Geschichte des
Ersten Weltkriegs
VERLAG C.H.BECK
Der Erste Weltkrieg sprengte alles, was sich die Welt vor 1914 hatte vorstellen können. Er wirkte wie die Büchse der Pandora – jenes mythische Schreckensgefäß, aus dem alle Übel der Welt entwichen, als man gegen den Rat der Götter seinen Deckel hob. Jörn Leonhard erzählt die Geschichte des Krieges so vielschichtig wie nie zuvor. Er führt den Leser auf vergessene Schlachtfelder und versetzt ihn abwechselnd in die Hauptstädte aller beteiligten Staaten.
So entfaltet dieses Buch ein beeindruckendes Panorama. Es zeigt, wie die Welt in den Krieg hineinging und wie sie aus ihm als eine völlig andere wieder herauskam. Es nimmt nicht nur die Staaten und Nationen in den Blick, sondern auch die Imperien in Europa und weit darüber hinaus. Es beschreibt die dynamische Veränderung der Handlungsspielräume, die rasanten militärischen Entwicklungen und die immer rascheren Wandlungen der Kriegsgesellschaften. Und es lässt die Erfahrungen ganz unterschiedlicher Zeitgenossen wieder lebendig werden: von Militärs, Politikern und Schriftstellern, Männern und Frauen, Soldaten und Arbeitern. Jörn Leonhard ist eine zeitgemäße und moderne Geschichte des Ersten Weltkriegs gelungen, die es so bisher noch nicht gegeben hat: europäisch vergleichend, global in der Perspektive, souverän in der Darstellung.
Jörn Leonhard ist Professor für Westeuropäische Geschichte an der Universität Freiburg.
Den Brüdern
Ludwig Leonhard (1893–1917)
und
August Leonhard (1898–1976)
I. Erbschaften: Der Erste Weltkrieg und das lange 19. Jahrhundert Europas
II. Vorläufe: Kriegseinhegung und Krisenverdichtung vor 1914
1. Machtbalancen und Veränderungsdynamik
2. Konflikträume und Handlungslogiken
3. Fortschrittspanoramen und Kriegsszenarien
4. Meistererzählungen und offene Ausgänge
III. Entgleisung und Eskalation: Sommer und Herbst 1914
1. Die Inkubation des Krieges: Krisenspiralen, Parallelaktionen und gescheitertes Risikomanagement
2. August-Panoramen: Euphorie, Angst und die Logiken des Rückblicks
3. Maschinen und Material: Eskaliertes Töten im Krieg
4. Soldat werden, Soldat sein: Von der Rekrutierung zum Massenheer
5. Dynamische Gewalt: Globale Zonen und lokale Erfahrungen
6. Kontrolle und Knappheit: Militarisierte Staatlichkeit und improvisierte Kriegsökonomien
7. Die Regime von Loyalität und Anerkennung: Nationen und Großreiche von innen
8. Kriegsdeutungen: Nationale Selbstversicherung und intellektuelle Ermächtigung
9. Fünf Monate Krieg: Mobilisierung, Desillusionierung und die Ironie des Krieges
IV. Stillstand und Bewegung: 1915
1. Die Suche nach militärischen Entscheidungen: Kampfzonen und Strategien
2. Gewalt im Schatten des Krieges: Besatzungsregime und die Erfahrung ethnischer Differenz
3. Progressive Kriegsmittel, Gewaltexpansion und politische Kosten: Die technologische Mobilisierung im Gaskrieg und U-Boot-Einsatz
4. Abwartende Neutralität und konkurrierende Versprechen: Neue Kriegsakteure und ihre Expansionsfantasien
5. Kontingenz und Eigensinn: Die Front als soldatischer Erfahrungsraum und die Grenzen der nationalen Kriegsrhetorik
6. Drückeberger, Profiteure, Verräter: Die Heimatfronten zwischen ökonomischen Zwängen, Sozialkonflikten und politischer Labilität
7. Multiethnische Kriegsgesellschaften: Von der umkämpften Loyalität zur Eskalation ethnischer Gewalt
8. Krieg begründen, Gewalt verstehen: Intellektuelle Muster der Erfahrungsaneignung
9. 17 Monate Krieg: Radikalisierung und Ausweitung des Krieges unter der Oberfläche von Stillstand und Bewegung
V. Abnutzen und Durchhalten: 1916
1. Totale Schlachten, strategische Sackgassen, neue Taktiken: Der Umbruch zum modernen Krieg an der Westfront und auf See
2. Raum und Bewegung: Der Preis des expandierenden Krieges in Südosteuropa und im Nahen Osten
3. Hunger und Mangel, Zwang und Protest: Die Tektonik der Durchhalte-Gesellschaften
4. Politikwandel: Von den Grenzen der imperialen Ordnung zur Krise der politischen Legitimation
5. Menschenmaterial und Materialschlacht: Planungslogiken, Fronterfahrungen, Bewältigungsstrategien
6. Körper und Nerven: Die neue Kontur des Kriegsopfers
7. Die Sprachen des Krieges: Kommunikation, Kontrolle und die Grenzen der Meinungslenkung
8. Die Krise der Repräsentation: Bilder und Inszenierungen des Krieges
9. 29 Monate Krieg: Erwartungen und Erfahrungen in der Mitte des Krieges
VI. Expansion und Erosion: 1917
1. Krisenerfahrungen und Innovationen: Die Ungleichzeitigkeit der Räume und der neue Krieg des 20. Jahrhunderts
2. Die Grenzen der Belastung: Die Soldaten des Jahres 1917 zwischen Devianz und Protest, Gefangenschaft und Politik
3. Lenin und Wilson: Doppelter Internationalismus als revolutionärer Bürgerkrieg und demokratische Intervention
4. Revolutionen, Staatszerfall und Gewaltkontinuum: Russland zwischen Staatenkrieg und Bürgerkrieg
5. Prekäre Versprechen: Der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und die Frage nach der amerikanischen Nation
6. Die Revolution steigender Erwartungen: 1917 als globaler Moment
7. Soziale Polarisierung und politische Erosion: Die Grenzen des Konsenses in den Heimatgesellschaften
8. Die doppelte Defensive: Liberale im Krieg
9. Demografie, Klasse und Geschlecht: Die Konturen der Kriegsgesellschaften
10. Die wirtschaftliche und monetäre Tektonik des Krieges: Die politische Ökonomie einer neuen Weltordnung
11. 41 Monate Krieg: Das «unmögliche Jahr» zwischen Utopienkonkurrenz und Friedensillusion
VII. Plötzlichkeit und Zerfall: 1918
1. Von der Front zum Gewaltraum: Diktatfrieden und Bürgerkrieg im Osten Europas
2. Endspiel: Die andere Wiederkehr des Krieges von 1914 an der Westfront
3. Auflösungskämpfe: Der vorweggenommene Nachkrieg im Süden und Südosten Europas
4. Remobilisierung und teure Siege: Der Preis des Zusammenhalts in den alliierten Kriegsgesellschaften
5. Erwartungsstau und Krisenverdichtung: Deutschland zwischen Siegfriedensutopien und dem Ende der Monarchie
6. Zerfallskriege und Unabhängigkeitskämpfe: Die Auflösung der kontinentaleuropäischen Empires
7. Waffenstillstand oder Kapitulation: Das Kriegsende im Zeichen der Erschöpfung
8. 52 Monate Krieg und ein Monat Frieden: Offenheit von Sieg und Niederlage, Ungleichzeitigkeit von Krieg und Frieden
VIII. Ausgänge: Kriege im Frieden und die Konkurrenz neuer Ordnungsmodelle 1919–1923
IX. Gedächtnisse: Fragmentierte Erfahrungen und polarisierte Erwartungen
X. Hypotheken: Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert der globalen Konflikte
Schaubilder
Anmerkungen
Quellen- und Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Karten, Tabellen und Schaubilder
Bildnachweis
Dank
Personenregister
Sach- und Ortsregister
In der Erinnerung war es ein strahlender Sommer. Die Kinder planten für das Wochenende zusammen mit ihren Freunden aus der Nachbarschaft ein Stück aufzuführen, das sie aus Gustav Schwabs bekannter Sammlung der Sagen des klassischen Altertums kannten: Die Büchse der Pandora erzählte in der Form einer antiken Parabel von der Rache des antiken Göttervaters Zeus an Prometheus, nachdem dieser den Göttern das Feuer gestohlen hatte. Hephaistos, der Gott der Schmiedekunst, musste Zeus daraufhin die lebensgroße Gestalt einer Jungfrau anfertigen, die von allen übrigen Göttern mit vielen Gaben ausgestattet wurde, um den Menschen Unheil zu bringen. Zeus selbst führte Pandora, die «Allbeschenkte», zu Prometheus’ Bruder Epimetheus. Obwohl von seinem Bruder gewarnt, nie ein Geschenk der Götter anzunehmen, um Schaden von den Menschen abzuwehren, nahm Epimetheus Pandora bei sich auf: «In ihren Händen trug sie ihr Angebinde, eine goldene Büchse von erlesener Arbeit, die mit einem Deckel versehen war. Sacht hob sie den Deckel von dem Gefäß – und in dem gleichen Augenblick entflog diesem ein Schwarm von Übeln und verbreitete sich im Nu über die ganze Erde. Ein einziges Gut nur war zuunterst in der Büchse verborgen: die Hoffnung. Aber auf Eingebung des Göttervaters schloss Pandora, ehe jene entweichen konnte, rasch den Deckel. Und nun erfüllte das Elend in allen Gestalten Erde, Luft und Meer; allerlei Fieber belagerten die Erde, und der Tod, der vordem die Sterblichen nur langsam beschlichen hatte, beflügelte seinen Schritt.»[1]
Die Kinder fieberten der Aufführung ihres Stückes entgegen. Doch wurde die Generalprobe am Samstag, dem 1. August 1914, schon in eigens geschneiderten Kostümen im sommerlichen Garten des Ferienhauses, von dem Kinderfräulein der Familie unterbrochen: «Zieht euch nur wieder aus, ihr könnt heute nicht Theater spielen, der Krieg ist ausgebrochen.» Die ratlosen Kinder fanden ihre Eltern auf der Terrasse, die Mutter konzentriert Zeitung lesend, während der Vater, «den in sich gekehrten Blick ins Weite gerichtet» und nicht ohne eigene Theatralik, den Moment kommentierte: «Nun wird wohl auch gleich ein feuriges Schwert am Himmel erscheinen.» So jedenfalls erinnerten es die Kinder. Es war die Familie von Thomas Mann, die den Sommer in ihrem idyllisch gelegenen Ferienhaus in Bad Tölz verbrachte. Am Nachmittag des 1. August 1914 hatte das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärt. Eigenartig kam den Kindern vor, wie ihr Vater sich in diesem Moment an Leo Tolstoi erinnerte, den Schriftsteller und Repräsentanten einer radikalen Gewaltlosigkeit, der 1910 gestorben war: «‹Merkwürdig›, erklärte er, ‹aber wenn der Alte noch lebte, – er brauchte gar nichts zu tun, nur da zu sein, auf Jasnaja Poljana, – dies wäre nicht geschehen, – es hätte nicht gewagt, zu geschehen›.»[2]
Vier Jahre und drei Monate später, im November 1918, sollte Thomas Mann in seinem Tagebuch den Zusammenbruch jener Ordnung kommentieren, in der er selbst aufgewachsen, von der er tief geprägt, dessen Chronist er mit den Buddenbrooks geworden war: die Ordnung der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, ihrer Werte und Symbole, die im November 1918 in einer doppelten Welle aus Revolution und Kriegsniederlage zusammenzubrechen schienen. Das markierte etwas anderes als einen bloßen Wechsel der politischen Staatsform. Lakonisch wird seine Eintragung vom 9. November 1918 klingen, in der er auf die durch den langen Krieg längst ausgehöhlte Ordnung hinweisen wird, deren Ende ihn im Spätjahr 1918 nicht mehr überrascht: «Alles in Allem habe ich ziemlich kaltes und nicht weiter unwilliges Blut. Revolutionen kommen erst, wenn sie gar keinen Widerstand mehr finden (auch bei dieser war es so) und eben dies Fehlen beweist, dass sie natürlich und berechtigt sind. Die alten Machthaber sind im Grunde froh, ihre Macht, die keine mehr war, los zu sein, und es ist zuzugeben, dass ihre Autorität der Lage, wie sie ist und demnächst sein wird, nicht gewachsen wäre.»[3]
Was war der Erste Weltkrieg? Im Wissen um seine Konsequenzen erscheint er als prägender Auftakt, als elementare Krise und frühzeitiger Umbruch des noch jungen 20. Jahrhunderts.[4] Bereits die miterlebenden Zeitgenossen suchten unmittelbar nach dem Ausbruch des Krieges nach angemessenen Bezeichnungen, um das Neuartige, das Ungeheuerliche, das Ausgreifende des Ereignisses zu erfassen: Britische Zeitgenossen sprachen vom «Great War», Franzosen von der «Grande Guerre» und deutsche Beobachter vom «Weltkrieg», oder sie betonten wie Ernst Jünger wenige Jahre später seinen universellen, ja revolutionären Charakter als Umbruch: Hier sei «der Krieg nicht die Ausmündung, sondern die erste Tatsache der Revolution. An ihm – als Tatsache – kommt niemand vorbei, jedes Sein ist durch ihn gerichtet und bestimmt, wie es ideologisch sich auch immer zu ihm stellen möge».[5] Dagegen sind heutige Etiketten – die «Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts», die «Krise der Moderne», der «Zivilisationsbruch», der Auftakt zu einem zweiten «Dreißigjährigen Krieg» zwischen 1914 und 1945 oder der Beginn einer Phase, in der Europa zu einem «dunklen Kontinent» der Gewalt wurde – erst aus der rückblickenden Erkenntnis von Konsequenzen formuliert, die kein Zeitgenosse im August 1914 erahnen konnte.[6] Denn die beispiellosen Gewalterfahrungen des Weltkrieges endeten nicht mit den formalen Friedensschlüssen nach 1918, sondern setzten sich in Europa und der ganzen Welt im Namen neuartiger und radikaler Ideologien fort und steigerten sich noch. Das ließ den Krieg zur Epochenwende werden, die auch den Zeitgenossen nach 1918 bewusst war. Für Thomas Mann rührte die «hochgradige Verflossenheit» der Geschichte vor 1914, die er in seinem Roman Der Zauberberg widerspiegelte, der Zwang, in der Erzählung auf die «Zeitform der tiefsten Vergangenheit» zurückzugreifen, daher, «dass sie vor einer gewissen Leben und Bewusstsein tief zerklüftenden Wende und Grenze spielt», eben in der «Welt vor dem großen Kriege, mit dessen Beginn so vieles begann, was zu beginnen wohl kaum schon aufgehört hat.»[7] Der tiefe Bruch wurde zum prägenden Merkmal – ob in stilisierten Kindheitserfahrungen oder als Orientierungspunkt einer Generation, die nach 1918 die Konsequenzen des Krieges erfuhr.[8] Im Neuen Vorwärts schrieb der SPD-Politiker Dittmann im Dezember 1937: «Das Deutschland der Vorkriegszeit ist für die heutige Generation fast eine terra incognita, ein unbekanntes Land, so sehr hat der Krieg den Zusammenhang zwischen dem Vorher und dem Nachher zerrissen.»[9]
Dieser Krieg markierte nicht nur eine bisher ungeahnte quantitative und qualitative Gewaltsteigerung mit annähernd zehn Millionen getöteten Soldaten und annähernd sechs Millionen getöteten Zivilisten, eine bis dahin völlig unbekannte Dimension von Opferzahlen, eine nie dagewesene Mobilisierung von Gesellschaften und Medien, von Ökonomien und Finanzen, von Deutungen und Rechtfertigungen des Krieges, sondern auch einen tiefgreifenden Umbruch in der Bedeutung unterschiedlicher Weltregionen und zumal im Gewicht Europas in der Welt.[10]
Was war der Erste Weltkrieg? Wer den Krieg verstehen will, muss nachvollziehen, auf welche Welt dieser Konflikt traf, auf welche Erfahrungen und Erwartungen. William Gladstone, als liberaler Premierminister Großbritanniens eine der prägenden Figuren des Viktorianischen Zeitalters, wurde 1809 geboren und starb 1898. Hatte er als Kind die Kanonenschüsse von Edinburgh Castle anlässlich der Abdankung Napoleons gehört, so lauschte er am Ende seines Lebens seiner eigenen aufgezeichneten Stimme und lernte auch noch das neu erfundene Telefon als Kommunikationsmittel des 20. Jahrhunderts kennen.[11] Die ungeheure Veränderungsdynamik und Spannung des 19. Jahrhunderts, die historische Brücke in die Zeit vor 1800 und in die Vorgeschichte der Gegenwart, war hier innerhalb eines Menschenlebens konzentriert, in dem das Jahrhundert gleichsam biografisch abgebildet war. Wie lässt sich dieses Erbe des langen 19. Jahrhunderts charakterisieren, und was bedeutete der Erste Weltkrieg für es?
(1) Das Leitmotiv der Emanzipation bestimmte das 19. Jahrhundert. Sie prägte bei allen regionalen Unterschieden die Konsequenzen des demografischen Wachstums, indem immer größere Bevölkerungsteile mobilisiert wurden, indem sich die industriewirtschaftliche Produktionsweise durchsetzte und sich die auf Rechtsprivilegien beruhende Ständegesellschaft in eine komplexe Klassengesellschaft verwandelte. Der soziale Ort des Individuums wurde immer stärker durch soziale und wirtschaftliche Kriterien bestimmt. Zum Erbe des 19. Jahrhunderts gehörten vor diesem Hintergrund die Erfahrung wirtschaftlichen Wachstums und das Ideal nicht nur der politischen Gleichheit als Bürger, sondern auch der sozialen Gleichheit, so etwa in den immer wieder aufflammenden Konflikten um die Durchsetzung einer Republik als Staatsordnung mit sozial definierten Teilhaberechten, wie dies 1848/49 in Frankreich und auf der demokratischen Linken in Deutschland aufschien. Am Ende des Jahrhunderts war die Eigendynamik wirtschaftlicher und sozialer Differenzierung offenkundig, und sie stand im Gegensatz zur politisch-ideologischen Vorstellung eines elementaren Klassenkonflikts zwischen kapitalistischem Bürgertum und proletarischer Arbeiterklasse, der nur noch revolutionär gelöst werden könne. Vielmehr verdeckten solche Rhetoriken eine in der Praxis weitgehende soziale Nuancierung von europäischen Gesellschaften, die etwa in den neuen sozialen Gruppen wie Facharbeitern und Angestellten erkennbar wurde, aber auch in der Frage, ob man das Konzept der Revolution auf hochkomplexe Industriegesellschaften überhaupt noch anwenden konnte. Die Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterparteien zwischen Anhängern einer proletarischen Revolution und Befürwortern eines evolutionären Reformkurses spiegelten diese Dynamik wider.
Zugleich veränderten sich sozial wirksame Klassifizierungen und Abgrenzungen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. 1934 erinnerte sich der ungarische Schriftsteller Sándor Márai, wie sich am Beginn des 20. Jahrhunderts neue soziale und konfessionelle Trennlinien entwickelt hatten, als er das neue Mietshaus in seiner Heimatstadt Kaschau im damals slowakischen Teil Ungarns beschrieb, in dem er aufgewachsen war: «Ich glaube, es war wohl doch ein unwirtliches, ungestaltes Haus. Niemand wusste, wie er dorthin geraten war, keine Freundschaft verband die Bewohner, kaum auch gute Nachbarschaft. In diesem Haus lebten bereits Kasten, Klassen, Konfessionen. In den alten Häusern, den ebenerdigen, lebten noch Familien, Feinde oder Freunde, jedenfalls aber Menschen, die unauflösbar miteinander zu tun hatten.»[12] Im Ersten Weltkrieg sollten überkommene soziale Rollen und Funktionen infrage gestellt werden, es kam zu gesellschaftlichen Verschiebungen, neuen Schichtungen und Konstellationen mit Gewinnern und Verlierern. Vor allem wurde der Krieg zum Testfall für Gesellschaften und ihre Fähigkeit zur Integration von sozialen, ethnisch und politisch unterschiedlichen Gruppen unter den Bedingungen eines langen Krieges, in dem die sogenannte Heimatfront eine immer wichtigere Rolle für die Mobilisierung von Ressourcen spielte.
(2) Emanzipation und Mobilisierung hatten auch eine politische Dimension: Zu den wesentlichen Ergebnissen der europäischen Revolutionen zwischen 1789 und 1848/49 gehörte bei allen Unterschieden im Detail der Übergang von einer monarchisch-absoluten Herrschaftsform zu einer geregelten politischen Teilhabe durch einen Teil der Bevölkerung. Politische Herrschaft konnte nicht mehr als Willkürakt funktionieren, sondern wurde an überpersönliche Legitimation gebunden, an geschriebene Verfassungen, an die Prinzipien des Rechtsstaats und parlamentarischer Mitwirkung. In der Praxis bedeutete das ein breites Spektrum von konstitutionellen und parlamentarischen Monarchien bis hin zu republikanischen Verfassungen. In diesem Zusammenhang bildeten sich in den europäischen Gesellschaften auch jene ideologischen Bewegungen und politischen Parteien aus, die im Liberalismus, Konservatismus und Sozialismus die richtungsweisenden politischen und sozialen Ordnungsentwürfe entwickelten. Zum Erbe Europas aus dem langen 19. Jahrhundert gehörte daher die Erfahrung des ideologischen Wettbewerbs und des politischen Konflikts, aber auch die Trias von Krise, Revolution und Reform: Europas Gesellschaften veränderten sich nicht allein durch revolutionäre Umstürze, sondern zumal durch Reformanstöße, durch die man, wie etwa in Preußen nach der Niederlage gegen Napoleon 1806, die gewaltsame Revolution wie in Frankreich verhindern wollte. Beim Kriegsausbruch 1914 schien der Konflikt vielen Zeitgenossen auch den Gegensatz zwischen den von Frankreich und seiner revolutionären Tradition bestimmten «Ideen von 1789», überhaupt einer westeuropäischen Politiktradition, in die im weiteren Sinne auch der englische Parlamentarismus und das republikanische Freiheitspostulat der Amerikanischen Revolution von 1776 gehörten, und den deutschen «Ideen von 1914» widerzuspiegeln, auf die man sich berief, um sich von eben dieser Tradition mit eigenen Werten wie «Kultur» und «Gemeinschaft» zu distanzieren. Das liberale Erbe des 19. Jahrhunderts geriet aber auch in eine Krise, weil die entwickelten Formen politischer Teilhabe durch Wahlen und in Parlamenten, die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte und viele andere konstitutionelle Errungenschaften auf die Realität von neuartigen Kriegsstaaten trafen. In ihnen wurden zwischen 1914 und 1918 nicht allein in Deutschland die zivilen Instanzen der Politik, die Bedeutung von Verfassungen, die Gestaltungsmacht von Parlamenten, politischen Parteien und politischen Grundrechten herausgefordert. Die um 1900 in vielen Gesellschaften dominierenden Auseinandersetzungen um die Grenzen der politischen Teilhabe, konkret sichtbar in den Konflikten um die Ausgestaltung des Wahlrechts, sollten durch den Krieg vertieft und zugespitzt werden.
(3) Das 19. Jahrhundert war auch das Jahrhundert des Staates, der seinen Bürgern nicht nur in Wahlen und Parlamenten, bei der Steuererhebung und der militärischen Musterung, sondern auch in Gerichten und Verwaltungen, in Schulen und Universitäten entgegentrat. Als Verfassungs- und Rechtsstaat, als bürokratischer Verwaltungsstaat, als Interventions- und früher Sozialstaat drang er in immer weitere Bereiche des sozialen Lebens vor, die bis dahin privat oder von überkommenen Institutionen wie der Kirche oder Korporationen bestimmt worden waren. Das war etwas anderes als der monarchische Steuer- und Militärstaat des 18. Jahrhunderts im Umgang mit seinen Untertanen. Der Staat des 19. Jahrhunderts erhob nicht nur den Anspruch auf Erfassung und Klassifizierung seiner Bürger, er übernahm auch Verantwortung, wie dies zumal in den Anfängen der staatlichen Sozialversicherungen seit den 1870er Jahren erkennbar wurde. Diese Prozesse, die man als «Verstaatung» bezeichnen kann, wurden durch den Ersten Weltkrieg und seine militärische, politische, soziale und ökonomische Mobilisierung großer Teile der Gesellschaft erheblich gesteigert. Bis August 1914 hieß es für Großbritannien, dass «ein vernünftiger, gesetzestreuer Engländer durch sein ganzes Leben gehen konnte, ohne die Existenz des Staates zu bemerken, abgesehen vom Postamt und dem Polizisten».[13] Das sollte sich nun fundamental ändern: Der Staat wurde nicht nur nach außen ein entscheidender Kriegsakteur, sondern auch nach innen, vor allem als Sozialstaat, als Organisator der Kriegswirtschaft, als Verwaltungsstaat. Doch wurde mit zunehmender Dauer des Krieges auch erkennbar, wo die Grenzen dieser Entwicklungen lagen und welche politischen und sozialen Kosten damit verbunden waren.[14]
(4) Revolutionen standen am Beginn und am Ende des langen 19. Jahrhunderts. Es war aber nicht nur eine Epoche miteinander verbundener politischer Kettenrevolutionen mit Höhepunkten in den Jahren 1789, 1830 und 1848/49. Es war auch die Phase vielfältiger Kommunikationsrevolutionen, deren Wirkungen den politischen Umwälzungen keinesfalls nachstanden, ja vielfältig mit diesen verbunden waren und diese langfristig sogar übertrafen: Im Zeichen von steigenden Alphabetisierungsraten, durch die Verbreitung von Texten und Bildern in neuen Medien und mithilfe neuer Techniken – von der Lithografie über die Tageszeitung bis zur Illustrierten, von der Fotografie über Telegrafie bis hin zum Telefon –, durch den Zugang breiterer Bevölkerungsgruppen zu Wissensbeständen, aber auch den veränderten Stellenwert der Öffentlichkeit, der Publikation von Parlamentsdebatten und der Entstehung einer Massenpresse, kam der Kommunikation und den Medien eine enorme Bedeutung zu. Im Ersten Weltkrieg setzte sich so eine Entwicklung fort, die sich im Prinzip seit den Kriegen der Französischen Revolution gezeigt hatte, nun aber durch die technologischen Möglichkeiten und die Massenverbreitung eine neue Dimension annahm: Der Weltkrieg war auch ein Medienkrieg, in dem Kommunikation und massenhafte Informationsvermittlung zu eigenen Kriegsfaktoren wurden, sei es in dem neuen Verhältnis zwischen Militär und Presse, der Institutionalisierung von Pressearbeit, den Plakaten, die zu Kriegsanleihen aufforderten, oder in Fotografie und Film, mit denen Kriegserfahrungen, Fremd- und Selbstbilder visualisiert wurden. Der Weltkrieg provozierte dadurch verstärkt Hoffnungen und Erwartungen, die aber angesichts der Eigendynamik des Kriegsverlaufs häufig nicht und nur ungenügend eingelöst werden konnten. All das ging weit über das gängige Verständnis von Propaganda als suggestive Manipulation von Informationen im Dienst von Militärs und Kriegsstaaten hinaus. Gerade der Krieg sollte offenbaren, wie sich konkrete Medienwirkungen und ihre Nutzung den Intentionen von Militärs oder Politikern vielfach entzogen.
(5) Nation, Nationalstaat und Nationalismus wurden im langen 19. Jahrhundert Europas zu zentralen Orientierungsmarken staatlicher Behauptung nach außen und politischer Ordnung sowie sozialer Gestaltung nach innen. Abgeleitet vom Ideal der selbstbestimmten Nation als Souverän und der Bereitschaft zur gewaltsamen Verteidigung dieser Nation während der Französischen Revolution, sollten Nation und Staat, Volk und Territorium in Übereinstimmung gebracht werden. Diese Nationsbildungen waren vielfach mit Kriegen verknüpft, so etwa in der Etablierung der neuen Nationalstaaten Italien und Deutschland zwischen 1859 und 1871. Zugleich handelte es sich um die innere Nationalisierung von Gesellschaften, die nationale Aufladung von Institutionen, Symbolen und Traditionen, die praktisch alle europäischen Gesellschaften erfasste. Damit ließen sich aber auch Gruppen im Inneren marginalisieren oder ausschließen, deren nationale Loyalität man infrage stellte und die nur unter Vorbehalten zum Kern der Nation gezählt wurden, mochten es bestimmte Religionen und Konfessionen wie Juden oder Katholiken im Deutschen Reich nach 1871 sein, bestimmte ethnische Gruppen wie Dänen oder Polen in Deutschland, Iren in Großbritannien, Trentiner oder Tschechen in Österreich-Ungarn oder politische Bewegungen wie die sozialistischen Arbeiterparteien vor 1914. Religiöse und ethnische Markierungen überlappten häufig, wie im Falle katholischer Iren im Vereinigten Königreich oder katholischer Polen im deutschen Nationalstaat. Mit dem Weltkrieg entwickelten sich zunächst neuartige aggressive Ausprägungen eines Kriegsnationalismus, in denen sich der Nationalismus der Vorkriegszeit fortsetzte und zuspitzte. Angesichts der Massenmobilisierung im Krieg wurden die Kriterien, nach denen man die Zuverlässigkeit nationaler Loyalität bestimmter Gruppen bemaß, immer mehr verschärft. In vielen Gesellschaften wurden im Laufe des Krieges soziale Spannungen und wirtschaftliche Verteilungskrisen mit ethnischen oder religiös-konfessionellen Merkmalen verbunden, um die Loyalität bestimmter Gruppen infrage zu stellen und sie aus der Nation auszuschließen. Solche Prozesse radikalisierten sich während des Krieges, sie gingen immer häufiger mit Gewalt einher. Schließlich konnten sie den Zusammenhalt von Gesellschaften und die Stabilität von politischen Regimen infrage stellen.
Zwischen 1500 und 1914 reduzierte sich in Europa die Zahl staatlicher Akteure von etwa 500 territorial-politischen Einheiten auf etwa 30 Staaten zum Zeitpunkt des Ersten Weltkrieges. In Mitteleuropa zeigte sich vor allem in der Phase zwischen 1792 und 1815 ein besonderer Zusammenhang zwischen Krieg und Staatsbildung nach außen und nach innen.[15] Auch wie das Prinzip der Volkssouveränität umgesetzt wurde, gehörte zum Erbe des 19. Jahrhunderts: Was in Frankreich 1830 und 1848 primär im Rahmen von Klassenkonflikten ausgetragen wurde, war in Italien, Deutschland und in den multiethnischen Großreichen mit dem Kriterium der Nationalität überlagert. Soziale Auseinandersetzungen zeigten sich hier nicht so sehr im revolutionären Barrikadenkampf zwischen Klassen auf der Straße, sondern in der ethnischen Differenzierung nach Grenzen. Diese Konversion vertiefte sich im Laufe des Jahrhunderts: Im Panorama von West- nach Ost- und Südosteuropa verwandelten sich «barricades into borders».[16]
Auf den zeitgenössischen Karten war die Welt der Staaten vor 1914 durch klare Grenzen und Farben gekennzeichnet. Aber das imperiale Rot des Britischen Empires, das Grün des Russischen Reiches oder das Blau des Deutschen Reiches suggerierte anhand der kartografischen Einfärbungen eine Uniformität, die zwar dem Modell des ethnisch homogenen Nationalstaates folgte, aber der komplexen Wirklichkeit nicht entsprach. Ganz im Gegensatz zum Anspruch auf Kohäsion und Loyalität stand die komplexe Realität der multiethnischen Großreiche der Habsburgermonarchie, des Russischen Zarenreiches sowie des Osmanischen Reiches. Um 1900 wurden die Grenzen zwischen Nationalstaaten und Empires durchlässiger: Auch Nationalstaaten wie Deutschland, Frankreich oder Italien betrieben eine imperiale Politik, um ihren weltpolitischen Macht- und Gestaltungsanspruch nach innen und außen durch Kolonien außerhalb Europas zu rechtfertigen, und gerade in Großbritannien suchte man aus der Existenz des maritimen Empires das nationale Konzept der Britishness abzuleiten. Imperial agierten auch kleine westeuropäische Staaten wie Portugal, die Niederlande oder Belgien, dessen koloniales Empire das 80-Fache der Größe des Mutterlandes ausmachte; im Falle Großbritanniens betrug der Faktor 140.[17] Der Nationalstaat war Motor der Imperiumsbildung, weil man daran die Stärke und den Behauptungswillen der eigenen Nation im internationalen Wettbewerb erkannte. Ernst Troeltsch argumentierte in seinem 1913 erschienenen Aufsatz Das Neunzehnte Jahrhundert, dass zum Wesen des Nationalstaates die Demokratisierung nach innen, aber zugleich die kapitalistische Lebensform gehörten – die er sich nur als «Internationalität des Kapitals und der Wirtschaft» vorstellen konnte.[18]
Aber nicht nur die Nationalstaaten wurden dadurch dynamisiert – auch die kontinentaleuropäischen Großreiche Russlands, der Habsburgermonarchie und des Osmanischen Reiches waren Empires im Übergang. Hier kam es zu konkurrierenden Nationalisierungen, die das Vorbild des homogenisierenden Nationalstaates unterstrichen. Indem die Ansätze einer Russifizierung, Germanisierung oder Turkifizierung aber Gegenbewegungen provozierten, verkomplizierte sich die innere Situation der Großreiche, ohne dass ihre Auflösung durch nationalstaatliche Abspaltungen bereits so zwangsläufig absehbar gewesen wäre, wie sie vielen Zeitgenossen nach 1918 erschien.[19] Dennoch markierte der Weltkrieg einen entscheidenden Umbruch: Während keines der drei multiethnischen Reiche des Kontinents den Krieg überstand und sich aus ihrer Erbmasse eine Vielzahl neuer Nationalstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa bilden sollte, traten auch die Beziehungen der europäischen Staaten und ihrer Kolonialreiche in eine veränderte Epoche, wie sich am Beispiel Großbritanniens und Frankreichs zeigte. Hinzu trat das Gewicht ganz neuer Akteure wie Japans oder der Vereinigten Staaten.
(6) Bereits das 19. Jahrhundert veränderte die Beziehung zwischen Europa und Außereuropa, wie zwischen den anderen Weltregionen untereinander, durch neue, vielfältige Verflechtungen. Dazu zählten nicht allein die europäische Expansion und die Schaffung abhängiger Kolonien, die in der zweiten Jahrhunderthälfte im Zeichen zunehmender internationaler Konkurrenz zu einem konfliktträchtigen Wettlauf um die Verteilung der nach Wahrnehmung vieler Zeitgenossen noch «freien» Territorien in Afrika und Asien führte. Verflechtungen zeigten sich auch in den Migrationsbewegungen, dem Waren- und Wissensaustausch. Nur in diesem Sinne lässt sich das 19. Jahrhundert mit dem Signum einer «Weltgeschichte Europas» (Hans Freyer) kennzeichnen, insofern Europa noch eine entscheidende Referenz für die übrigen Gesellschaften bildete. Dabei stellten die Globalisierungsschübe, also die Vielfalt von Transferbeziehungen und Verflechtungen von Wirtschafts-, Finanz- und Wissensmärkten über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus, die europäischen Nationalstaaten keinesfalls infrage, sondern stabilisierten sie immer wieder.[20]
Weit über Europa hinaus wirkte im 19. Jahrhundert die vor allem von Großbritannien geprägte, wenn auch nicht kontrollierte Wirtschafts- und Rechtsordnung. Dieser Einfluss beruhte nicht mehr allein auf Territorialbesitz, sondern auf der Geltung von wirtschaftlichen und rechtlichen Ordnungsmodellen.[21] Gerade der Royal Navy kam dabei eine besondere Bedeutung zu: Sie symbolisierte nicht nur militärische Überlegenheit im engeren Sinne, sondern auch die Durchsetzung von Normen im Sinne einer maritimen Ordnungspolitik.[22] Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts veränderte sich diese Konstellation, als das an Gebietsbesitz gebundene Kriterium ethnischer Zugehörigkeit immer mehr an Bedeutung gewann. Zum Modell wurde jetzt der Nationalstaat als Herrschaft über ein bestimmtes Territorium, als Basis rechtlicher und politischer Entscheidungen, als Erfahrungsraum für Selbst- und Feindbilder und national bestimmte Loyalität. So wurde Territorialität seit den 1860er Jahren entscheidend, um die Leistungsfähigkeit und die Legitimation von Staaten und Reichen zu dokumentieren. Die Tradition informeller Empire-Strukturen trat zugunsten einer Formalisierung kolonialer Herrschaft zurück.[23]
Für das Verhältnis zwischen Europa und Außereuropa sowie der Weltregionen untereinander markierte der Erste Weltkrieg einen tiefen Einschnitt, der sich nicht allein in der Ablösung der europäischen Pentarchie zeigte, jener Staatenordnung also, die mit Großbritannien, Frankreich, Russland, der Habsburgermonarchie und Preußen/Deutschland seit dem 18. Jahrhundert die internationalen Beziehungen bestimmt hatte. Das Ende der deutschen Kolonien nach 1918, ihre Um- und Neuverteilung sowie die Auflösung der multiethnischen Empires, zumal des Osmanischen Reiches, schufen neue Handlungs- und Einflussmöglichkeiten, während zugleich die Abhängigkeit der europäischen Mächte, gerade Großbritanniens, von den Kriegsleistungen ihrer Kolonialreiche enorm zunahm. Der Erste Weltkrieg sollte aber nicht nur aus europäischer Perspektive eine neue Phase von Kolonialisierung und Dekolonialisierung einleiten. Ebenso wichtig wurde die Erfahrung der durch den Krieg ausgelösten globalen Mobilisierung von Menschen und Rohstoffen, wurden Migrationsströme und die Kriegserfahrungen von Kolonialgesellschaften außerhalb Europas. Wie das Beispiel der britischen Dominions Kanada, Australien und Neuseeland zeigen sollte, gingen die Kriegserfahrungen dieser Gesellschaften nicht darin auf, Soldaten und kriegswichtige Materialien bereitzustellen. Der Krieg veränderte vielmehr ihr Gewicht als Akteure innerhalb des Empires und prägte die innere Nationsbildung in diesen Gesellschaften.
(7) Aus der Periode der Französischen Revolution und den aus ihr hervorgegangenen Kriegen mit dem Napoleonischen Kaiserreich zwischen 1792 und 1814/15 ergab sich ein besonderes internationales Ordnungsdenken, das Europa langfristig und in seinen Grundzügen bis 1914 prägte. Es beruhte zunächst auf der Absicht, die postrevolutionäre Staatenwelt Europas durch ein besonderes Gleichgewichtssystem zu stabilisieren, das hegemoniale Ausgriffe wie die der französischen Revolutionsregime und des Napoleonischen Kaiserreichs verhindern sollte. Zu dieser Sicherheitskonzeption gehörte auch das Bemühen, Konflikte zu entideologisieren und den Staatenkrieg nicht zu einem internationalisierten Bürgerkrieg werden zu lassen. Hier setzte die sogenannte Kongressdiplomatie an: Danach sollten Staatenbeziehungen nicht zum Objekt öffentlicher Diskussion werden. Stattdessen setzte man darauf, Auseinandersetzungen in geheimen Verhandlungen zwischen Regierungsvertretern frühzeitig einzuhegen und sich dabei am Ideal souveräner Staaten zu orientieren. Zwischen 1815 und 1871 war diese Politik der Kriegseinhegung durchaus erfolgreich, und selbst in der Phase der Kriege um die Etablierung neuer Nationalstaaten in Italien zwischen 1859 und 1870 und in Deutschland zwischen 1864 und 1871 kam es allenfalls zu bilateralen Konflikten, während es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine umfassenden und ausschließenden Bündniskonstellationen gab, die mehr Staaten involviert hätten.[24] Während also in jenen Gebieten Kerneuropas, die seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Schauplätze von Kriegen gewesen waren, ein großer Konflikt vermieden werden konnte, entstanden in den Kolonien und zumal in Südosteuropa, auf dem Balkan, neue Spannungszonen. Hier wirkten die 1815 entwickelten Ordnungskonzepte nicht, aber in diese Räume ließen sich Machtkonflikte ableiten, was die internationale Ordnung indirekt stabilisierte. Auch der Krisenherd, der im Sommer 1914 zum Anlass für den Ersten Weltkrieg wurde, verwies auf die südosteuropäischen Spannungszonen, wo der Rückzug des Osmanischen Reiches und die gegenläufigen Interessen Russlands und der Habsburgermonarchie aus einem gefährlichen Machtvakuum ein hochlabiles Krisengebiet hatten entstehen lassen.
(8) Eine entscheidende Voraussetzung für das internationale Ordnungsdenken und damit auch für die relativ lange Abwesenheit großer kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa lag in der Fähigkeit der Staaten zum Krieg, ihrer Bellizität, und damit der prinzipiellen Gewaltbereitschaft. Diese Kriegsfähigkeit der Staaten war für die Aufrechterhaltung des internationalen Kräftegleichgewichts, auch durch das Mittel gegenseitiger Abschreckung, wie für die Stabilisierung der inneren Verhältnisse der Staaten nach 1815 eine wesentliche Voraussetzung. Das zeigte sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es zu immer größeren Rüstungsanstrengungen und zur Entwicklung von Massenheeren durch die Einführung der Wehrpflicht in allen größeren europäischen Gesellschaften mit Ausnahme Großbritanniens kam. Zugleich aber wurde die prinzipielle Kriegsfähigkeit der europäischen Staaten außerhalb des Kontinents, zumal im Möglichkeitsraum der Kolonien, unter Beweis gestellt – erst im Sommer 1914 sollte sich das ändern.[25] Damit setzte eine Phase beispielloser Gewaltkaskaden im 20. Jahrhundert ein.
Abb. 1: Kriegsgewalt im Zeitalter der Extreme: Kriegstote im 20. Jahrhundert
Bellizität wurde im 19. Jahrhundert auch ein Ausdruck wirtschaftlicher und technologischer Errungenschaften von Industriegesellschaften, ihrer Fähigkeit, neue soziale Gruppen zu integrieren, sich politisch zu behaupten und in einem Zeitalter wachsenden internationalen Wettbewerbs die eigene Zukunftsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Nicht zufällig erfuhren gerade die Schlachtflotten im Zuge der kolonialen Expansion eine enorme symbolische und politische Aufwertung.[26] Mit ihnen ließen sich Wirtschaftsstärke und technologischer Fortschritt, globale Mobilität und die Bereitschaft zur gewaltsamen Intervention kommunizieren – das prägte die Strategien des Seekrieges in einer sich industrialisierenden Welt und bedingte einen neuen Blick auf das Verhältnis von Land- und Seekrieg wie zwischen Kontinentalstaaten und globalen Imperien.[27] Aus diesen Entwicklungen ergaben sich aber auch neue Zwänge und Dynamiken: Es zeichneten sich nämlich neue Entscheidungskonstellationen ab, in denen die militärischen Eliten und ihr Beharren auf strategischen Notwendigkeiten die Spielräume der Politik veränderten.
Schließlich hatte diese Orientierung an Krieg und Militär eine weitreichende gesellschaftliche Dimension. In der Öffentlichkeit, im vermittelten Bildungskanon, in Literatur und Presse bildeten Krieg und Militär entscheidende Orientierungspunkte. Für die Bestimmung der Nation und ihre massenhaft wirksame Veranschaulichung hatte dies in tendenziell allen europäischen Gesellschaften der zweiten Jahrhunderthälfte eine große Bedeutung. Das reichte vom Uniformen- und Fahnenkult über Kriegsdenkmäler und Feiertage bis hin zu den Veteranen- und Kriegervereinigungen und zur breitenwirksamen Popularisierung des Schlachtflottenbaus in Deutschland und Großbritannien. Doch darf man von diesen innergesellschaftlichen Tendenzen, die auf eine enge zeitgenössische Verbindung von Bellizismus und Nationsbestimmungen hinweisen, keinesfalls auf eine besondere Gewaltsteigerung in den Kriegen des 19. Jahrhunderts schließen. Nicht die Totalisierung der Kriegsgewalt, sondern gerade die erfolgreiche Einhegung von Konflikten war ein besonderes Erbe des 19. Jahrhunderts in Europa. Dessen Kriegserfahrungen waren nach dem Ende der Epoche zwischen 1792 und 1815 auf kurze militärische Auseinandersetzungen beschränkt – so 1853–56 im Krimkrieg, so 1859–61 im Zuge der italienischen Nationaleinigung, so 1864, 1866 und 1870/71 in den Kriegen zur Schaffung eines kleindeutschen Nationalstaates. Während diese Kriege in den massenmedialen und retrospektiven Deutungen der Zeitgenossen zu National- und Volkskriegen avancierten, handelte es sich in der Praxis um begrenzte Staatenkriege, in denen der Primat der politischen Führung nicht infrage gestellt wurde. Die Totalisierung der Kriegsgewalt im Namen der «Nation in Waffen» war also noch keine Realität des konkreten Kampfgeschehens, aber sie wurde in den populären Darstellungen und politischen Instrumentalisierungen und zumal in den Projektionen künftiger Kriege ein wichtiges Leitmotiv.[28]
Auch diese relative Begrenzung von kriegerischer Gewalt war zunächst auf Kerneuropa beschränkt: Denn an den von der Mitte Europas aus gesehen südöstlichen Peripherien, auf dem Balkan mit seiner charakteristischen Mischung von zahlreichen Faktoren – eine multiethnische Bevölkerung, ein politisches Vakuum durch den allmählichen Rückzug des Osmanischen Reiches, dazu Russland und die Habsburgermonarchie als konkurrierende Großmächte und der Wettbewerb von zunehmend radikal agierenden Nationalbewegungen bei relativ schwacher Staatlichkeit in der Region – kam es bereits vor dem Sommer 1914 zu einer ganzen Reihe von Kriegen, in denen sich die Gewalt gegen die ethnisch und religiös-konfessionell gemischte Bevölkerung radikalisierte. Erst recht galt diese Grenze der Konflikt- und Gewalteinhegung für die kolonialen Kriege europäischer Mächte gegen indigene Bevölkerungen, so im Sudan 1898, in Südafrika zwischen 1899 und 1902 sowie in der deutschen Niederschlagung der Herero- und Nama-Aufstände seit 1904. Hier ging es eben nicht darum, dem Gegner eine militärische Niederlage beizubringen, sondern seine wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlagen zu zerstören, um eine vollständige Unterwerfung zu erreichen.[29] In der kolonialen Strafpraxis waren Muster wie Vergeltung und Deportation leitend, die nach 1914 auch im europäischen Krieg wirksam werden sollten.[30] Obwohl von dieser entgrenzten Gewalt kein gerader, gleichsam kausaler Weg zur Totalisierung des europäischen Krieges seit August 1914 führte, gehörte sie doch zum weiteren historischen Kontext. Wenn es Beispiele im langen 19. Jahrhundert gab, an denen man die mögliche Zukunft der Kriegsgewalt erkennen konnte, so war es in Ansätzen der Krimkrieg von 1853–56, aber vor allem der Amerikanische Bürgerkrieg. Von 1861 bis 1865 wurden 2,1 Millionen Soldaten aus den Nordstaaten und 880.000 Mann aus den konföderierten Südstaaten mobilisiert; der Krieg forderte mehr als 750.000 Todesopfer, darunter über 620.000 Soldaten, das waren knapp 2,5 Prozent der nordamerikanischen Bevölkerung – und in etwa so viele amerikanische Todesopfer wie in den Revolutionskriegen des 18. Jahrhunderts, dem Krieg von 1812, dem Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, dem Spanisch-Amerikanischen Krieg, den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und dem Koreakrieg zusammen. Er dokumentierte die neuartigen Zusammenhänge zwischen der Massenmobilisierung und der Rechtfertigung bisher ungekannter Opferzahlen, zwischen gesteigerter Gewalt auch gegen die Zivilbevölkerung des Gegners und dem Zweifel an der Loyalität einzelner Gruppen in der eigenen Gesellschaft.[31]
(9) Zum 19. Jahrhundert gehörte die zunächst verbreitete Wahrnehmung eines umfassenden Fortschritts und einer immer besseren und gestaltbaren Zukunft, sei es durch mehr politische Teilhabe, durch wirtschaftliches Wachstum und mehr soziale Gleichheit, verbesserte Bildung und Wissensfortschritte, durch mehr Mobilität oder verbesserte Hygiene, durch Verbreitung einer europäisch gedachten Zivilisationsidee auf der ganzen Welt. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts traf dieser Fortschrittsglaube als Kern des bürgerlichen Zukunftsversprechens auf immer mehr Zweifel. Die Kulturkritik, die Rezeption der Schriften Friedrich Nietzsches, aber auch die vielfältigen Reformbewegungen und künstlerischen Strömungen um 1900 offenbarten, dass das Fortschrittsversprechen brüchiger geworden war. Sowenig man aus diesen Tendenzen auf eine verbreitete Hoffnung auf einen befreienden Krieg, ja ein Herbeisehnen eines großen Krieges schließen kann, sowenig lässt sich übersehen, wie stark die Leitmotive von Fortschritt, Wachstum und Expansion bereits vor 1914 unter Druck geraten waren. Dazu trug auch ein tiefgreifender Umbruch im Verständnis der Wirklichkeit bei. Das galt in der zeitgenössischen Physik, wo durch Max Plancks Quantenhypothese und die Relativitätstheorie Albert Einsteins das bisherige physikalische Weltbild erschüttert wurde. Und es wurde auch in der Psychoanalyse Sigmund Freuds durch die Entdeckung des Unterbewussten erkennbar. Der Erste Weltkrieg stand im Zeichen beider Entwicklungen, sowohl des Fortschrittsversprechens und seiner Desillusionierung, zu der er erheblich beitrug, als auch des Umbruchs der Wirklichkeitswahrnehmung. Daneben zeigte sich nach 1914 aber auch eine ganz eigene Verknüpfung von Krieg und Wissenschaft, denn zahlreiche Forscher waren ohne Weiteres bereit, ihr Wissen in den Dienst des eigenen Landes zu stellen, sei es in den Fluten von Rechtfertigungsschriften zeitgenössischer Historiker, Theologen, Ökonomen und Soziologen oder in der militärischen Nutzung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und neuer Technologien für die Entwicklung neuer Kriegsmittel und Ersatzstoffe.
(10) Mit dem zuvor Gesagten hängt ein letzter Aspekt zusammen, nämlich das Selbstbild und die Positionierung des Einzelnen im historischen Prozess. Die Beschäftigung mit der Geschichte auf ganz unterschiedlichen Ebenen, in Denkmälern, Museen und Geschichtsvereinen, in den zahllosen historischen Romanen, aber eben auch in der entstehenden Geschichtswissenschaft als einer bürgerlichen Orientierungswissenschaft gerade in Deutschland, wurde ein Leitmotiv des 19. Jahrhunderts. Dahinter stand die Suche nach der individuellen und kollektiven Selbstvergewisserung in einer Epoche, die zumal seit den 1860er und 1870er Jahren vom Modus der Beschleunigung erfasst schien. Das war etwas anderes als die Unterscheidungen zwischen «früher» und «später» oder «vorher» und «nachher», die sich auf punktuelle Ereignisse wie Revolutionen oder Kriege beziehen konnten. Im Unterschied zur Phase nach 1800 entwickelte sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine ganz neue Qualität der Zeiterfahrung bei gleichzeitiger subjektiver Wahrnehmung schrumpfender Räume. Dazu trugen technische Errungenschaften bei: Verkehrsverdichtung und Beschleunigung standen am Ende des Jahrhunderts im Zeichen von Dampfschiffen, Eisenbahnen und Automobilen, welche die mit natürlicher Antriebskraft betriebenen Segelschiffe und Kutschen zu ersetzen begannen. Das kabel- und drahtgebundene Nachrichtennetz der Welt trat 1899 in ein neues Zeitalter, als die erste drahtlose Nachrichtenübermittlung zwischen Großbritannien und Frankreich gelang, der 1901 die erste transatlantische Übertragung folgte. Das Ergebnis dieser Beschleunigungen reduzierte den wahrgenommenen Raum der Zeitgenossen und damit auch die Distanz zwischen Ereignis und Nachricht.[32] Aber diese Entwicklungen konfrontierten viele Zeitgenossen auch mit neuartigen Krisensymptomen; die historisch erfahrene Zeit und die eigene, individuell-biografische Zeiterfahrung traten immer weiter auseinander. Chiffren dieser Entwicklung waren am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht zufällig der «Zählzwang» und die «Eilkrankheit» der Protagonisten aus Robert Musils Romanen und Erzählungen, und vor allem «Choc», «Trauma» und «Nervosität» als Symptome einer krankhaften Zeit. Thomas Manns Der Zauberberg von 1924 war in einem doppelten Sinne ein Zeitroman, indem er nicht nur die historische Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sondern bewusst die Zeit selbst, ihre Subjektivierung, ihre Aufsplitterung in konkurrierende Zeitkonzepte, zum Thema machte.
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