Volker K. Joos
Wudrawidsch III
Wudrawidschs Rückkehr
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Wudrawidschs Rückkehr
Impressum neobooks
Weiter und weiter schwebte die Erde wie seit Millionen von Jahren bereits auf ihrer festgelegten Bahn durch das Weltenall. Sie schwebte nie zu schnell und nie zu langsam, sie änderte nie ihre Richtung und sie stieß nie mit anderen Himmelskörpern zusammen. Es war der Allmächtige Gott, der sorgsam seine schützende Hand über dem vergleichsweise winzigen Lebensraum seiner geliebten Erdenkinder hielt und diesen auch nicht eine einzige Sekunde lang aus den Augen ließ.
Hätte er nur ein einziges Mal weggeschaut, dann hätte dies das Ende bedeutet. Das Ende für diese Erde und das Ende für seine Bewohner! So aber begab es sich, dass auf der Erde ein neuer Tag anbrach, dass Sonnenstrahlen Wärme und Licht spendeten, dass Vögel aus ihren Nestern krochen und zum Fluge ansetzten, dass Tiere in Wald und Feld sich aufmachten zur Nahrungssuche, und dass die Menschen, wie zu Urzeiten bereits, ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen.
Und doch hatte sich etwas verändert, zumindest in diesem Teil der Welt, wo seit Menschengedenken das Volk der Rushmanii von den aggressiven Moo bedrängt und bedroht wurde.
Kein Rushmanii hatte, abgesehen von den Randbereichen, jemals dieses dunkle, dieses für viele so schreckliche und finstere Land dieser höchst seltsamen, stets auf Gewalt und Zerstörung ausgerichteten Menschenrasse je in Augenschein nehmen können. Nun, nachdem im Jahr zuvor das Heer der Moo durch das entschiedene Eingreifen der sagenumwobenen Amazonen vernichtend geschlagen wurde, boten sich plötzlich ganz neue und unerwartete Möglichkeiten.
Beim Volk der Rushmanii, und dort vornehmlich im Stamm der Raheli, waren Stimmen laut geworden, die dazu aufriefen, die Gelegenheit zu nutzen und zu versuchen, mit den Moo in Kontakt zu treten. Jetzt, nachdem das Volk der Moo mehr oder weniger am Boden lag, müsste es doch am ehesten möglich sein, auch dort auf eine gewisse Form von Einsicht zu stoßen, dass es so eben nicht weitergehen konnte. Wer möchte schon gerne auf immer und ewig in ständiger Angst leben müssen?
Die Angst vor der kommenden Nacht und die Angst vor dem kommenden Tage! Nie zu wissen, was als nächstes kommt, nie zu wissen, wann die nächste Bedrohung geplant ist und der nächste Überfall stattfindet. Dieser Marschrichtung wollte man folgen und nicht zuletzt deshalb waren vor wenigen Monden drei mutige Rushmanii aufgebrochen, um das Land der Moo zu erkunden und, falls das Schicksal es gut mit ihnen meinte, zu versuchen, mit diesen Leuten dort in brauchbaren Meinungsaustausch zu treten.
Was schließlich auch gelang! Wudrawidsch, der Sohn des Schamanen, und Rebecca, die Tochter des Lorriss vom Stamm der Raheli, waren unter Führung von Hellwin, dem berühmtesten Recken des Rushmanii-Volkes losgeritten, um das gefürchtete Land der Moo in Augenschein zu nehmen. Früh schon stießen sie auf Einheimische, die den Dreien überraschenderweise anboten, in ihr kleines Dorf mitzukommen, um dort eine Mahlzeit einzunehmen, und ihnen schließlich sogar ein Nachtquartier zur Verfügung gestellt hatten. Nach Bestehen mehrerer spannender Abenteuer mit diesen Menschen dort, nach gemeinsamem Kampfe gegen böse Mächte und finstere Gestalten baute sich im Laufe der Zeit so etwas wie Vertrauen auf zwischen den drei Rushmanii und den Moo, die, bei näherem Kennenlernen, durchaus ebenfalls ganz normale menschliche Züge besaßen. Nun, nachdem man Bekanntschaft mit diesen, vor kurzem noch völlig fremden Menschen gemacht hatte, stellte man fest, dass dies nicht nur diese blutrünstigen Bestien waren, für die sie gemeinhin immer gehalten wurden. Es waren durchaus Menschen wie du und ich. Menschen, die wirkliche Gefühle in sich trugen. Zwar Gefühle wie Aggression und Gewaltbereitschaft, aber auch Gefühle wie Angst und Schmerz, Trauer und Leid, genauso wie Liebe und Freude und sämtliche Glücksgefühle, die ein Mensch fähig war, empfinden zu können.
Das beste Beispiel hierfür war Hellwin selber, der im Laufe dieser Zeit sein streng gehütetes Geheimnis lüftete und davon berichtete, dass seine Mutter, zur Überraschung aller, vom Volke der Moo abstammte.
Die Liebesgeschichte zwischen Hellwins Eltern, seines Vaters vom Volke der Rushmanii und seiner Mutter, vom Volke der Moo, hatte sich damals noch ganz im Geheimen abgespielt.
Jetzt jedoch, nach den vergangenen Monden, die das Jahrtausende Jahre alte, sprichwörtliche
meterdicke Eis zwischen diesen beiden verfeindeten Völkern plötzlich schmelzen ließ, stiegen die Chancen durchaus, dass derlei Verbindungen öfters vorkommen könnten und so auf ganz natürliche Weise zum Abbau der allgegenwärtigen Angst und des Misstrauens Schritt für Schritt beitragen würden. Was konnte es Besseres geben, als dass die Gräben mehr und mehr zugeschüttet wurden und die Menschen begannen, aufeinander zuzugehen? Rebecca, die junge Frau vom Volk der Rushmanii, genauer gesagt vom Stamm der Raheli, zuhause noch ungebunden und keinem Manne versprochen, hatte unter den Moo mit einem Male mehrere Verehrer. Junge Krieger, die um die Gunst der schönen Fremden buhlten und es Rebecca durchaus schwer machten, sich letztendlich für einen davon zu entscheiden. Ebenso Hellwin, der trotz seines nicht mehr jugendlichen Alters von vielen Frauen der Moo im Stillen begehrt und bewundert wurde.
Hellwin, der eine besondere Verantwortung verspürte und so dem König der Moo fest zusagte, noch längere Zeit im Lande zu bleiben, um mit seinen Möglichkeiten als Botschafter
des Friedens für weitere und tiefere Verständigung zwischen Rushmanii und Moo zu werben.
Hier lag noch ein weites und großes Feld vor ihm, das es noch zu bestellen galt.
Einzig Wudrawidsch, der Sohn des Schamanen, sah seine Mission als erfüllt. Er, der während den letzten Monden unglaubliche, ja übermenschliche Abenteuer erlebt hatte. Abenteuer, die ihn jedoch enorme Kraft gekostet hatten.
Nun musste auch er einsehen, dass er seinem Körper und seiner Seele das größtmögliche, das äußerste zugemutet hatte und dass es nun Zeit war, nach Hause zu gehen. So sattelte er also sein Pferd und bereitete sich vor, auf die Rückreise in sein geliebtes Heimatland, das Dorf der Raheli im Land der Rushmanii. Und noch ein weiterer Grund, ein noch viel wichtigerer Grund, war es gewesen, der Wudrawidsch plötzlich zur Eile antrieb. Seit Tagen hörte er Stimmen, Stimmen, die außer ihm niemand hören konnte. „Wudrawidsch, Wudrawidsch, komm zurück! Wudrawidsch, wo bist du, wo bleibst du, ich warte auf dich! Ich bin so verzweifelt, wo bist du, wo bleibst du, ich brauche dich doch so sehr!“ Es war Leila, die sich im fernen Rushmanii-Lande die Rückkehr ihres geliebten Wudrawidsch flehentlich herbeisehnte und ihren Schmerz zum Ausdruck brachte.
Konnte es wirklich sein, dass selbst über große Entfernungen hinweg geliebte Menschen sich ganz nahe sein konnten? Wudrawidsch jedenfalls glaubte daran und so verabschiedete er sich von Hellwin, dem treuen und erfahrenen Lehrmeister, der Wudrawidsch so vieles beigebracht hatte, von Rebecca, der mutigen jungen Frau vom Stamm der Raheli, die aus ihrem Dorfe auszog, um mitzuhelfen, dieser Welt ein kleines, oder vielleicht doch ein größeres Stück Frieden zu schenken und nicht zuletzt von seinen neugewonnenen Freunden vom Volke der Moo, von Malkan, von Agneta, von den vielen Menschen diesseits der alten und nun durchlässigen Sperrmauer, welche über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende schon die Menschen in diesem Teil der Welt voneinander getrennt hatte.
Es kam einem Wunder gleich, dass diese Grenze, die seit Menschengedenken fest verriegelt und vermörtelt war, ganz heimlich, ganz still, ganz leise, Meter um Meter geöffnet wurde.
Eine letzte Umarmung, ein letzter Blick, eine letzte Träne, deren selbst er, der im Kampfe gestählte junge Schamane, sich in diesem Augenblick nicht erwehren konnte;
dann stieg er auf und ritt los.
Ganz bewusst hatte sich Wudrawidsch bereits kurz nach Tagesanbruch auf den Weg gemacht. Der Sonnenaufgang war herrlich schön gewesen und das Wetter versprach prächtig zu werden.
Vorgestern und auch gestern noch hatte es ganz kräftige Gewitter gegeben, verbunden mit teilweise sintflutartigen Regenfällen. Was für diese Jahreszeit aber nichts Ungewöhnliches war. Immerhin stand man ganz kurz vor der Sommersonnenwende. Üblicherweise „kämpften“ zu diesem Zeitpunkt, auch in diesem Teil der Welt, wärmere und kältere Luftmassen um die Vorherrschaft, was wiederum das eine oder andere Unwetter hervorbringen konnte.
Heute jedoch war nichts dergleichen. Klare, frische und würzige Luft am frühen Morgen. Zum inneren Glück gesellte sich für Wudrawidsch nun das Äußere hinzu. Ganz in Gedanken versunken ritt er weiter. Er dachte daran, was Leila wohl gerade tun würde und wie er sie mit seiner Ankunft wohl am besten überraschen könnte. Vor allem war ihm plötzlich eingefallen, dass er für seine Liebste gar kein Geschenk eingepackt hatte.
Dass der Bach, dem er sich mit seinem schwarzen Hengst Meter um Meter näherte, durch die Regenfälle der vergangenen Tage heftig angeschwollen war, erkannte er in diesem Augenblick nur sehr unscharf. Viel zu sehr hing er seinen Gedanken nach, als dass er überhaupt eine Gefahr hätte bemerken können. Wäre er doch nur nicht alleine geritten!
Völlig unvorbereitet, völlig unverhofft, traf ihn ein Wurfgeschoss am Kopf.
Was war geschehen, gerade jetzt, in dem Moment, als er das Ufer des rutschigen und gefährlichen Bachbettes erreicht hatte? War er Opfer eines Überfalls geworden? Immerhin war das Land der Moo noch nicht ganz vollständig befriedet und Wegelagerer, Räuber und Verbrecher gab es schließlich überall auf der Welt.
Auf einmal verlor Wudrawidsch das Bewusstsein. Langsam, ganz langsam, sackte er zusammen, rutschte aus dem Sattel und fiel zu Boden. Wehrlos, hilflos, schutzlos, einsam und verlassen lag er da und näher und näher kam das Gesindel, das sich nun an ihm vergreifen wollte. Primitives Grinsen und höhnisches Gelächter! Man war sich seiner Beute ganz sicher!
Dann? War es denn Zufall, Glück, Bewahrung oder Rettung? Was sonst war es wohl gewesen, als Wudrawidschs leblos wirkender Körper plötzlich am feuchten Ufer ins Rutschen geriet und von der Strömung des Wildbaches mitgerissen wurde?
Völlig entgeistert schauten die finsteren Gesellen Wudrawidsch hinterher. Sie hätten ihn gerne noch seiner Habseligkeiten entledigt und ihn nackt und bloß den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen.
Doch war es der Allmächtige Gott gewesen, der entschieden hatte, dass eines seiner liebsten Menschenkinder am heutigen Tage auf gar keinen Fall zu Tode kommen sollte und ihm deswegen auf seine Weise das Leben rettete. So kam es also, dass Wudrawidsch aus akuter Gefahr davon getrieben wurde, allerdings auch weiter und weiter weg von seinem Heimatland, dem Land der Rushmanii. Schneller und schneller trieb er ab. Das Wasser wurde breiter, tiefer und dunkler. Vielerorts hatte der starke Regen Erde mitgeschwemmt, welche den Fluss braun bis dunkelbraun einfärbte. Außerdem schwammen Büsche, Äste, tote Tiere , ja ganze Bäume, die während der heftigen Gewitter von Blitzen regelrecht gespalten wurden, in dem fließenden Gewässer, das seine Ladung unbarmherzig Stromschnelle für Stromschnelle dem riesigen, weiten, offenen Ozean näher brachte. Immer mächtiger und gewaltiger wurde der Fluss, den kein Hindernis der Welt hätte aufhalten können. Nur durch Gottes Hilfe konnte Wudrawidsch diese ungewollte Reise bis hierher überstehen. Einzig die Hand Gottes rettete sein Leben.
Immer weiter und weiter trieb Wudrawidsch, immer weiter stromabwärts dem großen und weiten Meere zu, dieser gigantischen Wasserwüste, dieser unfassbaren, fantastischen Welt, die mit dem, womit Wudrawidsch bisher vertraut gewesen war, nicht das Geringste zu tun hatte.
***
Ganz vorne, im Mündungsbereich des großen Flusses, wo Süßwasser auf Salzwasser, wo Strömung auf Gegenströmung traf, war das Nahrungsangebot so reichhaltig, dass es fast zwangsläufig hier Menschen gab, die ihr Leben ganz und gar dieser rauen, aber schier unerschöpflichen Umgebung angepasst hatten. Es handelte sich um Fischer, denen seit Hunderten von Jahren bereits Ebbe und Flut, Sturm und Regen, Wind und Wellen als auch salzhaltige Luft bei meist kühlerem Klima, bestens vertraut waren. Die Gesichtshaut, bedingt durch die besondere Umgebung, sah meist aus wie gegerbtes Leder und die Kleidung, aus Tierhäuten gewonnen und dick mit Talg eingeschmiert, trotzte selbst den schwierigsten Wettereinflüssen. Mit einfachen, aber schlau konstruierten und wendigen Booten fischte man sowohl am Flussende, als auch am Rande des Meeres. Dies, was anderen Menschen, die mit diesen Lebensbedingungen nicht vertraut gewesen waren, Angst bereitet hätte, war für dieses uralte Fischerdorf Bestandteil ihres täglichen Daseins. Mensch und Natur lebten in friedlicher Eintracht. Es war ein Geben und ein Nehmen! Tag für Tag fuhr man hinaus, warf seine Netze ins Wasser und fing so viel ein, wie man zum Leben nötig hatte. So auch heute an diesem ganz besonderen Tage.
Urgun, vom Stamm der Parross, einem uralten Fischergeschlecht, war zusammen mit Tarrakk, seinem jüngsten Sohn, hinausgefahren auf dem großen Fluss, der im Taktangebirge entsprang und anschließend das weite, stark bewaldete und niederschlagsreiche Land der Moo durchquerte, um schließlich hier in das völlig unbekannte und unerforschte Nordmeer einzumünden. Urgun ging es heute aber weniger um den Fischfang! Schon am Morgen hatte er gesehen, dass Treibgut im Wasser schwamm.
Diese gute Gelegenheit musste unbedingt genutzt werden. Zwar hatte man nicht mit Nahrungsmangel zu kämpfen; die Ernährung war stets gesichert. Jedoch war diese Küstenregion eher sumpfiges Gelände und Brennholz war des öfteren Mangelware. So nutzte man gerne das wenige, das vom Fluss angeschwemmt wurde, wenn man die Meeresfrüchte nicht permanent roh essen wollte. Zusätzlich musste man sich heute aber besonders beeilen, denn die großen Äste und Bäume, die eher selten angetrieben wurden, benötigte man dringend als Baumaterial für neue Boote, Reparaturen und Erstellen von neuen Unterkünften. Selten gibt es Orte auf dieser Erde, an denen alles und jedes stets im Überfluss vorhanden ist. Entweder fehlt jeweils das eine oder eben das andere. Zum Abfangen großer Holzstämme, noch bevor diese ins Meer gespült wurden, musste man mit dem Fischerboot hinausrudern und es versuchen, diese vorbeischwimmenden Teile mit einem langen Haken zu fixieren und möglichst schnell an einem dicken Seil festzubinden. Dieses Seil, das am Ufer an einem Pflock fest verankert war, wurde zu diesem Zweck auf dem Boot mitgeführt. Gelang es dann der Bootsmannschaft, das Seil an dem begehrten Holz zu befestigen, war es anschließend Aufgabe der am Strand zurückgebliebenen Männern und Frauen, den wertvollen Rohstoff möglichst an Land zu ziehen.
Nicht immer gelang ein derartiges Manöver. Leider passierte es manchmal, dass das Seil doch nicht stabil genug war und riss. Das Treibgut, vollgesogen mit Wasser, war dann einfach zu schwer gewesen und trieb samt dem gerissenen Seil unaufhaltsam dem offenen Meere zu.
Doch heute schien den Menschen, die sich dem Leben am Wasser verschrieben hatten, das Glück durchaus hold zu sein. Mächtige Buchen- und Eichenstämme, Tannen und Fichten hatte der Fluss auf seiner Reise mitgebracht und Urgun sowie einige andere mutige Fischer konnten auf eine reiche Ernte hoffen.
Zielstrebig und entschlossen ruderte Urgun gemeinsam mit seinem jüngsten Sohn auf eine wohl mehrere Hunderte Jahre alte Eiche zu, die aber jetzt ebenfalls Opfer des vergangenen Unwetters gewesen war. Im Stillen malte er sich schon aus, was er mit dem guten Stück alles anfangen könnte, denn er war auch ein guter und kräftiger Zimmermann, als plötzlich Tarrakk völlig erschrocken aufschrie: “Vater, Vater, da hängt einer am Baum fest, Du, da hängt ein Mensch.“
Tatsächlich war es ein Mensch, es war Wudrawidsch, der, als er im Wasser schwamm, wieder zu Bewusstsein gekommen war und sich in höchster Not mit letzter Kraft an diesem Baum festgeklammert hatte. Stundenlang trieb er bereits im Wasser. Immer wieder war er nah dran, erneut das Bewusstsein zu verlieren. Sein Kopf schmerzte, seine Haare waren durch die Verletzungen, die er am Morgen erlitten hatte, blutverschmiert, aber das Schlimmste war, dass sein Kreislauf bald zusammenbrechen würde, denn sein Körper war völlig unterkühlt. Nun galt es schnell zu handeln. Urgun war klar, dass jetzt jede Minute zählen konnte.
Dicht an dicht hakte er sich mit seinem Boot an dem dicken Baumstamm ein, um möglichst nahe an Wudrawidsch heranzukommen, während Tarrakk versuchte, den Verletzten herüberzuziehen und zu bergen. Wudrawidsch war kaum in der Lage gewesen, den dicken Ast, an den er sich geklammert hatte, loszulassen, so steif waren seine Gliedmaßen geworden. Ohne die entschlossene Hilfe der kräftigen Fischersleute hätte er es nie geschafft. So aber wurde er keuchend rüber ins Boot gezogen und war fürs Erste gerettet. Tarrakk zog seine Jacke aus und legte diese über den Fremden, der wegen seiner andersartigen Kleidung sicher von sehr weit her kommen musste. Auch Gesichtszüge und Haarfarbe waren anders, als er es von den wenigen Moo, die sich in seltenen Fällen hierher verirrt hatten, gewöhnt war. Jedoch galt es jetzt, schnell an Land zu rudern und dem Fremden bestmögliche Hilfe zukommen zu lassen. „Wir werden ihm die nassen Sachen ausziehen und ihn gut mit Öl und Fett einschmieren, das wird seinen unterkühlten Körper wieder aufwärmen“, sprach Urgun zu seinem Sohn. „Und Mutter wird ihm eine kräftige Fischbrühe aufkochen, das wärmt von innen heraus“, entgegnete Tarrakk seinem Vater. „Und nahrhaft ist die Suppe obendrein“, ergänzte Urgun. Wudrawidsch schlug die Augen auf.
Er musterte die beiden Männer und versuchte zu verstehen, was sie sagten. Einige wenige Worte verstand er schließlich. Es klang irgendwie ähnlich wie bei den Moo, aber dann doch wieder nicht. Vermutlich war es ein Dialekt. Jedenfalls kam es Wudrawidsch irgendwie seltsam vor, dass nun er derjenige war, der hier dalag und Hilfe benötigte. Normalerweise waren die Rollen stets anders verteilt. Normalerweise war er der Heiler und die anderen waren die Kranken oder Verletzten, die um Hilfe baten.
Im selben Moment schaute Wudrawidsch nach oben. Seltsam anmutende Vögel flogen am Himmel, Vögel, die er bisher noch nie gesehen hatte. Weder im Land der Rushmanii, noch im Land der Amazonen, noch im Land der Moo, zumindest nicht in dem Teil, den er bisher in Augenschein genommen hatte. Möwen, Kraniche, Wildgänse und viele, viele mehr. Ein munteres buntes Gepfeife und Gegurre gaben diese Tiere von sich. Ganz anders als das Zwitschern der Vögel im Wald.
Langsam versuchte Wudrawidsch schon wieder ein Stück weit Orientierung zu finden, was sicherlich ein gutes Zeichen war. Langsam hatte er wieder das Gefühl, zu den Lebenden zurückzukehren. „Wasser“, so dachte er bei sich, „Wasser ist lebenswichtig. Aber zu viel Wasser kann für den Menschen auch zur tödlichen Gefahr werden.“ Beide Extreme hatte er heute am eigenen Leibe verspürt. Urgun und Tarrakk stachen ihre Paddel mit ganzer Manneskraft tief in den Fluss, um das Ufer auf schnellstem Wege zu erreichen.
Wudrawidsch, der trotz intensiver Anstrengung weiterhin kaum in der Lage war, seinen Körper gar ein bisschen zu bewegen, der vielmehr am ganzen Körper zitterte, senkte seinen Blick rüber auf das fast in Reichweite liegende Fischerdorf.
Dabei beobachtete er eine weitere Merkwürdigkeit, die er von zuhause her in dieser Form nicht gewöhnt war. Denn hier, und das war das Merkwürdige, waren die Hütten nicht auf festem Boden gebaut; festen Untergrund gab es offensichtlich nicht, auf jeden Fall nicht in ausreichendem Maße! Deswegen hatten die Menschen sich Gedanken gemacht. Man hatte irgendwann einmal damit begonnen Pfähle in das sumpfige Gelände einzulassen, anschließend diese als Fundament zu benutzen, um schließlich darauf eine feste und stabile Plattform samt der dazugehörigen Hütte aufzurichten. Diese besondere Methode, eine Unterkunft zu erstellen, hatte sich für diese Gegend dann letztendlich durchgesetzt.
Die andere Möglichkeit wäre gewesen, dass man Boote in jener Größe gebaut hätte, um tagtäglich darauf leben zu können. Dies erwies sich jedoch aus bestimmten Gründen als nicht sehr praktikabel. Zum einen wären derartige Hausboote schwer zu manövrieren gewesen und hätten Unmengen an Bauholz benötigt. Zudem hätte bei Sturm oder Orkan weit größere Lebensgefahr bestanden, als bei diesen auf Stelzen erbauten Hütten, die zudem bestmößäääüüäää