Warum noch ein weiteres Buch über Waterloo? Das ist eine gute Frage. Es herrscht wahrlich kein Mangel an Darstellungen der Schlacht, in der Tat ist es eine der am besten erforschten und beschriebenen Schlachten der Weltgeschichte. Am Abend jenes grauenvollen Tages im Juni 1815 wusste jeder Überlebende der Schlacht, dass er etwas Einzigartiges durchgestanden hatte, und die Folge davon waren Hunderte Biographien und Briefe, die diese Erfahrung beschrieben. Und doch hatte der Duke of Wellington sicher recht, als er sagte, man könne «ebenso wenig die Geschichte eines Balls», also eines Tanzvergnügens, schreiben wie die Geschichte einer Schlacht. Jeder Teilnehmer eines Balls behält eine andere Erinnerung an das Ereignis im Gedächtnis, manch glückliche, manch traurige; und wie könnte irgendjemand in diesem Wirbel von Musik und Ballkleidern und Flirts hoffen, einen zusammenhängenden Bericht davon geben zu können, was, wann und wem geschehen ist? Waterloo allerdings war das entscheidende Ereignis zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und seither haben Männer und Frauen versucht, ebendiesen zusammenhängenden Bericht zu liefern.
Über Folgendes herrscht Einigkeit: Napoleon greift Wellingtons rechte Flanke an, um die Reserven des Duke auf diesen Bereich des Schlachtfeldes zu locken, und startet dann einen massiven Angriff auf die linke Flanke des Duke. Der Angriff scheitert. Akt zwei ist der große Kavallerieangriff auf die rechte Mitte des Duke, und Akt drei, als die Preußen von links ins Geschehen eingreifen, ist der verzweifelte letzte Sturm der unbesiegten Garde impériale. Erweitert werden kann die Schilderung mit den Nebenschauplätzen des Angriffs auf Hougoumont und des Falls von La Haie Sainte. Als Rahmenhandlung hat diese Darstellung einiges für sich, doch die Schlacht war wesentlich komplexer, als es diese einfache Geschichte nahelegt. Den Männern, die dabei waren, erschien sie nicht einfach oder erklärbar, und einer der Gründe, dieses Buch zu schreiben, war der Versuch, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es war, an diesem verworrenen Tag auf diesem Schlachtfeld zu sein.
Die Überlebenden dieses Durcheinanders wären sicher von der Einschätzung irritiert, Waterloo sei nicht so wichtig gewesen und Napoleon hätte – wenn er gewonnen hätte – immer noch übermächtige Gegner und die endgültige Niederlage vor sich gehabt. Das stimmt wahrscheinlich, aber sicher ist es nicht. Wenn der Kaiser auf die Kuppe von Mont-Saint-Jean vorgestoßen wäre und Wellington in einen überstürzten Rückzug getrieben hätte, dann hätte er es immer noch mit den gewaltigen Armeen von Österreich und Russland zu tun gehabt, die auf Frankreich zumarschierten. Doch das geschah nicht. Napoleon wurde bei Waterloo gestoppt, und das verleiht der Schlacht ihre Bedeutung. Sie ist ein Wendepunkt der Geschichte, und zu sagen, die Geschichte hätte ohnehin an einem Wendepunkt gestanden, nimmt dem Moment, in dem die Wende geschah, nichts von seiner Tragweite. Manche Schlachten ändern nichts. Waterloo aber änderte fast alles.
Militärgeschichte kann verwirrend sein. Römische Zahlen (IV. Korps) treffen auf arabische Zahlen (3rd Division), und solche Bezeichnungen können Menschen ohne militärische Vorkenntnisse leicht durcheinanderbringen. Ich habe mich bemüht, zu viel Unübersichtlichkeit zu vermeiden, womöglich aber noch dazu beigetragen, indem ich die Worte «Bataillon» und «Regiment» synonym verwendet habe, obwohl sie schlicht nicht dasselbe bezeichnen. Das Regiment war eine Verwaltungseinheit in der britischen Armee. Einige Regimenter bestanden aus einem einzigen Bataillon, die meisten hatten zwei Bataillone, und ein paar hatten drei oder sogar noch mehr. Es kam äußerst selten vor, dass zwei britische Bataillone desselben Regiments Seite an Seite in einem Feldzug kämpften, und bei Waterloo bildeten nur zwei Regimenter diese Ausnahme. Das 1st Regiment of Foot Guards hatte sein 2nd und 3rd Battalion in der Schlacht, und die 95th Rifles waren mit drei Bataillonen dabei. Sämtliche weiteren Bataillone waren die einzigen Vertreter ihrer Regimenter; wenn ich mich also auf das 52nd Regiment beziehe, meine ich das 1st Battalion dieses Regiments. Gelegentlich benutze ich der Deutlichkeit halber den Begriff Gardist, obwohl die Privates der British Guards im Jahr 1815 immer noch als «Private» bezeichnet wurden.
Alle drei Armeen bei Waterloo waren in Korps unterteilt, und sowohl die britisch-niederländische als auch die preußische Armee besaßen drei Korps. Die französische Armee bestand aus vier Korps, weil die Garde impériale, auch wenn sie nicht als Korps bezeichnet wurde, im Grunde eines war. Ein Korps konnte jede Größe von 10000 bis 30000 Mann oder mehr haben und war als unabhängige Kraft gedacht, die imstande sein sollte, Kavallerie, Infanterie und Artillerie aufzubieten. Ein Korps war wiederum in Divisionen unterteilt, so war das französische 1. Armeekorps in vier Infanteriedivisionen unterteilt, jede zwischen 4000 und 5000 Mann stark, sowie eine Kavalleriedivision mit etwas über 1000 Mann. Jede Division besaß zur Unterstützung ihre eigene Artillerie. Eine Division konnte weiter in Brigaden aufgeteilt sein, so bestand die 2. Infanteriedivision des 1. Armeekorps aus zwei Brigaden, eine davon umfasste sieben Bataillone, die andere sechs. Bataillone wiederum waren in Kompanien unterteilt; ein französisches Bataillon hatte acht Kompanien, ein britisches hatte zehn. Der in diesem Buch am häufigsten verwendete Begriff ist Bataillon (manchmal Regiment genannt). Das größte britische Infanteriebataillon bei Waterloo bestand aus über 1000 Mann, im Durchschnitt aber gehörten zu einem Bataillon in allen drei Armeen etwa 500 Mann. Kurz gesagt war die Hierarchie wie folgt: Armee, Korps, Division, Brigade, Bataillon, Kompanie.
Manche Leser könnten sich an der Bezeichnung «englische Armee» stören, wenn offenkundig von der britischen Armee die Rede ist. Ich habe den Begriff «englische Armee» nur benutzt, wenn er in den Originalquellen aufgetaucht ist, weil ich anglais nicht mit britisch übersetzen wollte. Es gab keine «englische Armee», aber im frühen neunzehnten Jahrhundert war es eine gebräuchliche Bezeichnung.
Die Schlachten vom 16. und 18. Juni 1815 liefern den Stoff für eine überwältigende Erzählung. Die Geschichte schenkt den Autoren historischer Romane selten eine stimmige Handlung mit großartigen Charakteren, die innerhalb eines abgesteckten Zeitrahmens agieren, deshalb sind wir gezwungen, die Geschichte zu manipulieren, damit unsere eigenen Romanhandlungen funktionieren. Doch als ich Sharpes Waterloo geschrieben habe, ist mein eigener Plot beinahe vollständig hinter der großartigen Geschichte der tatsächlichen Schlacht verschwunden. Denn es ist eine großartige Geschichte, nicht nur wegen der Kombattanten, sondern auch in ihrem Verlauf. Sie ist ein Cliffhanger. Ganz gleich, wie oft ich Berichte von diesem Tag lese, der Ausgang ist immer noch spannungsgeladen. Die ungeschlagene Garde impériale rückt auf den Hügelkamm vor, auf dem Wellingtons angeschlagene Einheiten kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Weiter östlich schlagen die Preußen ihre Klauen in Napoleons rechte Flanke, doch wenn die Garde Wellingtons Männer ausschalten kann, hat Napoleon immer noch Zeit, gegen Blüchers anrückende Truppen umzuschwenken. Es ist beinahe der längste Tag des Jahres, noch zwei Stunden ist es hell und damit Zeit genug, um eine oder sogar zwei Armeen zu schlagen. Wir mögen wissen, wie es ausgeht, aber wie alle guten Geschichten verträgt auch diese eine Wiederholung.
Also kommt sie hier noch einmal, die Geschichte einer Schlacht.
Im Sommer 1814 war Seine Gnaden der Duke of Wellington auf dem Weg von London nach Paris, um sein Amt als britischer Botschafter bei der neuen Regierung von Louis XVIII anzutreten. Man hätte erwarten können, dass er die kurze Strecke von Dover nach Calais nehmen würde, doch stattdessen fuhr er auf einer Brigg der Königlichen Marine, der HMS Griffon, über die Nordsee nach Bergen op Zoom. Er besuchte das neu geschaffene Königreich der Niederlande, eine sperrige Erfindung, halb französisch und halb holländisch, halb katholisch und halb protestantisch, das nördlich von Frankreich lag. Britische Truppen waren in den neuen Staat entsandt worden, um seinen Bestand zu garantieren, und der Duke war gebeten worden, die Verteidigungsanlagen entlang der französischen Grenze zu inspizieren. Begleitet wurde er vom «Schlanken Billy», auch bekannt als «Junger Frosch», dem zweiundzwanzigjährigen Prinz Wilhelm, Kronprinz des neuen Königreiches, der, weil er während des Spanischen Unabhängigkeitskrieges auf der Iberischen Halbinsel im Stab des Duke gedient hatte, glaubte, Talent als Militär zu besitzen. Der Duke bereiste zwei Wochen lang das Grenzland und empfahl die Instandsetzung der Festungsbauten einer Handvoll Städte, doch es ist kaum anzunehmen, dass er die Möglichkeit eines neuerlichen Krieges mit Frankreich allzu ernst nahm.
Napoleon war schließlich besiegt und ins Exil auf die Mittelmeerinsel Elba geschickt worden. Frankreich war wieder eine Monarchie. Die Kriegshandlungen waren beendet, und in Wien schmiedeten die Diplomaten den Vertrag, der die europäischen Grenzen neu festlegen würde, um zu gewährleisten, dass kein weiterer Krieg den Kontinent verwüstete.
Und Europa war verwüstet worden. Napoleons Abdankung hatte einundzwanzig Jahre währende Kriegshandlungen beendet, die in Folge der Französischen Revolution eingesetzt hatten. Die alten Regierungen Europas, die Monarchien, waren entsetzt von den Geschehnissen in Frankreich und bestürzt über die Hinrichtung Louis’ XVI und seiner Königin Marie Antoinette. Aus Furcht davor, dass sich die Ideen der Revolution in Europa verbreiten würden, waren sie in den Krieg gezogen.
Sie hatten einen schnellen Sieg über die zerlumpte Armee des revolutionären Frankreichs erwartet, doch stattdessen entflammten sie einen Weltkrieg, in dessen Verlauf sowohl Washington als auch Moskau brannten. Sie hatten in Indien, Palästina, auf den Westindischen Inseln, in Ägypten und Südamerika gekämpft, doch Europa hatte am schwersten gelitten. Frankreich hatte den ersten Ansturm überstanden, und aus den Wirren der Revolution erhob sich ein Genie, ein Kriegsfürst, ein Kaiser. Napoleons Armeen hatten die Preußen geschlagen, die Österreicher und die Russen, sie waren vom Baltikum bis zur Südküste Spaniens gezogen, und die willensschwachen Brüder des Kaisers waren in halb Europa auf den Thron gesetzt worden. Millionen Menschen waren umgekommen, doch nach zwei Jahrzehnten war alles vorbei. Der Kriegsfürst war in Gefangenschaft.
Napoleon hatte Europa beherrscht, doch es gab einen Feind, dem er niemals begegnet war und den er niemals besiegt hatte, und das war der Duke of Wellington, dessen militärisches Ansehen nur noch von dem Napoleons übertroffen wurde. Wellington war als Arthur Wesley geboren worden, er war der vierte Sohn des Earl und der Countess of Mornington. Die Wesley-Sippe gehörte zur angloirischen Aristokratie, und Arthur verbrachte den größten Teil seiner Jugend in seinem Geburtsland Irland, den größten Teil seiner Erziehung allerdings erhielt er am Eton College, wo er sich nicht wohlfühlte. Seine Mutter Anne verzweifelte beinahe an ihm. «Ich weiß nicht, was ich mit meinem linkischen Sohn Arthur machen soll», beschwerte sie sich, doch die Lösung war, wie bei so vielen jüngeren Söhnen aus Adelsfamilien, für ein Offizierspatent bei der Armee zu sorgen. Und so begann eine außergewöhnliche Karriere, als der linkische Arthur sein Talent für das Kriegshandwerk entdeckte. Die Armee erkannte dieses Talent und belohnte es. Zuerst befehligte er einen Kampfverband in Indien, wo er eine ganze Reihe erstaunlicher Siege errang, dann wurde er nach Britannien zurückbeordert und mit dem Kommando über die kleine Expeditionsarmee betraut, die versuchen sollte, Frankreich an der Besetzung Portugals zu hindern. Diese kleine Armee wurde zu dem schlagkräftigen Kampfverband, der Portugal und Spanien befreite und in Südfrankreich einmarschierte. Eine Schlacht nach der anderen wurde gewonnen. Aus Arthur Wellesley (die Familie hatte den Nachnamen Wesley abgeändert) war der Duke of Wellington und zugleich einer der beiden anerkanntermaßen bedeutendsten Soldaten seines Zeitalters geworden. Alexander I., der russische Zar, nannte ihn «Le vainqueur du vainqueur du monde», den Bezwinger des Weltbezwingers, und der Weltbezwinger war selbstredend Napoleon. Und in einundzwanzig Jahren Krieg hatten der Duke und Napoleon nie gegeneinander gekämpft.
Der Duke wurde ständig mit Napoleon verglichen, doch als er im Jahr 1814 gefragt wurde, ob er es bedaure, dem Kaiser niemals in der Schlacht gegenübergestanden zu haben, gab er zurück: «Nein, und ich bin sogar sehr froh darüber.» Er verachtete den Menschen Napoleon, bewunderte jedoch den Soldaten Napoleon, und er glaubte, die Anwesenheit des Kaisers auf dem Schlachtfeld sei 40000 Mann wert. Und der Duke of Wellington hatte, anders als Napoleon, noch niemals eine Schlacht verloren, aber gegen den Kaiser kämpfen zu müssen, konnte ihm sehr wohl diese außergewöhnliche Bilanz vermiesen.
Doch im Sommer 1814 konnte man es dem Duke nachsehen, dass er dachte, die Zeit des Kämpfens sei für ihn vorüber. Er wusste, wie gut er das Kriegshandwerk beherrschte, aber im Gegensatz zu Napoleon hatte er nie Vergnügen an der Schlacht gefunden. Der Krieg war für ihn eine bedauerliche Notwendigkeit. Wenn schon gekämpft werden musste, dann effizient und gut, aber das Ziel war der Friede. Er war inzwischen Diplomat, kein General mehr, aber alte Gewohnheiten wird man schwer los, und als er mit seinem Gefolge durch das Königreich der Niederlande reiste, sah der Duke viele Stellen, die, wie er notierte, «gute Standorte für eine Armee» wären. Einer dieser guten Standorte war ein Tal, das in den Augen der meisten Leute nicht mehr war als ein unauffälliger Streifen Ackerland. Wellington hatte immer ein scharfes Auge für Geländeformationen gehabt, konnte einschätzen, wie Hänge und Täler, Flüsse und Waldgebiete einen Befehlshaber beim Truppenkommando unterstützen oder behindern würden, und etwas an diesem Tal südlich von Brüssel erregte seine Aufmerksamkeit.
Es war ein weites Tal mit mäßig ausgeprägten Hängen. Ein kleines Gasthaus namens La Belle Alliance, «das schöne Bündnis», stand auf dem Kamm des südlichen Hangs, der auf beinahe der gesamten Länge höher war als der Kamm auf der Nordseite, der sich bis etwa 30 Meter über die Talsohle hob, also rund hundert Fuß, wobei der Abhang jedoch nirgends steil anstieg. Die beiden Höhenlinien der Hänge verliefen nicht ganz parallel. An manchen Stellen rückten sie recht dicht aneinander, doch wo die Straße nordwärts von Kamm zu Kamm führte, betrug die Entfernung zwischen den beiden Höhenlinien 1000 Meter. Es waren 1000 Meter gutes Ackerland, und als der Duke das Tal im Sommer 1814 sah, hatte er wohl hochgewachsene Roggenfelder beidseits der Straße vor sich, die intensiv von den Fuhrwerken genutzt wurde, die Kohle aus den Minen um Charleroi zu den Kaminen von Brüssel transportierten.
Der Duke sah noch viel mehr als das. Die Straße war eine der Hauptverbindungen von Frankreich nach Brüssel, wenn also ein Krieg ausbrechen sollte, wäre dies eine mögliche Invasionsroute. Eine französische Armee, die auf der Straße nordwärts zog, würde bei dem Gasthaus über den südlichen Hang kommen und das weite Tal vor sich haben. Und die Männer würden den Höhenzug des nördlichen Talhanges sehen. Höhenzug ist allerdings wirklich ein zu starkes Wort; sie würden die gerade Straße sehen, die zum Talgrund hin sanft abfiel, um dann, ebenso sanft, durch langgestreckte, wogende Getreidefelder auf der anderen Seite, wieder anzusteigen. Man denke sich diesen nördlichen Höhenkamm als Befestigungswall und statte diesen Wall nun mit drei Bastionen aus. Im Osten lag ein Dorf mit Steinhäusern, die eng um eine Kirche gruppiert waren. Wenn diese Gebäude und die außerhalb des Dorfes liegenden Gehöfte von Truppen besetzt würden, wäre es eine teuflisch schwierige Aufgabe, diese Truppen zu vertreiben. Hinter den Steinhäusern wurde die Landschaft rauer, die Hügel steiler und die Täler tiefer, kein Platz für Truppenmanöver, also stand das Dorf wie eine Festung am östlichen Ende des Höhenzugs. In der Mitte, und auf der halben Strecke Richtung Talsohle, lag am nördlichen Hang ein Gutshof namens La Haie Sainte. Es war ein massiver, gemauerter Komplex, und das Wohngebäude, die Scheunen und der Hof waren von einer hohen Steinmauer umgeben. La Haie Sainte stand einem direkten Angriff über die Straße im Weg, während sich im Westen ein großes Haus mit einem Garten befand, den eine Mauer einfriedete – das Château Hougoumont. Der nördliche Höhenzug des Tales ist also ein Hindernis mit drei Bastionen als Vorposten: dem Dorf, dem Gutshof und dem Château. Angenommen, eine Armee käme aus Frankreich, und angenommen, diese Armee wollte Brüssel einnehmen, dann würden dieser Höhenzug und diese Bastionen ihr Vorrücken behindern. Der Gegner müsste entweder die Bastionen einnehmen oder sie links liegen lassen, doch wenn er sie unbeachtet ließe, müssten sich seine Einheiten zwischen ihnen hindurchzwängen, während sie den nördlichen Abhang angriffen, und wären gefährlichem Kreuzfeuer ausgesetzt.
Die Eindringlinge würden den Höhenzug und seine Bastionen sehen, doch ebenso wichtig war, was sie nicht sehen konnten. Sie konnten nicht sehen, was jenseits des nördlichen Höhenkamms lag. Sie mochten wohl Baumkronen hinter dem Kamm erspähen, aber das Terrain im Norden war nicht einzusehen, und wenn diese französische Armee beschloss, Truppen auf diesem Nordhang anzugreifen, konnte sie nicht wissen, was auf der dahinter abfallenden Hangseite vor sich ging. Bewegten die Verteidiger weitere Einsatztruppen von einer Flanke auf die andere? Wurde dort zum Angriff gesammelt? Lauerte außer Sichtweite Kavallerie? Der Höhenzug, auch wenn er niedrig war und seine Hänge sanft, war trügerisch. Er bot dem Verteidiger enorme Vorteile. Natürlich würde sich der Gegner möglicherweise weniger entgegenkommend verhalten, als einen einfachen Frontalangriff durchzuführen. Er würde möglicherweise versuchen, den Höhenzug auf der Westflanke zu umgehen, wo das Gelände flacher war, aber der Duke merkte sich die Stelle trotzdem. Warum? Soweit er wusste, und in der Tat, soweit ganz Europa wusste, waren die Kriegshandlungen beendet. Napoleon war in die Verbannung geschickt, die Diplomaten schrieben in Wien an der neuen Friedensordnung, und dennoch legte der Duke Wert darauf, diese Stelle im Gedächtnis zu behalten, die einer einmarschierenden Armee auf dem Weg von Frankreich nach Brüssel das Leben schrecklich schwer machen würde. Es war nicht die einzige Route, die eine Invasionsarmee nehmen konnte, und nicht die einzige Verteidigungsstellung, die sich der Duke auf seiner zweiwöchigen Erkundungsmission notierte, aber der Höhenzug und seine Bastionen kreuzten eine der möglichen Invasionsrouten, denen eine französische Armee folgen konnte.
Der Duke ritt weiter, vorbei an La Haie Sainte, und kam zu einer Kreuzung auf dem Kamm des Höhenzugs und kurz darauf zu einem kleinen Dorf. Hätte sich der Duke nach dem Namen dieses Ortes erkundigt, hätte man ihm Mont-Saint-Jean gesagt, was gelinde gesagt amüsant war, denn dieser Sankt-Johanns-Berg war nichts weiter als eine leichte Erhebung in den weiten Feldern mit Roggen, Weizen und Gerste. Nördlich des Dörfchens wurde die Straße von einem großen Wald, dem Forêt de Soignes, verschluckt, und ein paar Kilometer die Straße hinauf lag eine kleine Stadt, ein weiterer unscheinbarer Ort, auch wenn es dort eine schöne Kuppelkirche und zahlreiche Wirtshäuser für durstige und müde Reisende gab. Im Jahr 1814 lebten in dieser Stadt weniger als zweitausend Menschen, allerdings hatte sie über zwanzig junge Männer an den langen Krieg verloren, und alle hatten für Frankreich gekämpft, denn die Stadt gehörte zur französischsprachigen Region der Provinz Belgien.
Wir wissen nicht, ob der Duke im Sommer 1814 in diesem Städtchen anhielt. Wir wissen, dass ihm Mont-Saint-Jean aufgefallen war, aber das nahegelegene Provinzstädtchen mit seiner schönen Kirche und den dicht gesäten Wirtshäusern? Behielt er diesen Ort im Gedächtnis?
Bald schon würde er ihn nie mehr vergessen.
Er hieß Waterloo.