Da es mir noch nie passiert ist, dass ich von der Sonne geweckt wurde, hielt ich es für angebracht, für mehr Licht zu sorgen. Ich finde es unsinnig, tagsüber Lampen entzünden zu müssen, wenn es draußen hell ist.«
Doch ihre Mühen waren umsonst. Die junge Dame, die mit dem Gesicht den Schränken zugewandt gestanden hatte, fuhr herum und funkelte sie an. »Dann habt Ihr anscheinend noch nie in einem Raum genächtigt, der nach Osten hinausgeht.«
Rebecca zuckte innerlich zusammen. »Da könntet Ihr Recht haben. Jetzt, da ich weiß, wo Euer Problem liegt, werde ich alles daransetzen, es zu beheben, darauf gebe ich Euch mein Wort.« Wenn sie das nicht versöhnlicher stimmte, wusste Rebecca sich auch keinen Rat mehr.
Erst als Rebecca sich erhob, merkte sie, wie klein ihre Mitbewohnerin war. Sie, die genau wie ihre Mutter recht groß war, überragte Lady Elizabeth um mindestens einen Kopf. Aber das war nicht die einzige Parallele zwischen Mutter und Tochter. Beide waren blond, hatten blaue Augen, hohe Wangenknochen, eine schmale Nase, ein zierliches Kinn und waren von schlanker, aber dennoch kurvenreicher Statur.
Mit einem Lächeln versuchte Rebecca zu retten, was noch zu retten war. »Ihr seid Lady Elizabeth, nehme ich an.«
»Ja. Und Ihr?«
Elizabeths Unterton klang nach wie vor kühl und herrisch. Rebecca konnte nur schwer glauben, dass niemand sie darüber informiert hatte, mit wem sie von nun an das Gemach teilen würde.
»Lady Rebecca Anne Victoria Marshall.«
Es fehlte nicht viel, und Rebecca wäre rot angelaufen. Es war ihr schleierhaft, warum sie sich ausgerechnet vor ihrer kratzbürstigen Mitbewohnerin mit sämtlichen Vornamen vorgestellt hatte. Meistens wurde sie ohnehin nur Becky gerufen. Nur wenn ihre Mutter wütend auf sie war, nannte sie sie Becky Ann. Rebecca war davon überzeugt, dass sie nur deshalb so viele Vornamen hatte, weil ihre Eltern sich nicht hatten einigen können.
»Ihr seid nach der Königin benannt? Wie drollig«, spöttelte Elizabeth, ehe sie einen der Kleiderschränke öffnete.
Voller Genugtuung beobachtete Rebecca, dass in dem Kleiderschrank nun ihre Gewänder hingen. »Streng genommen konnte bei meiner Geburt niemand ahnen, dass Victoria einmal unser Land regieren würde. Wenn eine von uns nach einer Königin benannt wurde, dann seid Ihr es.«
Elizabeth warf ihr einen kühlen Blick über die Schulter zu. »Ihr hättet lieber die Finger von meinen Kleidern lassen sollen. Wagt es ja nicht noch einmal, in meinen Sachen zu wühlen!«
»Aber Ihr wart nicht da und ...«
»Es war alles perfekt, so wie es war.«
Rebecca verkniff sich ein Lachen als Reaktion auf die zähneknirschende Antwort ihrer Mitbewohnerin. »Da muss ich Euch leider Gottes widersprechen. Es war in erster Linie ungerecht und ist es noch immer, wie Ihr gleich erkennen werdet. Wir haben Euch nämlich die beiden zusätzlichen Schränke überlassen.«
Statt sich zu bedanken – vermutlich, weil sie nicht einmal merkte, dass man ihr etwas Gutes hatte tun wollen –, schoss Elizabeth entnervt zurück: »Wir?«
»Meine Magd und ich.«
»Eure Magd hat ein Zimmer?« Laut nach Luft schnappend drehte Elizabeth sich weg. »Wie habt Ihr das denn bewerkstelligt?«
»Nein, nein. Ihr versteht da etwas falsch. Wir ...«
»Verstehe, Ihr seid im Besitz einer Stadtvilla?«, fiel Elizabeth ihr ins Wort. »Da meine Familie bedauerlicherweise keine Immobilie in London besitzt, musste meine Magd zu Hause bleiben. Wenn Ihr ein Londoner Haus Euer Eigen nennt, ist es mir schleierhaft, warum Ihr es nicht nutzt, sondern mir den Platz in diesem winzigen Verschlag streitig macht.«
Damit waren auch die letzten Zweifel, dass Elizabeth sie nicht mochte, endgültig ausgeräumt. Ihre Mitbewohnerin hätte kaum deutlicher machen können, dass sie niemanden in ihrem Gemach duldete. Zum Glück war Rebecca von Natur aus nicht zartbesaitet – ein Wesenszug, den sie ihrem Vater zu verdanken hatte – und nahm diese Erkenntnis gelassen hin.
»Auch wenn es Euch nicht passt, aber dieses Gemach wurde mir nun einmal von höchster Stelle zugewiesen. Nichts liegt mir ferner, als unsere Königin dadurch zu beleidigen, dass ich sie auffordere, mir ein neues Quartier zuzuteilen. Wenn Ihr die Situation als unerträglich empfindet, wäre es vielleicht ratsam, wenn Ihr Euch nach einer neuen Bleibe umseht, was meint Ihr?«
Vor lauter Verlegenheit fingen Elizabeths Wangen Feuer. Hatte sie tatsächlich geglaubt, sie könnte Rebecca dazu bewegen, gleich wieder auszuziehen oder sich dafür zu entschuldigen, dass sie nun ebenfalls in diesem winzigen Zimmerchen wohnte, nur weil Elizabeth zuerst eingezogen war?
»Wie ich bereits sagte, ehe Ihr Euch erdreistet habt, mich zu unterbrechen«, fuhr Rebecca unbeirrt fort, »nein, meine Familie ist nicht im Besitz einer Stadtvilla, aber wir haben ganz in der Nähe ein Zimmer für meine Magd aufgetan, damit sie täglich in den Palast kommen und ihre Arbeit verrichten kann.«
»Wie schön für Euch!«, zischte Elizabeth. »Wie kommt es dann, dass ich Eure Magd gar nicht sehe?«
Nun kroch Rebecca die Röte in die Wangen, wenngleich ihr schleierhaft war, warum. Was konnte sie dafür, dass es verarmte Adelsfamilien gab? Sollte sie sich jetzt etwa schämen, weil ihre Mutter gut gewirtschaftet und die Besitztümer der Familie zusammengehalten hatte? Kam gar nicht infrage!
Erleichtert erkannte Rebecca, dass Elizabeth vor dem Frisiertischchen stand und nicht mitbekommen hatte, dass sie errötet war. Elizabeth zog den mit Samt bezogenen Hocker heran, der seinen Platz unter dem mit Spitze ausgelegten Tisch hatte, und ließ sich darauf nieder, als Rebecca antwortete: »Da meines Wissens für heute keinerlei Termine anberaumt sind, gab es keinen Grund, Flora noch länger hierzubehalten.«
»Wenn Ihr Euch da mal nicht irrt. Ab und an kommt es vor, dass Ihr Euch spontan herrichten müsst, weil aus heiterem Himmel eine Festivität ausgerichtet wird. Ihr tätet also besser daran, stets auf alles vorbereitet zu sein.«
Das klingt plausibel, dachte Rebecca, wenngleich ihr nicht einleuchtete, warum eine Gewitterziege wie Elizabeth ausgerechnet ihr einen Ratschlag gab.
»Wie wäre es, wenn Ihr die von Euch eigenmächtig veranlassten Veränderungen wiedergutmacht, indem Ihr Eure Magd anweist, sich meines Haars anzunehmen? Im Moment kümmert Lady Janes Magd sich um meine Lockenpracht, aber Ihr glaubt nicht, wie lästig es ist, dafür stets an das andere Ende des Palastes laufen zu müssen.«
Rebecca hätte wissen müssen, dass Elizabeth nichts ohne Gegenleistung tat.
»Ich glaube kaum, dass Flora mit der zusätzlichen Arbeit einverstanden sein wird«, erwiderte sie.
Doch so schnell wollte Elizabeth sich nicht geschlagen geben. »Als ob diese Flora das Recht auf eine eigene Meinung hätte! Schließlich steht sie in Eurem Dienst, ist angehalten, Euren Anweisungen Folge zu leisten.«
»Flora ist nicht meine Magd, sie dient auch meiner Mutter. Wie wäre es, wenn Ihr Euch an sie wendet, um die Sache zu klären?«
Als Reaktion auf Rebeccas Worte schnitt Elizabeth eine Grimasse. »Vergesst es! Ich werde schon irgendwie klarkommen, wie immer.«
Rebecca schüttelte ungläubig das Haupt. Wäre Elizabeth eine Spur freundlicher gewesen, hätte sie Flora die Entscheidung anheimgestellt und der Magd die eine oder andere Münze als Entschädigung für die zusätzliche Arbeit zugesteckt.
Um sich weitere bissige Kommentare ihrer liebreizenden Zimmerkameradin zu ersparen, suchte Rebecca kurzerhand ihren dicksten Unterrock heraus und befestigte ihn zwischen dem Fenster und den Schränken.
»Wart Ihr eigentlich umsichtig genug, ein Kostüm mitzubringen?«, fragte Elizabeth beifällig. »Drina hat einen Maskenball für heute Abend einberufen.«
»Drina?«
»Die Königin, Ihr dummes Ding!«
Ein verzeihlicher Fehler seitens Rebecca, da nur Mitglieder der königlichen Familie Königin Victoria mit ihrem alten Spitznamen anredeten. Und da es eher unwahrscheinlich war, dass Rebecca sich mit einem Familienmitglied des Königshauses ein Gemach teilte, hatte sie auch niemanden von Rang beleidigt.
Doch zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, ihre Mutter hätte sie nach traditionelleren Methoden erzogen. Wäre ihr Vater nicht so früh verstorben, hätte sie vermutlich eine Erziehung genossen, die mehr der von jungen Mädchen heutzutage glich.
Selbstredend hatte Lilly Wert darauf gelegt, eine tugendhafte und pflichtbewusste junge Dame heranzuziehen. So war es nicht weiter verwunderlich, dass Rebecca mit ihren achtzehn Lenzen noch nie einen Mann geküsst hatte. Lillys Ziel war stets gewesen, aus Rebecca eine pflichtbewusste Gemahlin zu machen. Eines Tages, als Lilly sie für alt genug gehalten hatte, hatte sie ihre Tochter zur Seite genommen und erklärt: »Wir Frauen tun am besten daran, mit unserem Intellekt – vorausgesetzt, wir sind damit gesegnet – hinter dem Berg zu halten. Präg dir meine Worte gut ein! Wenn du angehalten bist, dich dumm zu stellen, dann tu genau das. Bedauerlicherweise erwarten die meisten Männer unseres Standes genau das von ihrer Gemahlin. Aber wer weiß, vielleicht ist Fortuna dir hold, und du gerätst an einen Mann, der anders denkt, der Freude an anregenden Unterhaltungen hat. Falls nicht, sei umsichtig genug, die Einfältige zu mimen!«
Es vergingen einige Momente, ehe der Groschen fiel und Rebecca kreidebleich fragte: »Seid Ihr etwa mit der Königin verwandt?«
»Wie kommt Ihr denn darauf?«, kam prompt die unterkühlte Antwort.
Erst jetzt dämmerte Rebecca, dass Elizabeth ihr vor Augen führen wollte, dass sie so gut wie nichts über das Leben am Hofe wusste. Sie machte sich einen Spaß daraus, Rebecca aufzuziehen und zu verunsichern.
Erleichtert darüber, sich nicht mit einem Mitglied der königlichen Familie angelegt zu haben, und zugleich verstimmt über Elizabeths Verhalten, sagte Rebecca mit frostiger Stimme: »Von einem Maskenball weiß ich gar nichts.«
»Das könnte der Tatsache geschuldet sein, dass Ihr noch nicht lange hier seid.«
Dieser Punkt ging an Elizabeth, aber Rebecca war sich sicher, dass ihre Anwesenheit dort aus ebendiesem Grunde nicht erforderlich war. Immerhin war sie erst vor wenigen Stunden eingetroffen und musste sich erst noch akklimatisieren.
»Bleibt nur zu hoffen, dass Ihr mehr als nur ein Kostüm im Gepäck habt. Die Königin liebt Unterhaltung, vor allem in Form von Maskenbällen. Sie ist noch jung, nur wenige Lenze älter als Ihr und ich. Weshalb sollte sie andere Interessen haben als wir?«
Rebecca spürte, wie ihr abermals die Röte in die Wangen stieg. Sie und ihre Mutter hatten bei der Zusammenstellung ihrer Garderobe an alles gedacht – mit Ausnahme eines Kostüms. Es war bitter, aber sie war noch nicht einmal im Besitz einer Augenmaske.
Es war, als könnte Elizabeth Gedanken lesen. »Welch eine Schande! Ein ziemlich verhunzter Start, meint Ihr nicht auch?«
Lag da etwa eine Spur von Schadenfreude in Elizabeths Stimme? Ehe Rebecca den Gedanken verfolgen konnte, fuhr Elizabeth fort: »Ich würde Euch ja eine meiner Verkleidungen leihen« – sie hielt lange genug inne, um Rebeccas schlanken Körper vom Scheitel bis zur Sohle zu mustern –, »aber selbst ein Blinder mit Krückstock sieht, dass das keinen Sinn hätte.«
»In diesem Fall werde ich mich eben entschuldigen lassen.«
»Das geht nur, wenn Ihr leibhaftig erkrankt seid, was in Eurem Fall eine glatte Lüge wäre. Es wird erwartet, dass wir sämtlichen gesellschaftlichen Veranstaltungen am Hofe beiwohnen, vor allem, wenn ausländische Würdenträger eingeladen sind, damit ihnen genügend Damen zur Unterhaltung zur Seite stehen. Die Königsfamilie hat ein großes Interesse daran, einen guten Eindruck bei ihren Gästen zu hinterlassen.«
Just darauf hatte Lilly sie vorbereitet. Genau das war auch der Grund, warum es für ein Gesellschaftsdebüt keinen besseren Ort geben konnte. Rebecca würde die Bekanntschaft der weltweit begehrtesten Junggesellen machen und, im Gegenzug, Teil des Prunks und Geschehens sein, um ebendiese Herrschaften zu beeindrucken.
Rebecca machte sich im Geiste eine Notiz, ihre Mutter umgehend zu verständigen, damit sie ein Kostüm in Auftrag geben konnte. Zum Glück kannten die Schneiderinnen ja ihre Maße. Allerdings löste das leider nicht das Problem, dass sie schon am Abend ein Kostüm haben musste. Wieso hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie darauf hinzuweisen?
»Ich glaube, ich fühle mich ein wenig unpässlich ...«
»Seid still, und lasst mich nachdenken!«, fuhr Elizabeth sie an. »Die anderen Hofdamen, die mehrere Kostüme besitzen und Euch eines davon leihen könnten, sind genau wie ich … zu klein, um Euch auszuhelfen. Wie habt Ihr es eigentlich angestellt, so groß zu werden? Seid Ihr womöglich nach Eurem Vater geraten?«
»Nein, nach meiner Mutter.«
Doch Elizabeth hörte gar nicht zu. »Ich will nachsehen, ob ich etwas habe, mit dem ich Euch aushelfen kann«, murmelte sie und trat vor einen ihrer Schränke. Nach wenigen Augenblicken fuhr sie herum, einen dreieckigen Hut in der Hand, wie er vor Jahrhunderten modisch gewesen war. Elizabeth lächelte sogar – und sah mit einem Schlag freundlicher aus.
»Den hat meine letzte Zimmergenossin vergessen. Schade nur, dass sie den passenden Gehrock und die Beinkleider mitgenommen hat. Aber ich bin mir sicher, dass wir beides anderswo auftreiben können. Es gibt Bedienstete, die sich ziemlich üppig kleiden, falls Euch das noch nicht aufgefallen ist.«
Rebecca runzelte skeptisch die Stirn. »Und was genau würde mein Kostüm dann darstellen?«
»Ein Musketier natürlich. Glaubt mir, niemandem wird auffallen, dass Ihr keinen Degen bei Euch führt. Am wichtigsten ist die altertümliche Kopfbedeckung. Es rundet die Verkleidung ab. Bei einem Mann würde sie nicht wirken. Sobald er den Hut absetzt, wäre er nicht mehr verkleidet. Für uns Frauen hingegen ist das die Gelegenheit, endlich einmal in Beinkleider zu schlüpfen.«
Damit hatte Elizabeth nicht einmal Unrecht. Und sie schien derart begeistert von ihrem Einfall zu sein, dass Rebecca es nicht übers Herz brachte, ihr zu beichten, dass sie sich lieber eine Rüge einhandelte, weil sie nicht gekommen war, als sich in einer halbherzig zusammengeborgten Kostümierung blicken zu lassen, was ihr womöglich eine noch viel härtere Zurechtweisung einbrachte, weil sie versucht hatte, sich als Mann zu kleiden.
»Am besten, Ihr versteckt Euer Haar unter dem Hut«, fügte Elizabeth hinzu, als sie ihr die antike Kopfbedeckung zuwarf. »Jetzt wünscht Ihr Euch bestimmt, Ihr hättet Eure Magd doch nicht so schnell schon wieder weggeschickt, oder?«
Da war sie wieder, die scharfzüngige Elizabeth, wie Rebecca sie kennengelernt hatte. Ja, bissige Kommentare von sich zu geben und einen überheblichen Gesichtsausdruck aufzusetzen, passte definitiv besser zu ihr, als die Samariterin zu mimen. Kein Wunder, dass Rebecca argwöhnisch wurde, wenn ein offensichtlich missgünstiger Mensch ein unerwartetes Hilfsangebot machte!
Wie es schien, rechnete Elizabeth gar nicht mit einer Antwort. Stattdessen wählte sie in aller Seelenruhe ein Kostüm für sich selbst aus und hing es sich über den Arm, statt es auf dem Bett abzulegen und sich umzuziehen.
»Ich ziehe es vor, mir das Haar richten zu lassen. Das wiederum bedeutet, dass ich meine Gewänder durch den halben Palast schleppen muss«, erklärte sie seufzend. Auf dem Weg nach draußen schob sie noch hinterher: »Ich werde Euch einen Gehrock zukommen lassen.«
Was zu bezweifeln wäre, dachte Rebecca und ließ sich verzagt auf das Bett plumpsen. Sie war wieder allein. In ihren Augen war die Tatsache, dass Elizabeth noch einmal erwähnt hatte, wie lästig es war, sich der Dienste einer fremden Magd bedienen zu müssen, ein Garant dafür, dass sie ihr Wort wohl kaum halten würde. Wenig später wurde Rebecca jedoch eines Besseren belehrt. Erst wurde ein Gehrock gebracht, und keine fünf Minuten später lieferte ein Diener passende Beinkleider ab. Plötzlich schämte Rebecca sich dafür, an Elizabeth Marly gezweifelt zu haben.