Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2016
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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem
Illustration Freer Law, Tarek El Sombati, ElaKwasniewski/iStockphoto.com; Viktor Pravdica, Phase4Photography/fotolia.com
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN Printausgabe 978-3-499-27041-3 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-54631-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-54631-8
Ein Mann Mitte vierzig sollte nachts schlafen.
Jedenfalls sollte er es dürfen, wenn er ein starkes Bedürfnis danach hat. Eigentlich sollten alle Menschen das tun dürfen, auch die, die nicht Mitte vierzig sind.
Jüngere Menschen, wird behauptet, benötigen weniger Schlaf. Jedenfalls stecken sie gelegentlichen Schlafmangel eleganter weg.
Ich stecke da gar nichts weg. Ich bin nicht elegant, sondern müde.
Zurzeit werde ich nachts nämlich sehr oft aus dem Schlaf gerissen. Ich wache dann auf und möchte eigentlich gleich wieder einschlafen. Doch da ich nur darauf warte, kurz nach dem nächsten Einschlafen wieder aufzuwachen, lasse ich es lieber gleich ganz bleiben. Und so liege ich dann da und glotze blöd an die Decke.
Franziska neben mir schläft. Sie atmet ruhig, denn sie schläft immer und jederzeit ein, wann immer ihr danach ist. Schließt sie auf dem Beifahrersitz im Auto nur für eine Sekunde die Augen, dann ist sie gleich weg.
Ich grübele darüber nach, dass ich mal wieder nachgrübele. Es ist ein eher unkonstruktives Grübeln, dieses Grübeln bei unfreiwilligem Wachliegen. Es bringt nichts. Man müsste aufstehen, doch auf die Idee muss man erst einmal kommen. Und gute Ideen kommen mir selten, wenn ich so halbwach daliege. So bleibe ich also liegen und warte lieber weiter darauf, dass ich nicht mehr einschlafe.
Dann surrt mein Handy auf dem Nachttisch. Eigentlich ist es auf lautlos gestellt, doch wenn es lautlos auf einem hölzernen Untergrund vibrieren darf, dann ist dies alles, nur nicht lautlos.
Franziska blickt kurz zu mir rüber, macht «Grmmpff», dreht sich um und schläft gleich wieder ein. Was auch sonst.
Ich touche auf meinem Phone rum und werde vom hell leuchtenden Foto meiner Tochter Melina geblendet. Es ist 2.14 Uhr. Eher selten, dass sie zu so einer Uhrzeit anruft. Es ist überhaupt selten, dass sie anruft.
«Warte kurz, Melina», flüstere ich und husche durchs Schlafzimmer, nicht ohne mir den kleinen Zeh an der Türkante zu stoßen. Ich schreie nach innen und humpele mit Tränen in den Augen die Treppe hinunter bis in die Küche.
Ich setze mich und höre, was Melina zu sagen hat.
Nur wenige Augenblicke später bin ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich wirklich wach bin. Könnte es nicht sein, dass ich wirr träume? Mir wäre es jedenfalls lieber. Mit leicht schlotternden Knien und einem erhöhten Puls steige ich die Treppe wieder hinauf, gehe ins Schlafzimmer, schalte mein Nachttischlämpchen an und blicke in die inzwischen geöffneten Augen meiner Frau.
«Was ist?», fragt sie.
«Melina …», antworte ich.
«Wo ist sie?»
Franziska sitzt nun kerzengerade im Bett.
«Sie … äh, ist bei der Polizei», stammele ich.
Franziska legt ihre Stirn in Falten.
«Bei der Polizei? Das wundert mich jetzt so stark nicht. Schließlich arbeitet sie ja dort.»
«Sie … äh, ist anders bei der Polizei.»
«Wie anders?»
«Auf der anderen Seite … sozusagen. Sie sitzt in Untersuchungshaft.»
Es ist schön, wenn die Familie mal zusammen ist.
Dieser Satz, den ich eher von meiner Mutter oder aus Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen kenne, wabert mir schon seit Stunden im Kopf herum. Ja, es ist wirklich schön. Auch wenn es nur die Niddatalsperre ist, mit ihrem etwas trüben Stausee und den drum herum angelegten Spazierautobahnen, die breit genug sind, dass man sich mit breitreifigem Zwillingskinderwagen locker von drei nebeneinanderfahrenden Elektrofahrrädern überholen lassen kann.
Seit Tagen regnet und bläst es frühherbstlich im Vogelsberg. Nur für diesen Samstagnachmittag wurde für ein paar dürre Stunden Sonne angekündigt, und so stürmt nun also ganz Oberhessen urplötzlich raus aus den Häusern, wirft sich in Allzweck-Freizeitbekleidung und stürzt sich rein in die Naherholungsgebiete. So wie wir.
Meine Mutter ist mit von der Partie, auch wenn es, wie sie sagte, schwer war, sich ein paar Stündchen freizunehmen. Nach dem Tod meines Vaters vor zwei Jahren nämlich tut sie das, was einige Frauen noch einmal im Herbst ihres Lebens tun: aufblühen.
Meine Mutter tut das, indem sie zum Beispiel Spanisch und Chinesisch lernt, viermal wöchentlich in grellpinken Leggings zum Spinning geht oder eine Pokerrunde für ältere Damen gründet, die «Full-House-Grannies».
Und eine neue Frisur, die hat sie auch.
Laurin, der letzte Woche elf Jahre alt wurde, schlakst etwas linkisch neben mir her, in einem Körper, der nicht mehr zu einem Kind passt, allerdings auch noch lange nicht zu einem Mann. Doch nicht nur körperlich weiß Laurin zurzeit nicht so recht, wo er hingehört. So schleppt er sich ein wenig grüblerisch und einzelgängerisch durch die Mühen des Lebens. Große Lust mitzukommen hatte er nicht, er ist eben lieber für sich. Den ganzen Tag im Zimmer vor dem Computer zu hocken wird aber auch irgendwann einmal langweilig, also ist er doch mit dabei.
Franziska hält meine Hand. Wahrlich keine Selbstverständlichkeit, wenn man die letzten Jahre so überblickt. In der anderen Hand halte ich die beiden Hundeleinen. Berlusconi hinkt arthrosegeplagt etwas hinterher, seinem unehelichen Sohn Charlie dagegen geht es nicht schnell genug, sodass ich etwas Mühe habe, die beiden unterschiedlichen Tempi mit den Leinen zu kontrollieren.
Vor uns schiebt Melina einen gefühlt fünf Meter breiten Kinderwagen-SUV, beladen mit den Zwillingen. Links sitzt Frida, rechts der Nick, sie thronen wie ein Königspaar im Wagen und schauen kritisch einem im wurstpelligen Jan-Ullrich-Gedächtnis-Outfit an uns vorbeistöhnenden älteren Herren hinterher. Alpe d’Huez ist noch weit, denke ich, ganz im Gegensatz zum Kinderspielplatz, auf den wir zielstrebig zusteuern.
Manchmal frage ich mich, ob es wirklich der Wahrheit entspricht, wenn irgendwelche Statistiker behaupten, dass wir Deutschen immer weniger Kinder bekämen. Würden denn sonst auf einem Vogelsberger Spielplatz diese Unmengen von kleinen Menschen herumwuseln? Würden sich meterlange Schlangen vor Rutschbahnen bilden? Sähen die überbevölkerten Sandkästen aus wie die Badestrände auf Mallorca zur Hauptsaison?
Meine Mutter erspäht zwei ihr bekannte Damen, gesellt sich zu ihnen und redet auf sie ein. Ich höre, wie sie erzählt, das Beste an ihrem Spinning-Kurs sei, dass da so wenig alte Leute mitmachen würden.
Ich setze mich auf eine der rund um den Spielplatz platzierten Bänke und überprüfe über meine Smartphone-Wetter-App, ob es wirklich gerade nicht regnet, während sich Franziska mit Laurin auf die Suche nach Kaffee, Cola und Kuchen macht.
Melina bewaffnet sich mit 48 verschiedenen Schäufelchen, Förmchen und Baggerchen, okkupiert mit den beiden Anderthalbjährigen ein winziges frei gewordenes Fleckchen im Sandkasten und beginnt dann sofort zu schaufeln, zu formen und zu baggern. Frida und Nick stehen regungslos daneben und gucken erst mal nur zu. So ganz geheuer scheint ihnen dieser Massensandkasten nicht zu sein. Beide beobachten, wie ein mit einer Burger-King-Pappkrone geschmücktes Mädchen ein Förmchen mit Sand über einem deutlich jüngeren Jungen ausschüttet. Sofort stürmt im Vollsprint eine Frau herbei, packt die adipöse Fastfoodkönigin am Arm und schreit aufgebracht: «Zu wem gehört die? Häh??? Zu wem gehört die? Halloooo? O Gottohgottohgott, mein armer Luca. Schau mich an, Luca.»
Sie schüttelt ihren Kleinen an den Schultern, als sei er im Begriff, das Bewusstsein zu verlieren. «Ist alles in Ordnung, ist alles in Ordnung?»
Luca ignoriert gelassen das Geschrei seiner Mutter, streift sich den Sand aus dem Haar und spielt weiter.
Eine Frau um die fünfzig in gelber Regenjacke setzt sich neben mich auf die Bank, beobachtet ebenfalls eine Weile die erregt weitergackernde Luca-Mutter und sagt dann in meine Richtung:
«Meine Güte, diese jungen Mütter heutzutach, was mache die immer für ein Gedöns.»
Ich versuche, mit einem neutralen Blick zu signalisieren, dass ich nicht wahnsinnig an einem Gespräch über junge Mütter interessiert bin. Dass ich eigentlich an gar keinem Gespräch interessiert bin.
«Ist doch wahr!», fährt die Dame ungerührt fort. Meine Signale haben also nicht gefruchtet. «Oder habbe mir früher auch so ’n Gewese gemacht?»
«Nee, äh, glaub nicht», murmele ich, während Melina vor mir auftaucht und eine Flasche Wasser aus dem neben mir stehenden Rucksack holt. Als sie wieder bei Nick und Frida ist, fragt die Frau neben mir:
«Ist das Ihre Tochter?»
Ich bejahe.
«Das gefällt mir», sagt sie und nickt zufrieden, bevor ich mich fragen kann, was ihr denn daran so konkret gefalle.
«Das gefällt mir, endlich mal ’ne junge Muddi. So muss das sein. Immer diese alten Eltern, das ist doch net mit anzusehe, oder?»
Ich mache stumm eine unbestimmte Kopfbewegung.
«Es ist doch viel natürlischer, wenn die Fraue in de Zwanziger ihre Kinner bekomme. Was solle dann die Kinner mit so olle Eltern anfange?», redet sie sich weiter in Rage, aber ich höre schon nicht mehr richtig hin, weil nebenan Frida zu weinen beginnt.
«Kaum kacke die net mehr in die Windeln, muss de Papa schon ins Altersheim, nee nee nee, das ist so nix!»
Melina nimmt Klein Frida auf den Arm und trägt sie zu mir. «Guck, Frida», sagt sie und übergibt mir das weinende Mädchen. «Jetzt lass dich mal vom Papa trösten.»
Ich blicke kurz zu meiner starr nach vorne blickenden Sitznachbarin, zucke mit den Schultern, grinse, tröste meine kleine Tochter und sage «Tja».
Tja.
Tja, seit ich vor knapp vier Jahren meine Stelle als Hauptkommissar bei der Polizeidirektion Alsfeld gekündigt habe, ist so einiges geschehen. Frida und Nick zum Beispiel sind geschehen. Wenn sich der Herrgott tatsächlich jedes einzelne Kind auf dem Erdenball gewünscht haben sollte, dann hat er diese beiden ganz bestimmt gewollt. Die Eltern hatten das allerdings nicht wirklich so geplant. Vorsichtig formuliert. Nachdem Franziska aus der Haft entlassen wurde, brauchten wir noch ein gutes Jahr, um klar zu bekommen, dass wir weiter als Paar zusammenleben wollen. Und gleich beim ersten Sex nach weiß der Himmel wie vielen Jahren wurde sie schwanger.
Tja.
Ein Nachzüglerbaby allein sollte dann also auch nicht reichen. Es wurden gleich deren zwei, Frida und Nick eben. Wennschon – dennschon.
Manchmal frage ich mich, ob es dumm war, meinen Job und vor allem meinen Beamtenstatus aufgegeben zu haben, wo ich doch nun mit den Kindern drei und vier noch mehr Verantwortung zu schultern habe. Die Antwort lautet klar: Nein!
Wenn ich auch sonst nicht unbedingt für konsequentes Handeln bekannt bin, hier war ich es. Und bis heute fühlt sich diese Entscheidung richtig an. Manchmal denke ich, vielleicht etwas zu pathetisch, dass dies die erste selbständig getroffene erwachsene Entscheidung meines Lebens war.
Natürlich wäre es nicht unklug gewesen, eine berufliche Alternative in petto zu haben. Doch wir wollen ja nicht gleich übertreiben. Dies wäre dann wahrlich des Guten zu viel gewesen.
Im Alter bekomme ich nun zwar keine Beamtenpension mehr, sondern eine Rente auf niedrigerem Niveau, doch diesen Preis zahle ich gerne. Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter meiner Schwester Ulrike und mir ein bisschen etwas vorvererbt, und Franziska hat vor einem Jahr eine Festanstellung bei der Musikschule in Nidda angenommen, sodass wir zumindest in den nächsten Jahren einigermaßen über die Runden kommen sollten. Meine zugegebenermaßen eher zaghafte Suche nach einem neuen beruflichen Betätigungsfeld wurde durch Franziskas Zwillingsschwangerschaft natürlich zusätzlich ausgebremst, dafür kann ich ja eigentlich nichts.
Mir kam das ganz gelegen, auch wenn ich anderseits eine Weile brauchte, mich vorbehaltlos darüber freuen zu können, noch einmal beziehungsweise noch zweimal Vater zu werden.
Obwohl ich nun also seit über vier Jahren keiner geregelten Arbeit mehr nachgehe und nur mit kleineren Gelegenheitsjobs etwas hinzuverdiene, fühle ich mich unterm Strich weniger nutzlos als zu der Zeit, als ich noch Fulltime-Hauptkommissar war. Denn ein «richtiger» Kommissar, das bin ich ja eigentlich nie gewesen. Ich habe nur so getan, ich habe Kommissar-Sein gespielt. Klar, ganz am Ende meiner Laufbahn hatte auch ich ein paar Ermittlungserfolge, so ist das ja nicht. Oft half zwar auch das Glück nach, aber immerhin. Gepasst hat der Beruf trotzdem nie.
Die Dame neben mir hat sich inzwischen lautlos verabschiedet, stattdessen sitzen nun Melina und die beiden Zwillinge bei mir auf der Bank. Gerne würde ich diesen Moment festhalten, denn heute Abend macht sich Melina wieder auf den Weg nach Hause, zurück nach Frankfurt in ihre Wohngemeinschaft.
Ich wusste nicht, wie schwer loslassen sein kann.
Der Augenblick voller Seligkeit ist schnell vorbei. Innerhalb kürzester Zeit zieht sich der Himmel zu, und ein happiger Regenschauer ergießt sich mitleidslos über uns. Wir sammeln Franziska, Laurin, meine Mutter und die Hunde ein und springen in unseren spießigen Familienvan-Opel. Ich war nie ein Mann, der vom Porsche träumt, doch dieses Gefährt ist wirklich bitter.
Klatschnass sitze ich am Steuer und fluche: «Das kann nicht sein, das kann nicht sein!»
«Was kann nicht sein?», fragt Laurin genervt.
«Das kann nicht sein», wiederhole ich. «Meine Wetter-App hat ganz klar gesagt: vor 18 Uhr kein Regen. Das kann nicht sein!»
Ich brauche nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass man hinter mir in Einigkeit die Augen verdreht.
«Nee, Mama, danke, ich esse nicht mehr mit, sorry. Ich würde mich jetzt lieber schon gleich auf den Weg machen. Muss morgen früh raus.»
Melina hockt auf dem Boden unseres Bad Salzhausener Wohnzimmers und streichelt den in die Jahre gekommenen Berlusconi, während Charlie eifersüchtig um die beiden herumschwänzelt.
«Och, schade», sagt Franziska und bemüht sich, nicht vorwurfsvoll zu klingen. Auch ich finde es schade und sage daher einfach auch «schade».
«Ja, ich weiß, schade, ich will aber einfach noch ein bisschen Zeit zu Hause haben.»
Zu Hause ist doch hier, denke ich ein bisschen traurig und schäme mich für diesen Gedanken.
«Musst du morgen wieder zu ’ner Demo?», frage ich und reiche ihr die Jacke.
«Ja, das heißt, es ist eigentlich keine Demo, sondern eine Infoveranstaltung der Olympia GmbH. Und der Arsch, der Lubricht, redet. Wird bestimmt wieder einiges los sein.»
Als ich vor vier Jahren meinen Kommissarjob schmiss, brach Melina damals fast zeitgleich die Schule ab und begann ihre Ausbildung zur Polizistin. Sie zog das beeindruckend zielstrebig durch, seit letztem Jahr arbeitet sie bei der Bereitschaftspolizei in Frankfurt. Sie nimmt ihren Job und ihre Verpflichtungen sehr ernst und geht, so ganz anders als ihr Vater, gewissenhaft ihrer Arbeit nach.
«Pass auf dich auf», sagt Franziska und küsst sie auf die Stirn. Natürlich behagt es weder mir noch Franziska, dass unsere Große immer wieder aufs Neue bei Demonstrationen oder Fußballspielen ihre Birne hinhält. Doch Melina gefällt das so; diese Einsätze seien genau ihr Ding, und was hat außerdem schon ein Vater einer zwanzigjährigen Tochter zu sagen.
«Guck mal hier», rufe ich Melina mit der Fernbedienung in der Hand zu und deute auf die Glotze. «Da ist dein Liebling ja gerade.»
«O Gott», stöhnt Melina. «Mach das weg. Wenn ich das schon sehe, wie der da sitzt. So eine Drecksau.»
Bernd Lubricht ist Chef der Olympia GmbH und die Hassfigur aller Bewerbungsgegner. Es mehrten sich in den letzten Wochen und Monaten Gerüchte, er sei gewissen Annehmlichkeiten oder Geschenken einiger Firmen, die von Olympischen Spielen im Rhein-Main-Gebiet profitieren würden, nicht abgeneigt. Nachweisen konnte ihm das allerdings bis dato niemand, wie bei allen Affären davor. Der Mann ist aus Teflon. Auch sein herrischer Führungsstil gilt als sehr umstritten, Sympathieträger sehen anders aus.
Auf der anderen Seite ist er ein Macher. Ohne seine Vernetzungen und Kontakte, ohne seine rhetorischen Fähigkeiten, ja, ohne seine Beharrlichkeit hätte das Rhein-Main-Gebiet ganz sicher nicht im nationalen Vorentscheid die Städte Hamburg und Berlin ausgeschaltet, und Frankfurt stünde nun nicht im Rennen um die Vergabe der Spiele 2024.
Melina und ich stehen beide stumm vor dem Fernseher und folgen der Diskussion.
Während ein Politiker der hessischen Linkspartei immer wieder darauf hinweist, wie viele Menschen Woche für Woche gegen die Bewerbung auf die Straße gingen, fällt ihm Lubricht ins Wort.
«Richtig. Und das ist Ihr Verdienst.»
Dann macht er eine lange, rhetorisch nicht ungeschickte Pause.
«Es ist Ihr Verdienst, die Bürger mit Ihrer kleinbürgerlichen populistischen Lamentiererei anzustecken. Und Sie werden es auch wieder hinbekommen, dass es in unserer Stadt auf den Straßen so gewaltsam zugeht wie bei der Eröffnung der EZB vor ein paar Monaten. Hetzen Sie nur fröhlich weiter. Da sind Sie ja Meister drin. Wäre nur schön, wenn Sie noch andere Begabungen hätten.»
«Das ist ja wohl eine Unverschämtheit», ruft der Politiker.
«Wissen Sie», brummt Lubricht mit tiefem Bass und fasst dabei an den Unterarm der jungen Attac-Aktivistin auf dem Stuhl neben ihm, «ich habe in Frankfurt lieber ein fröhliches, buntes Treffen der Jugend der Welt als vermummte Blödmänner, die unsere Stadt verschandeln.»
«Iiihhhh», macht Melina. «Der fingert die arme Frau an. Wie eklig.»
«Na, jetzt übertreib mal nicht», entgegne ich.
«Ich übertreib gar nichts. Ich weiß von ’ner Bekannten, die früher mal in einem seiner Büros gearbeitet hat, dass er gerne mal mit seiner Hand zufällig an Frauenpopos stößt.»
Dazu kann ich nichts sagen. Wundern würde es einen nicht.
«So, ich mach mich dann mal los», sagt Melina. «Sonst wird mir noch schlecht.»
Im Fernsehen zeigen sie nun Bilder von den Massendemonstrationen der Olympiagegner.
«Diese Querulanten gehen mir so langsam auf den Geist», mosere ich, vor allem um den Abschied von Melina noch ein wenig hinauszuzögern. Manchmal kann ich sie provozieren und eine Diskussion vom Zaun brechen. Melina steht nämlich privat eher auf der Seite derer, denen sie im Konfliktfall gegenübersteht. Sie ist eine überzeugte Gegnerin dieser Olympiabewerbung.
«O nee, nicht schon wieder, Papa», stöhnt sie und greift schon mal demonstrativ nach ihrem Autoschlüssel.
Doch ich lasse mich nicht abbringen. «Immer dagegen sein, meine Güte, diese Miesmacher. Wäre doch toll, nicht nur für Frankfurt, sondern für ganz Hessen, wenn wir den Zuschlag bekämen.»
«Gähn», macht Melina und hält sich theatralisch eine Hand vor ihren geöffneten Mund. «Ich habe wirklich keinen Bock, jetzt zu diskutieren.»
Hat sie so gut wie nie mehr. Was hat sie sich vor ein paar Jahren noch mit ihrem Vater gezofft, was hat sie mir nicht alles an den Kopf geworfen! Wie oft ist sie grundlos an die Decke gegangen, und wie häufig wurde ich für alles und nichts beschimpft!
Wie sehr fehlt mir das.
«Ich habe wirklich keine Lust, darüber jetzt zu diskutieren», sagt sie noch einmal. «Es reicht mir schon, wenn ich mich morgen wieder vor den Penner von Lubricht stellen muss.»
Sie verabschiedet sich endgültig kurz, aber herzlich von uns, und schon ist sie mit ihrem kleinen Polo in Richtung Hessenmetropole davongedüst.
Von oben ertönt Kindergeschrei. Erst heult nur Nick, ich zähle stumm bis drei, dann zeigt Frida, dass sie das mindestens genauso gut kann. Wenn sie beide richtig laut kreischen, stimmt meistens auch Berlusconi heulend mit in den Chor ein. Vor allem nachts macht er das sehr gerne. Das sind dann die Momente, in denen ich mich in den Polizeinachtdienst zurückwünsche.
Ich mache den Fernseher aus und laufe hoch zu Frida und Nick, die sich mittels Bahnverkehr schnell beruhigen lassen. Leise ächzend schiebe ich die zeitlose Holzeisenbahn durch das Wohnzimmer und stelle einmal mehr fest, dass mir das Rutschen auf Knien zu meiner Erst-Elternzeit vor zwanzig Jahren deutlich leichter fiel.
Hi Josh! Sehen wir uns gleich? Bin in ner Stunde zu Hause. LG Melina
Hey Mel, das pack ich heut nich … Bin mit ein paar Leutchens im Volx. Wird spät, sorry ☹
Ihr plant doch hoffentlich nix für morgen?
Why?
Ich bin im Einsatz.
Lass uns später reden. Nicht über phone CU
Ok
Zunächst hielt ich es für einen müden Scherz, als Franziska letzte Woche vorschlug, wir sollten uns dort tatsächlich noch einmal bewerben. Doch noch bevor ich schallend zu lachen anfangen konnte, erklärte sie mir in tiefster Ernsthaftigkeit die noch immer geltenden Vorzüge: kurze Anfahrtszeit, günstiger Betreuungsschlüssel, flexible Abholzeiten, großes Grundstück, fähige Erzieherinnen, Mitbestimmungsrecht und «Gestaltungsmöglichkeiten».
Und so sitzen wir nun nach all den Jahren, als wären wir nie weg gewesen, wieder im Häuschen der elternselbstorganisiertundverwalteten Kindergruppe Schlumpfloch e.V. zusammen mit anderen Eltern auf diesen winzig kleinen Stühlchen im Kreis und bekommen Rückenschmerzen. Zu meiner Beruhigung hatte mir Franziska erklärt, dass sich das Gesicht des Vereins nach Laurins Abmeldung vor fünf Jahren komplett verändert habe. Den damaligen Kindergruppen-Patriarchen Wolle dort noch immer anzutreffen, mussten wir keine Angst haben, schließlich ist sein Sohn Calvin-Manuel auch schon lange dem Kindergartenalter entwachsen. Und Calvin-Manuel ist Einzelkind. Na, hoffentlich, denke ich ängstlich, während mir schon nach drei Minuten langem Kinderstuhlsitzen das Bein einschläft.
Wolle war seinerzeit Dauervorsitzender des Vereins und mit seiner unterdrückt aggressiven Art nicht nur für mich schwer zu ertragen. Ein hippiehafter Duzer mit Diktatorenflausen.
Eine andere unangenehme Besonderheit der Kindergruppe war der hohe zeitliche Aufwand, den die Eltern leisten mussten. Putzen, Kochen, Sandkästen umgraben, an Zeltlagern und Flohmärkten teilnehmen und so weiter und so fort. Ein klares Argument gegen die neuerliche Bewerbung beim «Schlumpfloch», fand ich, aber Franziska sagte nur: «Wieso? Du hast doch Zeit.»
Hmm.
Und so sitzen also Franziska und ich unter lauter jüngeren Eltern in der Schlumpfloch-Runde und harren der Dinge, die da nun kommen mögen. Ich wundere mich, wie schweigsam und still alle anderen um uns herum sind. Es wird kaum gesprochen, kein wahlloses Durcheinandergebrabbel wie zu «unseren» Zeiten. Dann fällt mir auf, dass fast jeder einen Schreibblock auf dem Schoß liegen hat. Was ist hier denn los?
Es räuspert sich mir direkt gegenüber ein junger, mit adrett dunklem Kurzhaarschnitt frisierter Mann. Er trägt ein makelloses weißes Hemd, ein hellblaues Jackett und hält in der Hand ein iPad. Wolle sah anders aus. Sehr anders. Und ein iPad hätte er auch nicht gehabt, wenn es das damals schon gegeben hätte. Der fesche junge Mann blickt auf seine massive Uhr, wischt energievoll über sein Pad, räuspert sich noch einmal und redet dann los wie ein Nachrichtensprecher:
«Guten Abend zusammen und herzlich willkommen zum turnusgemäßen Elternabend des Elternvereins Schlumpfloch e.V. Ich begrüße alle Mitglieder und stelle gemäß Paragraph 4, Absatz 2 fest, dass wir beschlussfähig sind. Ich begrüße darüber hinaus unsere Gäste, das Ehepaar Bröhmann.»
Er lächelt uns geschäftig zu und fügt an:
«Mein Name ist Dr. Jan-Holger Hansen, Vorsitzender des Vereins. Als Protokollantin bestimme ich Frau Eva Fritzenholm, die ich zudem bitte, die Tagesordnungspunkte zu verlesen.»
Frau Fritzenholm, eine Mittdreißigerin mit Zopf und scheinbar ohne Doktortitel, folgt der Anweisung. Franziska neben mir kichert. Es weht hier offenbar ein ganz anderer Wind im Schlumpfloch.
In atemloser Sachlichkeit fegt der junge Mann mit dem Tablet in der Hand durch die diversen Tagesordnungspunkte. Nach einer knappen halben Stunde sind wir bereits bei Tagesordnungspunkt 7 angelangt. Früher waren wir nach einer halben Stunde noch nicht einmal mit der gegenseitigen Jeder-umarmt-jeden-Begrüßung durch und fingen gerade mal so langsam an, Hagebuttentee zu kochen.
So, nun aber Punkt Nr. 8: «Vorstellung/neue Eltern/Bröhmann».
Unser Auftritt.
Franziska rutscht etwas unruhig auf ihrem Stuhl herum und legt dann los:
«Ja, hallo … also ich bin die Franziska, und das ist der Henning, wie ihr ja wisst, waren wir schon einmal …»
«Entschuldigen Sie bitte», unterbricht das Vorsitzendenbürschchen. «Frau Bröhmann, wir haben vor zwei Jahren satzungsgemäß beschlossen, dass sich die Mitglieder des Vereins im Innenverhältnis, vor allem bei offiziellen Anlässen, siezen. Hiervon erhoffen wir uns eine freundlich-sachliche Atmosphäre, die der Vereinsarbeit nur förderlich sein kann.»
Diesmal grinse ich. Wie gerne wäre ich damals von Wolle gesiezt worden.
«Oh», sagt Franziska beziehungsweise Frau Bröhmann und fährt fort. Sie erzählt kurz und knapp, dass wir eben für unsere Zwillinge einen Platz suchen.
Der Herr Vorsitzende bestätigt, es seien zwei «U3»-Plätze frei, wie er die Gruppe der unter Dreijährigen bezeichnet.
«In welchem Bereich könnten Sie sich beide denn Ihr Elternengagement vorstellen?», fragt er nun.
Franziska und ich blicken uns fragend an.
«Musik», stammelt sie schnell. «Ich bin Klavierlehrerin, ich könnte mich musikalisch einbringen.»
«Hmm», macht da der Vorsitzende nur. «Meinen Sie so etwas wie Frühförderung oder Talentsichtung?»
Franziska kuckt und nickt dann hastig.
Langsam beginnt es mich zu nerven, dass wir hier auf einer Art Prüfstand zu stehen scheinen.
«Wir haben uns übrigens selbst noch gar nicht entschieden», sage ich daher. «Erzählen Sie doch bitte erst mal, nach welchem … äh … Konzept die Kinder betreut werden.»
«Ja klar, Frau Singer, würden Sie bitte?»
Frau Singer nickt wortlos und trägt in gelassener Routine mit ruhiger Stimme das aktuelle Schlumpfloch-Konzept vor.
Da höre ich nun nicht mehr richtig zu. Bei mir bleibt nur hängen, dass die finanzielle Lage aufgrund der laxen Misswirtschaft zu unseren Zeiten angespannt sei, der Verein allerdings mit dem aktuellen Finanzplan, so er strikt durchzogen werde, in sieben Jahren wieder auf gesunden Beinen stehen werde und dass die Kinder auf Wunsch mit vier Jahren wahlweise einen Englisch- oder einen Spanisch-Kurs belegen dürften. Voller Stolz wurde zudem das neue amerikanische Bastelkonzept präsentiert. Hier würden die Kinder durch klar angeleitete zielgerichtete Anweisungen strukturiert basteln lernen und somit neben einer anspruchsvollen Fertigkeit in der Basteldisziplin ganz besonders toll Konzentration, Durchhaltevermögen und Geduld erlernen. Oder so ähnlich.
Im Nachhinein hatte der damalige Schlusskreis mit dem dämlichen Bullebumms-Spiel, bei dem man mit dem eigenen Popo den Popo des Nachbarn anbullebummst, doch so einiges für sich.
Während der Elternabend ungebrochen konzentriert weiter verläuft, grüble ich darüber nach, für welchen Bereich ich mich und meine Talente einbringen könnte. Bestürzenderweise fällt mir nichts ein.
Nach einer guten Stunde sind wir schon beim letzten Punkt angelangt. Der Vorsitzende Jan-Holger-Herr-Dr.-Hansen fragt in die Runde, ob jemand zum Punkt «Verschiedenes» etwas einzubringen habe.
Ein hageres Männlein mit schütterem Vollbart, das in meinem Alter sein dürfte, meldet sich zaghaft zu Wort:
«Ja, also, äh, wir wollten doch noch über den Antrag von Wolfgang Döbel abstimmen.»
Wolfgang Döbel, das ist doch Wolle! Ich stupse freudig Franziskas Arm. Was kommt denn nun?
«Ach ja, richtig», sagt Hansen, «entschuldigen Sie bitte, das ist mir irgendwie durchgerutscht. Also, Sie erinnern sich, Herr Wolfgang Döbel hat den Antrag zu Ernennung zum Ehrenvorsitzenden unseres Vereins auf Lebenszeit gestellt. Er möchte damit sein jahrelanges Engagement gewürdigt wissen.»
Herr Hansen ruft zur Abstimmung auf. Der Antrag wird einstimmig abgelehnt.
«Wie, was, mach das mal lauter!»
Franziska schraubt kopflos am Autoradio herum. «Hast du das auch eben gehört?», fragt sie aufgeregt vom Beifahrersitz aus.
«Nein, was denn?»
«Da soll irgendwas auf dem Frankfurter Römer passiert sein. Hast du das echt nicht gehört gerade?»
Sie sucht fieberhaft nach einem anderen Sender, der über das, was sie zu hören glaubte, berichtet.
«Das gibt’s doch nicht», flucht sie. «Dass du das nicht gehört hast. Hast du das echt nicht gehört?»
Auf diese Frage antworte ich nun einfach nicht mehr.
«Tumulte, Gewalt, Verletzte, haben die gerade gesagt. Schlägereien auf dem Frankfurter Römer.» Sie lässt nicht locker. «Herrje, auf der Olympia-Kundgebung. Da, wo Melina im Einsatz ist.»
Franziskas Stimme wird immer lauter, so langsam fängt es an, mich zu nerven. Eigentlich wollte ich die kurze Heimfahrt nach dem denkwürdigen Elternabend im Schlumpfloch zum Lästern nutzen.
Gerade möchte ich Franziska dazu auffordern, sich doch bitte zu entspannen, da hören wir einen hektischen Reporter mit aufgeregter Stimme:
«… als hier mit einem Male Tumulte ausbrachen. Die Lage ist immer noch unübersichtlich. Wir wissen noch immer nicht, was genau passiert ist. Ein Statement von offizieller Seite … auf jeden Fall wissen wir … jetzt hör ich nix mehr … hallo? Hallo? Also, ich weiß nicht, hört man mich denn? Egal … na ja, das war Olaf Tiefenbrunn für Radio-XXXL-Super-Hessen-News, Frankfurt … hallo?»
Nun meldet sich der Moderator aus dem Studio. «Olaf? Hörst du mich noch?»
«Hallo, hallo, hört mich jemand?»
«Tja, da scheint die Verbindung also abgebrochen zu sein. Aber wir bleiben natürlich auf jeden Fall für Sie dran, falls es brandneue Neuigkeiten oder neue News vom Frankfurter Römer gibt.» Ein grauenhafter Jingle folgt.
«Such doch mal ’nen vernünftigen Sender», raune ich und überfahre dabei eine fast rote Ampel.
Doch bevor es dazu kommt, meldet sich schnell der Moderator im Studio wieder.
«Sooo, die Leitung zu Olaf Tiefenbrunn, der am Frankfurter Römer für Radio XXXL-Super live, aktuell und exklusiv für uns am Römer steht … äh … steht. Olaf, wie ist die Stimm … ich meine, gibt es Neuigkeiten?»
«Ja, nein …»
«Du bist ja hautnah dran. Hat sich denn die Lage beruhigt?»
«Nun ja, im Moment weiß man noch nichts Genaues, viele Augenzeugen berichten, dass es plötzlich … jedenfalls habe ich mit vielen Augenzeugen hier vor Ort gesprochen, und die konnten allerdings nicht viel sehen, da die Lage ja sehr unübersichtlich ist und war.»
Dann entsteht eine Gesprächspause, wie zwischen zwei entfernt Bekannten, die sich zufällig auf der Straße treffen und schnell an einen Punkt geraten, in dem das Gespräch linkisch ins Stocken gerät.
«Danke, Olaf», plärrt der Moderator dann schnell wieder ins Mikrophon. «So, nun sitzt aber Tanni neben mir, und die erzählt uns gleich, ob wir am Wochenende endlich mal die Regenjacke zu Hause lassen können, oder, Tanni?»
«Ja, Frank, ich hab die nigelnagelneuen Wetter-News für euch dabei. Und ich versprech, es geht aufwärts.»
Dann drückt Franziska auf den Sendersuchlauf.
Inzwischen fahren wir im gebotenen Schritttempo ins entschleunigte Bad Salzhausen. Nun hören wir:
«… versuchten Demonstranten aus der links-autonomen Szene, mehrmals das Rednerpodium zu stürmen, wobei es zu heftigen handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten kam. Die Situation schien völlig aus der Kontrolle zu geraten. Und irgendwann während dieser immer unübersichtlicher werdenden Krawalle vor und teilweise auf der Rednerbühne muss urplötzlich der Hauptredner und Vorsitzende der Pro-Olympia-GmbH Bernd Lubricht zusammengebrochen sein. Er wurde sofort in eine Klinik gebracht. Genaueres wissen wir nicht. Die Tumulte haben sich daraufhin schnell gelegt. Sowohl bei Demonstranten als auch bei der Polizei sind zahlreiche Verletzte zu verzeichnen.»
«Du lieber Himmel.» Franziska fasst nach meiner Hand, während ich vor unserem Haus das Auto abstelle. «Hoffentlich ist Melina nichts passiert.»
«Ich rufe sie mal an», sage ich. Doch es meldet sich bloß die Mailbox.
Wir steigen aus, und während wir auf unsere Haustür zulaufen, schmiegt sich Franziska fest an mich. «Mann, Henning, ich habe keine Lust, mir ständig Sorgen um sie machen zu müssen.»
«Tja, daran werden wir uns wohl gewöhnen müssen», entgegne ich etwas altklug. «Sie hat sich diesen Job eben ausgesucht.»
«Trotzdem, schön ist das nicht. Als du noch bei der Polizei warst, habe ich mir nie Sorgen gemacht.»
Ich lache keck auf, stelle dann aber schnell ernüchtert fest, dass die Bemerkung keinesfalls scherzhaft gemeint war.
Unsere Lieblingsnachbarin Frau Hubschmitt erscheint pünktlich zur täglichen Sozialkontrolle auf dem Balkon. Sie hält eine Gießkanne in der Hand, als hätte sie nicht bereits heute schon achtmal die Blumenkästen begossen.
«Na, Herr Bröhmann, passt der Sohnemann schon alleine auf die Kleinen auf?»
Frau Hubschmitt entgeht normalerweise nichts. Eigentlich ein Wunder, dass sie das Eintreffen unseres Babysitters Anne verpasst hat. Frau Hubschmitt ist offenbar auch nicht mehr das, was sie mal war.
«Ihnen auch einen schönen Abend, Frau Hubschmitt», rufe ich ihr lapidar zu und öffne schnell die Haustür.
«Danke, Ihnen auch, Herr Bröhmann.»
Von den Hunden stürmisch begrüßt, betreten wir das Haus.
«Echt unfassbar», schimpft Franziska. «Als würde ich nicht existieren. Ich werde von der blöden Kuh komplett ignoriert.»
«Sei doch froh», murmle ich und schlüpfe in meine grün-weißen Adiletten, die ich vor elf Jahren einmal bei der Polizeiweihnachtsfeier-Tombola gewonnen habe.
«Ich bin und bleibe eine absolute Unfrau, eine Persona non dingsbums, die ewige Sünderin. Und ich sag’s dir, Henning, die Hubschmitt ist nicht die Einzige, die das so sieht.»
Franziska liegt da leider mit ihrer Einschätzung nicht falsch. Auch ich nehme immer wieder wahr, dass viele Bekannte und Nachbarn ihr aus dem Weg gehen, seit sie nach ihrer gut zweijährigen Haft wieder zurück ist. Man fühlt sich eben verunsichert im Umgang mit einer Totschlägerin. Ach, Totschlag, dieses furchtbare Wort.
Und sie hat den Kerl ja totgeschlagen. Aber es war Notwehr. Notwehr in psychisch labilem Zustand. Punkt. Sie stand neben sich. Vor allem aber wollte Franziska ihre vierzehnjährige Tochter schützen, vor diesem Widerling, der ihr voyeuristisch mit einer Videokamera nachstieg. Allerdings hätte sie ihm im Normalmodus wohl nicht gleich eine Eisenstange über die Rübe gezogen …
Zunächst brachte Franziska Verständnis für diese Verunsicherung der Leute auf. Immer wieder ging sie auf die Leute zu und suchte das Gespräch. Leider mit wenig Erfolg. Bis heute wird sie gemieden. Eigentlich ging das schon los, als sie mich vor sieben Jahren verließ und eine Weile sang- und klanglos verschwand. Schon das war vielen nicht geheuer. Das macht man einfach nicht, schon gar nicht als Mutter.
Auch wenn ich immer wieder gebetsmühlenartig wiederhole, dass es doch so was von egal sei, was diese Idioten von ihr denken, es kränkt sie trotzdem.
«Weißt du, Henning, ich kann mit der Vergangenheit abschließen. Ich tue es Tag für Tag und habe vieles hinter mir gelassen. Ich habe meine Strafe abgesessen. Freiwillig, und ich habe auch nicht umsonst unzählige Stunden in der Therapie gehockt. Ich will nach vorne schauen. Doch diese Leute machen es eigentlich unmöglich.»
«Hallo.»
Babysitterin Anne steht plötzlich picklig, dürr und scheu im Flur. «Kann ich gehen?», zwistelt sie kaum hörbar.
«Oh, hallo, Anne. Entschuldige, klar», stammelt Franziska. «War alles o.k.?»
Anne nickt, bekommt ihr Geld und verschwindet. Anne ist der perfekte Babysitter. Bei ihr war immer «alles ok».
«Lass uns hier wegziehen.»
Jetzt macht Franziska dieses Fass auf. Bitte nicht das schon wieder. Immer dieser Wunsch nach Veränderung. Reicht doch schon, dass ich kein Bulle mehr bin. Jetzt auch noch wegziehen? Ich finde das ein bisschen viel auf einmal. Doch es ist schon länger Thema. Jedenfalls bei Franziska.
Sie hat auf dem Küchenstuhl Platz genommen und schüttet sich ein ernsthaftes Glas Milch ein. Das verheißt nichts Gutes. Denn die Kombination Küche, Milch, Stuhl bedeutet: Sie will reden. Nichts gegen Reden an sich. Reden ist ja weiß Gott nichts Schlechtes. Schon gar nicht in Beziehungen und erst recht nicht, wenn man so eine Ehegeschichte wie die unsere zu bieten hat. Aber zu häufig reden, vor allem über die ganz großen Lebensthemen, das ist so … anstrengend. Dass wir uns überhaupt noch freiwillig in dieser Küche gegenübersitzen, das haben wir, muss ich allerdings zugeben, auch dem Reden zu verdanken. Nicht nur, aber auch.
«Das Haus ist doch eh zu teuer für uns. Wenn das so weitergeht, können wir uns das doch bald nicht mehr leisten. Was sollen wir dann noch hier? Oder hängst du wirklich so an Bad Salzhausen?»
«Ja, das tue ich. Wohnen, da, wo andere Sonntagnachmittagsausflüge machen, das war und ist meine Maxime», scherze ich und meine es aber auch ein kleines bisschen ernst.
Franziska lacht. Schon seit einiger Zeit lacht sie wieder über meine dummen Sprüche. Das soll bitte so bleiben.
Dann habe ich Glück. Sie beginnt nicht wieder neu mit diesem Thema und fängt erst recht nicht mit der Diskussion an, ob es nicht spannend sei, mit anderen «jungen» Eltern ein gemeinsames Wohnprojekt zu starten. Denn das fände ich so gar nicht spannend.
«Ich guck mal nach Laurin», gähnt Franziska müde über den Tisch und macht sich auf den Weg.
Noch einmal versuche ich es bei Melina und erreiche sie wieder nicht. Festnetz, schießt es mir durchs Hirn. Melinas Wohngemeinschaft hat doch eine Festnetznummer. Einen ganz oldschooligen Festnetzanschluss über die Telekom. Ein Relikt aus der guten alten Zeit. Ich wähle.
«Ja?», nuschelt es durch den Hörer.
«Bröhmann», schmettere ich demonstrativ laut und deutlich, und wie ich so das R in meinem Namen wie ein Schauspieler aus der Vorkriegszeit rolle, klinge ich fast wie mein verstorbener Vater. Es versetzt mir einen kleinen Stich. Das sind die Momente, in denen er mir fehlt. Ohnehin fehlt er mir viel mehr, als ich es zu Lebzeiten jemals erwartet hätte.
«Brrrröhmann», hätte er noch demonstrativer als ich geschmettert. «Kann man nicht mal hergehen und sich anständig mit seinem Namen melden?»
So hätte er meine Gesprächspartnerin, irgendeine junge Frau aus Melinas WG, zurechtgestutzt. Ich hätte mich dann geschämt, falls ich dabei gewesen wäre. Es wäre mir peinlich gewesen. Und jetzt, heute, in diesem Moment, da er nicht mehr da ist, da gebe ich ihm recht. Ich grinse leicht in mich hinein und sage: «Brrrröhmann, kann man nicht mal hergehen und sich anständig mit seinem Namen melden?»
Meine Gesprächspartnerin schweigt.
«Ist Melina Bröhmann zu sprechen?»
Ich warte auf eine Antwort und bin nicht sicher, ob die Mitbewohnerin nicht schon längst aufgelegt hat.
Doch dann höre ich so etwas wie «Mmment» und lausche, wie sie an eine Tür klopft und Melinas Namen ruft.
«Nö.»
«Bitte?»
«Nö, isssnichda.»
«Wären Sie dann bitte so nett und richten ihr aus, dass sie ihren Vater bitte zurückrufen möge, wenn sie wieder nach Hause zurückgekehrt ist», schnarre ich und fuchtele dabei theatralisch mit dem Arm in der Gegend rum.
Franziska steht inzwischen wieder in der Küchentür, legt ihre Stirn in Falten und zeigt mir einen Vogel.
Dann kommt aus dem Hörer: «Sonst haste se aber noch alle, Papa, oder?»
«Melina?»
«Wer sonst?»
«Wie, äh, wo kommst du denn jetzt her?»
«Ich war die ganze Zeit dran.»
«Warum sagst du das denn nicht gleich?»
«Wie denn? Kam ja nicht zu Wort.»
Sie klingt ein klein wenig belustigt, aber noch viel mehr erschöpft und müde.
Kleinlaut und etwas peinlich berührt, frage ich sie, ob bei ihr alles in Ordnung und was genau bei der Kundgebung vorgefallen sei.
«Alles gut», kommt da nur kurz. «Gehört zum Job.»
Franziska fuchtelt derweil mit Nick auf dem Arm in der Luft herum, vermutlich um mir mitzuteilen, das Gespräch laut zu stellen.
«Ich stell dich mal laut», sage ich zu Melina.
Ich sehe förmlich vor mir, wie sie die Augen verdreht.
«Wieso? Ich hab nichts zu sagen», grummelt sie. Frida quengelt im Hintergrund.
«Wie, du hast nichts zu sagen?», ruft Franziska etwas gereizt aus der zweiten Reihe. Ich halte das Telefon in die Luft. «Es gab doch heftige Krawalle und Verletzte. Haben sie grad im Radio gemeldet.»
Melina nuschelt genervt irgendetwas Unverständliches und stöhnt dann laut.
«Mann, das ist mein Job, jetzt entspannt euch mal. Mir geht’s wirklich gut. Tschö.»
Also alles gut, denke ich und schnappe mir die immer lauter quäkende Frida.
Frida hat eine Schreistimme, die nicht von dieser Welt ist. Sie klingt nicht nur hell und spitz, sondern vor allem sehr, sehr laut. Durchdringend durch alles, was durchdringbar ist. Schon in den ersten Lebenswochen schmetterte sie mit ihrem Organ durch Oberhessen. Ich stopfte mir dann häufig hektisch Taschentuchfetzen in die sensiblen Ohren, um nicht mindestens einen Tinnitus zu erleiden oder gleich zu ertauben. Inzwischen bin ich abgestumpft und abgehärtet oder schlicht und ergreifend zu erschöpft, um mir noch was in die Ohren zu stecken.
Ich weiß nicht, ob es am Alter liegt oder nur an meiner mir eigenen Wehleidigkeit, dass mich dieses erste Eltern-ComebackJahr so schafft. Nun, es sind schließlich auch zwei. Das ist schon eine ganz andere Nummer. Der anstrengendste Job jedenfalls, den ich jemals hatte.
Erst mit Frida und Nick ist mir klargeworden, wie selten ich bei Melina vor zwanzig Jahren und bei Laurin vor elf Jahren für die Kinder präsent oder gar zuständig war. Richtig zuständig. Nicht zuständig in der Art, nach der Arbeit ein Kind für eine halbe Stunde in die Arme gedrückt zu bekommen und die Befehle der Kindesmutter auszuführen. Erst jetzt habe ich verstanden, was es bedeutet, den kompletten Tag «im Dienst» zu sein. Nicht selten beneide ich Franziska, wenn sie wieder zur Musikschule darf, um Unterricht zu geben.
Ich habe keinen geregelten Job, ich bin so etwas wie ein Hausmann, ein Vollzeitvater. Das mit Nick und Frida bekomme ich hin. Und es gibt mir auch etwas, was auch immer es ist. Doch Energie ist es sicher nicht, was ich bekomme, dafür bin ich zu müde. Und den Haushalt kriege ich so gar nicht auf die Reihe. Wenn Nick und Frida mal beide gleichzeitig schlafen, dann werde ich doch den Teufel tun und die Küche aufräumen oder die Wäsche machen. In dieser Zeit gehöre ich aufs Sofa und gucke eine Folge «The Walking Dead». Der verzweifelte Kampf gegen Zombies hat für mich stets etwas Tröstendes. Es relativiert so erfrischend. Der Kampf gegen Zwillinge ist am Ende nicht ganz so schlimm, wie in einem fort von Untoten bedroht zu werden.
Meistens jedenfalls.
Die Berufsbezeichnung Hausmann ist für mich aber nicht wirklich zutreffend. Den Haushalt macht weiterhin in der Hauptsache Franziska. Oder wir streiten uns darüber, wer von uns beiden wofür zuständig zu sein hat und wer vor allem der Müdere von uns ist. Wir streiten also über Themen wie alle anderen Eltern auch. Das ist das Beste an der Sache. Wir sind ein ganz normales blödes Ehepaar und haben Probleme wie alle anderen.