Lesley Pearse wurde in Rochester, Kent, geboren und lebt mit ihrer Familie in Bristol. Ihre Romane belegen in England und vielen weiteren Ländern regelmäßig die ersten Plätze der Bestsellerlisten, so auch Am Horizont ein helles Licht, der in England auf Platz 1 der HC-Bestsellerliste einstieg. Neben dem Schreiben engagiert sich Lesley Pearse für die Bedürfnisse von Frauen und Kindern und ist Präsidentin des Britischen Kinderschutzbundes.
AM HORIZONT EIN
HELLES LICHT
Roman
Aus dem Englischen von
Britta Evert
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2014 by Lesley Pearse
Titel der englischen Originalausgabe: »Survivor«
Published by arrangement with Lesley Pearse.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich
Titelillustration: © iStockphoto/peter zelei
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-0656-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine wunderschöne Enkeltochter Sienna Marie,
geboren am 9. Dezember 2012, Schwester von Harley,
die meiner Tochter Jo, ihrem Partner Otis und
der ganzen restlichen Familie so viel Freude macht.
RUSSELL, NEUSEELAND 1931
»Mariette ist so …« Miss Quigley verstummte und schürzte die schmalen Lippen, während sie nach dem passenden Adjektiv für ihre fehlgeleitete Schülerin suchte. »So aufsässig!«
Belle widerstand der Versuchung, über die Beschreibung ihrer elfjährigen Tochter zu lächeln. Das Gleiche hatte man oft von ihr behauptet, als sie noch ein Kind gewesen war.
Es war gegen halb fünf, und Miss Quigley hatte Belle nach Schulschluss aufgesucht.
Belle hatte die Lehrerin als Zeichen ihrer Hochachtung in den Salon gebeten, war aber entschlossen, ihr keinen Tee anzubieten, da sie die Frau nicht ermutigen wollte, länger als nötig zu bleiben. »Ich glaube, was Sie an ihr feststellen, ist lediglich ein Anzeichen für einen starken Charakter. Was genau hat sie denn angestellt?«
»Ich könnte keinen speziellen Vorfall anführen, doch sie stellt einfach alles, was ich sage, infrage. Erst unlängst, als ich in der Klasse erzählte, wie viele Soldaten aus Neuseeland im Krieg ihr Leben gelassen haben, verkündete sie, dass Frankreich ein Viertel seiner Männer verloren habe.«
»Aber das ist wahr«, sagte Belle. »Ich würde es nicht aufsässig nennen, darauf hinzuweisen – zumal ihr Vater Franzose ist und für sein Land gekämpft hat.«
Es war verlockend hinzuzufügen, dass Etienne für seinen Mut mit dem Croix de Guerre ausgezeichnet worden war, doch es würde ihm nicht gefallen, wenn sie damit prahlte.
Miss Quigley verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber sie hat zu allem und jedem eine eigene Meinung! Außerdem stört es mich, dass sie den anderen Kindern fragwürdige französische Redewendungen beibringt.«
»Ich denke, Sie werden feststellen, dass an ihnen nichts Fragwürdiges ist; Mariette mag einfach den Klang der Sprache. Ich bezweifle, dass es um mehr als ›Gib mir bitte den Bleistift!‹ oder ›Wie warm es heute ist!‹ geht. Ihr Vater und ich wünschen beide, dass sie zweisprachig aufwächst, und wir freuen uns sehr über ihre Fortschritte.«
Miss Quigleys missbilligendes Schnauben deutete an, dass sie es für anstößig hielt, einem Kind Französisch beizubringen. »Sie ist übermäßig selbstbewusst.« Sie stieß das letzte Wort hervor, als wäre es eine Beleidigung. »Immer ist sie die Erste, die sich meldet und bei allem die Führung übernimmt.«
»Ich bedaure sehr, dass Sie das beunruhigend finden.« Belle fand, dass diese vertrocknete alte Jungfer von Lehrerin sich darauf konzentrieren sollte, die weniger begabten Kinder in ihrer Klasse zu fördern, und froh sein müsste, wenigstens eine Schülerin zu haben, die gern lernte. »Ich hätte gedacht, dass eine Lehrerin einen derartigen Enthusiasmus gern sieht – immerhin ist es ein Kompliment für ihren Unterricht.«
»Hochmut kommt vor dem Fall«, gab Miss Quigley verschnupft zurück. »In diesem kleinen Teich mag sie ein großer Fisch sein, aber wie wird sie damit umgehen, wenn sie es mit noch größeren Fischen zu tun hat?«
»Ein Kind mit Selbstvertrauen kommt schon zurecht.« Belle wurde allmählich ärgerlich. »Nun, wollen wir nicht über ihre Fortschritte in der Schule sprechen? Deshalb sind Sie doch gekommen, nehme ich an?«
»In Lesen und Schreiben ist sie sehr gut«, gab Miss Quigley widerwillig zu. »Auch im Rechnen ist sie fix. Aber sie lenkt die anderen Kinder ab, wenn sie mit ihren Aufgaben fertig ist, und hindert sie daran, die ihren zu beenden.«
»Indem sie mit ihnen redet?« Belle hatte das Gefühl, endlich weiterzukommen.
»Ja.«
»Dann sage ich ihr, dass sie das lassen muss. Doch vielleicht könnten Sie ihr mehr Aufgaben geben oder eine andere Beschäftigung für sie finden.«
Belle hatte schon vor einer ganzen Weile festgestellt, dass Miss Quigley voreingenommen gegen Mariette war, und ihrer Meinung nach hatte es nichts damit zu tun, dass das Mädchen schneller oder aufgeweckter als andere Kinder seines Alters war. Es lag nur daran, dass weder Mariette noch Belle sich je derartig bei ihr einschmeichelten, wie es viele andere Kinder und Mütter in Russell taten.
Miss Quigley, eine unscheinbare, schmächtige und reservierte Frau Ende vierzig, hatte ihren Posten als Lehrerin in Russell ungefähr zur selben Zeit angetreten, als Belle und Etienne geheiratet hatten. Es ging das Gerücht, sie wäre nach Russell gezogen, um Silas Waldron, einem Witwer aus Kerikeri, den sie in Auckland kennengelernt hatte, näher zu sein. Vielleicht hatte sie gehofft, aus ihrer Freundschaft würden Liebe und Ehe entstehen, aber das schien nicht der Fall zu sein.
Es war nicht leicht für eine alleinstehende Frau ohne Freunde oder Familie, sich nach dem Leben in der Großstadt in einer abgeschiedenen Gemeinde wie Russell einzufügen. Miss Quigley hatte kaum etwas mit den Müttern ihrer Schüler gemeinsam, Frauen, deren Leben sich um ihre Männer und Kinder drehte und die in den Augen der Lehrerin vermutlich reichlich rückständig waren.
Es machte die Sache nicht leichter, dass sie so steif und zugeknöpft war. Miss Quigley redete wenig und lächelte kaum – geschweige denn, dass sie lachte –, und falls sie gehofft hatte, unter den wohlhabenden Männern, die im Sommer zum Hochseefischen herkamen, einen Ehemann zu finden, hatte sie Pech gehabt. Belle konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen Gefallen an einer nicht sehr ansehnlichen Frau in mittleren Jahren finden würde, die immer so aussah, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen.
»Wenn ich ganz offen sein darf, Mrs. Carrera, ich finde wirklich, Sie sollten Mariettes Übermut dämpfen, indem Sie sie anregen, einem etwas weiblicheren Hobby als dem Segeln zu frönen. Auf dem Weg hierher habe ich gesehen, wie sie ein Boot vom Anlegesteg abstieß und dabei ihr Kleid in einer höchst unschönen Art und Weise gerafft hatte.«
Belle war plötzlich ganz Ohr. Erschrocken sah sie die Lehrerin an. »Sie haben Mari beim Boot gesehen? War ihr Vater denn nicht bei ihr?«
»Nein, sie war ganz allein und brüllte jemandem am Ufer etwas zu wie ein Fischweib.«
»Warum haben Sie mir das nicht gleich erzählt?« Belle nahm hastig die Schürze ab und lief zur Tür. »Glauben Sie wirklich, wir würden einer Elfjährigen erlauben, allein segeln zu gehen?«
»Was ich sage – sie ist aufsässig«, begann Miss Quigley, doch ihr Schuss ging ins Leere, da Belle bereits zur Tür hinaus war.
Wie der Wind rannte Belle am Ufer entlang zum Steg. Ihr Herz pochte laut vor Furcht. Etienne hatte versprochen, Mariette heute nach der Schule im Dingi eine Segellektion zu erteilen, falls er früh genug mit seiner Arbeit fertig wurde. Aber wenn man Miss Quigley Glauben schenken durfte, fand Mariette, dass sie schon genug gelernt hatte, um das Boot allein zu beherrschen.
Es war ein schöner, sonniger Oktobertag und der Wind gerade stark genug, um für ideales Segelwetter zu sorgen, doch Mariette war weder stark noch erfahren genug, um eigenhändig ein Segelboot zu steuern. Das hatte ihr Vater ihr schon Dutzende Male gesagt. Eine plötzliche Bö konnte das Boot zum Kentern bringen oder die Rahe an ihren Kopf krachen lassen. Obwohl Mariette gut schwimmen konnte, war das Wasser jetzt, am Ende des neuseeländischen Winters, in der Bucht noch sehr kalt, und an einigen Stellen gab es gefährliche Strömungen.
Als Belle ein Stück weiter vorn Charley Lomax sah, rief sie ihm zu: »Mari ist allein mit dem Boot rausgefahren. Kannst du Etienne suchen gehen? Und sag bitte auch Mog Bescheid, falls du sie siehst!«
Charley Lomax war einer von Russells Charakterköpfen, ein Mann um die fünfzig, der hart arbeiten konnte, aber immer wieder auf Sauftouren ging, die Tage dauern konnten. Er hauste in einer elenden Baracke im ärmlicheren Teil der Stadt, aber Etienne mochte ihn und arbeitete oft mit ihm zusammen.
Der Mann schwenkte die Hand, um Belle zu bedeuten, dass er sie verstanden hatte, und flitzte so schnell los, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er heute nüchtern war.
Belle musste einen Moment stehen bleiben, weil sie Seitenstiche hatte. Sie schirmte mit einer Hand die Augen vor der Sonne ab und starrte auf die Bucht hinaus. Ihr Dingi hatte ein rotes Segel, und als Etienne es gekauft hatte, hatte Belle oft genau an dieser Stelle gestanden und beobachtet, wie es über die Wellen hüpfte. Sie hatte sich Sorgen gemacht, als er anfing, Mariette mitzunehmen, um ihr den Umgang mit einem Segelboot beizubringen, und erlaubte ihm immer noch nicht, Alexis oder Noel an Bord zu nehmen, weil die Jungen erst acht beziehungsweise sieben Jahre alt und keine besonders guten Schwimmer waren. Aber bei Mariette hatte sie nachgegeben, da das Mädchen alles liebte, was mit dem Meer und mit Booten zu tun hatte, und gern allein etwas mit dem Vater unternahm.
Auf einmal entdeckte Belle weit draußen in der Bucht das Dingi, das ziemlich gute Fahrt machte. Mariette, nur als winzige Gestalt erkennbar, lehnte sich auf ihrem Sitz weit nach hinten, um das Boot im Gleichgewicht zu halten. Belle befürchtete, dass ihre Tochter nicht genug Kraft in den Armen hatte, um das Dingi zu wenden, und sie steuerte direkt auf das offene Meer und hohen Wellengang zu.
»Belle!«
Belle drehte sich um, als sie ihren Namen hörte, und sah, wie Mog, die Alexis und Noel fest an den Händen gepackt hielt, auf sie zugelaufen kam. Mog holte die Jungen fast täglich von der Schule ab, weil ihr Unterricht eine halbe Stunde früher endete als Mariettes, und ging gewöhnlich noch mit ihnen spazieren, damit sie sich ein bisschen austoben konnten.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Belle gestaunt, dass eine Frau von neunundsechzig mit einem leichten Hinken noch so schnell laufen konnte. Aber heute konnte sie nur daran denken, in welcher Gefahr ihre Tochter schwebte.
»Mari ist allein da draußen!«, rief sie Mog zu und zeigte auf das weit entfernte Boot. »Weißt du, wo Etienne ist?«
Jetzt war Mog bei ihr. Sie hielt sich die Seite, so sehr hatte das Laufen sie angestrengt. »Charley geht ihn gerade holen. Etienne ist bei den Baxters«, keuchte sie. »Bestimmt fährt er direkt zum Steg und nimmt das andere Boot, um eure Tochter zu holen. Fahr lieber mit, um ihm zu helfen!«
»Wenn das Boot da draußen kentert, wird sie ertrinken«, stieß Belle mit bebender Stimme hervor, während sie zum Steg weiterliefen. »Wie oft habe ich ihr gesagt, wie gefährlich die See sein kann! Warum muss sie immer alles ausprobieren?«
»Nur die Ruhe, Belle!«, sagte Mog. »Es ist natürlich sehr ungezogen von ihr, dir nicht zu gehorchen. Aber solange das Boot nicht kentert, gibt es keinen Grund zur Panik. Etienne ist bestimmt im Handumdrehen hier.«
Mog hatte recht. Als sie den Steg erreichten, kündete eine Staubwolke Etiennes Ankunft in seinem alten Laster an.
Er war inzwischen einundfünfzig, aber die Zeit war milde mit ihm umgegangen, und er war immer noch so schlank und drahtig wie an ihrem Hochzeitstag. Die Fältchen um seine blauen Augen waren mehr geworden, und sein Haar war eher weiß als blond, doch er hatte nach wie vor die Macht, Frauenherzen schneller schlagen zu lassen – insbesondere Belles Herz.
Wie sie erwartete hatte, hielt er sich nicht damit auf, sich Erklärungen, Beschuldigungen oder Vorschläge anzuhören, sondern befahl Alexis, nach Hause zu laufen und eine warme Decke zu holen. Er bat Mog, bei Noel zu bleiben und zu warten, packte dann Belle an der Hand und rannte mit ihr den Steg hinunter zu der Stelle, wo ihr kleiner Fischkutter vertäut war. Er sprang hinein und ließ den Motor an; Belle löste hastig die Leinen und hüpfte an Bord. Etienne stieß das Boot mit einem Bootshaken ab, und innerhalb weniger Sekunden nahmen sie Kurs auf das Dingi.
Etienne starrte das kleine Gefährt in der Ferne an. »Sie kommt gut damit zurecht«, stellte er mit einem Anflug von Stolz fest, bemerkte dann aber Belles entsetztes Gesicht. »Wir konnten nicht erwarten, sanftmütige, gehorsame Kinder zu bekommen, Belle! Mari hat das Schlechteste und das Beste von uns beiden geerbt.«
Belle lag auf der Zunge, dass er das Dingi nie hätte kaufen sollen und dass sie ihm niemals verzeihen würde, wenn Mari irgendwie zu Schaden kam oder gar ertrank, doch sie schwieg, weil sie wusste, dass Etienne es sich selbst nie verzeihen würde, wenn seiner Tochter etwas zustieß. Außerdem war auch sie der Meinung gewesen, dass alle Kinder, die am Meer lebten, schwimmen und segeln lernen sollten, und somit genauso verantwortlich wie er.
Keiner von beiden sagte etwas; beide schienen den Fischkutter mit schierer Willenskraft zwingen zu wollen, schneller zu fahren. Als sie näher kamen, konnten sie deutlich erkennen, dass Mariette mit dem starken Wind, der die Segel blähte, zu kämpfen hatte.
»Sie hält mit aller Kraft die Leine und denkt nicht daran, das Ruder herumzureißen«, sagte Etienne beunruhigt. Wenn seine Tochter so weitermachte, würde sie bald im offenen Meer sein.
Während sie weitertuckerten, kam eine plötzliche Sturmbö auf, und vor ihren entsetzten Augen kippte das kleine Dingi um und Mariette wurde wie eine Stoffpuppe ins Wasser geschleudert. Sie sahen sie fallen und hörten das Platschen, doch schon im nächsten Moment war das Mädchen verschwunden.
»Wo ist sie? Ich kann sie nicht sehen!«, keuchte Belle.
Das Wasser in der Bucht war ganz friedlich gewesen, aber hier draußen war die See kabbelig, und der Schock, plötzlich in eiskaltem Wasser zu landen, erschwerte jedem das Schwimmen, ganz besonders einem kleinen Mädchen.
»Mari!«, brüllte Etienne aus voller Kehle. »Kannst du mich hören?«
Sie hatten noch ungefähr fünfzig Meter zurückzulegen, bevor sie das gekenterte Boot erreichten, und Belle war außer sich vor Angst, als sie in den Wogen Ausschau nach ihrer Tochter hielt. Sie warf Etienne einen Blick zu. Mit grimmiger Miene verlangsamte er das Tempo, um jederzeit ins Wasser springen zu können.
»Nimm das Steuer und zieh ganz langsam weite Kreise um das Dingi«, sagte er und zerrte sich die Stiefel von den Füßen. »Du musst sofort schreien und das hier schwenken, wenn du sie siehst«, fügte er hinzu und reichte ihr einen roten Stofffetzen.
Er machte einen Kopfsprung ins Wasser und tauchte gut zehn Meter vom Kutter entfernt wieder auf.
Belle tat wie geheißen und umkreiste langsam das gekenterte Boot, während sie gleichzeitig Mariettes Namen rief und mit den Augen die Wasseroberfläche absuchte. Etienne suchte unter Wasser nach seiner Tochter und kam nur gelegentlich kurz zum Luftholen nach oben, um gleich darauf weiterzutauchen.
Schieres Entsetzen drohte Belle zu überwältigen, als sie sich ausmalte, wie Etienne mit dem leblosen Körper ihres Kindes auftauchte. Sie versuchte, ihre Panik zu unterdrücken, indem sie sich sagte, dass Mariette nicht von der Rahe getroffen worden und somit nicht bewusstlos war und dass sie schwamm wie ein Fisch. Aber mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Tochter ertrunken war, größer.
»Bitte, lieber Gott, lass sie leben!«, flehte Belle inbrünstig, als Etienne erneut untertauchte.
Und dann, als wäre ihr Gebet erhört worden, entdeckte sie Mariette. Ein verängstigtes kleines Gesicht lugte aus einer Welle, und Belle sah, dass das Mädchen einen Arm nach dem Kiel des gekenterten Dingis ausstreckte.
»Bleib, wo du bist, Mari!«, schrie Belle und schwenkte hektisch das kleine rote Tuch. »Papa ist gleich bei dir! Halt dich fest!«
Etienne tauchte auf der anderen Seite des Rumpfs auf.
»Auf dieser Seite! Sie ist auf dieser Seite des Bootes!«, rief Belle und wies mit dem Finger auf die besagte Stelle.
Etienne hob zum Zeichen, dass er verstanden hatte, eine Hand, und während er um das Dingi herumschwamm, lenkte Belle den Kutter näher heran.
Es dauerte nicht länger als ein paar Minuten, bis Etienne bei Mariette war. Er packte sie, schwamm mit ihr zum Fischkutter und hob sie in Belles Arme.
»Ich will nur noch schnell das Dingi aufrichten. Wir können es mit an Land ziehen. Wirf mir eine Leine zu!«, rief er ihr aus dem Wasser zu, bevor er das Tau auffing, sich umdrehte und zurückschwamm.
»Oh, Mari, du bist so ein ungezogenes Mädchen!«, rief Belle, während sie ihre Tochter hastig aus den durchnässten Sachen schälte und eine alte Jacke von Etienne um sie schlang, die auf dem Boden des Kutters gelegen hatte. »Ich hatte solche Angst um dich! Du hättest ertrinken können!«
»Papa hat mir gesagt, dass ich immer beim Boot bleiben soll, wenn ich mal kentere«, brachte Mariette hustend und würgend heraus. »Aber ich konnte nur Wellen sehen, und ich hatte solche Angst! Ich bin in die falsche Richtung geschwommen, doch ich hab mich umgedreht, und dann hab ich es gesehen.«
Belle brachte es nicht übers Herz, ihrer Tochter jetzt eine Standpauke zu halten; sie war viel zu erleichtert, dass Mariette nichts passiert war. Sie drückte sie fest an sich und beobachtete, wie Etienne das Dingi aufrichtete und die Schleppleine daran befestigte. Es gab nicht viel über Boote, was er nicht wusste – er hatte schon als kleiner Junge in Marseille segeln gelernt und war sehr gefragt bei den Bootseignern in Russell, sowohl als Besatzung als auch für Reparaturen. Aber von Kindern verstand er nicht viel, und Belle war böse auf ihn, weil er eine Elfjährige in dem Glauben bestärkt hatte, sie wüsste genug vom Segeln, um sich allein aufs offene Meer zu wagen.
Wenn Miss Quigley nicht zufällig gesehen hätte, wie Mariette das Dingi in die Bucht steuerte, wäre vielleicht eine Stunde oder mehr vergangen, bevor sich Belle auf die Suche nach ihrem Mädchen gemacht hätte. Außerhalb der Bucht hätte die Strömung das Boot sofort mitgerissen, und Mariettes Leiche wäre vielleicht nie gefunden worden.
Aber davon sagte sie nichts zu ihrer Tochter, die ohnehin einen tüchtigen Schreck bekommen hatte. Im Moment wollte sie ihr Kind nur fest in den Armen halten und aufwärmen.
Etienne hatte recht damit, dass ihre Tochter sowohl das Schlechteste wie das Beste von ihren Eltern geerbt hatte. Sie war furchtlos wie ihr Vater und zielstrebig wie ihre Mutter. Außerdem war sie schlau, dickköpfig und ungehorsam. Auch ihr Aussehen war eine Mischung beider Eltern. Ihr Haar war rotblond, aber lockig wie Belles. Sie hatte Etiennes hohe Wangenknochen, doch die tiefblauen Augen und den sinnlichen Mund ihrer Mutter. Mariette war nicht direkt hübsch, aber ihre Züge waren so fesselnd wie Etiennes.
»Bist du sehr böse auf mich?«, fragte Mariette kleinlaut, als ihr Vater wieder an Bord war und seine nassen Sachen abstreifte.
»Ja, das bin ich«, antwortete Etienne grimmig. »Ich habe dir Dutzende Male gesagt, dass du niemals allein mit dem Boot rausfahren darfst. Ich fasse es nicht, dass du mir nicht gehorcht hast. Du hast großes Glück gehabt, dass wir rechtzeitig erfahren haben, wo du bist. Egal, wie gut man schwimmen kann, das Meer ist eiskalt, und selbst ein erwachsener Mann wie ich kann im Handumdrehen im Wasser vor Kälte erstarren. Weißt du eigentlich, was du deiner Familie angetan hättest, wenn du ertrunken wärst?«
»Ihr wärt alle sehr traurig gewesen.« Mariette ließ den Kopf hängen und versuchte, sich noch tiefer in die alte Jacke zu verkriechen, in die Belle sie gewickelt hatte.
»Nicht nur traurig, sondern zutiefst verzweifelt«, sagte er und kauerte sich vor seine Tochter. »Du bist noch ein kleines Mädchen. Du hast vielleicht genug gelernt, um bei einer sanften Brise in ruhigen Gewässern zu segeln, aber du hast nicht genug Muskelkraft, um bei starkem Wind ein Boot zu lenken. Du musst lernen, deiner Mutter und mir zu gehorchen, Mariette. Wir verbieten dir solche Sachen nicht, weil wir gemein sind, sondern um dich zu beschützen.«
»T-t-tut mir leid«, stammelte sie, zum Teil vor Kälte, zum Teil, weil sie in der Klemme steckte. »Ich wollte, dass du stolz auf mich bist, weil ich so gut segeln kann.«
»Wir hätten viel mehr Grund, stolz auf dich zu sein, wenn du folgsamer wärst«, sagte Belle und stand auf, um den Motor anzulassen. »Wenn Miss Quigley dich nicht gesehen hätte, wären wir viel zu spät gekommen, um dir zu helfen. Ich hoffe, dass es dir eine Lehre ist und du nie wieder irgendetwas unternimmst – ob mit einem Boot, einem Wagen oder zu Fuß –, ohne vorher deinen Vater und mich um Erlaubnis zu bitten.«
»Bestimmt nicht«, schluchzte das Kind. »Seid mir bitte nicht mehr böse!«
Belle sah ihre Tochter an. Mariette hatte sich an Etienne gekuschelt, genau wie früher, als sie fünf, sechs Jahre alt gewesen war. Damals war ihr Haar noch blond gewesen, aber in den letzten Jahren war es immer rötlicher und lockiger geworden, und Belle musste es zu strammen Zöpfen flechten, um es zu bändigen. Mariette hatte von klein auf die Kunst beherrscht, andere aus großen Augen anzuschauen, so unschuldig, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Es war ein Blick, den Belle und Etienne einerseits bezaubernd, andererseits beunruhigend fanden, weil sie ihre Mitmenschen damit spielend um den kleinen Finger wickeln konnte. Jetzt empfand sie aufrichtige Reue, aber Belle war durchaus bewusst, dass Mariette ein Kind war, das nie brav und fügsam werden würde. Schon beim nächsten Mal, wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, würde sie die heutige Lektion vergessen haben.
Als sie einen Namen für sie gesucht hatten und Etienne Mariette vorgeschlagen hatte, weil es der Name seiner Mutter war, hatte er lachend hinzugefügt, dass er »die Widerspenstige« bedeute. War etwa der Name schuld an ihrem Verhalten?
Nie war ein Kind sehnlicher erwartet worden. Als Belle während der Ehe mit Jimmy Reilly, ihrem ersten Mann, eine Fehlgeburt erlitten hatte, war ihr gesagt worden, dass sie wahrscheinlich nie mehr Kinder bekommen könnte. In Anbetracht der Tatsache, dass Jimmy im Krieg schwer verwundet worden war, und angesichts all der Probleme, die seine Behinderung mit sich brachte, hatte sich Belle damit abgefunden, nie Mutter werden zu können, und sich bemüht, jeden Gedanken an Kinder zu verbannen. Aber ganz gelungen war es ihr nie. Es war immer ein wunder Punkt in ihrem Inneren gewesen, ein ständiger Quell des Kummers.
Dann war gleich nach Kriegsende in England die Spanische Grippe ausgebrochen, und wie zigtausend andere steckte Jimmy sich an und starb, und auch sein Onkel Garth, Mogs Ehemann, fiel der Epidemie zum Opfer.
Belle und Mog gingen nach Neuseeland, um neu anzufangen. Obwohl Belle damals noch sehr jung war, rechnete sie nicht damit, sich noch einmal zu verlieben. Sie schnappte einmal auf, wie jemand Mog und sie als »die zwei englischen Witwen« bezeichnete, und ging davon aus, dass sie allgemein so genannt wurden. Damals glaubte sie, dass sie ihren Lebensunterhalt als Modistin verdienen, zusammen mit Mog alt werden und Kindern nicht näher kommen würde, als ein gelegentlicher Blick auf die Sprösslinge der Nachbarn erlaubte.
Doch dann tauchte Etienne auf, der Mann, den sie geliebt und von dem sie geglaubt hatte, er wäre in Frankreich gefallen. Bis zu jenem Tag, der für sie immer noch ein Wunder war, hatte sie sich damit abgefunden, dass es für sie nie wieder Liebe und Leidenschaft geben würde.
Sie hatte die braven Bürger von Russell schockiert, weil sie nicht einmal versucht hatte, ihr Verlangen nach dem galanten Franzosen zu verbergen, aber das hatte sie nicht gekümmert. Sie war überzeugt, dass Gott – oder das Schicksal – eingegriffen hatte, um sie für all das Unglück in ihrem Leben zu entschädigen. Sie war im vierten Monat schwanger, als sie heirateten, und keine Braut war je stolzer und glücklicher zum Altar geschritten.
So viel war seit damals passiert – es hatte Strapazen, Enttäuschungen, Zeiten großer Not gegeben. Und doch, mit Etienne an ihrer Seite und dem Glück, das mit jedem ihrer drei schönen, kerngesunden Kinder kam, verloren selbst die größten Probleme an Bedeutung.
Aber als Belle jetzt wieder zu ihrer Tochter sah, wurde ihr bewusst, dass Kinder noch größeren Schmerz bringen konnten als die schlimmsten Schicksalsschläge, die ihr selbst in der Vergangenheit widerfahren waren. Mariette war viel zu tollkühn und verwegen, als gut für sie war, und genauso eigensinnig wie ihr Vater und ihre Mutter. Wenn sie erst einmal fünfzehn, sechzehn war, würden ihr Wagemut und ihre Abenteuerlust sie wahrscheinlich gegen das ruhige, friedliche Leben hier in Russell aufbegehren lassen und dazu führen, dass sie in die weite Welt hinauszog. Belle kannte die Gefahren, die auf junge Mädchen lauerten, nur zu gut, und allein bei dem Gedanken, Mariette könnte in ähnliche Situationen geraten wie sie selbst, erstarrte ihr das Blut in den Adern.
Mog hatte die Jungen nach Hause gebracht und zwei Decken auf dem Steg liegen lassen. Etienne wickelte Mariette in eine davon ein, legte die andere um ihre Schultern und trug sie in seinen Armen heim.
Zu Hause in der Robertson Street warteten Mog und die Jungen auf der Veranda. Das Fernglas auf dem Tisch verriet, dass sie die Rettungsaktion von der Küste aus verfolgt hatten und erst nach Hause gegangen waren, als sie wussten, dass Mariette in Sicherheit war.
Mog, die nicht zu dramatischen Auftritten neigte, streckte bloß die Arme nach dem zitternden Kind aus und verkündete: »Ich habe ein heißes Bad für dich vorbereitet, mein Schatz. Und dein Vater sollte nach dir auch gleich in die Wanne steigen.
»Kriegt sie jetzt den Po versohlt?«, fragte der siebenjährige Noel beinahe hoffnungsvoll.
Beide Jungen hatten Belles dunkles Haar, und ihre Augen waren kobaltblau und noch dunkler als ihre, aber den Gesichtsausdruck – wachsam und argwöhnisch – hatten sie vom Vater. So abenteuerlustig wie ihre Schwester war keiner der beiden. Etienne lachte immer, wenn die Rede darauf kam, und meinte: »Lasst ihnen ein bisschen Zeit!«
»Sei nicht albern, Noel«, sagte Alexis. »Es reicht doch, dass sie schrecklich Angst gehabt hat, weil sie fast ertrunken wäre.«
Belle lächelte über seinen herablassenden Ton, den er oft anschlug, um Noel klarzumachen, dass er der Ältere war. Mit seinen scharf geschnittenen Zügen und der manchmal frostigen Art erinnerte er Belle an Annie, ihre verstorbene Mutter. Aber zum Glück war Alexis ein vernünftiger Junge, und man konnte sich immer darauf verlassen, dass er tat, was ihm gesagt wurde.
Später am Abend, als die Kinder ihr Abendbrot gegessen hatten und im Bett lagen, holte Mog die Flasche Brandy, die sie in der Vorratskammer verwahrte, und schenkte drei Gläser ein.
Sie saßen in der Küche. Das Geschirr war abgewaschen und längst weggeräumt, und vor einer Weile war es dunkel geworden, aber der goldene Schein der Öllampe schuf eine behagliche Atmosphäre.
»Ich weiß, dass ihr zwei euch Sorgen um Mari macht«, sagte Mog und reichte Belle und Etienne jeweils ein Glas Brandy. Die beiden waren beim Abendessen verdächtig still gewesen, was alle drei Kinder registriert hatten und sich daraufhin ohne die üblichen Verzögerungstaktiken ins Bett verzogen hatten. »Aber vielleicht war es ganz gut, dass sie heute einen Mordsschreck bekommen hat. Ich glaube, so ein Risiko wird sie so bald nicht wieder eingehen.«
Mog hatte das kleine Schindelhaus gekauft, als Belle und sie nach Russell gekommen waren, doch Etienne hatte es seit seiner Heirat mit Belle beträchtlich erweitert. Auf elektrischen Strom wartete man in Russell immer noch, aber die Küche war jetzt wesentlich größer, und es gab ein separates Waschhaus mit einem Ofen, mit dem sie fürs Baden und für die große Wäsche Wasser aufheizen konnten. Außerdem hatte Etienne für Mog zwei Zimmer angebaut, die sie entweder vom Flur aus oder über die Veranda, die an der Vorderfront verlief, betreten konnte. Über Mogs Räumlichkeiten befanden sich zwei Schlafzimmer, eines für die beiden Jungen und eines für Mariette.
Sie hatten den Leuten erzählt, dass Mog Belles Tante war – eine weit einfachere Erklärung als die Wahrheit. Tatsächlich hatte Mog als Dienstmädchen für Annie Cooper, Belles Mutter, gearbeitet und Belle großgezogen. Jahre später hatte Mog Garth Franklin geheiratet und Bell Garths Neffen Jimmy Reilly. Abgesehen von einigen Jahren, in denen Belle in Amerika und Paris gelebt hatte, und ihrer Zeit als Rettungsfahrerin in Frankreich während des Krieges, waren Mog und sie nie getrennt gewesen. Für Belles und Etiennes Kinder war sie eine innig geliebte Großmutter, und als solche hatte ihre Meinung, was die Kinder oder auch jede andere Familienangelegenheit anging, immer Gewicht.
Etienne nickte. »Da hast du ganz recht, Mog. Einen bösen Schreck zu kriegen, ist eine der besten Methoden, Kindern etwas über Gefahren beizubringen. Zum Glück ist heute kein wirklicher Schaden entstanden – das heißt, nur bei uns Erwachsenen. Ich glaube, ich wäre lieber wieder in Ypern, als noch einmal diese grauenhaften Momente zu erleben, als ich im Wasser nach Mari gesucht habe. Ich weiß natürlich, dass es für dich am Ufer genauso schlimm war, und die arme Belle sieht immer noch angegriffen aus.«
»Wir sollten das Dingi verkaufen«, brach es aus Belle heraus. »Vielleicht hat Mari jetzt zu viel Angst, um es noch einmal zu versuchen, doch einer der Jungs könnte auf die gleiche Idee kommen.«
Etienne nahm Belles Hände in seine und lächelte sie mitfühlend an. »Wir leben an einem Ort, wo das Meer eine ständige Gefahr darstellt, und wir sind auf unsere Boote angewiesen. Genauso war es für mich als Junge in Marseille. Ich weiß, dass es sehr viel besser ist, ihnen beizubringen, die Gesetze der See zu respektieren und sachkundig mit einem Boot umzugehen, als zu versuchen, sie vom Wasser fernzuhalten.«
»So sehe ich es auch. Auf Kinder lauern überall Gefahren«, sagte Mog. »Auf Bäume klettern, Fremde, die ihnen etwas antun könnten, die falschen Beeren pflücken, ansteckende Krankheiten – die Liste ist endlos. Wir können sie nicht vor allem und jedem beschützen. Das weißt du besser als jeder andere, Belle.«
Belle seufzte. »Ja, das stimmt, aber ich habe immer geglaubt, wenn wir unsere Kinder hier an diesem wunderschönen Ort aufziehen, wären die Gefahren geringer. Wisst ihr, was Mari gesagt hat, als ich sie vorhin zugedeckt habe? ›Ich wäre gern eine Heldin wie Grace Darling oder Jeanne d’Arc. Ich will später nicht in einer Bäckerei arbeiten oder Kleider nähen.‹ Wie können wir hoffen, dass sie je einen netten, tüchtigen Mann heiratet und eine Schar Kinder bekommt, wenn sie von derartigen Dingen träumt?«
Etienne lachte. »Sie ist erst elf, Belle. Ich wette, in dem Alter hast du auch von Abenteuern geträumt.«
»Nein, nur davon, schicke Hüte zu entwerfen«, gab Belle zurück. »Ich habe mir nicht ausgemalt, Menschen mit einem Ruderboot zu retten oder ein Land in den Krieg zu führen.«
»Ich habe davon geträumt, Königin Victoria kennenzulernen«, gestand Mog. »Und du, Etienne?«
»Viel zu essen zu haben«, sagte er. »Aber damals war ich die meiste Zeit halb verhungert.«
»Eure Träume sind also in Erfüllung gegangen«, lachte Mog. »Meine nicht. Ich hatte sogar zu viel Angst vor den Menschenmassen, um zu Königin Victorias Trauerzug zu gehen. Ihr solltet euch keine Sorgen machen, weil Mari davon träumt, eine Heldin zu sein. Es schadet ihr nicht, wenn sie sich vornimmt, tapfer und gut zu sein. Und wartet ab, bis die Jungs größer sind, dann werden sie nämlich Sachen anstellen, bei denen euch die Haare zu Berge stehen! Ihr könnt eure Kinder nicht in Watte packen, ihr könnt ihnen nur die richtigen Werte beibringen, sie in die richtige Richtung lenken und beten! Eines Tages werdet ihr im Kreis zahlreicher Enkelkinder auf der Veranda sitzen und sehr zufrieden mit euch sein, weil alles gut gegangen ist.«
Wie immer war Mog die Stimme der Vernunft, und das liebten Etienne und Belle an ihr. Was auch geschah – sei es, dass Etienne bei dem Versuch, Wein anzupflanzen, scheiterte und einen Haufen Geld verlor, dass ein Brand in der Küche es nötig machte, das ganze Haus zu sanieren, oder dass die Kuh ausgerechnet an dem Tag, als sie alle gemeinsam einen Ausflug unternahmen, in den Garten hinauswanderte und fast alle Pflanzen und das Gemüse verputzte – Mog entdeckte immer einen Silberstreif am Horizont. Belle erinnerte sich, wie die Freundin nach dem Feuer gesagt hatte: »Nicht so schlimm, wir wollten ohnehin ausbauen.« Und nach dem misslungenen Versuch mit dem Weingarten hatte sie im Scherz gemeint: »Na ja, vielleicht hätten wir angefangen, zu viel Wein zu trinken, wenn etwas aus dem Vorhaben geworden wäre.«
Sie war ein schlichtes Gemüt und lebte nach der Philosophie, dass ihr nichts passieren konnte, solange sie ihre geliebte Familie um sich, genug zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopf hatte. Mit neunundsechzig hatte sie immer noch die Energie einer zehn Jahre jüngeren Frau. Sie mochte inzwischen eine Brille tragen, ihr Haar mochte schneeweiß und ihr Gesicht von Falten durchzogen sein, aber sie war nach wie vor eine starke Persönlichkeit, auf die man bauen konnte. Selbst in Zeiten wie diesen, in denen Banken Hypotheken kündigten und von einer weltweiten Depression die Rede war, blieb sie optimistisch und war überzeugt, dass ihnen nichts wirklich Schlimmes zustoßen konnte.
»Es sind die Jahre, bevor sich die Kinder häuslich niederlassen und selbst Eltern werden, die mir Sorgen machen«, gestand Belle. Doch sie sagte es mit einem Lächeln, weil sie sich mit Mog und Etienne an ihrer Seite praktisch unbesiegbar fühlte.
Während die drei ihren Brandy tranken, betrachtete Mog Belle beifällig. Mit sechsunddreißig war Belle immer noch eine sehr schöne Frau. Ihr lockiges Haar war genauso dunkel und füllig wie mit zwanzig, und die wenigen Lachfältchen um ihre Augen und die paar Pfund, die sie in den letzten Jahren zugenommen hatte, schienen sie noch schöner wirken zu lassen. Sie war eine Frau, nach der sich die Männer umdrehten, und aus diesem Grund beäugten einige der älteren Damen in Russell sie mit Argusaugen. Aber das war unnötig, denn Belles Herz gehörte allein Etienne. Auch sie konnte sich seiner sicher sein. Etienne interessierte sich nicht für andere Frauen, und nur ein Dummkopf würde es wagen, sich Etiennes Unmut zuzuziehen – ein Blick auf seine kalten blauen Augen und die dünne Narbe auf seiner Wange reichte aus, um zu erkennen, dass er ein Mann war, dem man besser nicht in die Quere kam.
Mog konnte sich nur zu gut daran erinnern, welche Vorbehalte sie gegen Etienne gehabt hatte, als er hier aufgetaucht war, um Belle zu finden. Im Krieg mochte er ein Held gewesen sein, doch die Art und Weise, wie er vorher gelebt hatte, durfte man nicht allzu genau betrachten. Aber da sie das Leuchten in den Augen ihrer Freundin gesehen hatte, wenn sie Etienne anschaute, und gespürt hatte, dass dieser Mann Belles Schicksal war, hatte sich Mog mit ihm abgefunden.
Jetzt liebte sie ihn wie einen Sohn. Und er hatte immer wieder bewiesen, was er wert war. Er war stark, zuverlässig, liebevoll und treu und hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, der ihn nicht einmal in den schwierigsten Zeiten im Stich ließ. Ob er fischen ging, um etwas zu essen auf den Tisch zu bringen, Bauarbeiten verrichtete, Land rodete oder eins der Babys in seinen Armen wiegte, bis es einschlief, er tat alles mit vollem Einsatz. Sein Plan, einen Weingarten anzulegen, mochte gescheitert sein, wie einige der boshafteren Bewohner von Russell sich voller Schadenfreude erinnerten, aber im Gegenzug hatte er immer gut für die Seinen gesorgt und war im Ort allgemein beliebt.
»Woran denkst du?«, wollte Etienne von Mog wissen und zog fragend eine helle Augenbraue hoch.
»Wie froh ich bin, dass mit euch beiden alles so gut gegangen ist«, antwortete sie. »Es war richtig von uns, nach Neuseeland auszuwandern, nicht wahr?«
»Ganz bestimmt«, sagte Belle lächelnd. »Wenn ich verzweifle, weil wir hier wohl nie in den Genuss von Elektrizität, modernen Sanitäreinrichtungen und anständigen Straßen kommen werden, denke ich daran, wie kalt und nass es jetzt daheim in England ist.«
»Doch die Zeiten werden für uns alle schwerer werden«, dämpfte Etienne sie. »Seit dem Börsenkrach sind zwei Jahre vergangen, in Amerika gibt es sieben Millionen Arbeitslose, und auch hier verschärft sich die Lage. Mit Farmern, die ihre Erzeugnisse nicht mehr absetzen können, und Fabriken, die eine nach der anderen schließen, werden auch wir die Auswirkungen bald zu spüren bekommen.«
»Aber es wird die Reichen doch nicht davon abhalten, zum Segeln und Fischen herzukommen, oder?«, fragte Belle. In den letzten zehn Jahren war die Zahl der Sommergäste ständig gewachsen, was hauptsächlich dem amerikanischen Schriftsteller und Sportler Zane Grey zu verdanken war, der 1926 nach Russell gekommen war, um Marline zu fischen. Im darauffolgenden Jahr hatten der Herzog und die Herzogin von York einige Nächte mit ihrer Jacht HMS Renown im Hafen vor Anker gelegen, und seither zog es scharenweise andere reiche und berühmte Leute hierher. Mog und Belle profitierten von diesen Besuchern vor allem dadurch, dass sie Kleidungsstücke änderten und der neuesten Mode anpassten, aber Belle hatte außerdem bereits etliche Hüte verkauft, und Mog hatte Shorts, Röcke und Blusen für Frauen angefertigt, die feststellten, dass ihre Garderobe für Russell zu formell war.
Was Etienne anging, so hatte er schon unzählige Angler auf seinem Boot aufs Meer hinausgefahren, ganze Familien mitgenommen, die an einem einsamen Strand picknicken wollten, und eine Art Fährendienst für Feriengäste eingerichtet. Früher im Jahr war die Straße von Russell nach Whangarei fertiggestellt worden, und in diesem Sommer würden Besucher sie zum ersten Mal benutzen können, auch wenn sie gewunden wie ein Korkenzieher war.
»Die Reichen kommen vielleicht immer noch, aber all die kleinen Campingplätze hier in der Umgebung bekommen es schon zu spüren, dass immer mehr Menschen in der Stadt ihren Arbeitsplatz verlieren«, wandte Etienne ein. »Vielleicht müssen auch wir bald den Gürtel enger schnallen.«
»Wir kommen schon klar«, sagte Mog überzeugt. »Wir haben vielleicht kein Geld auf der Bank, aber wir haben keine Schulden und sind alle drei imstande, kräftig zuzupacken, wenn es sein muss. Was wir allerdings im Moment überlegen müssen, ist, wie es mit Mari weitergehen soll. Schon morgen wird sie nicht mehr daran denken, wie knapp sie mit dem Leben davongekommen ist, und allein deshalb sollte sie auf eine Weise bestraft werden, die sie daran erinnert, wie ernst der Vorfall war. Außerdem ist sie ein bisschen größenwahnsinnig. Miss Quigley hat ganz recht, wenn sie sagt, dass Mari aufsässig ist, und das ist bei einer Elfjährigen nicht gut.«
»Sie ist selbstbewusst, das ist alles«, brauste Belle auf. »Ich werde sie nicht so erziehen, wie Annie und du mich erzogen habt. Ich habe praktisch wie eine Gefangene gelebt.«
»Das ist nicht fair, Belle«, wandte Etienne ein. »Mog musste dich als Kind gut behüten, weil in London alle möglichen Gefahren lauerten. Das hat sie mit Mari bestimmt nicht vor.«
»Natürlich nicht«, sagte Mog. »Sie braucht nur ein bisschen Anleitung. Seit einer ganzen Weile darf sie tun und lassen, was ihr gefällt. Sie sollte mehr im Haus helfen, kochen und nähen lernen, statt auf Bäume zu klettern und mit den Jungs Ball zu spielen. Noch vier Jahre und sie ist ein junges Mädchen, und ich muss dir nicht erst sagen, Belle, welche Gefahren das mit sich bringt.«
Belle schürzte die Lippen.
»Verschone mich mit diesem selbstgefälligen Blick!«, meinte Mog ungeduldig. »Seien wir ehrlich, wir drei wissen ganz genau, in welche Schwierigkeiten junge Leute geraten können. Hier gibt es weniger Versuchungen als in London oder Marseille, doch für junge Menschen kann es hier ziemlich langweilig sein. Und dann gibt es Ärger!«
Etienne grinste. »Du hast ja recht, Mog, wie immer. Mir wäre es auch lieber, wenn Mari davon träumen würde, einen Hutsalon zu besitzen oder Ballerina zu werden. Aber da das unwahrscheinlich ist, müssen wir sie in eine Richtung lenken, die ungefährlicher ist, als eine zweite Jeanne d’Arc zu werden.«
»Wer hat ihr überhaupt von Jeanne d’Arc erzählt?« Belle sah Etienne vorwurfsvoll an.
Er hob in einer typisch französischen Geste die Schultern. »Den Jungs erzähle ich von König Artus, also erzähle ich Mari von einem Bauernmädchen, das ihre Landsleute in die Schlacht geführt hat. Ich dachte, du bist für die Gleichberechtigung der Frau?«
»Bin ich auch. Aber wenn man eine Tochter hat, hofft man einfach, dass sie einen guten, anständigen Mann heiratet und mit ihm glücklich ist bis an ihr Lebensende.«
»Das hoffe ich auch«, gab Etienne zu. »Doch ich möchte auch, dass Mari nach höheren Dingen strebt. Sie ist intelligent, und vielleicht ist es ihr bestimmt, Ärztin oder Anwältin zu werden oder das zu schaffen, worin ich versagt habe, nämlich erfolgreich Wein anzubauen. Wir müssen alles tun, um ihre Energien in die richtigen Kanäle zu leiten.«