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Winston Groom

Die letzten Tage des Sommers 

Roman


Ins Deutsche übertragen von 
Peter Meier


Edel eBooks

20

Der Herbst mit seinen warmen Tagen und kühlen Nächten begann in Bienville später als anderswo und dauerte noch an, wenn weiter nördlich schon der Winter eingekehrt war. Auf grünen Wiesen, die mit goldenen Herbstblättern übersät waren, spielte man Football, in den Sporthallen der Oberschulen fanden Tanzveranstaltungen statt, man ging auf die Wachteljagd oder auf die Taubenjagd. Das war eigentlich immer schon so gewesen. Neuerungen waren in Bierwille nicht gern gesehen, und bis vor kurzem war auch alles weitgehend beim alten geblieben.

Nun war alles anders.

Obsidian Oil hatte sich zu einem erfolgreichen, umsatzstarken Unternehmen entwickelt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der eine oder andere Teilhaber Millionär wurde. Die Kredite waren zum Teil schon getilgt, die neuen Anlagen standen, der Plan zum Kauf der Bayfield-Raffinerie war bereits ziemlich weit gediehen. Da das Unternehmen zahlreiche Aufträge und Stellen zu vergeben hatte, galt Obsidian Oil in Bienville mittlerweile auch unter Weißen als gute Adresse. Neuerdings bemühte man sich sogar um Daniel und andere schwarze Größen persönlich. Einladungen nach Hause oder in den Country Club kamen selbstredend nicht in Frage. (Shambeaux hatte recht behalten: Man wollte den Club lieber auflösen als Daniel Holt aufnehmen.) Schwarze und Weiße hatten jedoch bei verschiedenen Anlässen gemeinsam in Restaurants diniert, die keine strikte Rassentrennung praktizierten. Daniel beriet regelmäßig mit hohen Beamten der Stadt und des Countys, wie die Allgemeinheit am besten vom weiteren Ausbau des Unternehmens profitieren konnte. Andere Städte des Südens machten mittlerweile mit Sit-ins, Walk-ins und Teach-ins, mit Wutausbrüchen, Polizeihunden und Knüppeln von sich reden. In Bienville faßte man ein erstes Football-Spiel zwischen einer weißen und einer schwarzen Mannschaft ins Auge. Daniel hatte bei einer Zusammenkunft mit leitenden Beamten des Countys eine solche Begegnung angeregt, und der Leiter der Schulbehörde hatte seinen Vorschlag aufgegriffen.

Von Snake Crenshaw lag ein Geständnis vor. Er hatte ausgesagt, daß Percy und Brevard Holt sowie Augustus Tompkins in die Ermordung Guidres und der alten Frau verwickelt waren. Nun saßen alle vier in Untersuchungshaft und warteten auf ihren Prozeß. Sie waren des zweifachen Mordes angeklagt. In Louisiana waren die Zeitungen voll davon gewesen, und auch die landesweiten Medien hatten ausführlich über den Fall berichtet.

Als Willie aus seinem Büro kam und zum Ausgang des Gebäudes strebte, begegnete er Daniel.

»Hallo«, sagte Daniel. »Wo brennt’s denn?«

»Ich muß zum Gericht. In 15 Minuten ist der Termin mit den Brüdern Holt.«

Willie hatte mit Tompkins Anwaltskanzlei eine Einigung ausgehandelt: Die Holts erkannten Daniels Mutter ohne Vorbehalt als rechtmäßige Eigentümerin der fraglichen Parzelle an und erhielten als Gegenleistung 25 000 Dollar – ironischerweise genau denselben Betrag, den Brevard ursprünglich Mrs. Backus als Abfindung angeboten hatte. Durch diese Zahlung vermied Willie eine langwierige Berufungsverhandlung. Die Holts hatten bereits eingewilligt, es fehlten nur noch die Unterschriften.

»Ach, das ist heute?«

»Ja. Um drei.«

»Wenn du nichts dagegen hast, komme ich mit«, sagte Daniel.

Willie stellte Daniel dessen Stiefbrüdern vor. Sie nickten ihm zu, schüttelten ihm aber nicht die Hand. Willie und Daniel setzten sich auf die eine Seite des Tisches, Brevard und Percy auf die andere.

»Sie wissen ja, worum es geht«, sagte Willie. »Es fehlen nur noch die Unterschriften, dann ist die Sache ein für alle Mal bereinigt.«

Percy rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Er hatte den Blick starr auf Daniel gerichtet. Brevard war ganz schmal und blaß geworden. Er japste immer wieder nach Luft, und sein Blick wanderte zerstreut durch den Raum.

»Ich habe mich exakt an unsere Vereinbarung gehalten, aber Sie können den Test natürlich in aller Ruhe durchlesen.«

Percy griff nach dem Vertrag und unterschrieb. Dann legte er ihn vor Brevard hin und reichte ihm den Federhalter. Mit einem leisen Seufzer unterzeichnete Brevard ganz langsam. Willie steckte den Vertrag in seine Aktentasche, blieb aber noch sitzen, da er gemerkt hatte, daß Daniel noch etwas sagen wollte.

»Wir sind nun einmal Brüder, auch wenn Sie das nicht akzeptieren wollen. Ich habe unseren Vater nicht gut gekannt, aber ich kann mich daran erinnern, daß er ein liebenswürdiger, großzügiger Mann war.«

Percy setzte zu einer Antwort an, doch dann sah er nur zu Brevard hinüber, der mit leerem Blick die Wand anstarrte.

Daniel erhob sich und wandte sich zum Gehen. Als er den Raum eben verließ, schaute Brevard ihm nach und rief mit zitternder Stimme: »Auf Wiedersehen.«

Der Mond ging riesengroß und silbrig glänzend über der Bucht auf und stieg langsam höher. Die Leute drängten sich in Beaudreux’ neuem Stadtrestaurant, das an diesem Abend feierlich eröffnet wurde. Der Kredit für Beaudreux war vom Vorstand von Obsidian Oil bewilligt worden, da dessen Mitglieder dadurch zu einem guten und nahegelegenen Restaurant kamen, wo sie unbehelligt essen konnten.

Beaudreux war richtig aufgekratzt und schüttelte jedem neuen Gast herzlich die Hand. Möglicherweise war die Zusammensetzung der Gästeschar für Bienville zukunftsweisend: Führende Vertreter von Obsidian Oil und ihre Frauen unterhielten sich zwanglos mit hohen Beamten und führenden Geschäftsleuten. Auf dem festlichen Büffet türmten sich Meeresfrüchte aller Art: Langusten, Garnelen, Schnappbarsche, Makrelen, Austern.

Willie und Whitsey schoben sich durch das Gedränge an der Tür. In den letzten Monaten hatten sie sich wieder öfter getroffen. Sein ganzes Denken und Fühlen kreiste um sie. Er hatte immer wieder gehofft, daß doch noch ein richtiges Paar aus ihnen werden könnte, aber sie war jedesmal wieder auf Distanz gegangen. Er mußte endlich ein klärendes Gespräch mit ihr führen. Vielleicht war heute abend der richtige Zeitpunkt.

An der Bar trafen sie Skinner.

»Na, Partner, wie läuft’s denn so? Hallo, Whitsey.«

»Wie schön, daß Sie auch hier sind«, lächelte Whitsey. Die Wärme, mit der sie Skinner begrüßte, hatte Willie vermißt, als er sie abgeholt hatte.

»Sie werden mich wohl bald noch seltener sehen.«

»Wie meinst du das?« fragte Willie.

»Bald gibt’s für mich hier nicht mehr viel zu tun«, antwortete Skinner. »Der Laden läuft. Bevor ich mir nutzlos vorkomme, verschwinde ich lieber.«

»Wie kommst du denn darauf? Es gibt noch verdammt viel zu tun. Wir müssen den Kauf der Bayfield-Raffinerie über die Bühne bringen und ...«

»Ja, ja, das regeln wir schon noch«, unterbrach ihn Skinner. »Aber ich werde langsam unruhig. Es war doch von vornherein klar, daß ich hier nur ein Gastspiel gebe.«

»Ja, natürlich«, sagte Willie.

»Und was haben Sie vor?« fragte Whitsey.

»Das Öl hängt mir langsam zum Hals raus. In Zukunft suche ich nach Gold! Eventuell in Südamerika.«

»Wann willst du bei uns aussteigen?« fragte Willie.

»Im Laufe der nächsten Woche«, antwortete Skinner. »Da drüben ist Daniel. Vielleicht sollte ich ihm gleich mal Bescheid sagen. Bis später!« Mit dem Glas in der Hand schlurfte er davon.

»Verdammt«, murmelte Willie.

»Jammerschade«, sagte Whitsey. »Er ist wirklich nett.«

Beaudreux legte Willie seine große fleischige Hand auf die Schulter. »Ah, Mister Croft! Es ist wahrgeworden! Mit Klimaanlage und allem Drum und Dran! Was für ein Restaurant! Jetzt muß ich nicht mehr in einer Bruchbude kochen! Und das verdanke ich alles Ihnen!« Willie fürchtete, Beaudreux würde ihm gleich um den Hals fallen.

»Also, mir gefällt das andere Lokal auch«, sagte Willie. »Das ist keine Bruchbude.«

»Aber hier ist alles viel besser!« lachte Beaudreux. »Man braucht nicht auf wackligen Tischen zu essen und kann sich jederzeit einen Whiskey bestellen.«

»Sie wollen das andere Lokal doch nicht schließen?« fragte Willie ungläubig.

»Ich muß, ich muß! Wie soll ich hier und dort kochen? Wenn Leute von dort unten Beaudreux’ Küche genießen wollen, müssen sie jetzt eben in die Stadt kommen.«

»Es macht doch gerade den Reiz des alten Restaurants aus, daß man aus der Stadt rauskommt.«

»Ach, ich weiß nicht«, sagte Beaudreux. »Hierher kann man doch viel einfacher kommen. Sobald ich ein bißchen Geld verdient habe, ziehe ich ganz in die Stadt. Wissen Sie, wer unter meinen Gästen ist? Der Bürgermeister von Bienville! Da drüben steht er! Ich habe persönlich mit ihm gesprochen!«

»Das war bestimmt eine hochinteressante Unterhaltung«, grummelte Willie.

»Ah, da kommen neue Gäste. Ich muß sie gleich begrüßen!« Er eilte zum Eingang.

»Herrgott«, brummte Willie.

Whitsey tätschelte seinen Arm. »So ist das nun mal.«

»Laß das«, sagte Willie unwirsch.

»Was?«

»Tätschle mich nicht so. Da kommt man sich ja vor wie ein Kind.«

»So war’s nicht gemeint«, sagte sie irritiert. »Das Essen sieht großartig aus. Sollen wir mal kosten?«

»Können wir machen.« Sie gingen zum Büffet, nahmen sich eine Kleinigkeit von diesem und jenem und plauderten mit anderen Gästen. Willie aß nicht viel, holte sich aber noch einmal einen Drink. Als er an der Bar auf seine Bestellung wartete und den Blick durch den Raum schweifen ließ, überfiel ihn auf einmal inmitten des ganzen Trubels eine schreckliche Einsamkeit. In diesem Augenblick wäre er überall lieber gewesen als hier. Dann kam sein Bourbon. Er nahm einen kräftigen Schluck und fühlte sich gleich wieder besser. Er sah, daß sich Whitsey mit einem jungen Mann in einem karierten Jackett unterhielt. Sie lachte soeben über eine Bemerkung von ihm, während er sie verstohlen taxierte. Willie ging zu ihnen hinüber.

»Das ist Brad Barker«, sagte Whitsey. »Brad, das ist Willie Croft.«

»Ah, Sie sind Mr. Croft. Ich habe natürlich schon von Ihnen gehört. Wer hätte das nicht?« Er streckte Willie die Hand hin.

Willie schüttelte sie flüchtig. »Kann ich dich mal kurz sprechen?« fragte er Whitsey. »Vielleicht da drin.« Er deutete auf eine geschlossene Tür.

Whitsey schaute ihn fast ein wenig erschrocken an. »Ja, natürlich. Entschuldige uns einen Moment, Brad.«

Sie traten in einen Nebenraum des Restaurants, in dem kein Licht brannte. Es roch nach Sägemehl, da hier die Tischlerarbeiten noch nicht abgeschlossen waren. Der Mond, der durch die französischen Fenster schien, sorgte für ein mattes Dämmerlicht. Ein paar Tische und Stühle gab es schon.

»Komm, wir gehen da rüber«, sagte Willie. Sie setzten sich an eines der französischen Fenster. Zuvor wischte Willie den Staub von Whitseys Stuhl. Sie sah ihn fragend an. Vielleicht sogar ein bißchen ängstlich.

»Willst du mich heiraten?« fragte er.

»Hast du mich hierhergebracht, um mich das zu fragen?« kicherte sie.

»Findest du es unpassend?«

»Nein, nein.« Sie schaute ihn erstaunt an, senkte den Blick und schwieg.

»Und?«

»Du meinst das ernst, nicht wahr?« sagte sie, ohne den Blick zu heben.

»Allerdings. Ich möchte, daß du meine Frau wirst.« Willie mußte sie einfach fragen, obwohl er ihre Antwort im Grunde schon kannte.

Nach einer längeren Pause sagte sie: »Ich kann dich nicht heiraten, Willie. Ich dachte, du weißt das.«

»Und warum nicht?« fragte er.

»Das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete sie leise.

»Dann sag’s mir noch mal«, beharrte er.

Sie atmete tief ein und wieder aus. »Weil ich dich nicht liebe. Ich mag dich sehr gern, als Freund und auch als Liebhaber, aber ich liebe dich nicht.« Sie sah zum Fenster hinaus, und eine Träne lief ihr über die Wange.

»Ich verstehe das einfach nicht. Wir sind schon so lange zusammen. Hat das gar nichts zu bedeuten?«

»Darüber haben wir doch schon einmal gesprochen, Willie«, sagte sie ruhig. »Ich habe dir nie etwas vorgemacht. Es ist nun einmal so, wie ich gesagt habe.«

»Aber ich liebe dich.«

»Und ich kann dich nicht lieben. Ich hätte mich gern in dich verliebt, aber es geht nicht.«

»Und alles, was gewesen ist ...«

»... war Freundschaft«, beendete sie seinen Satz.

»Ja, davon hast du schon einmal gesprochen. Aber wenn man miteinander ins Bett geht, ist man nicht einfach nur befreundet«, murmelte er.

»Es war schön mit dir, Willie. Und so werde ich es auch in Erinnerung behalten.«

»Soll das heißen, jetzt ist es aus zwischen uns?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber gemeint hast du es.«

»Ich weiß nicht. Nach so einem Gespräch ist es schwierig, weiterzumachen wie zuvor.«

»Da hast du wohl recht«, sagte er.

»Ich wollte dir sowieso sagen, daß ich am Freitag nach New Orleans fahre und dort jemanden treffe, den ich vor einem Monat kennengelernt habe. Da ist eine Party, und ...«

»Ich will’s gar nicht hören.«

»Ich dachte, es wäre nicht richtig, wenn ich es dir einfach verschweige.«

»Ja, gut. Damit ist eigentlich alles klar.«

Auf dem Heimweg sprachen sie kaum. Willies Finger krampften sich um das Lenkrad, und sein Herz schlug heftig, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Whitsey machte zwei verlegene Anläufe zu ein bißchen Small talk, zuerst über ein langsam fahrendes Auto vor ihnen und dann über den Kauf eines Pullovers für ihren Wochenendausflug.

»In New Orleans kann es bekanntlich ziemlich kalt werden«, sagte sie.

Als ob er sich im entferntesten für das Wetter in New Orleans interessierte.

Mit derartigen Bemerkungen hatte sie ihn in letzter Zeit oft daran erinnert, daß sie sich auch noch mit anderen Männern traf. Dachte sie sich nichts dabei, oder verletzte sie ihn ganz bewußt? Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Sie hatte ihn eine Zeitlang auf ihre Art geliebt, doch nun war ihm endgültig klar, daß sie nicht mit den Werten ihres Herkunftsmilieus brechen konnte. Vorübergehend konnte sie sich darüber hinwegsetzen, doch im Endeffekt blieb sie der Tradition so verhaftet, daß sie einen Mann wie ihn nicht lieben konnte, obwohl sie es vielleicht wollte. Es ging einfach nicht.

Er würde eben nie zu ihrem Bienville gehören – mochte er sich zu einem noch so begüterten, geistreichen und edlen Menschen entwickeln. Ham Bledsole hatte einmal zu ihm gesagt, man könne herumstreunen, wo man wolle, früher oder später finde man doch wieder nach Hause. Das war die Lebensphilosophie jenes Bierwille, zu dem man nur gehörte, wenn man hineingeboren worden war.

Und wenn schon! Mit einem Mal wurde er richtig übermütig. Es gab keinen Grund für seine plötzliche Hochstimmung, und sie würde bestimmt nicht lange anhalten, doch er war dankbar dafür. Er hielt vor ihrem Haus an, brachte sie zur Tür und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn.

»Bis dann«, sagte er.

Whitsey trat verlegen von einem Bein auf das andere. »Kommst du noch mit rein? Auf einen Drink oder so?« Er überlegte sich einen Augenblick, was sie wohl mit »oder so« meinte, doch er ging nicht darauf ein.

»Nein«, sagte er. »Ich glaube, ich gewöhne mir das Trinken ganz ab.«

An diesem Abend fing er damit allerdings noch nicht an. Er tastete im Küchenschrank hinter dem Karton Jack Daniel’s Black Label herum, brachte eine halbvolle Flasche Early Times zum Vorschein, kippte ein paar Eiswürfel in ein Glas, schenkte es voll und rührte mit dem Finger um. Dann legte er sich seinen Wollmantel um die Schultern, wie er es einmal bei einem französischen Schauspieler gesehen hatte, und schlenderte über die Straße in den Hirschpark. In den meisten Häusern brannte kein Licht mehr. Kein Auto störte die fast schon unheimliche Stille. Der eiserne Hirsch stand ruhig und stolz im Mondlicht.

Willie saß auf der Parkbank und nippte an seinem Whiskey. Der heutige Abend war in gewisser Weise der Schlußpunkt der Geschichte, die begonnen hatte, als an einem Novembermorgen Priscilla früher als sonst zur Arbeit gekommen war: ein Jahr, in dem er Mrs. Backus, Mrs. Loftin, Whitsey, Skinner, Tallulah und all die anderen kennengelernt hatte, ein Jahr, das die Schlägerei auf dem Ball, den Brand, den Prozeß und den Mord an Guidre gebracht hatte.

In der Liebe war er gescheitert, in beruflicher Hinsicht war er erfolgreich gewesen. Man kannte ihn, und er verdiente ordentlich Geld. Aber wozu war das gut? Warum hatte er das nicht schon in jüngeren Jahren erreicht?

Auf dem eisernen Hirsch tanzten Schatten, da ein leichter Wind über die Eichen strich.

Er mußte unbedingt etwas Neues anfangen. Aber was?

Den ganzen Papierkrieg hatte er jedenfalls satt, und außerdem war er es leid, als hohes Tier behandelt zu werden.

Willie klimperte mit den Eiswürfeln in seinem Glas. Dann stand er auf und gab dem eisernen Hirsch einen Nasenstüber. Vielleicht sollte er sich mit Skinner in Südamerika auf Goldsuche machen? Oder nach New York gehen? Oder nach Atlanta?

»Wir verstehen uns, was?« sagte er und fuhr mit dem Finger über die Augen des Hirschs. »Gut siehst du aus, alter Kumpel.«

Nein, er würde hierbleiben und sich wieder um sein altes Klientel kümmern: Ladendiebe, Autodiebe, Zocker, Taschendiebe, Schläger, kleine Betrüger und Safeknacker. Diese Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft verspürten die gleiche Kränkung, Wut und Einsamkeit wie er.

Willie ging um den eisernen Hirsch herum und tätschelte seine Flanke. Am liebsten wäre er auf seinen Rücken geklettert.

Warum eigentlich nicht?

Er sah sich um, ob ihn auch niemand beobachtete, und schwang sich hinauf, ohne einen Tropfen Whiskey zu verschütten. Durch die Hosenbeine hindurch spürte er das kalte Metall. Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck Bourbon. Gleich am Montag morgen würde er wieder zum Gericht fahren. Oder sah er womöglich morgen früh schon wieder alles mit anderen Augen?

Widerstrebend gestand er sich ein, daß es einfach nicht ging. Er konnte nicht mehr der Anwalt für Bagatellsachen sein – und Whitsey konnte nur das und nichts anderes in ihm sehen. Wenn es ihr Schicksal war, sich der engumgrenzten Ordnung Bienvilles zu fügen, so war es für ihn eine zwingende Notwendigkeit, sich dieser Ordnung zu entziehen, über sie hinauszuwachsen. Lächelnd saß er auf dem eisernen Hirsch. Er war gespannt, was kommen würde.

Bei dem Gedanken an die Erfolge des vergangenen Jahres verspürte er auf einmal ein nie gekanntes Gefühl der Befriedigung. Ihm war es zu verdanken, daß aus vagen Vorstellungen Wirklichkeit geworden war. Er schaute zum Sternenhimmel empor und dachte an Whitsey Loftin, die so unverrückbar an ihre kleine Welt gebunden blieb wie der eiserne Hirsch an seinen Platz im Park. Nun gut, im Grunde hatte das schon seine Richtigkeit, und die Zeit würde seine Wunden heilen. Jedenfalls hatte er endlich etwas geschafft, worauf er wirklich stolz sein konnte. Darauf kam es an. Das konnte ihm niemand mehr nehmen.

»Ich habe es wirklich geschafft«, sagte er laut.

Als Kind hatten ihn seine Eltern einmal auf einem Pony reiten lassen. Genau wie damals drückte er nun mit den Fersen gegen die Flanken – und es hätte ihn nicht allzusehr überrascht, wenn der Hirsch losgaloppiert wäre. »Auf geht’s! Los!« rief er leise.

»In ein Wunderland versetzt,

Durch die Tage träumend hin,

Durch die Sommer träumend jetzt,

Eingewiegt am Ufersaum –

Leis auf der Fahrt im goldnen Strom

Leben: bist du nicht nur Traum?«

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln

»Und wiederum sah ich unter der Sonne, daß nicht den Schnellen der Wettlauf gehört, nicht den Helden der Krieg und weder den Weisen das Brot noch auch den Klugen der Reichtum und auch nicht den Wissenden Gunst; vielmehr Zeit und Glück kommt ihnen allen entgegen.«

Prediger

Prolog

Vom höchsten Punkt aus sah man, wie das Land in sanften Hügeln nach Süden und Westen rollte. Man erkannte Geißkleefelder, Schwarzeichen, ein paar kümmerliche Nadelbäume und Distelhecken, in denen der herbstliche Tau glitzerte. Abgesehen von den schmalen, sumpfigen Wasserläufen, an denen sich große Laubbäume über dichtes Gestrüpp erhoben, war es eine unfreundliche, karge Gegend, die von der Land- und Forstwirtschaft längst aufgegeben worden war. Nur die Schwarzen bewirtschafteten hier noch Gemüsefelder.

Man sah nicht bis zum blaugrünen Golf von Mexiko und zu den brackigen Fluten des Mississippi-Sunds 65 Kilometer südlich, durch den einst Don Miguel Estaban gesegelt war, der Ahnherr der Holts, der sich hier niedergelassen hatte und zum Steuer- und Zolleinnehmer des Königs von Spanien aufgestiegen war.

Dieser Grund und Boden gehörte zu den Ländereien, die er später als Lohn für seine Dienste erhalten hatte, und zwar im Zuge einer sogenannten »Daumenzuteilung«, bei der dem Beschenkten so viel Land zufiel, wie er auf einer Landkarte mit dem Daumen abdecken konnte.

Don Miguel Estaban war entweder mit einem großen Daumen oder mit einer kleinen Landkarte gesegnet, da sich seine Ländereien nach Westen bis in das heutige Louisiana hinein, nach Osten bis zu den großen Sümpfen und nach Süden bis zum Golf von Mexiko erstreckten. Sie umfaßten auch den größten Teil der Gemarkung des heutigen Fluß- und Seehafens Bienville.

Allerdings ließ sich schon damals mit dem Land wenig anfangen. Auf dem sandigen, alkalischen Boden lebten Wachteln, Opossums, Hirsche, Kaninchen, einige Bären und ein paar tausend Indianer, die von dem Besitzerwechsel nicht in Kenntnis gesetzt wurden. Der Urahn der Holts blieb in der Stadt, wo ihm die Handels- und Exportfirma, die er gegründet hatte, ein gutes Einkommen sicherte. Er selber und nach ihm seine Söhne und Töchter und dann deren Kinder verkauften das Land, an dem sie nur der Verkehrswert interessierte, Stück für Stück.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte der Süden dank der Erfindungen von Fulton und Whitney einen Baumwollboom, doch das Anbaugebiet endete ungefähr 150 Kilometer weiter im Norden mit den fetten Böden, die von den Flüssen Tombigbee und Black Warrior angeschwemmt worden waren. Während in der großen weiten Welt ein Senator aus Kentucky, Henry Clay, in leidenschaftlichen Reden für die Rechte der Einzelstaaten der USA kämpfte, europäische Philosophen sich mit dem Hegelschen »Absoluten« beschäftigten und die Soldaten ihrer Vernichtung im Krim-Krieg entgegengingen, lag der Besitz so brach und wertlos da wie eh und je.

Im Jahre 1860, als Amerika am Rande des Bürgerkriegs stand, ging der Besitz durch Heirat an den ersten Holt über, nachdem der letzte Estaban gestorben oder weggegangen war. Auch die Holts zogen das Leben in der Stadt vor, und auch sie entledigten sich des Landes, das immer noch unter zwei Dollar pro Hektar gehandelt wurde, Stück für Stück – um Steuern zu bezahlen, Schulden zu begleichen und mit Hilfe unehrlicher Anwälte und geldgieriger Geschäftemacher abzusahnen. In den 80er Jahren stieg dann eine neue, zupackende Generation von Holts mit Erfolg in den Kommissionshandel mit Baumwolle ein, und die Landverkäufe hörten eine Zeitlang auf – bis die folgende Generation mit der Handelsfirma Schiffbruch erlitt und erneut Land verkauft wurde. Nachdem Johnathan Holt I. um die Jahrhundertwende eine kleine Schiffsbeladungsfirma gegründet hatte, blieben das Land und das Geld wieder in der Familie. Inzwischen war der Besitz auf circa 300 Hektar zusammengeschrumpft, doch selbst dieser kleine Rest war – bei eher bescheidenen 200 Dollar pro Hektar – mehr wert als die ursprünglichen 25 000 Hektar zu dem Zeitpunkt, da Don Miguel Estaban das Land erhalten hatte.

Johnathan Holt der Ältere war ein aufrechter, frommer Mann mit Weitblick, der mit seinem Geld und seinem Land niemals leichtfertig umgegangen wäre und seine persönlichen Werte seinen zwei Kindern, Johnathan II. und Hannah zu vermitteln versuchte. In seinem Letzten Willen teilte er das Land unter ihnen auf. Hannah Holt, eine nach den Idealen der Jahrhundertwende anmutige Schönheit, heiratete einen Mann namens Loftin, der nördlich der Stadt eine ganze Kette von Sägewerken besaß, und wählte mit ihrem Gatten eine Anhöhe auf ihrem Teil des Besitzes als Bauplatz für ihr Wohnhaus. Johnathan H. blieb in Bienville und übernahm die Schiffsbeladungsfirma, fuhr aber häufig in die Gegend, die mittlerweile unter dem Namen Creoletown bekannt war, um auf seinem Land zu angeln oder zu jagen. Gelegentlich schaute er auch bei der einsamen schwarzen Familie vorbei, die dort oben nach dem Rechten sah. Vor seinem Tod vermachte er ihr ein beträchtliches Stück seines Landbesitzes, während er alles übrige unter seine vier Kinder aufteilte.

Sein ältester Sohn, Johnathan III., verbrachte einen großen Teil seiner Jugend und sogar seiner frühen Erwachsenenjahre dort oben – um dann aus seiner Vorliebe für das Jagen und Fischen einen Beruf zu machen und Jagd- und Angeltrips für Besucher Bienvilles anzubieten.

Der zweite und der dritte Sohn, Brevard und Percy, betrieben die Schiffsbeladungsfirma, während die Tochter, Marci, von einer Ehe in die nächste schlitterte. Für das Land interessierte sich nur Johnathan III., auch er allerdings immer weniger, da man anderswo besser jagen und fischen konnte.

Weder die Generationen der Estabans und Holts noch die Indianer vor ihnen hatten geahnt, daß unter ihren Füßen ein lautloser geologischer Prozeß im Gange war, der schon lange eingesetzt hatte, bevor sich die ersten Vorfahren der Estabans und Holts aus dem Urschlamm erhoben hatten.

Im Paläozoikum waren Billionen von Organismen auf den Grund gesunken, um sich unter dem Druck des Deckgebirges langsam in Faulschlamm zu verwandeln, aus dem eine schwarze schmierige, dickflüssige Substanz entstand: öl, das in Kalksteinschichten unter dicken Gesteins- und Erdformationen lag.

Schon mehrmals hatten Ölgesellschaften in der Gegend Probebohrungen durchgeführt, doch erst in der letzten Novemberwoche des Jahres 1959 kam man zu gesicherten Ergebnissen. Einige Tage später, um den Thanksgiving Day herum, erhielt Brevard Holt in seinem Büro einen Anruf vom Anwalt der Familie. Die Proben, so berichtete Mr. Augustus X. Tompkins, die man auf dem Land der Holts und im näheren Umkreis entnommen habe, deuteten darauf hin, daß man auf das größte Erdöl- und Erdgasvorkommen seit dem berühmten Fund im texanischen Spindletop im Jahre 1901 gestoßen sei.

Im Einklang mit seiner reservierten Art nahm Brevard Holt die Nachricht ruhig und gelassen entgegen, doch dann geriet er in eine Art Taumel und genehmigte sich einen Drink aus der Flasche mit Jamaica-Rum, die er in einer Schreibtischschublade verwahrte.

Es handelte sich um eine Information von größter Tragweite, die ihn und seine Geschwister zu Millionären machen konnte, wenn man die Sache richtig anpackte. Brevard behielt die Neuigkeit fast eine Woche lang für sich, bevor er seine Geschwister am Montag nach Thanksgiving zu sich einlud, um sie zu informieren – womit er eine Kette von Ereignissen in Gang setzte, die der Familie Holt schwer zu schaffen machen sollten und am Schluß sogar ihren Untergang heraufzubeschwören drohten.

I

Die Entdeckung

1

Wie an jedem Montag hatte P. Willis Croft am Tag nach dem Thanksgiving-Wochenende viel zu tun. Nachdem er im Swampman Charlie’s Diner zum Frühstück angebratene Wurstscheiben mit Bratkartoffeln gegessen und zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, fuhr er wie üblich direkt zum Gericht. Über das Wochenende landete stets eine größere Zahl seiner Mandanten wegen diverser Gesetzesverstöße im Gefängnistrakt des einstmals vornehmen klassizistischen Gerichtsgebäudes. Auch ohne die Anrufe von besorgten Ehefrauen, Müttern und Freunden oder gelegentlich vom Delinquenten selbst hätte Willie an diesem Montag mit einer überdurchschnittlich hohen Zahl von Inhaftierten gerechnet, da der Feiertag für ein verlängertes Wochenende gesorgt hatte.

In den 17 Jahren seiner Anwaltstätigkeit hatte Willie Croft gelernt, diese Wochenendanrufe schnell und effizient abzuwickeln. Sobald klar war, um welche Art von Anruf es sich handelte, unterbrach er die atemlose Stimme am anderen Ende der Leitung und fragte erstens nach Name, Anschrift und Beruf des Inhaftierten, zweitens nach dem Delikt, das ihm (oder ihr) zur Last gelegt wurde und drittens nach Name, Anschrift und Telefonnummer des Anrufers. Er notierte sich diese Angaben in einem Heft, das griffbereit neben dem Telefon lag, und sagte dann jedesmal:

»Hören Sie bitte genau zu. Am Wochenende gibt es keine Möglichkeit, ihn aus dem Gefängnis zu holen, weil das Gericht geschlossen ist. Seien Sie bitte am Montag morgen um 9 Uhr im County Court. Die Vernehmungen zur Anklage finden im Erdgeschoß statt. Seien Sie pünktlich. Bringen Sie soviel Bargeld wie möglich, sämtliche Ausweispapiere und einen Blanko-Scheck mit. Der Richter wird im Laufe des Vormittags eine Kaution festsetzen, die Sie nach der Verhandlung bezahlen müssen. Wenn Sie nicht genug Geld haben, müssen wir vorher über die Straße zum Kautionskreditgeber gehen.«

An diesem Montag war Willie mit seinen Gedanken noch bei einer anderen Angelegenheit gewesen, als er in Charleys Diner an seinem Kaffee genippt und auf sein Essen gewartet haue. Seine Putzfrau war an diesem Morgen eine Stunde eher gekommen, weil sie mit ihm reden wollte. Priscilla war eine korpulente, hellhäutige Schwarze, die seit fünf Jahren zwei Tage in der Woche bei ihm arbeitete. Er hatte sie allerdings mindestens seit einem halben Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen, da sie sonst immer morgens um 9 Uhr kam und mit dem Bus um 15 Uhr wieder nach Hause fuhr; den Lohn (fünf Dollar plus Fahrtkosten) und einen Zettel mit speziellen Wünschen legte er auf den Küchentisch. Oft ließ er sie ein Essen auf . Vorrat kochen, zu dem er die Zutaten eingekauft hatte, und dann ernährte er sich eben ein paar Tage lang von Schmorbraten oder Schinken mit Kohl, bis Priscilla wieder kam. Das Kochen war eine Kunst, die er auch im Alter von 42 Jahren noch nicht beherrschte.

Doch an diesem Novembermorgen hatte Priscilla schon an die Hintertür geklopft, als die Küchenfenster noch vom Dampf des Kaffeewassers beschlagen waren und Willie noch im Bademantel am Küchentisch saß und die Frühnachrichten im Fernsehen anschaute. Sie war früher gekommen, weil sie ihn um juristischen Rat bitten wollte. Willie bot ihr einen Platz am Küchentisch an, und bei einer Tasse Kaffee erzählte sie ihm eine merkwürdige Geschichte:

Am Tag nach Thanksgiving, also vorgestern, stand auf einmal ein gewisser Brevard Holt vor der Tür ihrer Mutter in Creoletown und bot 25 000 Dollar bar auf die Hand, wenn die Familie Haus und Grundbesitz verlassen würde. Mr. Holt trug das Geld in seiner Aktentasche bei sich und bat ihre Mutter, eine Urkunde zu unterschreiben, die besagte, daß Mrs. Elvira Backus keinerlei Ansprüche auf das Anwesen erhebe. Man habe, so der ungebetene Besucher, der Familie Backus das Land zwar über mehrere Generationen hinweg zur Nutzung überlassen, doch nun wolle man es selber bewirtschaften. Die großzügige Abfindung, die man ihr gewähre, reiche nicht nur zum Kauf eines modernen Hauses, sondern auch noch für andere Anschaffungen.

Priscillas 78jährige Mutter war nach Mr. Holts Besuch völlig verstört. Schließlich ging es um das Haus, in dem sie geboren war, in dem sie ihr Leben lang gewohnt hatte und in dem sie hoffentlich friedlich entschlummern würde – was in der Hand Gottes lag und wofür sie keine 25 000 Dollar brauchte.

Willie schenkte Kaffee nach. Wie jeder Einwohner Bienvilles wußte er, wer die Holts waren, wenn er sie auch nicht persönlich kannte. Nicht umsonst gab es die Holt-Bank, das Holt-Stadion und den Holt-Boulevard, eine breite, von Eichen gesäumte Straße in einem der älteren Stadtteile. Außerdem holte Willie von Zeit zu Zeit ein paar Schauerleute von Holt Schiffsbeladungen aus dem Knast, wenn es am Samstag abend in der Hafengegend zu Schlägereien gekommen war.

Priscillas Mutter teilte Mr. Holt höflich, aber bestimmt mit, sie werde ihr Haus behalten. Es sei aber durchaus möglich, daß nach ihrem Tod ihr Sohn und ihre Tochter verkaufen würden, da sie ohnehin nicht mehr hier wohnten. Mr. Holt habe geantwortet, die Familie Holt werde die Räumung nötigenfalls vor Gericht durchsetzen und Mrs. Backus mit Sack und Pack auf die Straße setzen – dann allerdings ohne Abfindung. Mrs. Backus wäre daher gut beraten, das Geld anzunehmen und die Urkunde zu unterschreiben, so lange man ihr noch die Gelegenheit dazu gebe.

Daraufhin zeigte ihm Priscillas Mutter eine Schenkungsurkunde, die ihr Johnathan Holt kurz vor seinem Tod gegeben hatte. Nach einem flüchtigen Blick auf das Schriftstück erklärte Brevard Holt die Urkunde seines Vaters für ungültig. Er und seine Geschwister seien im Besitz einer notariellen Eigentumsurkunde für den Gesamtbesitz, was vor Gericht zweifellos mehr Gewicht habe als ein 20 Jahre alter Fetzen Papier, den sein Vater wenige Monate vor seinem Tod geschrieben hatte. Er werde in ein paar Tagen noch einmal vorbeikommen, um ihre Entscheidung zu hören, sie solle es sich gut überlegen.

Willie verschwand im Bad, nachdem er zu Priscilla gesagt hatte, er wolle sich schnell rasieren, duschen und anziehen, bevor sie ihre Unterhaltung fortsetzen würden. Priscilla machte sich inzwischen an den Abwasch des Geschirrs vom Vorabend.

Im Bad zog Willie seinen Bademantel aus und hängte ihn an den Haken. Er betrachtete sich im Spiegel, fuhr sich übers Gesicht und zog mit den Fingern die Krähenfüße glatt. Dann öffnete er den Mund und inspizierte seine Zähne. Gott sei Dank ist mein Gebiß gut, dachte er. Weiße, gerade Zähne, kaum Löcher. Er drehte sich vor dem langen Spiegel, der an der Tür befestigt war, und betrachtete über die Schulter seine nackte Rückseite. Auch nicht übel, fand er. Seit seiner Studienzeit hatte er kaum zugenommen – und er war ein schlanker Student gewesen. Als er sich mit den Fingern durch die aschblonden Haare fuhr, fiel ihm wieder ein, daß er eigentlich zum Friseur gehen wollte. Er drehte den Kopf nach rechts und nach links, um sich im Profil zu betrachten. Manchmal wünschte er sich, er wäre als richtig schöner Mann zur Welt gekommen, doch dem war nun einmal nicht so. Wenigstens war er nicht häßlich, und dafür war er dankbar.

Während das heiße Wasser kribbelnd über seine Kopfhaut lief, dachte Willie über Priscillas Geschichte nach. Dem ersten Anschein nach handelte es sich um ein sattsam bekanntes Manöver, bei dem eine Schwarze mit einem Fußtritt vor die Tür gesetzt werden sollte.

Erst vor einer Woche hatte er sich Teile des Prozesses gegen einen mehr oder weniger respektablen Mitbürger angehört, der des Betrugs angeklagt war, weil er auf einen Schlag mehrere hundert Hütten im tristen Schwarzenviertel der Stadt aufgekauft und zu astronomischen Preisen einzeln an die Mieter weiterverkauft hatte, wobei er selber als Kreditgeber aufgetreten war, da die Käufer bei den Banken nicht als kreditwürdig galten. Sobald auch nur eine Rate überfällig gewesen war, hatte er die Zwangsvollstreckung eingeleitet. Wie zu erwarten war, wurde er freigesprochen, obwohl er manche dieser Immobilien in einem einzigen Jahr drei- bis viermal verkauft hatte. Die Geschworenen hatten in Bienville nun einmal nichts für Leute übrig, die ihre Kreditraten nicht bezahlten – schon gar nicht, wenn der Schuldner ein Schwarzer und der Kreditgeber ein Weißer war.

Doch Priscillas Geschichte klang untypisch.

Willie konnte sich nicht vorstellen, daß sich die Familie Holt mit derart windigen Geschäften abgab. Was er hörte, als er wieder am Küchentisch saß, bestätigte seine Vermutung.

Am Tag nach Brevard Holts Besuch, so berichtete Priscilla, hatten bei ihrer Mutter zwei Angestellte der Union Oil Corporation vorgesprochen, um sich zu erkundigen, ob der Grund ihr Eigentum sei. Als Mrs. Backus die Frage bejahte, teilten ihr die Ölleute mit, daß ihr Unternehmen am Kauf der Bohrrechte interessiert sei. Mrs. Backus lehnte alle Angebote ab, da die Begegnung mit Brevard sie mißtrauisch gemacht hatte. Als sich die Ölleute höflich verabschiedet hatten und davongefahren waren, telefonierte sie mit ihrem Sohn Daniel, der an einer High-School unterrichtete. Daniel wiederum rief Priscilla an, um ihr zu berichten, was sich ereignet hatte, und Priscilla war früher zur Arbeit gekommen, um Willies juristischen Rat einzuholen.

In diesem Moment wurde Swampman Charleys Frühstück serviert, und Willie versuchte sich während des Essens über die Angelegenheit Klarheit zu verschaffen.

Es gab also Öl dort oben. Seit seinen Studententagen, als er manchmal am Sonntag nachmittag durch die desolaten Straßen Creoletowns gefahren war, weil er so am schnellsten zur Universität gekommen war, war er nie mehr in diesem Teil der Countys gewesen. Ölfunde würden dort oben vieles verändern. Er wußte zwar nicht, um wieviel Öl es ging, aber es mußte wohl eine große Sache sein, wenn sich eine Familie wie die Holts so exponierte.

Ein einziger Fall dieses Kalibers konnte einem Anwalt eine florierende Kanzlei bescheren. Besitz- oder Pachtrecht hatte mit seinem bisherigen Betätigungsfeld allerdings wenig zu tun, und seinen einzigen großen Fall, bei dem es um Sozialleistungen für Polizisten und Feuerwehrleute gegangen war, hatte Willie 1950 gehabt. Nachdem er in erster Instanz drei Millionen Dollar erstritten hatte und das Urteil in zweiter Instanz bestätigt worden war, ging der Fall an das oberste Gericht. Es sah ganz so aus, als könnte Willie im Alter von 33 Jahren ein Anwaltshonorar in Höhe von 300 000 Dollar kassieren ... Doch wenn in Willies Leben ein großes Ereignis bevorstand, kam ihm mit Sicherheit im entscheidenden Moment irgend etwas in die Quere – in diesem Fall der Koreakrieg, der aus dem Anwalt Croft den Sergeant Croft von der Dixie-Division machte. Willie mußte sein Mandat einem Kollegen übertragen, das Urteil wurde in letzter Instanz kassiert, und mit den drei Millionen Dollar Sozialleistungen für Polizisten und Feuerwehrleute löste sich auch sein 300 000-Dollar-Honorar in Luft auf.

Nach seiner Rückkehr aus Korea ließ er sich in einem kleinen heruntergekommenen Bürogebäude in der Nähe des Gerichts als Anwalt nieder und übernahm für den Anfang kleine Strafsachen, mit denen sich keiner der anderen Anwälte herumschlagen wollte. Nach und nach scharten sich immer mehr solcher Mandate um ihn, und so blieb es dabei – nur kam das Gebäude, in dem er sein Büro hatte, in den folgenden neun Jahren noch weiter herunter.

Wie jeden Montag morgen erhob sich ein leises Gemurmel, als Willie vom Parkplatz auf das Gericht zuging.

Die Fenster der Zellen fingen die ersten Strahlen der Sonne ein, die gerade über der Bucht aufging. Hinter den Gittern tauchten erwartungsvolle Gesichter auf, und Willie wurde von einem leisen Summen begrüßt, das zu einem Sprechchor anschwoll, als er die Straße überquerte. Willie vermutete, daß sie ihn an seinem hellbraunen Popelinemantel schon von weitem erkannten.

Heute kamen ihm die Stimmen lauter vor als sonst:

»Hol uns raus! Hol uns raus!«

Der Sprechchor verschaffte ihm eine zweifelhafte Befriedigung.

In der Halle kam er am Gerichtsdiener Burt vorbei, der wie üblich im Halbschlaf an einer großen korinthischen Säule lehnte.

Willie beugte sich vor, bis sein Mund Butts Ohr beinahe berührte.

»Hallo, Burt!« brüllte er.

Der Gerichtsdiener fuhr hoch und versuchte sich von seinem Schreck zu erholen. Seine Mütze saß schief auf dem Kopf.

»Morgen, Mr. Croft«, sagte er. Willie war längst weitergegangen und erwiderte den Gruß mit einem kurzen Winken.

»Heute sind ziemlich viele da oben« rief ihm Burt nach.

Willie nickte diesem und jenem bekannten Gesicht zu, während er durch die Halle ging.

Er betrat den Saal, in dem die Vernehmungen zur Anklage stattfanden, nicht durch den breiten Eingang, sondern durch die schmale Tür, die eigentlich dem Richter vorbehalten war und zuerst in einen kleinen Vorraum führte. Dort blieb er vor dem Spiegel stehen, rückte seine Krawatte zurecht und setzte eine hochoffizielle Miene auf.

Genau fünf Minuten vor neun trat er von diesem Vorraum in den Gerichtssaal, und sogleich richteten sich zwei Dutzend Augenpaare auf ihn. Unterhalb des Richtertischs blieb er abrupt stehen.

»Erheben Sie sich«, befahl er.

Langsam, aber ohne Ausnahme, standen alle Anwesenden auf.

»Wir singen jetzt gemeinsam ›America, the Beautiful‹«, verkündete Willie feierlich und stimmte sogleich mit getragener Stimme die erste Strophe an. Die meisten fielen nach den ersten paar Versen ein, und auch die wenigen, die nicht mitsangen, blieben stehen.

Als das Lied verklungen war, wurde es ganz still im Saal.

»Setzen Sie sich«, sagte Willie hoheitsvoll.

Alle kamen der Anordnung schweigend nach.

»Wer mit Rechtsanwalt Willie Croft sprechen möchte, wird gebeten, in die Halle zu gehen. Der Anwalt wird sich gleich um Sie kümmern.«

Ungefähr ein Dutzend Personen erhoben sich, und Willie sah zu, wie sie hinausgingen. Dann verließ er den Saal durch dieselbe Tür, durch die er ihn betreten hatte, nahm im Vorraum seinen Regenmantel und seine Aktentasche an sich und ging in die Halle, um sich an die Arbeit zu machen.

In den nächsten Stunden vertrat er einen Autodieb, zwei Männer, die ihre Frauen geschlagen hatten, einen Würfelspieler, der sich nicht schnell genug davongemacht hatte, einen vermeintlichen Vergewaltiger und einen Mann, der mit einem Rasiermesser auf einen früheren Freund losgegangen war. Abgesehen von dem Würfelspieler, der nicht zum erstenmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, wurden alle gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Die Honorare, die Willie bei den Verwandten und Freunden der Delinquenten einsammelte, beliefen sich auf 225 Dollar Bargeld, einen 50-Dollar-Scheck und diverse Versprechen, die sich auf 275 Dollar addierten – zahlbar vor Prozeßbeginn.

Kurz vor Mittag war Willie in seinem Büro. Er hörte den Anrufbeantworter ab, der. mehrere Nachrichten aufgezeichnet hatte, und las die Post, bevor er über den »Promenadeplatz« ging, um in Traylors Austernbar sein Mittagessen einzunehmen.

Es war ein wunderschöner Herbsttag. Durch das Laub der Eichen, die den Grasplatz beschatteten, drangen einzelne Sonnenstrahlen. Sie fielen auf Penner, die auf den Bänken lagen, und auf die gebeugten Rücken von Leuten, die Eichhörnchen und Tauben mit Erdnüssen fütterten. Als Willie durch die St. Raymond’s Street ging, wollte es der Zufall, daß ihm auf der anderen Straßenseite in einem dunklen dreiteiligen Anzug und mit einer Zeitung unter dem Arm die große, steife Gestalt des Anwalts der Familie Holt, Augustus X. Tompkins, entgegenkam.

Am besten rede ich jetzt gleich mit ihm, sagte sich Willie. Es war nämlich nicht leicht, Augustus Tompkins auf neutralem Terrain anzutreffen, da er nur selten persönlich im Gericht erschien. Zu einem Besuch in Willies kleinem Büro hätte er sich schon gar nicht bewegen lassen. Es war ein Glücksfall, daß er ihm einfach so auf der Straße begegnete.

Doch genau in dem Moment, als Willie einen Schritt auf die Fahrbahn machte, um auf ihn zuzugehen, blieb Tompkins stehen, sah sich verstohlen um und verschwand blitzschnell im einzigen unanständigen Kino der Stadt. Verdutzt blieb Willie stehen. »Schulmädchenspiele« lautete der Titel der Vorstellung, und das Filmplakat deutete an, was man sich darunter vorzustellen hatte.

Willie eilte über die Straße, bezahlte die zwei Dollar Eintritt und folgte Tompkins in den dunklen Saal. Ungefähr ein Dutzend Männer waren in die sexuellen Aktivitäten auf der Leinwand vertieft, die nicht nur unmoralisch, sondern schlichtweg illegal waren. Willie setzte sich auf einen hinteren Platz, von dem aus er den Kopf und die Schultern von Augustus Tompkins im Blick hatte. Auf der Leinwand sah man, wie sich ein flotter Dreier stöhnend auf dem Bett herumwälzte. Willie wartete, bis die Szene ihren Kulminationspunkt erreicht hatte, und rief dann mit verstellter, möglichst respektheischender Stimme:

»Mr. Augustus Tompkins wird verlangt!«

Mehrere Männer blickten nervös über die Schulter, doch Augustus Tompkins blieb wie erstarrt sitzen. Als eine Szene, die im Dämmerlicht spielte, den Zuschauerraum dunkler werden ließ, rief Willie seinen Anwaltskollegen noch einmal aus. Diesmal drehten sich mehrere Männer wütend um, während Tompkins zunächst wieder keine Reaktion zeigte, dann aber aufsprang, das Kinn auf die Brust preßte und durch den Gang zum Ausgang hastete.

Willie holte ihn vor dem Kino auf der Straße ein.

»Herrgott, Croft! Waren Sie das?« polterte Tompkins, ohne stehenzubleiben.

»Ich muß unbedingt mit Ihnen reden«, sagte Willie mit Unschuldsmiene.

»Mein Gott!« rief Tompkins. »Ist Ihnen klar, was passiert, wenn das bekannt wird? Wenn jemand da drin war, der mich kennt, könnte das ...« Er beendete den Satz nicht, sondern sagte statt dessen: »Das ist überhaupt nicht komisch.«

»Ich muß mit Ihnen reden«, wiederholte Willie.

»Worüber?« fragte Tompkins im Gehen. Er war sichtlich bemüht, aus der näheren Umgebung des Kinos wegzukommen.

»Über die Holts und das Öl in Creoletown.«

Tompkins blieb abrupt stehen und sah Willie mißtrauisch an.

»Wie bitte? Die Holts und das Öl?« fragte er und schob die Lippen vor.

»Über den Versuch der Holts, einer alten Frau für 25 000 Dollar ihren Besitz abzuhandeln, weil die Ölgesellschaften Interesse daran zeigen«, erläuterte Willie.

Augustus Tompkins schüttelte langsam den Kopf. »Davon ist mir nichts bekannt«, sagte er.

»Nun kommen Sie schon, Augustus«, sagte Willie kühl. »Einer ihrer Klienten verlegt sich auf das Geschäft mit Bohrrechten, und Sie wissen nichts davon? Sie belieben zu scherzen.«

»Daß man da oben Öl vermutet, ist ja nicht neu. Es werden schließlich schon seit Jahren Probebohrungen niedergebracht«, sagte Tompkins. Allmählich fing er sich wieder. »Im übrigen frage ich mich, welches Interesse Sie an der Sache haben. Entfernen Sie sich damit nicht allzuweit vom Tätigkeitsbereich Ihrer Kanzlei, Willie?«

»Mein ...« Willie wollte das Wort »Mandant« vermeiden. Er wußte ja noch gar nicht, ob er überhaupt ein Mandat hatte, und wenn ja, wen er vertrat – Priscilla? Ihre Mutter? Ihren Bruder? Außerdem war er sich noch gar nicht sicher, ob er wirklich Leute, die nur ein Erfolgshonorar bieten konnten, ausgerechnet gegen die Holts vertreten wollte, also gegen einen Prozeßgegner, der ihn mit Anträgen auf Vorladungen, Vertagungen und Einstellungen des Verfahrens endlos hinhalten und zur Vorlage von Hunderten von Dokumenten zwingen könnten. »Mein Interesse rührt daher, daß ich von einem Mitglied der betroffenen Familie gebeten wurde, mir die Sache etwas genauer anzusehen.«

Tompkins schüttelte erneut den Kopf. »Aus reiner Herzensgüte haben die Holts diese Familie da oben wohnen lassen. Diese Leute haben keinen Rechtstitel, folglich haben sie auch keinen Anspruch. So einfach ist das.«

»Das stimmt wohl nicht ganz«, sagte Willie. »Der Vater der Holts hat offenbar Mrs. Backus und ihren Kindern über hundert Hektar Land geschenkt, und es gibt eine Schenkungsurkunde, die seine Unterschrift trägt.«

Augustus Tompkins ließ seine stahlblauen Augen auf Willie ruhen, ohne zu antworten. Offenbar hoffte er, so herauszufinden, wieviel Willie wußte, ohne selber etwas preisgeben zu müssen. Willie parierte dieses Manöver, indem er sich informierter gab, als er tatsächlich war.

»Meinen Informationen zufolge geht es bei der Ölsache in Creoletown um sehr viel Geld. Es wird Ihnen also nicht gelingen, Mrs. Backus mit lumpigen 25 000 Dollar abzuspeisen. Soweit ich es im Moment überblicke, würde ich sagen, daß sie einen ziemlich gesicherten Rechtsanspruch auf das Land hat – nicht nur aufgrund der Schenkungsurkunde, sondern allein schon deshalb, weil sie seit langer Zeit dort lebt. Folglich werden Mrs. Backus und ihre Kinder nicht so schnell auf das Land verzichten wollen. Aber vielleicht könnte man doch zu einer Einigung gelangen.« Willie wußte sehr wohl, daß er im Nebel herumstocherte.

Mit einem tiefen Seufzer schüttelte Tompkins nun schon zum dritten Mal den Kopf.