Hermann Schoenauer (Hrsg.)
1. Auflage 2014
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Satz: Andrea Siebert, Neuendettelsau
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-026242-3
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Als der Spiegeljournalist Peter Wensierski im Jahre 2006 seine Recherchen zur Heimerziehung in staatlichen, privaten und kirchlichen Einrichtungen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts publizierte, trat er eine Welle los. Die zum Teil erschreckenden Ergebnisse seiner Nachforschungen erforderten es, dass sich unsere Gesellschaft mit diesem Thema auseinandersetzen musste. Ein Thema, das lange Zeit nicht wahrgenommen wurde und das wahrzunehmen für die Beteiligten unangenehm war. Die jugendlichen Opfer konnten sich nicht wehren. Oft traumatisiert, verdrängten sie die Erlebnisse und Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend. Eine Aufarbeitung erfolgte zuerst nicht. Erst im Lauf der Jahre setzte diese ein.
Ein runder Tisch, zusammengesetzt aus Vertretern staatlicher Institutionen, kirchlicher Einrichtungen, den Vertretern der Opfer und von politischer Seite, nahm sich der Problematik in den vergangenen Jahren an. Ein Abschlussbericht wurde 2011 vorgelegt. Das erlittene Unrecht wurde thematisiert und diskutiert sowie Möglichkeiten der Aufarbeitung und Entschädigung für erlittenes Leid eruiert und umgesetzt.
Auch innerhalb der Diakonie Neuendettelsau wurde die Diskussion wahrgenommen. Seit den 30er Jahren hatte die Diakonissenanstalt keine eigentliche Einrichtung der Fürsorgerziehung mehr. Doch Kinderheime und die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung, in denen auch lernschwache Kinder und Jugendliche untergebracht waren, entsprachen dem Heimcharakter der damaligen Zeit.
Für die Diakonie Neuendettelsau war es ein Bedürfnis, auch diesen Teil ihrer Geschichte zu untersuchen und aufzuarbeiten. Die eingehenden Nachfragen von Betroffenen bestätigten sie in diesem Unternehmen. Mit Frau Dr. Winkler, in deren Händen das Projekt lag, und Herrn Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl wurden zwei Wissenschaftler beauftragt, die Ereignisse zu rekonstruieren, menschliches Leid offen zu legen, aber auch wissenschaftlich einzuordnen. Beide Autoren haben bereits vielfältig zu dieser Thematik geforscht und Publikationen über andere Einrichtungen vorgelegt. Der Diakonie Neuendettelsau war es bewusst, dass dieser Teil der Geschichte bearbeitet werden musste und hat deshalb die beiden in dieser Thematik erfahrenen Wissenschaftler damit beauftragt.
Schon in der Vergangenheit hat sich die Diakonie Neuendettelsau schwierigen Kapiteln ihrer Geschichte gestellt. So wurde der Einsatz von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkrieges untersucht, die Ergebnisse publiziert und sich finanziell am Entschädigungsfond beteiligt. Und auch der dunkelste Fleck unserer Geschichte, die Ermordung von Menschen mit Behinderung aus unseren Einrichtungen in der sogenannten „Euthanasie“-Aktion im Dritten Reich wurde beleuchtet und offen gelegt. Die wissenschaftliche Aufarbeitung erfolgte in der Publikation „Warum sie sterben mussten. Leidensweg und Vernichtung von Behinderten aus den Neuendettelsauer Pflegeanstalten im Dritten Reich“, die 1990 von Hans-Ludwig Siemen und Christine-Ruth Müller vorgelegt wurde. Bis heute und auch zukünftig werden wir diesen Opfern in vielfältiger Weise gedenken.
Sowohl in ihrer Vergangenheit wie auch in der Gegenwart und auch in Zukunft ist es der Diakonie Neuendettelsau ein Anliegen, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen, um neuen Missständen gegenübertreten zu können und um ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Mein Dank gilt an dieser Stelle den beiden Autoren, die in den letzten Jahren mit dieser Arbeit beschäftigt waren. Professor Dr. Hans-Walter Schmuhl beschäftigte sich mit der wissenschaftlichen Einordnung der Ereignisse, Dr. Ulrike Winkler führte zahlreiche Interviews mit Betroffenen und Mitarbeitenden und wertete diese Ergebnisse systematisch aus.
Die Diakonie Neuendettelsau möchte aber nicht nur eine Wiedergabe der Ereignisse geben, sondern basierend auf den Ergebnissen der Untersuchungen hat man eine Konzeption für einen zukunftsorientierten Umgang zu der Thematik Gewalt in allen unseren Einrichtungen erarbeitet, welche in den „Ethischen Leitlinien der Diakonie Neuendettelsau“ Eingang gefunden hat.
Das Wissen um die eigene Geschichte ist wichtig, auch wenn es manchmal schmerzhaft ist. Aber nur dieses Wissen – sei es positiv oder negativ besetzt – erlaubt uns Schlüsse aus der Geschichte zu ziehen.
Mein Dank gilt auch allen Beteiligten, die sich den Fragen in den Interviews gestellt haben, die Einblick in ihre Emotionen, Gefühle, Ängste, ihren Ärger gegeben und ihre Erfahrungen offengelegt haben. Dies war sicher nicht immer leicht.
Ich bedauere, dass viele Menschen Ungerechtigkeit in unseren Einrichtungen in der damaligen Zeit erfahren haben. Wir hoffen, mit dieser Publikation ein Stück Gerechtigkeit vorgelegt zu haben, um diesen Teil unserer Geschichte und die Betroffenen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wir können uns an dieser Stelle nur bei den Opfern für das Erlittene entschuldigen.
Im Frühjahr 2014
Prof. Dr. h. c. Hermann Schoenauer, Rektor
Diese Studie geht auf einen Forschungsauftrag der Diakonie Neuendettelsau zurück. Wir danken ihrem Rektor, Herrn Pfarrer Prof. Dr. h. c. Hermann Schoenauer, erneut sehr herzlich für das in uns gesetzte Vertrauen. In diesen Dank schließen wir Herrn Jürgen Zenker, den Abteilungsdirektor der Diakonie Neuendettelsau, Dienste für Menschen mit Behinderung, mit ein.
Danken möchten wir Herrn Matthias Honold M.A., dem Archivar der Diakonie Neuendettelsau, der uns und unsere Arbeit kenntnisreich, kompetent und unbürokratisch unterstützte. Diesen Dank dehnen wir gerne auf alle diejenigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie Neuendettelsau aus, die uns in vielerlei Hinsicht behilflich waren. Besonders bedanken wir uns dafür, dass sie eine angenehme Atmosphäre für unsere Interviews mit den Bewohnerinnen und Bewohnern schufen.
Weiterhin danken wir herzlich Frau Beate Maaß und Frau Eva Schmuhl, B. A., die zügig und zuverlässig die mehrstündigen und inhaltlich schwierigen Interviews transkribierten.
Unser tief empfundener Dank gilt unseren Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern. Den Mitarbeitenden danken wir für ihr Interesse, ihre Offenheit und ihre Bereitschaft, uns von den Höhen, aber auch von den Tiefen ihres langjährigen Berufsalltages zu berichten. Die Bewohnerinnen und Bewohner öffneten uns mit ihren Erinnerungen nicht nur eine Tür in eine ganz andere Welt und ließen uns damit an ihrem Leben teilhaben, sondern sie zeigten uns auch, wie man ein schweres Schicksal mit Würde und Großmut tragen kann. Diese Begegnungen werden uns unvergessen bleiben.
Erneut haben uns unsere Partner, Rolf Winkler und Dr. Regina Geitner, geduldig und liebevoll unterstützt. Ihnen danken wir sehr.
Trier und Bielefeld, im April 2014
Ulrike Winkler und Hans-Walter Schmuhl
In diesem Buch geht es um die Darstellung und Analyse von Strukturen und Handlungsmustern in den Einrichtungen der Evangelisch-Lutherischen Diakonissenanstalt Neuendettelsau ab den 1950er Jahren bis in unsere Zeit hinein. Anlass dieser Studie waren Beschwerden ehemaliger Bewohner/-innen über Gewalterlebnisse, denen im Folgenden nachgegangen wird. Gleichwohl ging es nicht darum, die Täter/-innen zu entlarven und an den Pranger zu stellen. Aus diesen und aus datenschutzrechtlichen Gründen werden daher nur wenige Männer und Frauen mit ihrem wirklichen Namen genannt. Bei diesen handelt es sich um „Personen der Zeitgeschichte“, also um die Vorsteher, Pfarrer, Oberinnen und Ärzte der Diakonissenanstalt Neuendettelsau. Zur besseren Orientierung der Leserinnen und Leser sind deren Namen bei der ersten Nennung kursiv gesetzt. Ein Personenregister am Ende des Buches gibt einen Überblick über die Personen, die unter ihrem wirklichen Namen auftreten.
Die Namen von Diakonissen, Diakonen und Mitarbeiter/-innen wurden hingegen – ebenso wie die Namen von Bewohner/-innen – durch Pseudonyme ersetzt. Dabei sind die Namen frei erfunden, die Buchstaben, die die Hausnamen symbolisieren, entsprechen in der Regel nicht den tatsächlichen Initialen, sondern folgen in aufsteigender Linie dem Alphabet. Details der Biographien, die konkrete Hinweise auf die tatsächliche Identität der anonymisierten Personen geben könnten, sind weggelassen worden. Überhaupt wurden personenbezogene Angaben, die aus Archivgut erhoben wurden, auf denen noch eine Sperrfrist liegt, weggelassen, sofern es der Forschungszweck zuließ. Schutzwürdige Belange Dritter bleiben unbedingt gewahrt.
Eine Fassung des Manuskripts mit allen Namen sowie eine Liste der verwendeten Pseudonyme wurden im Historischen Archiv der Diakonie Neuendettelsau unter Verschluss genommen, um künftigen Forscherinnen und Forschern, die nach Ablauf der Sperrfristen an dem Thema weiterarbeiten möchten, ihre Aufgabe zu erleichtern.
Ein Letztes: Wir haben uns entschlossen, die Briefe, Berichte und Beschwerden von Bewohner/-innen an die leitenden Persönlichkeiten der Diakonissenanstalt Neuendettelsau buchstabengetreu wiederzugeben. Damit wollten wir zeigen, wie Menschen, die der Schriftsprache manchmal kaum mächtig waren, trotzdem versuchten, in einer bürokratisierten Welt, die stark auf einen formalisierten Briefaufbau, eine korrekte Rechtschreibung und eine gewählte Ausdrucksweise setzt, ihre Interessen zu Gehör zu bringen. Auch ihre Aussagen in den Interviews wurden nur leicht geglättet
Diese Studie wurde von Herrn Rektor Prof. Dr. h. c. Hermann Schoenauer im Jahre 2011 angeregt. Mit ihr sollte einerseits den von ehemaligen Bewohner/-innen erhobenen Vorwürfen von körperlicher und seelischer Gewalt gezielt und gründlich nachgegangen werden,1 andererseits war von Anfang an eine Erweiterung des Forschungsgegenstandes beabsichtigt. Denn Gewalt entwickelt sich nie im luftleeren Raum, sondern es gilt, die Strukturen zu untersuchen, die ein bestimmtes Verhalten ermöglichen, verursachen, auslösen, begünstigen oder aber erschweren bzw. verhindern.
Schon lange vor der 2006 einsetzenden Debatte um die öffentliche Ersatzerziehung haben sich verschiedene Fachdisziplinen, allen voran die Pädagogik und die Geschichtswissenschaft, der Untersuchung der Zustände in der öffentlichen und in der konfessionellen Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland angenommen. Diese kann, nicht zuletzt befördert durch den erneuten Diskussionsschub, mittlerweile als recht gut erforscht gelten,2 auch wenn nach wie vor „blinde Flecken“, etwa hinsichtlich der Heime in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik,3 zu konstatieren sind. Jene Heime aber, in denen Kinder und Jugendliche mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung untergebracht, gepflegt, behandelt, erzogen, beschult und ausgebildet wurden, führen nach wie vor ein Schattendasein, wurden und werden in den Forschungsdesigns zur Heimerziehung, wenn überhaupt, nur am Rande berücksichtigt. Dabei bildeten die Einrichtungen für so genannte „Schwererziehbare“, gar „Unerziehbare“, und „Verwahrloste“ lediglich eine Facette eines großen Heimkosmos, waren doch zehntausende Mädchen und Jungen in Säuglingsheimen, in Kleinkinder- und Kinderheimen, in Waisenhäusern, in jugendpsychiatrischen Einrichtungen, in „Mutter und Kind-Heimen“ und eben auch in Heimen für Menschen mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung untergebracht. Mit den von uns verfassten Studien zum Johanna-Helenen-Heim, einem Haus der Evangelischen Stiftung Volmarstein für körperbehinderte Mädchen und Jungen, zur Diakonischen Stiftung Wittekindshof, einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, sowie einer von der Verfasserin vorgelegten Arbeit über die Stiftung kreuznacher diakonie konnte Licht in ein bislang noch unerforschtes Gebiet der Diakonie-, aber auch der bundesdeutschen Sozialgeschichte gebracht werden werden.4
Die nachfolgenden Ausführungen zum Heimalltag in der Phase des Reformprozesses in den Einrichtungen der Diakonie Neuendettelsau beruhen maßgeblich auf den Schilderungen und Erinnerungen (ehemaliger) Bewohner/-innen und (ehemaliger) Mitarbeiter/-innen. Die Entscheidung, sie, die „Expert/-innen in eigener Sache“,5 zu Wort kommen zu lassen (und sie beim Wort zu nehmen), basiert auf einer immer wieder gemachten Beobachtung: Der Alltag, also, das, was alle Tage passiert, schlägt sich nur selten, zumeist aber gar nicht in den Schriftquellen nieder. Mehr noch: Unter den Papierbergen in den Archiven – Dienstanweisungen und Hausordnungen, Dienstpläne und Planungskonzepte, Berechnungen und Statistiken, Freundesblätter und Jahresberichte – wurden die Akteure und Akteurinnen regelrecht begraben. Von wenigen Ausnahmen (Vorsteher, Pfarrer, Ärzte, Hausväter, leitende Schwestern) abgesehen, „verschwanden“ sie und wurden zu gesichts- und geschichtslosen Objekten in den „Anstaltsgeschichten“. Dabei sind es doch gerade die Vielen und die Namenlosen, jene, die vermeintlich keine Geschichte „machen“, die aber in aller Regel gemeint sind, wenn historisch von „Alltag“ oder von „Alltagsgeschichte“ die Rede ist.6 Allerdings ist an dieser Stelle anzumerken, dass die Gruppe der interviewten Bewohner/-innen keinen repräsentativen Querschnitt durch die „Anstaltsbevölkerung“ darstellt. In dem Jargon gesprochen, der nahezu ein Jahrhundert lang in der „Behindertenhilfe“ gang und gäbe war und den viele der Menschen, die fast ihr ganzes Leben in einer Einrichtung der „Behindertenhilfe“ verbracht haben, längst verinnerlicht haben, kommen in den Interviews die „Frischeren“ zu Wort – Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen oder gar Menschen ohne jede Intelligenzminderung, die es aufgrund von mancherlei Wendungen und Wechselfällen in ihrem Lebenslauf, vor allem aber aufgrund von Fehlentscheidungen der einweisenden Behörden in die „Behindertenhilfe“ verschlagen hat. Viele von ihnen haben sich im Laufe der Zeit den Status von „Hilfspfleger/-innen“ erarbeitet, haben über eine „Werkstätte für Behinderte“ den Sprung zumindest in den zweiten Arbeitsmarkt geschafft, bewältigen das Leben in einer selbstständigeren Wohnform oder haben sich im Heimbeirat engagiert. Die Stimmen der „Schwächeren“, also von Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen, die in ihrer Soziabilität und Kommunikationsfähigkeit stark eingeschränkt sind oder anders, neutraler, ausgedrückt: die sich in einer anderen, für uns nicht verständlichen Sprache ausdrücken, können wir nicht einfangen. Ihre Welt bleibt uns verschlossen, auch wenn wir das Instrumentarium der Oral History zur Anwendung bringen. Sie tauchen daher in dieser Studie nur in den Erzählungen der Anderen, der „frischeren“ Mitbewohner/-innen und der Mitarbeiter/-innen, auf.
Ansonsten war es mit Hilfe von leitfadengestützten, also die Gesprächssituation strukturierenden und Erzählroutinen aufbrechenden Interviews möglich, umfassende Kenntnis über (fast) alle Fragen des menschlichen Daseins und Miteinanders, zu Handlungen und Routinen im Heim zu erlangen: zur Ausstattung der Räumlichkeiten, zur Beschaffenheit und zum Aussehen der ausgegebenen Kleidung, der Schuhe und Bettwäsche, zur Hygiene und der medizinischen Versorgung, zur Menge und zur Qualität der verabreichten Speisen, zu den Tisch- und Esskultur(en), zu Ge- und Verboten, Strafen und Belohnungen, zu Lern-, Ausbildungs- und Arbeitsinhalten, zu Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und den Hobbys unserer Gesprächspartner/-innen, zu Mobilität und Außenkontakten, Sexualität, Aufklärung und Geschlechterbeziehungen, zu religiösen Praxen und Ritualen, zum Sprachgebrauch usw. Unser ausführlicher Fragenkatalog rief also bei unseren Gesprächspartner/-innen vorrangig ihr Fakten- bzw. ihr „Betriebswissen“7 ab, von dem sie, hätten sie „frei“ erzählen dürfen, bestimmte Details sehr wahrscheinlich nicht berichtet hätten. Um einmal ein Beispiel zu geben: Nicht wenige unserer Gesprächspartner/-innen reagierten verblüfft, wenn wir sie nach ihrem Essbesteck befragten. Viele hatten schlichtweg vergessen, dass sie lange Zeit nur mit einem Löffel hatten essen dürfen. Dabei stellt das Vorenthalten bürgerlicher Kulturtechniken eine besonders subtile Art dar, das Selbstbild von Heranwachsenden klein zu halten, ihnen einen wichtigen Baustein auf dem Weg zum Dasein eines Erwachsenen vorzuenthalten. Dieser Befund gilt übrigens auch für jene, die durchaus in der Lage gewesen wären, mit Messer und Gabel umzugehen. Mit diesem neu geschaffenen oder besser: erstmals gehobenen Quellenbestand konnten wir unserem Erkenntnisinteresse an einem intimen Blick in den Alltag der Filialen der Diakonie Neuendettelsau entsprechen.
Indem wir das Faktenwissen unserer Gesprächspartner/-innen mit Schriftquellen kombinierten, kontextualisierten und niederschrieben, war es schließlich möglich, diesem eine objektiv-historische Dimension zu geben, etwa als Mosaikstein in der Geschichte der Behindertenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Nicht zuletzt konnte mit der schriftlichen Dokumentation der Augenzeugenschaft unserer Gesprächspartner/-innen ein Korrektiv zur bisherigen – mittlerweile allerdings in Veränderung begriffenen – (Diakonie-)Geschichtsschreibung „von oben“ etabliert werden.8
Wir haben Wert darauf gelegt, mit Frauen und Männern unterschiedlicher Jahrgänge zu sprechen. So wurde der älteste Bewohner 1924, der jüngste Bewohner 1966 geboren. Die älteste Bewohnerin kam 1933 zur Welt, die jüngste 1953. Die älteste Diakonisse gehört dem Jahrgang 1931, die jüngste Mitarbeiterin dem Jahrgang 1954 an. Zugleich war es uns wichtig, alle Filialen der Diakonie Neuendettelsau im Blick zu behalten.
Die interviewten Bewohner/-innen waren aufgrund unterschiedlichster Diagnosen –„geistige Behinderung“, „Schwachsinn“, „Impfschaden“, „Epilepsie“, „psychische Erkrankung“, „Hirnverletzung“ – eingewiesen worden. In manchen Fällen war eine drängende soziale Notlage – etwa die Evakuierung aus einer bombengefährdeten Gegend wegen des Zweiten Weltkrieges oder der Tod der Angehörigen während Flucht und Vertreibung – ausschlaggebend für den „Weg ins Heim“ gewesen.
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass uns auch in diesem Projekt wieder einmal Menschen begegnet sind, die mit dem Stigma der „geistigen Behinderung“ oder des „Schwachsinns“ in eine Einrichtung der Behindertenhilfe kamen, ohne dass derlei „Befunde“ diagnostisch fundiert gewesen wären.9 Gerade bei diesen Frauen und Männern stellte die Heimeinweisung eine erhebliche Weichenstellung in ihrem Leben dar, die von diesen übrigens sehr unterschiedlich bewertet und verarbeitet wurde. Hierüber weiter unten mehr.
Fast alle unsere Gesprächspartner/-innen leben bzw. arbeiten seit Jahrzehnten in der Diakonie Neuendettelsau – in einem Fall beläuft sich der Heimaufenthalt auf mittlerweile 74 Jahre! Gerade den langjährigen Bewohner/-innen und Mitarbeiter/-innen verdankt diese Studie einzigartige Einblicke in eine Einrichtung, die – maßgeblich vom paternalistischen Blick des 19. Jahrhundert auf den „Behinderten“ als eines unmündigen „Kindes“ geprägt – sich Mitte des 20. Jahrhunderts auf den langen und – noch nicht beendeten – Weg der „Integration“ und „Normalisierung“, der Teilhabe und schließlich der „Inklusion“ gemacht hat.
Name Jg. Einrichtung Zeitraum
Tabelle 1: Verzeichnis der interviewten (ehemaligen) Bewohner/-innen10
Name Jg. Beruf Einrichtung Zeitraum
Tabelle 2: Verzeichnis der interviewten Diakonissen, Diakone und Mitarbeiter/-innen11
Pädagogische Verhältnisse sind von institutioneller und kommunikativer Macht und von einseitiger Abhängigkeit geprägt. Es verwundert daher nicht, dass die Schilderungen (und Bewertungen) der ehemaligen Bewohner/-innen mit jenen ehemaliger Mitarbeiter/-innen nicht immer konform gingen. Und tatsächlich konnte der Blick eines Bewohners oder eines Erziehers oder einer Schwester auf ein- und dasselbe „Faktum“ sehr unterschiedlich sein. Dies soll kurz am Beispiel des auch noch in den 1960er Jahren in einigen Filialen der Diakonissenanstalt Neuendettelsau verwendeten Aluminiumtellers verdeutlicht werden. An diese häufig zerbeulten, verbogenen und aufgrund jahrelangen Gebrauchs zerkratzten Teller erinnerten sich die (ehemaligen) Bewohner/-innen sehr ungern. Kamen zusätzlich Becher aus Aluminium zum Einsatz, so waren diese – mit heißem Tee oder heißer Milch gefüllt – kaum anzufassen, mehr noch: „Dann verbrennst du dich“, wie eine Gesprächspartnerin aus Bruckberg warnte.12 Aus der Sicht der Leitung und des Personals – nicht selten unterbesetzt, mit großen Gruppen konfrontiert und am Rande ihrer körperlichen und seelischen Kraft stehend – erleichterte das Aluminiumgeschirr die tägliche Arbeit enorm: Es war preisgünstig, stapelbar, leicht zu reinigen und nahezu unverwüstlich. Es hielt Generationen von Heimbewohner/-innen aus.
Erinnerungen und die damit einhergehenden (Be-)Wertungen und Wirklichkeiten hängen also ganz stark von der jeweiligen Person, ihrer Position innerhalb eines hierarchischen Gefüges, ihrem biographischen Hintergrund, ihrem „sozialen Wissen“13 usw. ab. Indes haben alle diese Wirklichkeiten ihre Berechtigung, keine ist als „richtig“ oder als „falsch“ zu bewerten, keine ist mehr wert als die andere. Im Gegenteil: Erst wenn möglichst viele Erinnerungen zusammen gedacht werden – sei es die einer Bewohnerin von Himmelkron, eines Heilerziehungspflegehelfers in Polsingen, eines Bewohners in Bruckberg oder einer Diakonisse in Neuendettelsau –, kommt man der Vielgestaltigkeit des Alltags in den Heimen, seinen guten und schlechten Seiten, ein Stück näher. Durch Überkreuzvergleiche der Interviews, die Hinzuziehung von schriftlichen Quellen und mehrfaches gezieltes Nachfragen konnten Erinnerungsfehler (etwa bei Namen, Jahreszahlen usw.) beseitigt werden. Schließlich sind vor Drucklegung allen Interviewpartner/-innen Teile des sie betreffenden Manuskripts mit der Bitte um Kontrolle, Korrektur, Ergänzung und Autorisation zugegangen.
Im Folgenden sollen diejenigen Bereiche im Alltag von Neuendettelsau, Bruckberg, Polsingen, Rothenburg ob der Tauber, Obernzenn und Himmelkron näher untersucht werden, die besonders von den Veränderungen der 1960er/70er Jahre betroffen waren. Hierzu um Auskunft gebeten, setzten die (ehemaligen) Bewohner/-innen naturgemäß andere Schwerpunkte und Inhalte als die (ehemaligen) Mitarbeiter/-innen. Allen Bewohner/-innen war es ein wichtiges Anliegen, über ihre Heimeinweisung, ihre erste Zeit im Heim und ihr Verhältnis zu den Mitarbeiter/-innen zu sprechen, von deren Anwesenheit und Verhalten sie teilweise in hohem Maße nicht nur physisch, sondern auch psychisch abhängig waren und sind. Schmerzliche Erinnerungen an tiefgreifende Gewalterlebnisse und damit verbundene Ohnmachtserfahrungen standen neben guten Erinnerungen an ein von Freundlichkeit bestimmtes Miteinander. Weiterhin benannten die Bewohner/-innen den großen Bereich der Beschulung, der Ausbildung und der Arbeit. Sodann war ihnen ihre räumliche Situation und soziale Mobilität, und hiermit eng verbunden ihre Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Partizipation und Wahrnehmung von Verantwortung in ihrem eigenen Lebensbereich (Stichwort: Heimbeirat), wichtig. Besonders prägnant sind den Männern und Frauen die Veränderungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht in Erinnerung geblieben. Nicht für alle unsere Gesprächspartner/-innen, dies sei bereits angemerkt, bedeutete die „Auflockerung“ des Geschlechterverhältnisses eine Errungenschaft. Manchmal wurde dieser „Markt der Möglichkeiten“ auch als unwillkommene, weil unbekannte und anstrengende Herausforderung im persönlichen Alltag bewertet.
Für die interviewten Mitarbeiter/-innen waren drei Themenbereiche besonders wichtig. Da waren zunächst die vorgefundenen Arbeitsbedingungen, die vor der Umsetzung des „Plans zur Sanierung“ 1972 als teilweise außerordentlich schwierig und als chronisch überfordernd erlebt wurden. Als Stichworte seien schon hier der gravierende Personalmangel, die großen Gruppen und die prekären materiellen Gegebenheiten in der unmittelbaren Nachkriegszeit, aber auch noch in der jungen Bundesrepublik genannt, unter denen sowohl die Bewohner/-innen als auch die Schwestern, Brüder und Mitarbeiter/-innen litten. Einen zweiten Schwerpunkt bildete die verbesserte interne Qualifizierung, die mit einem Zugewinn an Kompetenz und Souveränität im beruflichen Alltag einherging und für persönliche Zufriedenheit sorgte. Schließlich war es allen Mitarbeiter/-innen wichtig, über ihr alltägliches Zusammensein mit den Bewohner/-innen zu sprechen, das ihnen – seit Jahrzehnten – mehr ein von Empathie getragenes Miteinanderleben denn ein „Arbeiten“ war und ist. Fünf unserer Gesprächspartner/-innen sind Diakonissen oder Diakone, haben sich also – neben ihrer Arbeit in der Diakonie Neuendettelsau – für ein spezifisches Modell der Glaubens-, Dienst- und – im Fall der Diakonissen auch – Lebensgemeinschaft entschieden. Was hat sie motiviert? Welchen Halt gab und gibt ihnen ihre Gemeinschaft in ihrem (Berufs-)Alltag?
Die Beschreibung der oben aufgelisteten Themenbereiche folgt – von wenigen inhaltlich begründeten Ausnahmen – einem chronologischen Verlauf. Wie erwähnt, sollen dabei insbesondere die Umbruchzeiten der 1960er/70er Jahre im Fokus stehen, die sich nur aus dem Geschehen in den Jahren zuvor erklären und deuten lassen. Da es den jetzigen Bewohner/-innen außerordentlich wichtig war, ihre heutige Lebenssituation, ihre Wünsche und Hoffnungen zu schildern, begleitet diese Studie sie bis in unsere Zeit hinein. Damit haben sie ihre Kriterien an eine Gesellschaft formuliert, die zwar vollmundig die Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung postuliert, sich mit der Umsetzung jedoch sehr schwer tut.
Leben und Arbeiten in den Einrichtungen der Diakonie Neuendettelsau
„Lasst doch mal den Bruckberg frei machen. Wir sind doch keine Ausreißer.“14 Diese Forderung richtete die 1954 geborene Heike O. Anfang der 1970er Jahre an die damalige Leitung von Bruckberg, einer Filiale der Evangelisch-Lutherischen Diakonissenanstalt Neuendettelsau. Bei einem ihrer Spaziergänge über das Gelände der Einrichtung war der jungen Frau nämlich aufgefallen, dass dieses von einem Drahtzaun umgeben war. Tatsächlich begann wenige Tage später ein Arbeiter, den Zaun – beginnend am Schloss – zu entfernen.15
Dieses wichtige Ereignis – gleichsam ein Symbol für den Reformbeginn in Bruckberg – ging sicherlich nicht auf das Drängen von Frau O. zurück, auch wenn ihre und die Stimme anderer Heimbewohner/-innen ihren Teil dazu beigetragen haben dürften. Vielmehr korrespondierte die Entscheidung der Leitung, das Gelände zu öffnen, die Wege öffentlich zugänglich zu machen und die Bewohner/-innen nicht länger zu verstecken, mit einer sich wandelnden Wahrnehmung von „Behinderten“ in der deutschen Gesellschaft, die im Folgenden skizziert werden soll.
Grundsätzlich ist zunächst anzumerken, dass Menschen mit Behinderungen keine homogene Gruppe darstellen – letztlich haben sie nur gemeinsam, dass sie mit dem stigmatisierenden Begriff „behindert“ belegt werden. Neuere Forschungsansätze betrachten „Behinderung“ nicht (nur) als etwas Naturgegebenes, Vorfindliches, Unhinterfragbares, das seinen Sitz im Körper (oder – im Falle einer „geistigen“ oder „seelischen Behinderung“ – im Gehirn) des behinderten Menschen hat und als „natürlicher“ Defekt oder Defizit, als individueller Mangel oder Makel verstanden werden muss, dem das System sozialer Staatlichkeit durch medizinische, soziale und berufliche Rehabilitation wortwörtlich „zu Leibe rückt“. Vielmehr verstehen wir „Behinderung“ heute vor allem als eine „soziokulturelle Konstruktion“, als Ergebnis der in einer Gesellschaft „herrschenden“ Vorstellungen über „Normalität“ und „Abweichung“. Solche Konstruktionen von Behinderung schließen immer auch Gruppen von Menschen mit körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen aus, da „Behinderung“ stets von einer „Idealklientel“ her gedacht wird: etwa dem männlichen, erwachsenen „Kriegsbeschädigten“ mit einer Arm- oder Beinprothese, dem durch Verkehrs-, Sport- oder Arbeitsunfall querschnittgelähmten Rollstuhlfahrer, dem „Contergankind“ usw. Das bedeutet, dass andere Gruppen von Menschen mit Behinderungen – Frauen, geistig, seelisch oder schwer mehrfach behinderte Menschen – gesellschaftlich nicht wahrgenommen werden.16 Das aber hat ganz konkrete Folgen für diese Menschen, denn sie finden in der „Behindertenpolitik“ des Staates kaum Berücksichtigung.
In Deutschland etwa bildete sich in der Folge des Ersten Weltkriegs in der „Behindertenpolitik“ eine Art Drei-Klassen-Gesellschaft heraus, die auf Jahrzehnte hinaus die soziale Lage von Menschen mit Behinderungen prägen sollte: die „Oberschicht“ der „schwerbeschädigten“ Kriegs-, Arbeits- und Unfallverletzten, die Masse der „Krüppel“, also der Menschen mit körperlichen Behinderungen, die nicht zu den privilegierten Gruppen gehörten, und schließlich die „Unwertigen“: Menschen mit körperlichen Behinderungen, die aufgrund ihres „Siechtums“ auch nicht teilweise in den allgemeinen Arbeitsmarkt integrierbar schienen, ferner Menschen mit Mehrfachbehinderungen sowie Menschen mit geistiger Behinderung, Epilepsie oder einer psychischen Erkrankung.17 Ihre weitgehende rechtliche Gleichstellung erfolgte erst in den 1960er Jahren mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 1961, das körperlich, geistig und – ab 1969 – seelisch „Behinderte“ in eine Hilfe- und Bezugsberechtigtengruppe einordnete, was für Menschen mit geistiger Behinderung eine enorme Aufwertung bedeutete. Die Sozialabteilung des Bundesinnenministeriums hatte übrigens von Anfang an geplant, sämtliche Gruppen von Menschen mit Behinderungen einzubeziehen, neben den Blinden, Gehörlosen und Sprachgeschädigten auch die „geistig und seelisch Behinderten“, weil diese, wie es aus dem Ministerium hieß, „in gleicher oder ähnlicher Weise schutzbedürftig“18 seien. Dabei musste der Widerstand der Interessengruppen der „Körperbehinderten“ überwunden werden, die im Gesetzgebungsverfahren geltend gemacht hatten, es könne „die gemeinsame Behandlung körperlich und geistig Behinderter in der Öffentlichkeit missverstanden [werden und würde] auf jeden Fall von den Körperbehinderten als Abwertung aufgefasst“.19 Diese Äußerung zeigt, wie weit man von einer sozialen Gleichstellung von Menschen mit geistiger oder seelischer Behinderung noch entfernt war.
Die „Behindertenpolitik“ in der frühen Bundesrepublik Deutschland wies weitere gravierende Defizite auf: Zum einen orientierte sie sich noch immer am so genannten Kausalprinzip, d. h. sie staffelte soziale Leistungen nach der Ursache einer „Behinderung“, privilegierte damit die Opfer von Kriegs-, Arbeits- und Unfallverletzungen und diskriminierte alle Menschen, deren „Behinderung“ als „angeboren“ galt – vor allem wieder viele Menschen mit geistiger Behinderung. Erst das BSHG, seine Novellen 1969 und 1974, schließlich das Arbeitsförderungsgesetz von 1969 brachten die allmähliche Durchsetzung des Finalprinzips, d. h. Leistungen sollten nun – unabhängig von der Ursache einer „Behinderung“ – nach der Bedürfnislage bemessen werden. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung „Chancengleichheit“ für alle Menschen mit Behinderungen. Zum anderen hatte sich die „Behindertenpolitik“ jahrzehntelang fast ausschließlich auf die medizinische und berufliche Rehabilitation von „Behinderten“ konzentriert. Ihre soziale Rehabilitation stand demgegenüber lange Zeit zurück, konnte ihnen aber angesichts einer zunehmend offeneren Gesellschaft schließlich nicht mehr vorenthalten werden. Chancengleichheit und Lebensqualität, Individualität und die Pluralisierung von Lebensentwürfen – Signaturen der modernen Industriegesellschaft – sollten nun also auch auf die „Randgruppe“ der „Behinderten“ ausgeweitet werden.20 Dabei standen zunächst vor allem wieder Menschen mit körperlicher Behinderung im Zentrum der Reformbemühungen, die sich zudem der Unterstützung neuer Berufsgruppen sicher sein konnten. Waren doch neben den traditionell tonangebenden Orthopäden und Rehabilitationsmediziner/-innen, der konfessionellen „Krüppelfürsorge“ und den etablierten Interessenverbänden nun sozialwissenschaftlich ausgebildete, kritische Fachleute wie Sozialarbeiter/-innen, Heilpädagogen und Heilpädagoginnen oder Beschäftigungstherapeuten und -therapeutinnen sowie kritische Publizisten und Publizistinnen getreten, die nicht nur daran gingen, die Alltagsroutinen in den Heimen zu verändern, sondern die auch Einfluss auf die öffentliche Meinung nahmen. Zugleich gründeten Menschen mit körperlichen Behinderungen Selbsthilfeorganisationen, etwa die Clubs Behinderter und ihrer Freunde e. V., die einfallsreich und selbstbewusst, bisweilen provokant (so die „Krüppelbewegung“) ihre Interessen formulierten und durchzusetzen suchten.21 Die „Körperbehinderung“ rückte vollends in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung, als die schlimmen Folgen des Schlafmittels „Contergan“ der Firma Grünenthal bei Neugeborenen offenbar wurden.22 Insbesondere die mediale Inszenierung dieser Form von Behinderung löste eine Weiterentwicklung der „Behindertenpolitik“ aus, die sich zunächst aber eher auf die Trennung von Arbeiten, Lernen und Wohnen konzentrierte. Das expandierende Sonderschulwesen und die „Beschützenden Werkstätten“ stehen für diese Entwicklung. Im Zuge so genannter „Auflockerungsmaßnahmen“ wurden sich selbst verwaltende Außenwohngruppen eingerichtet, Wohnmöglichkeiten wurden dezentralisiert bzw. regionalisiert.23 Zugleich rückte der Abbau materieller Barrieren – als sinnfälligstes Beispiel können sicherlich die „Bürgersteige“ genannt werden – als Anpassung der Lebenswelt an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit körperlicher Behinderung mehr und mehr ins Blickfeld.24 Allmählich wandelte sich also die „Behindertenpolitik“ zu einer „Gesellschaftspolitik“, in deren Mittelpunkt die Optimierung der sozialen Teilhabe und die „langfristige“ Integration von „Behinderten“ in die Gesellschaft standen.
Die Neuausrichtung der bundesdeutschen „Behindertenpolitik“ kam auch Menschen mit geistiger Behinderung zugute, allerdings mit zeitlicher Verzögerung und zunächst weit weniger umfassend als im Körperbehindertenbereich.25 Galt doch für „Geistigbehinderte“ der gesellschaftliche Konsens, dass ihnen mit einer lebenslangen Heimunterbringung am besten gedient sei, und – unausgesprochen – auch der Gesellschaft. So aufgeschlossen man sich mittlerweile für ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen außerhalb von Anstaltsmauern zeigte und sich einen „Körperbehinderten“ durchaus als Nachbarn, Kollegen oder Mitschüler vorstellen konnte, so wenig galt dies für Menschen mit geistiger Behinderung. So ergab eine 1970/71 durchgeführte bundesweite Befragung, dass „zwei Drittel der Bevölkerung einer Heimunterbringung geistig behinderter Kinder den Vorzug gegenüber einem Verbleib in der Familie gaben. Knapp vier Fünftel hielten abgeschieden gelegene Orte und weniger dicht besiedelte Gegenden dafür am besten geeignet.“26 Es steht zu vermuten, dass die Befürwortung einer Separierung „geistig behinderter“ Erwachsener noch eindeutiger ausgefallen sein dürfte. Insofern verweist Heike O.s lakonische Feststellung, dass der Zaun unnötig sei, da sie und die anderen „doch keine Ausreißer“ seien, auf die soziale Isolation der Bewohner/-innen. An wen „da draußen“ hätten sich Heike O. und die anderen wenden, wo hätten sie hingehen können?
Die gesellschaftliche Integration von Frauen und Männern, Mädchen und Jungen mit geistiger Behinderung fand daher nach wie vor in der Segregation, also in den Anstalten und Heimen und in den meist auf demselben Gelände errichteten Kindergärten, Schulen und „Werkstätten für Behinderte“ statt. Neue „Sonderwelten“ entstanden, nicht selten weiterhin sorgsam mit Zäunen und Mauern von der „Normalbevölkerung“ abgetrennt.
Vor allem die Vertreter konfessioneller Behinderteneinrichtungen betrachteten geschlossene Heime für Menschen mit geistiger Behinderung als notwendige „Schutz- und Schonräume“, in denen die ihnen Anvertrauten vor den Herausforderungen der „Normalgesellschaft“ bewahrt werden sollten. Ausgesprochen deutlich vertrat diese Position der Verband deutscher evangelischer Heilerziehungs-, Heil- und Pflegeanstalten, dem auch die Evangelisch-Lutherische Diakonissenanstalt Neuendettelsau mit ihren Filialen – Bruckberg, Polsingen, Himmelkron, Rothenburg o. d. Tauber, Obernzenn – angehörte. So wandte sich 1964 der Verbandsvorsitzende Johannes Klevinghaus (1911–1970), zugleich Leiter des westfälischen Wittekindshofes,27 entschieden gegen die Kritiker des „Prinzips Anstalt“ (Wilfried Rudloff):
„Immer wieder begegnet man der Vorstellung, Anstalt sei Einengung, Lebensminderung, Freiheitsberaubung. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall. Anstalt ist geschützter Raum und darum Freiheitsbereich, Möglichkeit zu freier Bewegung und Entfaltung.“28
Und weiter:
„Die Anstalt bietet mit ihrer Weite dem geistig behinderten Menschen etwas, das wir alle notwendig brauchen. Das ist die Korrespondenz von Heim und Welt. […] Mit ihrer Möglichkeit der Korrespondenz von Heim und Welt, mit ihren wandelnden Zeitungen und einem Marktplatz voller Neuigkeiten, mit ihrem Wechsel von Arbeit und Freizeit, mit ihren Festen und Feiern, mit ihrem Miteinander der Geschlechter und von alt und jung, von ‚Starken‘ und ‚Schwachen‘ bildet die Anstalt ein Gemeinwesen, das der Lebensentfaltung des Geistesschwachen in ganz besonderer Weise dienen kann. […] Die Anstalt ist eine Welt für sich, weil sie eine Welt für ihn, den Geistesschwachen, sein soll. Sie ist es aber wiederum nicht so, dass sie nicht Welt in der Welt wäre mit einer bestimmten Zielrichtung auf die Welt hin.“29
Männer, Frauen und Kinder mit geistiger Behinderung sollten also in der Anstaltswelt Glieder einer Gemeinschaft und – vermittelt über diese – Teil der Mehrheitsgesellschaft werden. Mit anderen Worten: So sollte also erst ihre gesellschaftliche Segregation ihre Integration in die Gesellschaft ermöglichen. Der Anspruch „Welt in der Welt“ zu sein, übersah jedoch zweierlei: Erstens wurde die tiefe ökonomische, politische und kulturelle Abhängigkeit der Welt der Anstalt von der Welt „draußen“ verschleiert. Klevinghaus und mit ihm die meisten evangelischen Anstaltsleiter wollten zwar nicht, dass die Anstalten zu „Abecken der Gesellschaft“ – vergleichbar den „Abstellkammern der Wohnungen“ und „Müllplätzen der Städte“ – wurden, trotzdem entsprachen die Anstalten, entsprachen auch die Einrichtungen der Evangelisch-Lutherischen Diakonissenanstalt Neuendettelsau dem gesellschaftlichen Bestreben, Behinderungen, insbesondere geistige, an die gesellschaftlichen Ränder zu verbannen, sie geräuscharm, unauffällig und günstig zu verwalten und im öffentlichen Raum möglichst unsichtbar zu machen – die meist geographisch weit abgelegenen Einrichtungen dokumentieren dies eindrucksvoll. Zweitens übersah der Gedanke der (lebenslangen) Beheimatung die strukturellen Zwänge, die sich in einem „geschützten Raum“ entwickeln und verselbstständigen konnten. Konstituierende Merkmale gerade von großen Anstalten waren „die Unterwerfung [der Bewohner/-innen] unter die Routinen, Regeln und Ordnungsprinzipien“30 der Einrichtungen, ein in baufälligen und überbelegten Gebäuden vollzogener entindividualisierender „Massenbetrieb“ – Zentralküche, Schlafsäle, Gemeinschaftsräume –, eine schlechte materielle Ausstattung, zu wenig, teilweise nicht einschlägig ausgebildetes und daher überfordertes Personal, das auch zu seelischer und körperlicher Gewalt griff, um „durch die Arbeit zu kommen“.31 So konnte der (gut gemeinte) „Schutz- und Schonraum“ zu einer regelrechten Falle werden, der den Anspruch der „Lebensentfaltung des Geistesschwachen“ in einem vermeintlichen „Raum der Weite“ konterkarierte und dazu führte, dass Menschen ihre Hilflosigkeit erst erlernten:32 „Lebenspraktische Fähigkeiten und Alltagsfertigkeiten konnten hier aufgrund der Kollektivbetreuung durch zentrale Versorgungsstrukturen nicht erworben werden.“33 Beispielsweise haben viele Heimbewohner/-innen – auch die jüngeren unter ihnen und auch in Neuendettelsau – nicht kochen gelernt, obwohl sie teilweise jahrzehntelang in einer Küche arbeiteten. Hierüber weiter unten mehr.
Die späten 1960er – gemeinhin festgemacht an der Chiffre „1968“ –, vor allem aber die 1970er Jahre markieren den Beginn der Reformen im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung, die unter dem von der „Internationalen Liga von Vereinigungen zugunsten geistig Behinderter“ geprägten Schlagwort des „Normalisierungsprinzips“34 zusammengefasst werden können. Als Merkmale eines „normalen Lebens“ werden demnach ein normaler Tagesrhythmus, die Trennung von Wohnen, Arbeit und Freizeit, ein normaler Jahresrhythmus und normale Erfahrungen im Lebensablauf (dazu gehört u. a. das Recht auf ein „Erwachsenwerden“), das Recht auf Selbstbestimmung, auch auf sexuelle, sowie normale ökonomische Lebensmuster und Umweltstandards (innerhalb der Gemeinschaft) verstanden. Anfangs vor allem von Elterninitiativen, wie zum Beispiel der „Lebenshilfe für das behinderte Kind e. V.“, getragen und befördert, machten sich sukzessive auch die großen konfessionellen Anstalten das Prinzip eines selbstbestimmten und möglichst „normalen“ Lebens für Menschen mit geistiger Behinderung zu Eigen.
Dies galt auch für die Diakonissenanstalt Neuendettelsau, deren Rektor Johannes Meister (1926–2014) nicht nur hoffte, dass mit dem Aufbau eines bundesweiten Netzes von Sonderschulen und „Werkstätten für Behinderte“ „zukünftig weit mehr geistig Behinderte als bisher vom Elternhaus aus Schule und Werkstätten besuchen und am allgemeinen Leben teilhaben können“.35 Gleichwohl sei, so Meister, dessen Amtszeit von 1963 bis 1975 den Beginn, den Höhepunkt und die Konsolidierung einer neuen „Behindertenpolitik“ umfasste, weiter, „auch in Zukunft der Bedarf an Heimplätzen für geistig Behinderte so groß […], dass die Plätze, die zur Zeit zur Verfügung stehen, bzw. gerade neu geschaffen werden, auf alle Fälle benötigt werden.“36 Mit anderen Worten: Die Dezentralisierung der „Behindertenarbeit“, verbunden mit offenen und halboffenen Angeboten, wurde von Seiten der traditionellen Einrichtungen durchaus begrüßt, gleichwohl war man entschlossen, das bestehende Angebot an Heimplätzen aufrechtzuerhalten oder sogar noch zu erhöhen, wenn auch unter besseren Bedingungen (neue Gebäude, Verkleinerung der Gruppen, Koedukation, fachlich qualifiziertes Personal usw.). Unter den Befürwortern eines Heimausbaus fand sich – dies mag überraschen – auch der Begründer der Elterninitiative Lebenshilfe für das behinderte Kind e. V. Tom Mutters (* 1917).37 Der Niederländer benannte vier Gruppen von „Geistigbehinderten“, bei denen er eine Anstaltsunterbringung angeraten sah. Dies waren zum einen „Kinder, die so schwer geschädigt sind, dass sie auch in den allerorts entstehenden Tageseinrichtungen kaum wirklich gefördert werden können.“38 Sodann nannte Mutters „Kinder, deren Schädigung von so ernster Art ist, dass ambulante Hilfen nicht oder noch nicht in Erwägung gezogen werden können“. Als dritte Gruppe machte der Niederländer „lebenspraktisch bildbare Kinder“ aus, „für welche kurz- oder langfristige Anstaltshilfe auf Grund familiärer Verhältnisse oder durch das Fehlen entsprechender ambulanter Hilfen in erreichbarer Nähe notwendig sei“. Schließlich sprach Mutters die große Gruppe der erwachsenen Männer und Frauen an, die „beim Älterwerden nicht mehr in der eigenen Familie oder in einem Wohnheim bleiben können“.
Rektor Meister sah sich unterdessen in seinen Einschätzungen und seinem Planvorhaben bestätigt, rissen doch die Aufnahmegesuche von Seiten der Behörden und Angehörigen nicht ab. So waren 1971 nicht weniger als 561 Aufnahmegesuche in Neuendettelsau eingegangen, denen aber nur in 101 Fällen entsprochen werden konnte.39 Die Nachfrage nach Plätzen für Jungen und männliche Jugendliche im Alter bis 18 Jahre war dabei besonders hoch.
Anfragen/Jahre 0–18 19–50 über 50 Insgesamt
Tabelle 3: Aufnahmegesuche an die Diakonissenanstalt Neuendettelsau, 197140
Anders als andere „Geistigbehindertenanstalten“ hatte Neuendettelsau immer auch Menschen mit Epilepsie und „Kranke mit abgelaufenen Psychosen“41 stationär aufgenommen und betreut. Gerade für die letzte Gruppe gab es von Seiten der Bezirkskrankenhäuser und Nervenkliniken in Bayern eine rege Nachfrage nach Heimplätzen. Auch hier sah Rektor Meister sich und Neuendettelsau zukünftig mehr in der Pflicht.
1972 lebten in den acht stationären Einrichtungen der Diakonissenanstalt Neuendettelsau 1.725 „geistig Behinderte und psychisch Kranke“,42 die „nach dem Mischungsprinzip“43 untergebracht wurden. Die Belegung der einzelnen Häuser – hier nach Alter unterschieden – stellte sich dabei folgendermaßen dar:
Haus/Alter in Jahren 0–10 11–18 19–49 ab 50 Gesamt Bettenbestand
Tabelle 4: Belegung in Neuendettelsau und Filialen, 197244
Rektor Meister war entschlossen, die Kapazitäten für Menschen mit geistiger Behinderung und chronischer psychischer Erkrankung45 mindestens auf dem bestehenden Niveau zu halten, musste aber konzedieren, dass trotz einer zwischen 1960 und 1970 getätigten Investitionssumme von fast 24 Millionen DM die Häuser und die in ihnen herrschenden Bedingungen den geänderten Ansprüchen und den Anforderungen einer innovativeren „Behindertenarbeit“ in keiner Weise entsprachen. Trocken umschrieb der Einrichtungsleiter den Zustand des „Schlosses“ in Polsingen, in dem Frauen mit geistiger Behinderung lebten: „Äußerlich zwar sehr romantisch – für eine moderne Arbeit an den Behinderten jedoch kaum noch tragbar“.46
Der innerhalb kurzer Zeit aufgelegte Sanierungsplan in Höhe von beeindruckenden 115,5 Millionen DM4748