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ISBN 978-3-7751-7252-3 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5616-5 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
© der deutschen Ausgabe 1998, 2008 und 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de
Dieser Titel erschien zuvor in 15 Auflagen, zuletzt unter der ISBN 978-3-7751-4953-2
Originally published in the U.S.A. under the title: Boundaries
Copyright © 1992 by Henry Cloud and John Townsend
Published by permission of Zondervan, Grand Rapids, Michigan www.zondervan.com
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Übersetzung: Janet Reinhardt
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Satz: typoscript GmbH, Waldorfhäslach
Teil 1
Was sind Grenzen?
1. Ein Tag in einem Leben ohne Grenzen
2. Was ist eine Grenze?
3. Probleme mit Grenzen
4. Wie Grenzen entwickelt werden
5. Zehn Grenzregeln
6. Verbreitete Mythen über Grenzen
Teil 2
Konflikte mit Grenzen?
7. Grenzen und die Familie
8. Grenzen und Freunde
9. Grenzen und der Partner
10. Grenzen und die Kinder
11. Grenzen und die Arbeit
12. Grenzen und das Selbst
13. Grenzen und Gott
Teil 3
Gesunde Grenzen entwickeln
14. Widerstand gegen Grenzen
15. Den Erfolg von Grenzen messen
16. Ein Tag in einem Leben mit Grenzen
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Der Wecker schrillte. Schlaftrunken und unausgeschlafen stellte Sandra das Gepiepse ab, machte die Nachttischlampe an und setzte sich im Bett auf. Eine Weile lang starrte sie einfach nur die Wand an.
Warum möchte ich diesen Tag gar nicht erst anfangen? Hast du mir nicht ein Leben der Freude verheißen, Herr? dachte sie als Erstes. Als die Nachtgespinste in ihrem Kopf sich lichteten, erinnerte sich Sandra an den Grund für ihre Angst vor diesem Tag: den Gesprächstermin um 16 Uhr mit der Lehrerin von Todds dritter Klasse. Sie musste noch einmal an das Telefonat denken: »Sandra, hier ist Janine Russell. Könnten wir uns treffen, um über Todds Leistungen und sein Verhalten zu sprechen?«
Todd, ihr Sohn, konnte einfach nicht stillsitzen und seinen Lehrern zuhören. Er hörte ja nicht einmal auf seine Eltern. Todd hatte einen so starken Willen, und sie wollten seinen Geist nicht zerbrechen. War das nicht auch wichtiger? »Jetzt habe ich keine Zeit, darüber nachzudenken«, dachte Sandra und schlurfte ins Bad. »Es gibt genug anderes, um das ich mir bis dahin noch Gedanken machen muss.«
Unter der Dusche begannen ihre Gedanken schneller zu kreisen. Sie überschlug die Aktivitäten, die an diesem Tag noch anstanden. Der neunjährige Todd und die sechsjährige Amy hätten sie auch ohne ihre Berufstätigkeit ausgelastet. »Also, – Frühstück machen, zwei Pausensnacks einpacken, und Amys Kostüm für die Schulaufführung fertig nähen. Das wird bestimmt lustig – das Kostüm bis Viertel vor acht fertig zu haben, wenn sie zur Schule muss.«
Sandra dachte wehmütig an den vorherigen Abend. Sie hatte geplant, Amys Kostüm dann in aller Ruhe fertigzumachen, sodass es etwas ganz Besonderes werden würde. Aber ihre Mutter war unerwartet zu Besuch gekommen. Gute Manieren verlangten, dass sie den Abend damit verbrachte, die Gastgeberin zu spielen. Damit war der Abend im Eimer. Sie hatte versucht, die Zeit trotzdem herauszuholen, und die Erinnerung daran war nicht schön. In dem Versuch, diplomatisch vorzugehen, hatte Sandra zu ihrer Mutter gesagt: »Ich freue mich, wenn du so spontan vorbeischaust, Mutter! Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich an Amys Kostüm nähe, während wir miteinander reden?« Innerlich hatte sie sich schon gekrümmt, weil sie die Reaktion ihrer Mutter eigentlich ahnte.
»Sandra, du weißt genau, dass ich die Letzte wäre, die dir Zeit mit deiner Familie wegnähme.« Sandras Mutter, die seit zwölf Jahren verwitwet war, hatte diesen Stand zu einem Märtyrertum erhoben. »Ich meine, seitdem dein Vater gestorben ist, ist mir alles so leer vorgekommen. Ich vermisse unsere Familie sehr. Wie könnte ich dir das wegnehmen?«
Ich wette, dass ich das gleich erfahren werde, dachte Sandra. »Deswegen verstehe ich auch, warum du Walter und die Kinder nicht mehr so oft zu Besuch bringst. Wie könnte ich für sie interessant sein? Ich bin ja nur eine einsame alte Frau, die ihr Leben für ihre Kinder gegeben hat. Wer würde schon mit mir Zeit verbringen wollen?« »Nein, Mutter, nein, nein!« machte Sandra bei dem emotionalen Spielchen, das sie seit Jahrzehnten mit ihrer Mutter gespielt hatte, mit: »So habe ich das überhaupt nicht gemeint! Ich meine, es ist schön, dich hier zu haben. Wir würden wirklich gerne mit dir mehr Kontakt pflegen. Aber mit unserem Terminkalender ist das einfach nicht möglich! Deswegen bin ich so froh, dass du die Initiative ergriffen hast.« Herr, strafe mich bitte nicht für diese kleine Lüge! betete sie still. »Ach weißt du, ich kann das Kostüm ein anderes Mal zu Ende machen. Komm, ich mache uns einen Kaffee!«
Ihre Mutter seufzte: »Na gut, wenn du darauf bestehst. Aber ich glaube trotzdem, dass ich dich störe.« Der Besuch hatte weit in den Abend hinein gedauert. Als ihre Mutter endlich gegangen war, hatte Sandra das Gefühl, dass sie gleich den Verstand verlieren würde, aber sie rationalisierte die Sache vor sich selbst. Wenigstens habe ich ihren einsamen Tag etwas schöner machen können. Dann meldete sich eine kleine störende Stimme: Wenn du ihr so geholfen hast, warum sprach sie, als sie ging, immer noch von ihrer Einsamkeit? Sandra ging ins Bett und versuchte, diesen Gedanken zu ignorieren.
Sandra kehrte in die frühmorgendliche Gegenwart zurück. »Hat wohl keinen Sinn, über verschüttete Milch zu klagen«, murmelte sie vor sich hin, als sie versuchte, den Reißverschluss an ihrem Lieblingsrock hochzuziehen. Ihr schwarzes Kostüm war, wie so vieles in ihrer Garderobe, in letzter Zeit ein wenig eng geworden. Mit fünfunddreißig schon aus dem Leim gehen? Diese Woche muss ich wirklich anfangen, weniger zu essen und mich mehr zu bewegen, sinnierte sie. Die nächste Stunde war, wie üblich, eine Katastrophe: Die Kinder beschwerten sich, dass sie aufstehen mussten, und Walter war ihr böse, weil sie die Kinder nicht rechtzeitig an den gemeinsamen Frühstückstisch bekam.
Wie ein Wunder schafften es die Kinder, rechtzeitig zur Schule aus dem Haus zu kommen, Walter fuhr mit seinem Auto zur Arbeit, und Sandra verließ das Haus in Richtung Büro. Mit einem tiefen Seufzer betete sie innerlich: Herr, ich freue mich nicht auf diesen Tag. Gib mir bitte etwas, auf das ich hoffen kann. Sie schaffte es immerhin, im Stau auf der Schnellstraße ihr Make-up fertig aufzutragen.
Während sie eiligst in das Gebäude der McAllister Enterprises, wo sie als Modedesignerin arbeitete, hineinlief, schaute Sandra auf die Uhr. Nur ein paar Minuten zu spät. Vielleicht verstanden ihre Kollegen inzwischen, dass das Zuspätkommen bei ihr eine Folge ihres Lebensstils war, und erwarteten nicht, dass sie pünktlich käme. Sie irrte sich. Sie hatten bereits mit dem wöchentlichen Abteilungsleitermeeting ohne sie angefangen. Sandra versuchte hineinzuschlüpfen, ohne dass jemand sie bemerkte, aber das klappte natürlich nicht – alle Augen waren auf sie gerichtet, als sie sich setzte. Sie schaute sich flüchtig um, lächelte kurz und murmelte etwas über »den verrückten Verkehr.«
Der weitere Morgen verlief ziemlich gut. Sandra hatte Talent für modische Entwürfe und ein gutes Auge für attraktive Bekleidung. Die Firma profitierte enorm von ihrem Talent. Das einzige Problem stellte sich kurz vor dem Mittagessen ein. Ihr Telefon klingelte: »Sandra Phillips.« »Gott sei Dank, dass du da bist, Sandra! Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn du schon zu Mittag gegangen wärst!« Diese Stimme erkannte Sandra sofort. Seit ihrer Grundschulzeit gab es Luise. Luise war eine nervöse Frau und steckte permanent in der Krise. Sandra hatte sich immer bemüht, für sie da zu sein. Aber Luise fragte nie danach, wie es Sandra ging, und wenn Sandra mal ihre eigenen Probleme ansprach, wechselte sie entweder das Thema oder musste gleich gehen.
Sandra hatte Luise wirklich lieb und sorgte sich um ihre Probleme, aber Luise kam ihr mehr wie eine Klientin und nicht wie eine Freundin vor. Sandra fing langsam an, sich über das Ungleichgewicht in ihrer Beziehung zu ärgern. Wie immer hatte Sandra jedoch Schuldgefühle, wenn ihr Zorn auf Luise hochkam. Ihr war wichtig, welchen Wert die Bibel auf das Lieben und Helfen legte. – Jetzt geht das schon wieder los, ich denke mehr an mich selbst als an andere. Bitte, Herr, lass mich mehr an Luise denken und nicht so sehr an mich selber. Also fragte Sandra: »Was ist los, Luise?«
»Es ist furchtbar, einfach furchtbar«, sagte Luise. »Anne wurde heute aus der Schule nach Hause geschickt, Tom hat seine Beförderung nicht bekommen, und mein Auto hat auf der Autobahn seinen Geist aufgegeben!«
Jeder Tag meines Lebens ist so! dachte Sandra und fühlte ihren Ärger wachsen. Aber sie sagte nur; »Luise, du Arme! Wie wirst du mit all dem fertig?« Luise beantwortete Sandras Frage bis ins kleinste Detail – mit so vielen Einzelheiten, dass Sandra die Hälfte ihrer Mittagspause damit zubrachte, nur ihre Freundin zu trösten. Na ja, dachte sie, die Imbissbude nebenan ist besser als gar kein Essen.
Während sie an der Imbissbude auf ihr Essen wartete, dachte Sandra über Luise nach. Wenn die ganze Zuhörerei, Trösterei und der Rat in den vielen Jahren auch nur einen kleinen Unterschied gemacht hätten, dann wäre es das alles vielleicht wert gewesen. Aber Luise macht immer noch dieselben Fehler, die sie vor zwanzig Jahren gemacht hat. Warum tue ich mir das an?
Sandras Nachmittag ging ruhig vorbei. Sie war gerade dabei, ihr Büro zu verlassen und zu dem Treffen mit der Lehrerin zu fahren, als ihr Chef, Frank, sie erwischte. »Ich bin froh, dass ich dich noch angetroffen habe, Sandra«, sagte er. Frank war bei McAllister Enterprises sehr erfolgreich, ein Typ, der Dinge in Bewegung setzte. Das einzige Problem war, dass er oft andere Menschen benutzte, um »Dinge in Bewegung zu setzen«. Sandra wusste, dass jetzt die hundertste Strophe des selben alten Liedes kommen würde. »Hör mal«, sagte Frank und übergab ihr dabei einen Stapel Papiere, »ich stehe unter Zeitdruck. Das sind die gesamten Unterlagen für das Kimborough-Projekt. Bis morgen sind die letzten Vorschläge fällig. Es muss nur noch ein bisschen durchgesehen und umgeschrieben werden. Ich bin sicher, es ist für dich kein Problem, das für mich fertigzumachen.« Und er lächelte auf sie herab.
Sandra geriet in Panik. Das »bisschen« Schreibarbeit, von dem Frank immer redete, war in der Firma schon ein geflügeltes Wort. Sie wog den Stapel Papiere in der Hand und schätzte, dass es mindestens fünf Stunden Arbeit bedeutete. Ich hatte diese Unterlagen schon vor drei Wochen auf seinem Schreibtisch gesehen. Wer denkt er denn, dass er ist, mir die Verantwortung für seine Termine zuzuschieben? In Sandra stieg die kalte Wut hoch. Schnell brachte sie ihre Wut unter Kontrolle. »Klar Frank, das ist gar kein Problem. Ich bin froh, dass ich dir helfen kann. Wann brauchst du es?« »Neun Uhr wäre wunderbar. Und vielen Dank auch, Sandra. Ich denke immer zuerst an dich, wenn ich in Schwierigkeiten bin. Du bist immer so verlässlich.« Frank wanderte davon.
Verlässlich – treu – zuverlässig, überlegte Sandra. So haben mich immer die Leute beschrieben; die etwas von mir haben wollten. Das ist eine gute Beschreibung für einen Esel. Plötzlich überkamen sie wieder Schuldgefühle. Jetzt mache ich das schon wieder, werde so unmutig. Hilf mir, Herr, da zu wirken, wo ich hingestellt bin. Aber sie wünschte sich wohl insgeheim, dass sie irgendwo anders hingestellt wäre.
Janine Russell war eine kompetente Lehrerin, eine von denjenigen im Beruf, die verstanden, welche verzwickten Verhältnisse oft dem problematischen Verhalten von Kindern zugrunde lägen.
Das Gespräch mit Todds Lehrerin fing an wie so viele vorher: ohne Walter. Todds Vater hatte nicht freinehmen können, deswegen sprachen die beiden Frauen alleine. »Er ist kein schlechtes Kind«, beruhigte Janine sie. »Todd ist aufgeweckt und energiegeladen. Wenn er gehorcht, ist er eines der erfreulichsten Kinder in der Klasse.« Sandra wartete auf das »Aber.« Mach einfach weiter. Ich habe ein »Problemkind«, nicht wahr? Was gibt’s sonst noch Neues? Ich habe auch ein »Problemleben«.
Die Lehrerin spürte Sandras Unbehagen und sprach weiter: »Das Problem ist, dass Todd nicht gut auf Grenzen reagiert. Zum Beispiel hat er während unserer Projektzeit, wenn die Kinder an verschiedenen Aufgaben arbeiten sollen, große Schwierigkeiten. Er steht von seinem Tisch auf, stört andere Kinder und will nicht aufhören zu reden. Wenn ich ihn darauf hinweise, dass sein Benehmen unangemessen ist, wird er wütend und sturköpfig.« Sandra, die das Gefühl hatte, in die Defensive gedrängt zu werden, meinte: »Vielleicht hat Todd ein Konzentrationsproblem, oder ist er vielleicht ein hyperaktives Kind?«
Janine Russell schüttelte den Kopf: »Todds Lehrerin hat sich dies letztes Jahr gefragt und ließ ihn darauf testen. Die Ergebnisse waren negativ. Todd kann sich sehr gut konzentrieren, wenn er am Thema Interesse hat. Ich bin keine Therapeutin, aber es kommt mir so vor, als ob er einfach nicht daran gewöhnt ist, sich an Regeln zu halten.« Jetzt fühlte sich Sandra selbst angegriffen: »Meinen Sie, dass das Problem bei uns zu Hause liegt?« Der Lehrerin war etwas unbehaglich zumute. »Wie gesagt, ich bin keine Therapeutin. Ich weiß nur, dass die meisten Kinder in der dritten Klasse sich gegen Regeln auflehnen. Aber bei Todd ist es über dem Durchschnitt. Jedes Mal, wenn ich ihm etwas auftrage, das er nicht tun will, ist es wie der dritte Weltkrieg. Und da alle psychologischen und Intelligenztests normale Ergebnisse aufweisen, wollte ich einfach mal fragen, ob es vielleicht zu Hause Probleme gibt?«
Sandra versuchte nicht länger, die Tränen zurückzuhalten. Sie legte das Gesicht in ihre Hände und schluchzte mehrere Minuten lang. Es wuchs ihr einfach alles über den Kopf. Schließlich beruhigte sie sich wieder. »Es tut mir leid. Sie haben mich wohl an einem schlechten Tag erwischt.« Sandra suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. »Nein, es ist mehr als das. Vielleicht sollte ich doch mehr dazu sagen. Sie haben, glaube ich, dieselben Probleme mit ihm, die Walter und ich haben. Es ist ein ganz großer Kampf, ihn zu Hause dazu zu bringen, folgsam zu sein. Wenn wir spielen oder miteinander reden, ist Todd der beste Sohn, den ich mir vorstellen kann. Wenn ich ihn jedoch disziplinieren muss, sind seine Wutausbrüche einfach mehr, als ich ertragen kann. Ich befürchte, ich bin Ihnen damit keine Hilfe.«
Die Lehrerin nickte langsam: »Es hilft sehr, zu wissen, dass Todds Verhalten zu Hause auch problematisch ist. Jetzt können wir wenigstens zusammen versuchen, eine Lösung zu finden.«
Sandra war sogar dankbar für den abendlichen Stau im Berufsverkehr. Wenigsten will hier keiner etwas von mir, dachte sie. Sie nutzte die Zeit, um die nächsten Krisenzeiten zu planen: Abendessen, Kinder, Franks Projekt, Gemeinde … und Walter.
»Zum vierten und letzten Mal, das Essen ist fertig!« Sandra hasste es zu brüllen, aber was sonst funktionierte noch? Die Kinder und Walter schienen immer erst dann aufzutauchen, wenn sie es für richtig hielten. Meistens war das Essen schon etwas kalt, wenn der Letzte endlich kam.
Sandra hatte keine Ahnung, was das Problem sein könnte. Sie wusste, dass es nicht am Essen lag, weil sie eine gute Köchin war. Außerdem war alles innerhalb kürzester Zeit verschlungen, wenn die anderen endlich am Tisch saßen. Alle außer Amy. Sie beobachtete, wie Amy schweigend am Tisch saß und in ihrem Essen nur herumstocherte. Sandra hatte ein ungutes Gefühl. Amy war so ein liebenswertes, sensibles Kind. Warum war sie so zurückhaltend? Ihre Tochter war noch nie besonders aufgeschlossen gewesen. Sie zog es vor, ihre Zeit mit Lesen, Malen und »Nachdenken« zu verbringen. »Worüber denkst du nach, Schätzchen?« hakte Sandra manchmal vorsichtig nach.
»Einfach nur Zeugs«, war dann immer die Antwort. Sandra hatte das Gefühl, dass Amy sie aus ihrem Leben ausschloss. Sie träumte von Mutter-Tochter-Gesprächen, Unterhaltungen »nur unter uns Frauen«, Einkaufsbummeln. Aber Amy hatte ein verborgenes, geheimes Innenleben, in das sie niemanden hineinließ. Sandra sehnte sich danach, diesen unerreichbaren Teil ihrer Tochter anzurühren.
Als sie gerade beim Abendessen waren, klingelte das Telefon. Sandra dachte: Wir sollten uns wirklich einen Anrufbeantworter anschaffen, der die Telefonate während der Essenszeit annimmt. Wir haben ohnehin so wenig Zeit, als Familie zusammen zu sein. Aber gleich kam ein anderer immer wiederkehrender Gedanke: Es ist vielleicht jemand, der mich braucht.
Wie immer, hörte Sandra eher auf die zweite innere Stimme und sprang vom Tisch auf. Voller Vorahnungen erkannte sie die Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ich hoffe, ich störe dich nicht«, sagte Phyllis Renfrow, die Leiterin der Frauendienste in der Kirchengemeinde.
»Ach nein, du störst nie«, erklärte Sandra.
»Sandra, ich bin in großen Schwierigkeiten«, sagte Phyllis. »Margarete sollte unser Koordinator für die Aktivitäten bei dem Gemeindewochenende sein, und sie hat jetzt abgesagt. Irgend etwas über ›Prioritäten zu Hause‹. Kannst du irgendwie helfen?«
Das Gemeindewochenende! Sandra hatte fast vergessen, dass die jährliche Zusammenkunft der Frauen in der Gemeinde an diesem Wochenende stattfinden sollte. Sie hatte sich eigentlich riesig darauf gefreut, Walter und die Kinder für zwei Tage zu Hause zu lassen und auf dem wunderbaren Gelände in den Bergen umherzuwandern – nur sie und der Herr. Tatsächlich freute sie sich mehr auf die Möglichkeit, einfach alleine zu sein, als auf jede Gruppenaktivität. Margaretes Aufgabe als Koordinator für die Aktivitäten anzunehmen würde jede Möglichkeit, allein zu sein, im Keim ersticken. Nein, das würde nicht gehen. Sie würde einfach sagen müssen …
Ganz automatisch übernahm an diesem Punkt ihr zweites Gedankenmuster das Telefonat: Was für ein Vorrecht, Gott und diesen Frauen dienen zu können, Sandra! Wenn du ein bisschen von deinem Leben aufgibst und einen Teil deines Egoismus überwindest, kannst du im Leben dieser Frauen einen großen Unterschied machen. Denke darüber nach.
Sandra musste nicht darüber nachdenken. Sie hatte gelernt, fraglos auf diese zweite Stimme zu reagieren, genau so, wie sie auf die Stimme ihrer Mutter reagierte, und auf die von Phyllis und vielleicht auch auf Gottes Stimme. Wem immer die Stimme auch gehören mochte, sie war zu stark, um einfach ignoriert zu werden. Die Gewohnheit trug den Sieg davon.
»Natürlich, Phyllis, werde ich gerne aushelfen«, hörte Sandra sich antworten. »Schick mir einfach die Notizen, die Margarete schon gemacht hat, und ich werde mich daranmachen.«
Phyllis atmete hörbar erleichtert auf: »Sandra, ich weiß, dass du ein Opfer bringst. Ich muss das auch jeden Tag mehrmals tun. Aber das ist schließlich unser erfülltes Leben als Christen, nicht wahr? Lebendige Opfer zu sein.«
Wenn du das sagst, dachte Sandra bei sich. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen, sich zu fragen, wann der »erfüllte« Teil kommen würde.
Das Essen war endlich vorbei, und Sandra sah zu, wie Walter es sich im Wohnzimmer bequem machte, um sich das Fußballspiel anzuschauen. Todd griff nach dem Telefon und fragte, ob seine Freunde zum Spielen kommen könnten. Amy verkroch sich unbeobachtet auf ihr Zimmer,
Das Geschirr blieb unbeachtet auf dem Tisch stehen. Die Familie war es nicht gewohnt, auch mal abzuräumen. Aber vielleicht waren die Kinder dafür noch ein wenig zu jung. Sandra begann, das Geschirr abzuräumen.
Vor Jahren hätte Sandra nach dem Essen-Aufräumen die Kinder rechtzeitig ins Bett bringen und Franks abgeschobenes Projekt mit Leichtigkeit erledigt haben können. Eine Tasse Kaffee nach dem Essen, und das Adrenalin, das sich bei Sandra in Stress-Situationen einstellte, ermöglichte ihr übermenschliche Leistungen. Sie wurde schließlich nicht umsonst »Super-Sandra« genannt!
Aber es wurde immer schwerer. Stress funktionierte nicht mehr wie früher. Immer öfter hatte sie Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Sie vergaß Daten und Termine, und es machte ihr noch nicht einmal mehr viel aus.
Trotzdem hatte sie mit reiner Willensstärke das meiste ihrer Arbeit noch geschafft. Franks Projekt hatte vielleicht ein wenig in der Qualität gelitten, aber sie hegte zu viel Groll, um sich darüber Gedanken zu machen. Ich habe schließlich Ja gesagt. Es ist meine Schuld, nicht Franks. Warum habe ich ihm nicht einfach gesagt, wie unfair es war, dieses Ding auf mich abzuwälzen?
Aber jetzt hatte sie dafür keine Zeit. Sie musste noch ihre Hauptaufgabe des Abends bewältigen – ihr Gespräch mit Walter. Die Zeit, als Walter und sie sich kennengelernt hatten, und die Anfangsphase ihrer Ehe waren angenehm gewesen. Wo sie verwirrt gewesen war, war Walter entscheidungsfreudig. Wo sie unsicher war, war er stark. Nicht, dass Sandra nicht auch zu ihrer Beziehung beigetragen hätte. Sie erkannte, dass Walter einen Mangel an emotionaler Beziehungsfähigkeit hatte, und sie nahm es bereitwillig auf sich, dieses Defizit durch ihre Art Wärme und Liebe auszugleichen. Sie sagte sich: Gott hat mit uns ein gutes Team zusammengebracht. Walter leitet, und ich bringe die Liebe ein. Das half ihr über die für sie einsamen Zeiten hinweg, wenn er ihre verletzten Gefühle einfach nicht verstehen wollte.
Aber über die Jahre war Sandra eine Änderung in der Beziehung aufgefallen. Es fing erst unmerklich an, wurde aber dann sehr ausgeprägt. Sie hörte es in seiner sarkastischen Antwort, wenn sie eine Beschwerde hatte. Sie sah es im fehlenden Respekt in seinen Augen, wenn sie versuchte, ihm zu erklären, dass sie größere Unterstützung von ihm brauchte. Sie fühlte es in seinem immer stärker werdenden Bestehen darauf, dass sie Dinge auf seine Art machen solle.
Und seine Wutausbrüche! Vielleicht war es der Stress in seinem Beruf oder die Kinder. Was immer es auch war, Sandra hätte nie gedacht, dass sie jemals solch schneidende, zornige Worte von ihm hören würde, wie er sie ihr hinwarf. Sie musste gar nicht viel tun, um seinen Zorn auf sich zu ziehen – verbrannter Toast, ein ungedeckter Scheck oder das Versäumnis, das Auto aufzutanken – jedes Einzelne davon war genug. Alles wies sie in eine Richtung: Die Ehe bestand nicht länger aus einem Team, sollte sie jemals eines gewesen sein. Es war eine Eltern-Kind-Beziehung, und Sandra befand sich am falschen Ende.
Zuerst dachte sie, dass sie sich nur etwas einbildete. Jetzt fange ich schon wieder damit an, bloß nach den Schwierigkeiten zu suchen, wo ich doch eigentlich ein schönes Leben habe, sagte sie sich. Das half eine Weile – aber nur bis zu Walters nächstem Wutausbruch. Dann würden ihr Verletztsein und ihre Traurigkeit ihr sagen, was ihre Vernunft nicht akzeptieren wollte. Als sie sich endlich eingestand, dass Walter ein sehr kontrollierender Mensch war, nahm sie die Schuld dafür auf sich. Ich wäre auch so, wenn ich mit so einer verrückten Frau leben müßte, wie ich es bin. Ich bin der Grund, weswegen er so kritisch und frustriert ist.
Diese Schlussfolgerungen brachten Sandra zu der Lösung, die sie seit Jahren zu praktizieren versuchte: Walter trotz seiner Zornausbrüche zu lieben. Diese Lösung sah etwa so aus: Zuerst lernte Sandra, Walters Emotionen zu erkennen, indem sie auf seine Laune, seine Körpersprache und seine Worte achtete. Sie entwickelte eine feine Antenne für seine Launen und achtete besonders auf die Dinge, die ihn in Wut versetzen könnten: Unpünktlichkeit, Meinungsverschiedenheiten und Unbeherrschtheit ihrerseits. Solange sie sich ruhig verhielt und nachgab, ging auch alles gut.
Wenn sie aber zuließ, dass ihre Wünsche sich irgendwie zeigten, riskierte sie, den Kopf abgerissen zu bekommen. Sandra lernte schnell, Walter richtig zu »lesen«. Hatte sie das Empfinden, dass sie eine emotionale Grenze übertreten hatte, setzte sie Phase zwei von »Walter lieben« ein: Sie trat sofort den Rückzug an. Sich seiner Meinung anzupassen (obwohl sie das nicht wirklich tat), ihren Mund zu halten oder sich sogar dafür zu entschuldigen, dass es so schwer war, mit ihr zu leben, das waren alles Verhaltensweisen, die funktionierten.
Phase drei von »Walter lieben« war es, für Walter besondere Dinge zu tun, um ihm zu zeigen, dass sie es ernst meinte. Das bedeutete vielleicht, sich zu Hause attraktiver anzuziehen. Oder sein Lieblingsessen mehrmals in der Woche zu kochen. Sprach die Bibel nicht davon, dass sie eine solche Ehefrau sein sollte?
Die drei Phasen von »Walter lieben« funktionierten eine Weile lang. Aber der Friede hielt nie an. Das Problem damit, Walter trotz seiner Zornausbrüche zu lieben, war, dass Sandra es einfach zu Tode leid war zu versuchen, Walter in seinen Wutausbrüchen zu beruhigen. Dadurch blieb er länger zornig auf sie, und das isolierte sie immer mehr von ihm. Ihre Liebe zu ihrem Mann löste sich so auf. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass Gott sie zusammengeführt hatte, und egal, was passierte, ihre Liebe sie durchtragen würde. Aber in den letzten Jahren war es viel mehr Verpflichtung als Liebe gewesen. Wenn sie ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie sehr oft nichts anderes für Walter empfinden konnte als Groll und Angst.
Und darum ging es ihr heute abend. Die Dinge mussten sich ändern. Irgendwie mussten sie ihre erste Liebe zueinander wieder entfachen.
Sandra ging ins Wohnzimmer. Im Fernseher lief die späte Talkshow. »Schatz, können wir reden?« fragte sie vorsichtig. – Es kam keine Antwort. Als sie näher trat, sah Sandra, warum. Walter war auf der Couch eingeschlafen. Sie wollte ihn zuerst wecken, aber dann erinnerte sie sich an Walters böse Worte, als sie das letzte Mal »so gefühllos« gewesen war. Sie schaltete den Fernseher und die Lichter aus und ging in das leere Schlafzimmer.
Als sie im Bett lag, konnte sich Sandra nicht entscheiden, was größer war, ihre Einsamkeit oder ihre Müdigkeit. Sie entschied sich, dass das erstere größer sein musste, griff nach ihrer Bibel, die auf dem Nachttisch lag, und schlug das Neue Testament auf. Bitte gib mir etwas, auf das ich hoffen kann, Herr. Ihr Blick fiel auf die Worte von Jesus in Matthäus 5,3-5: »Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.«
Aber Herr, ich fühle mich doch schon so! protestierte sie. Ich fühle mich geistlich arm. Ich trauere über mein Leben, meine Ehe, meine Kinder. Ich versuche doch, sanftmütig zu sein, aber ich fühle mich immer überfahren. Wo ist dein Versprechen? Wo ist deine Hoffnung? Wo bist du?
Sandra wartete im dunklen Zimmer auf eine Antwort. Es kam keine. Der einzige Laut kam von den Tränen, die auf die Seiten ihrer Bibel fielen.
Sandra versucht, ihr Leben richtig zu leben. Sie versucht, mit ihrer Ehe, ihren Kindern, ihrer Arbeit alles richtig zu machen, und ihren Beziehungen und dem Herrn gerecht zu werden. Trotzdem ist es unübersehbar, dass etwas nicht stimmt. Das Leben funktioniert nicht. Sandra leidet tiefen geistlichen und emotionalen Schmerz. Ob Frau oder Mann, wir können uns fast alle mit Sandras Dilemma identifizieren – mit ihrer Isolation, ihrer Hilflosigkeit, ihrer Verwirrung, ihren Schuldgefühlen. Und vor allem mit ihrem Gefühl, dass ihr Leben völlig außer Kontrolle geraten ist.
Schauen wir uns Sandras Umstände genau an: Teile ihres Lebens sind möglicherweise mit den unseren sehr ähnlich. Von ihren Schwierigkeiten zu lesen, wirft vielleicht das eine oder andere Licht auf eigene Grenzen im Leben. Man kann gleich ein paar der Lösungsansätze erkennen, die für Sandra nicht funktionieren.
Erstens funktioniert es nicht, indem man sich noch mehr bemüht. Sandra verwendet viel Energie darauf, ein erfolgreiches Leben zu führen, sie ist ja nicht faul. Zweitens funktioniert es nicht, aus der Angst heraus, nett zu sein. Sandras Versuche, anderen zu gefallen, bringen ihr nicht die Intimität, die sie braucht. Drittens funktioniert es nicht, indem sie die Verantwortung für andere übernimmt. Sandra ist ein Meister darin, sich um die Gefühle und Probleme anderer zu kümmern, aber sie hat das Gefühl, dass sie im eigenen Leben eine große Versagerin ist. Ihr überstrapazierter Einsatzwillen, ihr ängstliches Nettsein und ihr ständiges Verantwortungsgefühl für alles deuten schon auf das Hauptproblem hin: Es fällt Sandra ungeheuer schwer, zu ihren eigenen Bedürfnissen zu stehen und auch für ihr Leben eine entsprechende Verantwortung zu zeigen.
Im Garten Eden hatte Gott Adam und Eva von einer Inbesitznahme erzählt: »Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht« (1. Mose 1,28). Wir sind im Ebenbild Gottes geschaffen worden, um die Verantwortung für bestimmte Aufgaben zu übernehmen. Verantwortung bedeutet aber auch genauso gut, unser Leben in Besitz zu nehmen. Es ist das Wissen darum, was unsere Aufgabe ist und was nicht. Menschen, die ständig Aufgaben übernehmen, die nicht unbedingt ihre wären, brechen irgendwann zusammen. Genauso Menschen, die sich in Verhaltensschemen pressen und sich ihre Entscheidungsfreiheit in bestimmten Situationen abnehmen lassen. Es braucht Weisheit, um zu wissen, was wir tun sollen und was nicht. Wir können nicht alles selber bewältigen wollen. Es ist dies ein Wissen darum, wer wir in Gottes Augen sind und wer nicht.
Sandra hat große Schwierigkeiten damit zu erkennen, was zu einer gesunden Verantwortung gehört und was nicht. In ihrem Bemühen, das Richtige zu tun oder Konflikten aus dem Wege zu gehen, übernimmt sie Probleme, die Gott niemals für sie vorgesehen hat: die chronische Einsamkeit ihrer Mutter, die Verantwortungslosigkeit ihres Chefs, die nie endenden Krisen ihrer Freundin, die subtil verdammende Botschaft der Gemeindemitarbeiterin über Opfer-bereitschaft und die relative Unreife ihres Mannes.
Und ihre Probleme enden noch nicht einmal damit. Sandras Unfähigkeit, Nein zu sagen, hat Auswirkungen auf die Fähigkeit ihres Sohnes, auf die Erfüllung eines Wunsches auch einmal zu warten oder sich in der Schule zu benehmen – und auf irgendeine Weise verursacht diese Unfähigkeit scheinbar auch den Rückzug ihrer Tochter in sich selbst.
Man kann daher ganz allgemein sagen: Jede Verwirrung, die entsteht, wenn es in unserem Leben um Verantwortung geht, ist ein Problem mit Grenzen. Ja, allein die Verwirrung, wie weit meine Verantwortung geht und ob ich Herr meiner Entscheidungen bin, weist schon auf solche Grenzen hin. Genauso wie Hauseigentümer echte Besitzmarkierungen um ihr Grundstück aufstellen, müssen wir gedankliche, körperliche, emotionale und geistliche Grenzen für unser Leben setzen, die uns helfen zu erkennen, wo unsere Verantwortung liegt und wo nicht. Wir sehen in Sandras Beispiel, dass sich eine solche Unfähigkeit sehr destruktiv auswirken kann, wenn man zum richtigen Zeitpunkt bei bestimmten Menschen nicht angemessen Grenzen zieht.
Und das ist auch eines der ernsthaftesten Probleme, mit denen Christen heute zu tun haben. Viele ernsthafte, engagierte Christen haben sehr damit zu kämpfen, wann es biblisch korrekt ist, Nein zu sagen. Konfrontiert man sie mit ihrem Mangel an Grenzen, stellen sie folgende Fragen:
1. Wie kann ich Grenzen setzen und trotzdem eine liebende Person bleiben?
2. Welches sind »legitime« Grenzen?
3. Was passiert, wenn jemand durch von mir erhobene Grenzen getroffen wird oder ungehalten darauf reagiert?
4. Was sage ich jemandem, der etwas von meiner Zeit, meiner Zuwendung, meiner Kraft oder von meinem Geld beanspruchen möchte?
5. Warum habe ich Angst oder Schuldgefühle, wenn ich mir vornehme, Grenzen zu setzen?
6. Wie stehen Grenzen und Unterordnung in Einklang?
7. Sind Grenzen nicht egoistisch?
Hinzu kommt auch der Umstand, dass vielfach unzureichende Informationen über die biblischen Aussagen zu falschen Lehren und Verhaltensweisen über den Umgang mit Grenzen führt. Und das ist nicht alles. Viele klinisch-psychologische Symptome wie Depression, Angstzustände, Essstörungen, Süchte und schlechte Gewohnheiten, Störungen im Gefühlsleben, Schuld- und Missbrauchsprobleme, Ehe- und Beziehungsschwierigkeiten haben ihre Wurzel in Konflikten mit Grenzen.
Dieses Buch soll eine biblische Sichtweise in Bezug auf Grenzen aufzeigen: was sie sind, was sie beschützen, wie sie entwickelt werden, wie sie verletzt werden und wie man sie einsetzt. Hier sollen die eben aufgeworfenen Fragen und noch viele mehr beantwortet werden. Es ist unser Ziel, Ihnen zu helfen, Grenzen biblisch begründet einzusetzen, um Gottes Plan für Ihre Beziehungen und Aufgaben gerecht zu werden. Sandras Kenntnisse der Bibel scheinen ihren Mangel an Grenzen noch unterstützt zu haben. Wir wollen Ihnen helfen, das Gute von Grenzen und ihre Möglichkeiten herauszufinden, dann nämlich, wenn sie auf dem basieren, was die Bibel an Information dazu gibt.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Die Eltern eines fünfundzwanzigjährigen Mannes kamen mit einem Wunsch zu mir: Sie wollten, dass ich ihren Sohn Bill »in Ordnung bringe«. Als ich fragte, wo Bill denn sei, antworteten sie: »Oh, er wollte nicht kommen.«
»Warum?« fragte ich.
»Er ist nicht der Meinung, dass er ein Problem hat«, antworteten sie.
»Vielleicht hat er recht«, überraschte ich sie mit meiner Antwort. »Erzählen Sie mir mehr.«
Sie zählten eine Serie von Ereignissen auf, die in sehr frühem Alter begonnen hatten. Bill hatte niemals ganz ihren Erwartungen entsprochen. In den letzten Jahren hatte er Probleme mit Drogen gehabt, konnte keine Ausbildung beenden und keinen Beruf finden.
Es war klar, dass sie ihren Sohn sehr liebten und traurig über seinen Lebensstil waren. Sie hatten alles versucht, was ihnen einfiel, um ihm zu einem verantwortlichen Leben zu helfen, aber nichts hatte etwas genutzt. Er nahm immer noch Drogen, ging jeglicher Verantwortung aus dem Weg und verbrachte seine Zeit in fragwürdiger Gesellschaft. Sie sagten mir, dass sie ihm immer alles gegeben hatten, was er brauchte. Er hatte für die Schule genug Geld, damit er nicht nebenbei arbeiten musste, sondern genug Zeit für das Lernen hatte, und mit anderen Studenten zusammen sein konnte. Wenn er von einer Schule abgehen musste oder sie nicht mehr besuchen wollte, taten sie alles, um ihm die Aufnahme in einer anderen Schule zu ermöglichen, wo die Dinge möglicherweise leichter für ihn wären.
Nachdem sie eine Weile berichtet hatten, erwiderte ich: »Ich glaube, Ihr Sohn hat recht. Er hat kein Problem.«
Ihr Gesichtsausdruck war voller Erstaunen; sie starrten mich eine ganze Minute ungläubig an. Schließlich sagte der Vater: »Habe ich Sie richtig verstanden, Sie glauben nicht, dass er ein Problem hat?«
»Das ist richtig«, sagte ich, »er hat kein Problem. Sie haben eins. Er kann so ziemlich alles machen, was ihm gefällt, völlig problemlos. Sie zahlen, Sie machen sich Sorgen, Sie machen Pläne, Sie sorgen dafür, dass das Leben für ihn irgendwie immer weitergeht. Diese Dinge sollten sein Problem sein, aber Sie haben alle zu Ihren Problemen gemacht. Soll ich Ihnen helfen, ihm ein paar von Ihren Problemen zu vermachen?«
Sie schauten mich an, als ob ich nicht ganz bei Trost wäre, aber es schien ihnen doch schon etwas klarer zu werden. »Was meinen Sie mit: ›ihm zu ein paar von unseren Problemen zu verhelfen‹?« fragte die Mutter.
Ich erklärte: »Ich glaube, dass es in Ihrem Fall die Lösung sein könnte, Grenzen zu setzen, damit die Handlungen Ihres Sohnes ihm Probleme verursachen, und nicht Ihnen.«
»Was meinen Sie mit Grenzen?« hakte der Vater nach.
»Lassen Sie es uns so betrachten. Es ist so, als ob er Ihr Nachbar wäre, der seinen Rasen nie sprengt. Aber jedesmal, wenn Sie Ihren Rasensprenger anmachen, fällt das Wasser auf seinen Rasen. Ihr Gras wird braun und stirbt ab, aber Bill schaut sich seinen grünen Rasen an und denkt: »Meinem Rasen geht es doch gut. So ist das Leben Ihres Sohnes. Er studiert nicht, er plant nicht, er arbeitet nicht, trotzdem hat er eine nette Wohnung, etwas Geld, und alle Rechte eines Familienmitglieds, als ob er seinen Teil voll beiträgt. Wenn Sie die Grundstücksmarkierungen etwas besser definieren, wenn Sie Ihren Sprenger ausrichten, sodass das Wasser nur auf Ihren Rasen fällt, dann müßte Ihr Nachbar seinen eigenen Rasen sprengen, wenn er nicht vertrocknen soll. Das würde ihm nach einer Weile wahrscheinlich nicht gefallen. So wie die Dinge jetzt stehen, ist er unverantwortlich und glücklich, und Sie sind verantwortlich und unglücklich. Ein wenig die Grenzen definieren würde helfen. Sie brauchen ein paar Zäune, um seine Probleme aus Ihrem Garten herauszuhalten, und in seinem, wo sie hingehören, drinzuhalten.«
»Ist das nicht ein bisschen gemein, einfach so mit dem Helfen aufzuhören?« fragte der Vater.
»Hat Ihre Hilfe ihm geholfen?« erwiderte ich.
Sein Blick sagte, dass er anfing zu verstehen.
In der sichtbaren, natürlichen Welt sind Grenzen leicht zu erkennen: Zäune, Schilder, Mauern, Gräben, gepflegte Rasenflächen oder Hecken – das sind alles fassbare Grenzen. Obwohl sie verschieden aussehen, vermitteln sie dieselbe Botschaft: HIER FÄNGT MEIN BESITZ AN. Der Besitzer ist rechtlich dafür verantwortlich, was auf seinem Besitz passiert. Nichteigentümer sind nicht für diesen Besitz verantwortlich.
Fassbare Grenzen markieren einen realen Besitz, für den man eine Besitzurkunde hält. Man kann zum Grundbuchamt gehen und herausfinden, wo genau die Grenzen des Grundstücks liegen, und wen man anrufen muss, wenn man dort etwas vorhat.
In der geistlichen Welt sind Grenzen genauso real, jedoch erkennen wir sie auch nur, wenn wir uns eines anderen Blickwinkels bedienen. Das Ziel dieses Kapitels ist es, uns zu helfen, unsere inneren Grenzen zu definieren und sie als eine immer gegenwärtige Realität zu erkennen, die unsere Liebe wachsen lässt und unser Leben retten kann. Diese Grenzfaktoren bestimmen in der Tat auch unser seelisches Wohlbefinden, und sie helfen, es zu schützen und zu erhalten (Spr 4,23).
Grenzen definieren uns. Sie definieren, was ich bin und was ich nicht bin. Eine Grenze zeigt mir, wo ich aufhöre und ein anderer Mensch anfängt, und gibt mir eine Vorstellung vom Eigentum meines Lebens und damit verbundener Ansprüche.
Das Wissen darum, dass ich für mich einstehen und verantwortlich sein soll, gibt mir Freiheit. Wenn ich weiß, wo mein Garten anfängt und endet, kann ich damit tun, was mir sinnvoll erscheint. Die Verantwortung für mein Leben eröffnet mir viele Möglichkeiten. Stehe ich jedoch für mein eigenes Leben nicht ein, nehme ich es nicht in Besitz, werden meine Entscheidungsmöglichkeiten und meine Optionen sehr eingegrenzt. Wie verwirrend wäre es, wenn jemand Ihnen auftragen würde, »diesen Besitz gut zu schützen, denn man wird Sie dafür haftbar machen, wenn hier etwas passiert«, Ihnen aber nicht erklärte, wo die Grenzen des Besitzes liegen. Oder Ihnen nicht die nötigen Mittel gibt, mit denen Sie den Besitz schützen können. Das wäre nicht nur verwirrend, sondern fahrlässig.
Das ist es aber, was uns gefühlsmäßig und geistlich passiert. Gott hat die Welt so eingerichtet, dass wir alle »in« uns selber wohnen, das heißt, wir leben in unserer eigenen Seele, und wir sind verantwortlich für das, was uns ausmacht. »Das Herz kennt seine eigene Bitterkeit, und niemand teilt seine Freude« (Spr 14,10). Wir selber müssen mit dem umgehen, was in unserer Seele ist, und Grenzen helfen uns zu definieren, was das ist. Werden uns die äußeren Grenzen nicht gezeigt oder werden uns falsche gelehrt, verursachen wir uns viel Schmerz. Die Bibel sagt uns klar, welches die Faktoren für eine ausgewogene Identität sind und wie wir diese geistlich aufbauen können. Oft aber werden wir von unserer Familie oder unseren Beziehungen aus unserer Vergangenheit irregeführt. Das Wissen um Grenzen hilft, einen gesunden Anspruch an sich und andere zu entwickeln.
Die Verantwortung für unser Leben ist immer eine Wechselbeziehung auch zu den anderen Menschen um uns herum: »Tragt einer des anderen Last« sagt Galater 6,2, »und erfüllt so das Gesetz Christi«. Es ist so, dass viele Menschen nicht wenige »Lasten« haben, die für sie zu schwer zu tragen sind. Sie haben nicht genug Kraft oder Wissen, diese Last alleine zu bewältigen, und brauchen Hilfe. Sich selbst zurückzustellen, um für andere zu tun, was sie nicht für sich selber tun können, das ist es, was es heißt, die opferbereite Liebe Christi zu zeigen. Das ist es, was Jesus Christus für uns tat. Er tat, was wir nicht für uns selber tun konnten – er rettete uns. Darum geht es, einem Menschen gegenüber Verantwortung zu haben.
Andererseits sagt uns Galater 6,5, dass »ein jeder seine eigene Last tragen soll«. Jeder hat Verantwortung für seine eigene Befindlichkeit. Das ist »unsere« Last, für die wir tägliche Verantwortung übernehmen und die wir verarbeiten müssen. Bestimmte Dinge kann kein anderer für uns tun. Wir müssen für einzelne Aspekte unseres Lebens die »Eignerschaft« übernehmen.
Man könnte zwischen Bürde und Last unterscheiden. Bürde bedeutet »drückende Last«; es sind Lasten, die so schwer sind, dass sie uns niederdrücken. Man könnte auch sagen, diese Bürden sind wie Felsbrocken. Niemand erwartet von uns, dass wir einen Felsbrocken alleine tragen! Es würde uns das Rückgrat brechen. Bei den Felsbrocken – mit den Krisen und Tragödien unseres Lebens – brauchen wir Hilfe.
Last beschreibt das »Gewicht« oder »die Schwere der Tagesarbeit«. Dieses Wort beschreibt die alltäglichen Dinge, die wir alle tun sollten. Solche Lasten sind wie Rucksäcke. Einen Rucksack kann man tragen. Es wird von uns erwartet, unseren eigenen zu tragen; dass wir mit unseren Gefühlen, Einstellungen und Handlungen sowie der Verantwortung, die Gott jedem von uns gegeben hat, umgehen, obwohl auch das Mühe kostet.
Probleme entstehen dann, wenn Menschen so tun, als wären ihre »Felsbrocken« tägliche Lasten – und schlagen deshalb jegliche Hilfe ab – oder so tun, als wäre ihr »Rucksack« ein Felsbrocken, den sie nicht zu tragen haben. Sie wollen auch nicht für andere da sein, denn sie haben ja an ihren Felsbrockenlasten bereits soviel zu tragen. Eine solche Haltung führt jedoch zu ständigem Leid und geht auf Kosten anderer.
Um darin nicht zu verharren oder sich zu manifestieren, ist es sehr wichtig festzustellen, wer ich bin, wo Verantwortung beginnt, und wo die des anderen anfängt. Wir werden später in diesem Kapitel klären, wofür wir im Einzelnen verantwortlich sind. Vorerst wollen wir uns näher mit der Natur von Grenzen befassen.
Grenzen helfen uns, unseren (Lebens-)Besitz zu erkennen, sodass wir dafür sorgen können. Sie helfen uns, »unsere Herzen zu bewahren«. Wir müssen die Dinge, die uns »nähren«, innerhalb dieser unserer Grenzen bewahren – und Dinge, die uns schaden, ausgrenzen. Kurzgesagt: Mit Grenzen kommt das Gute rein und das Schlechte raus. Sie schützen unsere Schätze (Mt 7,6), damit andere sie nicht stehlen; sie schützen die »Perlen vor den Schweinen«.
Manchmal haben wir eher schlechte Inhalte innerhalb dieser Grenzen, und das Gute bleibt außerhalb. In solchen Fällen müssen wir die Grenzen öffnen können, um das Gute hereinzulassen und das Schlechte zu entfernen. Mit anderen Worten, unsere Grenzen brauchen Tore. Wenn ich zum Beispiel entdecke, dass Leid oder Sünden innerhalb meiner Grenzen wirksam sind, ist es erforderlich, mich zu öffnen und mit Gott und auch anderen zu sprechen, damit ich geheilt werden kann. Sünde und Leid zu bekennen hilft sie »herauszulassen«, sodass sie mich nicht länger von innen her vergiften (1 Joh 1,9; Jak 5,16; Mk 7,21-23).
Und wenn sich das Gute gerade außerhalb meiner Grenzen befindet, muss ich »meine Tore öffnen«, um es hereinzulassen. Das ist es, was Jesus meint, wenn er davon spricht, ihn und seine Wahrheit »aufzunehmen« (Offb 3,20; Joh 1,12). Auch andere Menschen haben uns Gutes zu geben, und wir sollten uns ihnen dann öffnen (2 Kor 6,11-13). Wir verschließen oft unsere Grenzen vor dem Guten von anderen und bleiben dadurch in einem Zustand des Mangels.
Grenzen sind also nicht wie unüberwindliche Mauern. Die Bibel spricht nicht davon, dass wir uns vor anderen vermauern sollen; sie sagt vielmehr, dass wir »eins« sein sollen (Joh 17,11). Wir sollen mit anderen Menschen Gemeinschaft haben. Aber in jeder Gemeinschaft hat jeder seinen eigenen Platz und »Besitz«. Wichtig ist, dass die Besitzmarkierungen durchlässig genug sind, Austausch zu erlauben, aber stark genug, um Gefahr abzuwenden.
Es geschieht oft, dass Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, die Funktion von Grenzen verwechseln – das Schlechte drinnen und das Gute draußen halten. So wurde eine Frau in ihrer Kindheit von ihrem Vater missbraucht. Niemand ermutigte sie, gesunde Grenzen zu entwickeln. Infolgedessen verschloss sie sich und verinnerlichte den Schmerz darüber. Sie öffnete sich nicht, um sich durch Hilfe von außen heilen zu lassen. Zusätzlich erlaubte sie anderen ständig, noch mehr Leid auf ihre Seele abzuladen. Dies bewirkte, dass sie, als sie um Hilfe nachsuchte, sehr viel Leid mit sich herumtrug, immer noch misshandelt wurde und gegenüber Hilfe von außen »vermauert« war. Sie musste die Funktion ihrer Grenzen verändern. Sie brauchte Zäune, die stark genug waren, um Schlechtes abzuhalten, und Tore in den Zäunen, um das Schlechte, das sich schon in ihrer Seele befand, herauszulassen und das verzweifelt benötigte Gute hineinzulassen.
Die Vorstellung von Grenzen entspringt der Natur Gottes. Von Gott erkennen wir, dass er ein spezifisches, eigenständiges Wesen ist. Er definiert und übernimmt die Verantwortung für sein eigenes Wesen, indem er uns von dem sagt, was er denkt, fühlt, plant, zulässt, nicht zulässt, mag und nicht mag. Er definiert sich auch als unabhängig von seiner Schöpfung – beziehungsweise von uns. Er sagt uns, wer er ist und wer nicht, so zum Beispiel, dass er Liebe und nicht Finsternis ist (1 Joh 4,16; 1,6). Zusätzlich dazu gibt es eine Unterscheidung innerhalb der Dreieinigkeit. Der Vater, der Sohn und der Geist sind eins, und doch sind sie gleichzeitig eigenständige Personen, und jede hat Liebe zueinander (Joh 17,24).
Gott setzt auch Grenzen bei dem, was er in seinem Garten zulässt. Er konfrontiert uns mit unserer Sünde und gibt Konsequenzen für alles Tun vor. Er schützt sein Haus und erlaubt nicht, dass dort Böses geschieht. Er lädt Menschen ein, die ihn lieben, und lässt gleichzeitig seine Liebe zu ihnen hinausströmen. Die »Tore« seiner Grenzen öffnen und schließen sich auf die richtige Art und Weise. Genauso, wie er uns in »seinem Abbild« gemacht hat (1. Mose 1,26), gab er uns bestimmte persönliche Verantwortlichkeiten. Er will, dass wir uns die Welt untertan machen und verantwortungsvolle Verwalter unseres von ihm geschenkten Lebens sind. Um dies zu tun, müssen wir Grenzen entwickeln, die Gottes Grenzen gleichen.
Alles ist eine Grenze, was uns hilft, uns von jemanden anders zu unterscheiden, oder uns zeigt, wo unsere Person anfängt und aufhört. Hier ein paar Beispiele.
Die erste Grenze, die um einen Menschen gebildet ist, besteht aus der Haut. Menschen benutzen diese oft als Sinnbild, um zu beschreiben, dass ihre persönlichen Grenzen verletzt worden sind: »Er geht mir unter die Haut«. Mit unserem Körper lernen wir als Erstes, dass wir uns von anderen unterscheiden. Als Baby lernen wir langsam, dass wir anders sind als die Mutter oder der Vater, die mit uns schmusen.
Schon diese Haut-Grenze ist dazu da, das Gute drinnen und das Schlechte draußen zu halten. Sie schützt das Blut und die Knochen und hält alles zusammen. Sie wehrt Bakterien ab und schützt uns vor Infektionen. Gleichzeitig hat die Haut Öffnungen, die das »Gute« hineinlassen, etwa Essen, und das Schlechte hinauslassen, wie Ausscheidungen.
Die Opfer von körperlicher und sexueller Misshandlung haben oft eine schwache Vorstellung von Grenzen. Ihnen wurde schon früh