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© Frank Becker

Dorothea Renckhoff,

geboren 1949 im Ruhrgebiet, arbeitete nach dem Studium als Dramaturgin an verschiedenen deutschen Bühnen. Heute lebt sie als freie Autorin in Köln und hat u. a. Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht. »Verfallen« ist ihr erster Roman.

Zum Buch

Die Geheimnisse von Jugend und Alter, von Kunst und Vergänglichkeit

Über Nacht wird Lucille zum Star der Opernbühne, doch sie selbst bleibt von Geheimnissen umgeben. Nur der junge Erzähler weiß, dass sie noch vor kurzem ein unscheinbares Mädchen mit einem schwachen Stimmchen war – und dass ihre Verwandlung mit der Baracke am Rand einer großen Baugrube zu tun haben muss. Doch was verbindet Lucille mit den zwielichtigen Bewohnern dieses Schuppens? Und woher stammen die plötzlichen Zeichen von Alter auf ihrem Gesicht? Zunehmend füllt sich die Realität mit surrealen und phantastischen Erscheinungen. Die elende Baracke scheint Paläste und Wunder zu bergen, aber auch eine Falltür in den Tod …

Verfallen erzählt auf betörende Weise von der Beziehung zwischen Kunst und Vergänglichkeit, von der verzweifelten Suche nach einem Ausweg aus Alltäglichkeit und Mittelmaß – und von einer zeitlosen Freundschaft, die Jugend und Alter übersteigt.

»Ich spürte, was sich da entfaltete, und sah Lucille wie einen Sturm von Leben über diese riesige Bühne gehen.« Schon bei der ersten Premiere der jungen Sängerin erkennt jeder im Publikum, dass er die Geburt einer Jahrhundertstimme miterlebt. Ihr Gesang scheint eine übernatürliche Kraft zu verströmen, die den Zuschauer bannt wie ein Zauber.

Über Nacht wird Lucille zum Star der Opernbühne, doch sie selbst bleibt von Geheimnissen umgeben. Nur der junge Erzähler weiß, dass sie noch vor kurzem ein unscheinbares Mädchen mit einem schwachen Stimmchen war – und dass ihre Verwandlung mit der Baracke am Rand einer großen Baugrube zu tun haben muss. Doch was verbindet die erfolgsverwöhnte Diva mit den zwielichtigen Bewohnern dieses Schuppens? Weshalb weigert sie sich, auf Gastspielreise zu gehen, und woher stammen die plötzlichen Zeichen von Alter auf ihrem Gesicht?

Mit dem Erzähler des Romans wird der Leser hineingezogen in eine magische Welt aus Kunst und Musik, in der sich die Realität immer mehr mit surrealen und phantastischen Erscheinungen füllt. Die elende Baracke scheint Paläste und Wunder zu bergen, aber auch eine Falltür in den Tod …

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Dorothea Renckhoff

Verfallen

Roman

Berlin University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

© by Berlin University Press in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text basiert auf der Ausgabe Berlin University Press, Berlin & Köln 2014
Lektorat: Anna-Maria Valerius
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH
Hamburg Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-86280-076-6

http://www.verlagshaus-roemerweg.de/Berlin_University_Press/

Inhalt

Inhalt

Verfallen

Ein leises Klingen, die Tür des Fahrstuhls öffnet sich, gleitet lautlos auseinander. Alle Geräusche sind gedämpft in der weiten Hotelhalle, auch meine Schritte auf dem weichen Teppich, der mich so selbstverständlich führt, als wäre ein unsichtbarer Weg in ihn eingezeichnet.

Ein ganz schwacher Geruch von Blumen liegt in der Luft, kaum zu spüren. Kein künstlicher Duft, kein Parfum. Der Hauch geht aus von dem riesigen Strauß in der großen, bauchigen Vase, dicht beim Eingang. Früher schaute ich von der Straße draußen herein und sah sein Schimmern durch die hohe Glastür. Meistens waren es Rosen damals; ihr blutig brennendes Rot war nur durch eine dünne Scheibe von der eisigen Luft und von den fallenden Schneeflocken getrennt. Heute dominieren Lilien, weiß, rosa und violett. Sie sind kurz vor dem Welken; man sieht es nicht, ihr Aussehen ist makellos, aber in ihrem Geruch ist schon etwas Verdorbenes wie eine Ahnung von Kompost.

Der Portier lächelt und grüßt, wie so oft in diesem vergangenen Jahr. In diesem Jahr bin ich sechzehn geworden. Aber das denkt keiner, der mich sieht. Achtzehn, das ist das Mindeste. Die Meisten halten mich für älter als zwanzig. Selbst dieser Portier, mit seinem geschärften Blick für vielerlei Menschen, hat mich auf mindestens neunzehn taxiert, als Lucille ihn fragte.

Heute öffnet er die Tür zum letzten Mal für mich.

Lucille sitzt oben in ihren Zimmern; ich habe gehört, wie sie den Schlüssel hinter meinem Rücken im Schloss drehte; ich habe ihre Schritte gehört, die zu dem blauen Sofa zurückkehrten. Sie waren kaum noch zu vernehmen. Ich hätte so gerne noch einmal ihre Stimme gehört.

Einen winzigen Augenblick bleibe ich auf der Schwelle stehen, dann trete ich auf die Straße, wo man den zarten Blumenduft nicht mehr riecht. Ich weiß nicht, niemand weiß, ob ich jemals wieder ein Luxushotel werde betreten können. Aber eigentlich war ich auch bisher nie selbst Gast in diesem Haus, sondern immer nur Gast von anderen Gästen, einer, der nie wirklich hergehörte, der sich hereingemogelt hatte in den geschützten Raum. Wie ein Hochstapler, der zerrissene Wäsche unter seinem eleganten Anzug trägt und fürchtet, sein Hemd könne einen zerfransten Ärmel unter der Jacke vorschieben.

Auf der Spur von Lucille ist mir das bald gleichgültig geworden; es war so schwer, ihren immer rasenderen Schritten und Sprüngen zu folgen. So schwer, dass ich an die Figur, die ich abgab, nicht mehr denken konnte, und diese Selbstverständlichkeit hat mich hier wohl auch so heimisch wirken lassen. Selbst meine Unfähigkeit, Trinkgelder zu geben, schrieb man bald der Knauserigkeit der sehr Reichen zu.

Nur ganz am Anfang jagte mir dies Hotel mit seinem Anspruch Angst ein. Das war vorbei, sobald ich zum ersten Mal mit Lucille jene merkwürdige Baracke betrat, aus deren schäbiger Enge dann magische Blüten und wunderbar prächtige Vögel wucherten. Doch vorher empfand ich noch, was ich später vergaß, in diesem immer tolleren Wirbel der Ereignisse vergaß – dass ich nicht hergehörte.

Ich empfand es, und die meisten von Annas Gästen ließen es mich deutlich fühlen, als wir ihren Geburtstag in einem der getäfelten Salons feierten. Anna hielt zu mir, dachte ich, Anna liebte mich. Aber sie sah es doch, wenn ihre Mutter unauffällig meinen dunklen Anzug musterte und dann rasch den Blick einem der anderen Herren zuwandte, die alle im Smoking erschienen waren. Diese richtigen Herren hatten Geschenke gebracht, teure Geschenke, das sah man schon an der Verpackung, und Blumen, so erlesen, dass ich ihre Namen nicht kannte. Diese richtigen Herren waren erwachsen, richtig erwachsen, und mit leisem Spott sahen sie auf die rote Rose, die ich für Anna gekauft hatte. Von einem der Ober hatte ich ein Wasserglas erbeten, um sie vor ihr Gedeck zu stellen. Rosen sind teuer im Winter, für mich bedeutete diese eine große Ausgabe, aber man sah sie kaum neben der Tischdekoration.

Seit ich Anna kannte, war meine Brieftasche permanent leer. Alles, was ich bis dahin gespart hatte, verwandelte sich in kurzer Zeit in Blumen und Überraschungen; alles, was ich neben der Schule verdienen konnte, musste ich sofort ausgeben, um Anna einladen zu können. Zwei Karten fürs Kino, zwei Gläser Sekt, zwei Cocktails, es war so wenig, was man für so viel Arbeit bekam. Anna nahm all das ganz selbstverständlich hin, sie kam gar nicht auf die Idee, dass diese Kleinigkeiten für mich ein ständig wachsendes Problem darstellten – diese verwöhnte Person würde mich noch völlig in den Ruin treiben, lautete der bittere Kommentar meiner Mutter, und dann fallen lassen. Ich widersprach mit Leidenschaft und so laut, dass auch der schwerhörige Nachbar mich verstehen konnte, aber nur, um die schreiende Angst in meinem Innern zu übertönen. Dies Glück konnte nicht von Dauer sein. Ich, ein Schüler, noch nicht sechzehn, ohne reiche Eltern, ohne einflussreiche Freunde, ohne irgendwelche Berühmtheiten in der Familie, ohne Auto oder Villa oder irgendetwas, was mich besonders auszeichnete, ich hatte eine solche Freundin, die all das besaß – und dabei war sie auch noch wunderschön, fabelhaft angezogen, eigenwillig und so intelligent, dass sie als Studentin im dritten Semester schon die Aufmerksamkeit der Professoren auf sich gezogen hatte.

Der Augenblick, wo ich sie verlieren würde, dehnte sich in meinem Bewusstsein zu einem bodenlosen Abgrund, der auf Schritt und Tritt vor mir aufzubrechen drohte. Ich empfand seine Nähe in jeder Minute und suchte durch immer neue Ideen, immer aberwitzigere Kunststücke das Gleichgewicht zu halten, während ich an seinem Rand dahintaumelte. Je knapper meine Mittel wurden, desto mehr musste ich mir einfallen lassen. Längst gab es in meinem Bekanntenkreis keinen Menschen mehr, dem ich nicht Geld schuldete, und selbst den großen Schein, den mein Onkel mir jedes Jahr zu Weihnachten schickte, hatte ich in diesem Jahr schon in den ersten Dezembertagen im Voraus verbraucht.

Und doch versetzte diese Liebe mich in einen rauschhaften Glückszustand, und wenn Anna mit ihrem wunderschönen Lächeln aus meiner Hand ein seltenes Buch annahm, das sie mit Interesse erwähnt und das ich tatsächlich aufgetrieben hatte, so riss sie mich damit in eine Art von betäubter Seligkeit, und ich dachte nicht mehr an all die Tricks und Kniffe, die ich hatte aufwenden müssen, um die Gabe bezahlen zu können. Dachte auch nicht daran, dass ich mir nur zu bald etwas Neues würde einfallen lassen müssen.

Am Nikolausabend wusste ich nicht mehr weiter. Annas Mutter hatte zu einem kleinen Essen geladen. Das bedeutete etwa acht Gäste, fünf Gänge, eine dezent geschmückte Tafel und vielleicht einen kleinen Heiligen, ein Eselchen oder eine bunte Rute an jedem Platz. Das bedeutete auch eine Aufmerksamkeit für die Gastgeberin, erlesen, ausgefallen oder teuer. Eine rote Rose konnte es dieses Mal nicht sein, und nicht einmal dafür hätte ich noch Geld auftreiben können. Seit zwei Stunden lief ich durch die Straßen und suchte nach einer Gelegenheit, einem genialen Einfall für eine Überraschung. Es war fast sieben Uhr, bis halb acht hatte ich Zeit. Aber es war aussichtslos, ich konnte genauso gut nach Hause gehen, es gab einfach nichts mehr, was den Ansprüchen genügt hätte und erreichbar für mich war.

Ich würde anrufen und mich mit einer plötzlichen Krankheit entschuldigen müssen. Damit wäre das Problem für heute gelöst. Aber Anna würde ich tagelang nicht sehen können. Und mechanisch lief ich weiter, ohne die übervollen Auslagen der Geschäfte noch länger anzusehen, all die Dinge, die ich nicht bezahlen konnte. Heute konnte ich mich entschuldigen, und vielleicht würde ich Anna noch ein paar Mal treffen, aber für mich würden es bittere Stunden sein, weil sie den Kern des Abschieds schon enthielten. Wenn ich heute absagte, das machte ich mir unbarmherzig klar, so war das der Anfang vom Ende. Es hatte nichts damit zu tun, dass ich an ihrer Liebe gezweifelt hätte; es ging darum, ob ich ihr wenigstens einen Abglanz dessen geben konnte, was sie gewöhnt war und was ihr zukam.

Ohne es zu bemerken, hatte ich die belebten Geschäftspassagen verlassen und war in eine Seitenstraße geraten, wo parkende Autos im Halbdunkel zwischen den wenigen Laternen schliefen. Ein einziges Lokal unterbrach die gleichmäßige Reihe der Hauseingänge zu meiner Linken, doch es war geschlossen; nur aus dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäfts auf der anderen Seite strömte ein gedämpftes, gelbliches Licht auf den Bürgersteig. Hinter der Scheibe beleuchteten zwei Stehlampen mit blassen Seidenschirmen ein kleines Zimmer aus den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Kantige Ledersessel, ein Couchtisch, eine Uhr, ein Zeitungsständer, der Lichtschein fügte sie zum belebten Raum; eine kleine Bühne einen Meter über der Straße. Ich sah hinüber, und ohne mir dessen bewusst zu sein, wartete ich darauf, dass jemand hereinträte und Besitz von seinem Zimmer nähme.

Aber niemand kam. Der Raum blieb leer. Und erst, als ich eine Weile dagestanden und hinübergesehen hatte, merkte ich, dass sich vor dem Schaufenster noch etwas anderes befand, auf dem Bürgersteig. Ich wunderte mich, dass ich es nicht gleich bemerkt hatte, denn das Licht aus dem kleinen Laden floss darüber hin. Es war ein einfacher Verkaufsstand, eine Art Klapptisch aus Holz, und dahinter bewegte sich eine schmale Gestalt in einem grünlichen Mantel. Sie hantierte mit ein paar großen Blumen, die sie in einer riesigen Konservendose vor sich auf der Brettertheke stehen hatte. Es waren einmal saure Gurken darin eingelegt gewesen, das stellte ich fest, als ich ohne zu überlegen auf den armseligen Stand zuging, sie waren auf der hellen Metallwandung abgebildet, grün und rund.

Aber dann zogen die Blumen meinen Blick auf sich, und ich vergaß das schlechte Gefäß. Nie zuvor hatte ich derartige Blüten gesehen, und selbst die kostbarsten Exemplare von Annas Gabentisch hätten neben ihnen gewirkt wie Gänseblümchen. Die Köpfe dieser phantastischen Pflanzen waren groß wie menschliche Gesichter, und die Farben der Blütenblätter schienen von innen zu leuchten, wie eine Lampe aus buntem Glas, in der eine Fackel brennt.

‚Willst du eine kaufen?’ fragte das Mädchen im grünen Mantel mit einer merkwürdig tonlosen Stimme. Ich musste den Kopf schütteln, ‚so etwas kann ich nicht bezahlen,’ gab ich ihr zur Antwort, und doch konnte ich mich vom Anblick der Blüten nicht lösen. ‚Ich glaube doch,’ sagte das Mädchen, ‚such dir eine aus, und dann gibst du mir eine Münze, die du in der Tasche hast.’

Ich hatte tatsächlich noch etwas Kleingeld bei mir, das Ergebnis einer Verkaufsaktion, bei der ich mich am Tag zuvor von einigen meiner Bücher getrennt hatte, mit schlechtem Gewissen, als hätte ich meine besten Freunde verschachert, und das auch noch mit erbärmlichem Resultat, denn mit dem Erlös hätte ich vielleicht gerade ein paar Bonbons kaufen können. Ich hatte mich mit dem Gedanken zu trösten versucht, dass der Inhalt der Bände mir blieb, auch wenn ich sie fortgab, und dass niemand mich aus den Wunderwelten vertreiben konnte, die ich beim Lesen erobert hatte, doch die Kränkung über den Wertverfall meiner liebsten Besitztümer hatte nicht weichen wollen. Jetzt aber war ich froh über den Gewinn aus dem elenden Handel, und ohne weiter nachzudenken streckte ich dem Mädchen die Münzen in der offenen Hand hin. Sie wählte eine aus und nahm sie, ‚in meinem Land,’ sagte sie, ‚ist das viel Geld,’ und sie deutete auf die Blumen, und ohne zu überlegen zog ich eine aus dem Gurkeneimer und schüttelte sie vorsichtig, und das Wasser tropfte von dem starken Stiel und schien in der Luft farbig aufzuleuchten.

Ich blickte das Mädchen noch einmal an, vielleicht war das Ganze ja ein Scherz, aber sie nickte mir zu und sagte nichts mehr, und ich sah einen goldenen Ring um ihre Pupille wie im Auge einer Kröte. Doch dann wartete ich nicht länger; jetzt würde ich es nicht mehr ertragen, wenn sie es sich anders überlegte, und mit einem hastigen Gruß kehrte ich ihr den Rücken und ließ sie und ihren Stand und das erleuchtete kleine Zimmer und die stille Straße hinter mir.

Mein Erfolg war ungeheuer.

Sämtliche Gäste waren schon versammelt, als ich eintraf. Die Haushälterin nahm mir im Vorraum den Mantel ab, und ich sah durch die weit geöffnete Flügeltür ein paar Damen und Herren mit Gläsern in der Hand in dem schönen Zimmer stehen, wo jeder dieser Abende begann. Warmes Licht hüllte die Gruppe um Anna und ihre Mutter ein und schimmerte in der polierten Wandtäfelung, doch der Schwerpunkt lag nicht bei den Menschen, sondern auf einer hohen Kommode mit schmalen Schubladen. Sie war einem Möbelstück aus Goethes Arbeitszimmer in Weimar nachempfunden, hatte Anna mir erzählt. Wie zufällig bündelten sich ein paar Strahlen auf der glänzenden Platte, aber das war natürlich kein Zufall, es war inszeniert, denn dort stand ein antikes Stück, ein großer Fuß aus Marmor mit gekreuzten Sandalenbändern und einem abgesplitterten kleinen Zeh. Gäste und Raum kamen mir vor wie ein Gemälde im Rahmen der großen Tür, ein Bild, das den Blick zuerst und vor allem auf die steinerne Kostbarkeit lenkte.

Anna wandte den Kopf und sah mir aus dem Bild entgegen, und dann atmete sie ganz tief und schaute einen Augenblick lang still herüber, und ich erkannte die Spiegelung meiner Blume auf ihrem Gesicht, ein Leuchten aus der Tiefe der Augen, und dann drehten sich alle zu mir um und starrten mich an und das, was ich in der Hand hielt. Bei einigen spürte ich etwas wie Verblüffung, beinahe Neid, fast hörte ich sie denken, wie kommt der Bengel auf einmal an so etwas, nach all den Rosenstängeln und Albernheiten, aber Anna löste sich aus dem Kreis und kam mir entgegen, sie umarmte mich vor allen anderen, und dann ging sie die wenigen Schritte zu ihrer Mutter mit mir und hielt mich am Arm dabei, und ihre Mutter lächelte mich an wie nie zuvor und nahm die Blume aus meiner Hand.

Sonst wurden auch die üppigsten Gebinde zur Versorgung an die Haushälterin weitergereicht, ihr blieb auch die Auswahl von Vase und Standort überlassen, doch jetzt gab die Gastgeberin selbst Anweisung, und alle Anwesenden wurden Zeuge, wie meiner Gabe eine bisher nie dagewesene Ehre zu Teil wurde: Mit größter Vorsicht hob man den Marmorfuß von der Kommode, ein gläserner Krug tauchte auf, und dann stand meine Blume strahlend im Licht und beherrschte den Raum.

Ein Kunstwerk, eine Kostbarkeit. Manche flüsterten, viele dachten, alle bemerkten es. Während das bewundernde Gemurmel noch anhielt, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Annas Mutter ins Speisezimmer huschte und die Tischordnung änderte. Zwei der kleinen Geschenke auf den Tellern wurden miteinander vertauscht, und dann fand ich mich tatsächlich auf dem Ehrenplatz, zwischen ihr und meiner Freundin.

Alle Gäste betrachteten mich mit anderen, freundlicheren Augen; es war, als sei der etwas unpassende junge Mann von bisher auf wundersame Weise gegen einen vielversprechenden Hoffnungsträger ausgetauscht worden. Und so fühlte ich mich auch. Die anerkennenden Blicke, die gesteigerte Aufmerksamkeit verliehen mir Schwung, ich war witzig, ich war geistreich, ich war mit einem Mal der glänzende junge Mann, der ich schon immer so gerne gewesen wäre. Die zauberische Blume hatte mich auf eine höhere Daseinsebene gehoben, und ich fühlte mich getragen von Liebe und Begeisterung.

Noch nie hatte Anna mich so angesehen wie jetzt, und als wir nach Stunden vom Tisch aufstanden, bat sie ihre Mutter mit lauter Stimme, mich zum Heiligen Abend einzuladen. Jeder konnte es hören, auch die zustimmende Antwort konnte jeder hören. Ich war in die Familie aufgenommen, in diese wunderbare, unglaubliche Familie; ich war akzeptiert, als Freund, Geliebter, Bräutigam… Während wir mit den anderen Gästen in das getäfelte Zimmer zurückgingen, wo der Kaffee genommen werden sollte, zerriss mir das Glück fast die Brust.

Im nächsten Augenblick war es zerbrochen.

Ich spürte eine Bewegung in der Gruppe um Annas Mutter, die den Raum vor mir betreten hatte, hörte einen leisen Schreckenslaut, ich weiß nicht, aus wessen Mund. Dann wichen die vor mir Stehenden auseinander; einige wandten sich um und sahen mich an. Plötzlich war etwas wie Abscheu in ihrem Blick. Ich sah zu Anna hinüber; sie starrte in das Zimmer vor uns und stand einen Moment lang ganz still, und dann ließ sie meinen Arm los und trat zwei Schritte von mir fort. Und dann sah ich es selbst.

Meine Blume stand wie zuvor auf der edlen Kommode, in Licht gebadet, noch immer an jenem Punkt im Raum, der sämtliche Blicke auf sich zog. Darum sah jeder, was geschehen war, und sofort.

Die Blüte war verwelkt. Aber was sich hier abgespielt hatte, das war nicht das einfache Erschlaffen einer sterbenden Pflanze, sondern ein Vorgang, wie ich ihn nie zuvor in meiner Nähe erlebt hatte und nie wieder zu erleben hoffte. Was da in der Vase vor aller Augen kraftlos herabhing, hatte nichts mehr zu tun mit der glühenden Wunderblume, die vor einigen Stunden an derselben Stelle gestanden hatte. Jedes Strahlen, jede Farbe war geschwunden, das ganze leuchtende Gebilde war geschrumpft zu einem gallertartigen, grauen Etwas, und die schimmernden Staubgefäße lagen zu kleinen Klumpen zerbröselt auf dem Holz der Kommode und machten klebrige Flecken auf die Politur. Selbst der Stiel der Pflanze sah durch die gläserne Wand des Kruges schleimig aus, und merkwürdige Farbschlieren zogen sich durch das Wasser.

Annas Mutter hielt den Blick auf dieses Wasser gerichtet. ‚Ach ja,’ sagte sie mit einem ganz dünnen Lächeln, ‚ich erinnere mich. Als Kinder haben wir Knoblauchblüten in rote Tinte gestellt, es sah wunderschön aus, wenn sie die Farbe aufgesaugt hatten, ein paar Stunden lang…’ Damit war ich auf das Niveau eines albernen, dummen Jungen zurückgestuft. Schlagartig hatte sich auch die Haltung der Gäste mir gegenüber geändert. Jetzt sah mich niemand mehr freundlich an. Spott, Schadenfreude, Verachtung und sogar Abscheu schlugen mir entgegen. Annas Augen aber waren das Schlimmste. Groß und zornig schauten sie mir entgegen. Ich spürte fast körperlich, wie sie sich für mich schämte.

Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund füllte sich mit Staub und meine Kehle mit Sand. Ich sah, wie die Gastgeberin eine winzige Handbewegung machte; stumm stand ich dabei, wie daraufhin die Vase mit ihrem scheußlichen Inhalt weggetragen wurde und wie man das antike Stück wieder auf die Kommode hob. Die Sohle der marmornen Sandale näherte sich der hölzernen Platte, und zugleich trampelte der steinerne Fuß mir in die Brust. Ich machte eine Verbeugung, so ungeschickt wie nie zuvor, und floh.

Zuerst rannte ich nur durch die Straßen, ohne zu wissen, wohin. Dann fiel mir das Mädchen mit dem goldenen Ring in den Augen ein. Sie hatte mir die Unglücksblume verkauft, sie war schuld, sie musste die Sache wieder gut machen. Wie rasend begann ich, nach der kleinen Straße zu suchen, wo sie gestanden hatte mit ihrem Gurkeneimer. Ich fand sie nicht. Sollte es mir gehen wie den Leuten in diesen schlechten Märchen, wo einer etwas Merkwürdiges kaufen soll und es nicht tut, und wie er sich besinnt, da findet er den Händler nicht wieder, und der Weg, an dem er stand, ist versunken?

Ich lief auf und ab zwischen den hellen Schaufenstern. Die Weihnachtsbeleuchtung schien mir grell ins Gesicht, nur für mich all die Lichterketten, all die Glühbirnen, die Girlanden. Ich starrte verzweifelt hin und her, suchte nach einer dämmerigen Lücke in all der Glitzerfolie. Und mit einem Mal tat sie sich auf. Da lag die stille Straße wieder vor mir, mit dem kleinen Antiquitätenladen, mit dem erleuchteten Zimmer einen Meter über dem Bürgersteig. In meiner Erregung hatte ich sie lange Zeit in der falschen Richtung gesucht. Die Autos schliefen noch immer, die Straßenlaternen waren für die Nacht heruntergeschaltet und leuchteten schwächer, und der Besitzer von Ledersesseln und Stehlampen war nicht gekommen.

Auch das Mädchen im grünlichen Mantel war nicht da. Kein Blumenstand, kein Gurkeneimer. Was sollte sie auch hier, jetzt, Stunden nach Mitternacht. Ich hatte keinen Grund, mich über ihre Abwesenheit zu wundern. Aber das leere Straßenpflaster, dort, wo sie gestanden hatte, schien sich zu heben und sich in stummem Wirbel zu einem riesigen, steinernen Fuß zu fügen, der mir krachend in die Brust trat.

Es fiel mir nicht leicht, Anna zu versöhnen. Ich schämte mich, und sie schämte sich für mich. Ich brauchte einige Tage, bis ich sie anzurufen wagte; noch mehr Zeit verging, bis wir einander wiedersahen. Meine Mutter hoffte schon, es wäre ganz vorbei mit uns. Aber Anna liebte mich, und wenige Tage vor Weihnachten versöhnten wir uns, ohne ein Geschenk von mir, denn ich hatte noch immer kein Geld. Eine leise Verstimmung aber blieb zurück, auch wenn wir so taten, als wäre alles wie vorher.

Die Einladung zum Heiligen Abend blieb bestehen, Annas Mutter mochte sie nicht zurücknehmen, auch wenn sie ihr sicherlich lästig war. Damit stand ich vor einem noch größeren Problem als am Nikolausabend: Woher sollte ich nehmen, was von mir erwartet wurde? Eine passende Aufmerksamkeit für die Gastgeberin? Ein Weihnachtsgeschenk für Anna? Noch einmal versuchte ich es bei meiner Mutter. Doch sie war schon so erbost, weil ich diesen Tag nicht mit ihr, sondern mit Annas Familie feiern wollte, dass sie mir ihren abgenutzten Handfeger für die Mutter und den verfärbten, alten Plastikmülleimer aus der Küche für die Tochter anbot.

Am vorletzten Schultag kam frühmorgens ein Anruf von einem Warenhaus, wo ich wiederholt nach einer Arbeit als Aushilfe gefragt hatte. Jemand war ausgefallen, ob ich bis Heiligabend am Packtisch einspringen könnte. Ich sagte sofort zu. Es bestand keinerlei Aussicht, in der kurzen Zeit auch nur annähernd das zu verdienen, was ich gebraucht hätte, aber für einen Strauß, ein paar besondere Kerzen, ein Buch würde es vielleicht reichen. Ich brauchte nicht mit völlig leeren Händen zur Bescherung in das schöne Haus zu gehen. Am Weihnachtsabend würde man, so hoffte ich, über die Bescheidenheit der Gabe hinwegsehen.

Auf Schulbesuch musste verzichtet werden. In diesen Tagen beschränkte der Unterricht sich ohnehin auf gemeinsames Frühstück und Weihnachtsfeiern, das reine Stunden Absitzen, während man unlustig Essen in sich hineinstopfte. So stand ich an meinem Platz im Warenhaus, ohne Frühstück, und verpackte mit fliegenden Fingern Rasierapparate und Computerspiele in goldbedrucktes Papier, und während ich Päckchen für Päckchen mit Schweineschwänzchen aus glänzendem Ringelband versah, überlegte ich fieberhaft, wo ich am Heiligen Abend nach Geschäftsschluss noch etwas würde kaufen können, und was das sein sollte.

Schließlich fiel mir nur der Weihnachtsmarkt ein, und als die Tür des Personaleingangs am 24. Dezember hinter mir zufiel, hastete ich so schnell ich konnte, mit steifen Beinen vom langen Stehen, auf den großen Platz vor der Kirche zu, wo ich die Verkaufsstände aufgebaut wusste. Ich zitterte vor Angst, es könnte auch dafür schon zu spät sein.

Schon von Weitem sah ich, dass ich auf die merkwürdigen Funde nicht mehr hoffen konnte, die auf solchen Märkten zuweilen zu machen sind; viele der Buden waren schon geschlossen, manche Verkäufer packten gerade ein, und die Weihnachtslieder aus den Lautsprechern wehten über menschenleere Gänge zwischen den Ständen. Das Kinderkarussell drehte sich noch; ein einsamer Vater stand neben einem Schimmel und hielt mit frierenden Händen ein kleines Mädchen im Sattel fest; die hölzernen Pferdeaugen um ihn her sahen ihn so vorwurfsvoll an, als hielte er sie von der Weihnachtswiese zurück, wo sie einmal im Jahr springen und galoppieren durften, wie sie selbst es wollten, und Gras fressen und süße rote Äpfel.

Ein Karussellpferd, das wäre das Richtige, aber freiwillig würde wohl keines mit mir kommen, und so eilte ich über den Platz, gebrannte Mandeln gab es noch zu kaufen, wollene Mützen und Räuchermännchen, aber das war es auch schon fast, und mit wachsender Verzweiflung schaute ich mich um und versuchte mir vorzustellen, wie sich ein solcher qualmender, kleiner Gnom in Annas erlesene Umgebung einfügen würde. Ich sah das höfliche Lächeln ihrer Mutter über ein so kindisches Geschenk, und begann zu rennen, denn vielleicht gab es ja doch noch etwas anderes, etwas, das nicht ganz so schrecklich war… Und dann sah ich sie. Das Mädchen mit dem goldenen Ring in den Augen, sie, die für die schrecklichste Stunde meines Lebens verantwortlich war.

Sie trug wieder den grünlichen Mantel, aber diesmal hatte sie keinen Gurkeneimer und keine Blumen. Etwas Schimmerndes lag vor ihr auf dem Verkaufstisch, aber ich achtete gar nicht darauf, ich stürzte nur auf sie zu und fing an zu schreien, stammelnd, ich weiß nicht, was, ich war so außer mir, dass ich nichts Sinnvolles mehr von mir geben konnte. Sie sah mich erschrocken an und streckte mir die Hände entgegen, und dann packte sie mich bei den Armen und schüttelte den Kopf, und hielt mich fest und sah mich an mit diesen merkwürdigen Augen, und wieder glänzte das Laternenlicht auf dem goldenen Ring.

Ich versuchte einzuatmen; ich bekam kaum Luft. Die Musik brach ab, ein lautes Knacken kam aus den Lautsprechern, und plötzlich war es ganz still. Ich sah, dass das Mädchen die Lippen bewegte, und dann hörte ich auch, dass sie etwas sagte, sehr leise, ‚… mir leid,’ verstand ich, ‚… ein Kleid… dafür,’ und sie drückte mir etwas Seidiges, Weiches in die Hände. Im nächsten Augenblick stieß sie mich mit großer Kraft zurück, raffte die schimmernden Sachen vor sich zusammen und verschwand zwischen den Ständen.

Ich wollte ihr nach, aber ich kam nicht schnell genug an den Tischen vorbei, und dann sahen zwei Männer von ihrer Arbeit auf und musterten mich unfreundlich, und ich gab die sinnlose Verfolgung auf. Wie ein Idiot stand ich vor dem leergefegten Stand und riss und zerrte an dem Stoff, den sie mir zurück gelassen hatte, ich sehnte mich danach, das Krachen der Fäden in dem billigen Gewebe zu hören, als könnte ich der Fremden damit Schmerzen zufügen. Ich bohrte die Finger hinein, kratzte mit den Nägeln, scheuerte das Tuch über die schartigen Bretter des Tisches; fast hätte ich noch die Zähne zu Hilfe genommen. Aber dann wurde mir bewusst, dass es meiner Wut schon zu lange widerstand, um eines dieser dünnen Gewänder zu sein, deren kostbarer Glanz mit den Lichtern des Weihnachtsmarktes erlischt.

Ich breitete es auseinander und fand keine Risse, keine Löcher, nicht einmal Brüche oder Knitterfalten, und als ich es genauer betrachtete, wurde mir bewusst, was für einen kostbaren Stoff ich hatte zerfetzen wollen. Es war ein Seidensamt, das erkannte ich, Anna hatte einmal im Konzert meine Hand von ihrem Schenkel geschoben, weil, wie sie mir später lächelnd erklärt hatte, der warme Druck auf die Dauer Spuren auf dem kostbaren Gewebe hätte hinterlassen können, denn, hatte sie hinzugefügt, es sei ein Samt, der, aus Seide gefertigt, deren Reißfestigkeit, aber auch ihre freudige Empfänglichkeit für Flecken besäße.

Doch Annas schöner Rock von jenem Abend war ein Lappen im Vergleich zu dem Kleid, das mir das fremde Mädchen zugesteckt hatte. Dieser Stoff war dichter und fester und dabei viel weicher und zarter; er glühte aus sich heraus in dunkel leuchtenden Farben und changierte im Spiel des Lichts, als sei er aus schimmernden Federn gewebt.

Ich zögerte nur einen Augenblick. Kein Zweifel, das war das richtige Geschenk für Anna, und was sollte auch geschehen? Stoffe welken ja nicht.

Dieses Mal sahen keine fremden Gäste meinen Triumph. Und doch war mein Glück noch größer als am Nikolausabend, als ich den wunderbaren Stoff an Annas schönem Körper sah, im Licht der vielen Bienenwachskerzen zwischen den Zweigen des riesigen Baums. Als Anna mich nach der Feier ganz selbstverständlich mit in ihr Zimmer nahm, unter den Augen der Familie, und am Weihnachtsabend. Als ich den wunderbaren Stoff über einen Stuhl am Bett gebreitet sah.