Das Buch:
Werner P. Bonner besitzt eine unheimliche Gabe: Wenn er seine Hand auf die Grabsteine des Friedhofs legt, sieht er, wie die Menschen zu Tode gekommen sind. Mehr noch: Er sieht die Wahrheit. Eine Wahrheit, so düster und unheimlich, dass man sie besser nicht erzählen sollte. Doch Bonner kann nicht anders. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Wahrheiten zu verkünden.
Jede Nacht zieht der Friedhofsänger, so nennen ihn die Leute, weil er so schaurige Geschichten zu erzählen weiß, durch die Straßen von Kevelaer, einem Wallfahrtsort am unteren Niederrhein, immer auf der Suche nach neuen Zuhörern …
BAND 2: DER KELLER
Anna und Paul Rieth tragen ein schweres Schicksal. Ihre neugeborene Tochter Lisa ist im Kindbett verstorben. Anna drohte daran zu zerbrechen und wollte sich sogar das Leben nehmen. Nach scheinbar erfolgreicher Therapie versuchen die beiden in dem niederrheinischen Kevelaer ein neues Leben zu beginnen. Sie kaufen das Haus der alleinstehenden, reizenden Witwe Gertrud Kamps. Doch die erhoffte Ruhe will sich nicht einstellen.
Unheimliche Dinge geschehen, die das junge Paar an den Rand des Wahnsinns treiben. Anna glaubt, dass ihre tote Tochter aus dem Jenseits mit ihr Kontakt aufnehmen will und sich in Gefahr befindet. Paul glaubt das natürlich nicht und befürchtet, dass seine Frau den Verstand verliert und nun vollends an dem Verlust ihrer Tochter zugrundegeht.
Doch in dem Haus geht wirklich etwas um; ein Dämon, der ein grausames Spiel treibt und Blut sehen will. Gertruds Blut. Denn so harmlos die alte Dame auch scheinen mag, ist sie nicht …
Der Autor:
Daniel Stenmans wurde 1979 in Goch (Nordrhein-Westfalen) geboren und wohnt in Kevelaer. Er hat diverse Theaterstücke veröffentlicht (u.a. ‚Es muss ja nicht immer Shakespeare sein‘, ‚Haltet den… Hasen‘, ‚Holland in Not‘) und, gemeinsam mit Michael Hübbeker, die interaktiven Mystery-Hörbücher ‚Die Femeiche‘ und ‚Die schwarze Kirche‘ (Ueberreuter Verlag). ‚Der Friedhofsänger‘ ist seine erste E-Book-Reihe.
Band 2:
Der Keller
Mystery-Horror-Reihe
ISBN 978-3-944124-56-8
Copyright © 2014 mainbook Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Gerd Fischer
Cover-Layout und -Rechte: Boris Braun
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Intro
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Outro
Guten Abend.
Ich hatte gehofft, dass wir uns wiedersehen. Wenn man einmal vom Grauen erfasst wurde, will man es wieder spüren. Immer und immer wieder, nicht? Deswegen sind Sie doch hier, bei mir, auf dem Friedhof von Kevelaer, oder?
Ein paar neue Gesichter sehe ich auch. Und denen möchte ich mich noch kurz vorstellen …
Haben Sie keine Angst vor mir. Ich bin ein harmloser Kerl, der niemandem etwas Böses will. Zumindest glauben die meisten, dass ich einer bin. Die, die das nicht glauben, gehen mir einfach aus dem Weg. Sobald sie mich sehen, wechseln sie die Straßenseite oder machen einfach auf dem Absatz kehrt. Die Menschen hier glauben, es ist besser, nichts mit mir zu tun zu haben. Sie glauben, dass ich das Böse anziehe.
Und Sie haben durchaus recht.
Werner P. Bonner, so heiße ich. Aber erinnern können sich nur noch die wenigsten an meinen richtigen Namen. Die meisten nennen mich einfach nur Friedhofsänger.
Ich ziehe durch die Straßen von Kevelaer, einem kleinen, beschaulichen Wallfahrtsort im Kreis Kleve, in Nordrhein-Westfalen. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Zuhörern. Menschen, denen ich meine Geschichten erzählen kann. Menschen wie Sie. Was ich Ihnen erzählen will, sind Geschichten, die man eigentlich nicht hören möchte, aber denen man sich einfach nicht entziehen kann. Geschichten, die eine eigenartige Faszination besitzen.
Eine beängstigende Faszination.
Sie sollten wissen, Kevelaer ist ein Ort gewaltiger Kräfte. Vor allem spiritueller Kräfte. Der Handelskaufmann Hendrik Busmann hatte im 17. Jahrhundert eine Marienerscheinung, woraufhin er der Mutter Gottes eine Kapelle bauen ließ – die Gnadenkapelle, mitten im Herzen Kevelaers. Doch das Leben strebt immer nach einem Gleichgewicht. Wo Licht ist, existiert auch Schatten. Und die Schatten hier in Kevelaer sind tief. Schatten, in denen sich allerhand verborgen hält. Und manchmal krabbelt etwas daraus hervor und bringt das Gleichgewicht ins Wanken. Und schon entwickelt sich eine Geschichte, von der niemand etwas weiß, aber die erzählt werden will. Und da komme ich ins Spiel.
Es gibt die offizielle Geschichte … und es gibt die wahre Geschichte.
Ich kenne sie alle. Die wahren Geschichten. Die offiziellen interessieren mich nicht. Dabei handelt es sich um eine Wahrheit, die immer im Schatten verborgen bleibt. Denn würde sie aus dem Schatten hervorkriechen, würde sie sowieso niemand glauben. Aber nur weil etwas nicht wahrhaftig sein kann, heißt es nicht, dass es nicht trotzdem wahr ist …
Ich lege meine Hand auf einen Grabstein des Friedhofs und schon erfahre ich, was wirklich passiert ist. Denn hinter einer Geschichte, gibt es immer noch eine zweite, von der niemand etwas wissen will.
Denn die kostet den Verstand.
Soll ich sie Ihnen erzählen?
Die wahre Geschichte …
Das hier ist der Grabstein von Gertrud Kamps. Sie war 67 Jahre alt, als man sie hier beerdigt hat. Sie war eine entgegenkommende, liebenswerte, zuweilen aber auch etwas nervige alte Dame – auf jeden Fall immer dann, wenn sie einen mit dem neusten Klatsch aus Kevelaer konfrontierte, den man entweder schon gehört hatte oder aber nicht hören wollte. Gertrud schien alles über jeden zu wissen. Über Gertrud selber wussten die Leute in Kevelaer allerdings nur wenig.
Und das war auch gut so.
Nun liegt sie hier, in der hintersten Ecke auf dem alten Friedhof am Marienpark. Warum in der hintersten Ecke, fragen Sie? Das will ich Ihnen gerne erzählen.
Also, hören Sie gut zu.
Gertrud Kamps stand im Wohnzimmer ihres zwar schon recht alten, aber doch immer noch sehr schmucken Hauses und starrte leeren Blickes auf eine Wollmaus, die sachte über den Boden segelte. Gertruds Augen verfolgten zwar ihren sanften Flug übers Parkett, sahen jedoch … etwas anderes. In ihren Gedanken befand sie sich in dem Wohnzimmer des kleinen Hauses auf Keylar, doch nicht im Jetzt. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit etwas, das hier in diesem Wohnzimmer stattgefunden hatte, was aber schon etliche Jahre zurücklag.
Fast 45 Jahre zurück…
Gertruds Blick wanderte zu der Couch. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich dort sitzen. Ihr Haar war bei weitem nicht so grau wie jetzt, sondern besaß diese kaum zu definierende Farbmischung aus braun und blond. Gertrud selbst nannte ihre damalige Haarfarbe immer Straßenköterblond. Sie saß auf jener Couch, die sie jetzt voller Wehmut, Schmerz und Trauer betrachtete und hielt ein kleines Baby in den Armen. Ihre Bluse war aufgeknöpft und die linke Brust hatte sie aus dem Körbchen ihres BHs hervorgeholt. Das Baby saugte an ihrer Brustwarze und sah zufrieden aus. Meistens hielt es die Augen geschlossen. Manchmal jedoch zwinkerte es zwischen den zuckenden, kleinen Lidern hervor und blickte Gertrud mit strahlend blauen Augen an; Augen, die es von Georg, seinem Vater, hatte, dessen Augen ebenso blau strahlten.
Zumindest dann, wenn es ihm gut ging.
Doch mittlerweile ging es Georg nur selten gut.
„Hast du Hunger, Schätzchen, ja? Ja… Komm her, Baby. Meine kleine Lisa… Das ist gut, was? Du hast aber einen Hunger…“
Lisa lächelte, als hatte sie genau verstanden, was ihre Mama zu ihr gesagt hatte. Glucksende Geräusche drangen aus ihrer Kehle. Gertrud lächelte zurück und streichelte ihrem Baby sanft übers Köpfchen. Sie spürte einen Kloß im Hals. Sie hatte das warme Gefühl, vor Glück weinen zu müssen. Doch dieser Moment des Glücks war nicht von langer Dauer.
Hinter ihr wurde die Tür zum Flur aufgerissen. Gertrud drehte den Kopf und sah ihren Mann Georg im Türrahmen stehen. Hinter ihm erkannte sie die offenstehende Tür zum Keller. Die Kellertür befand sich unter der Treppe zum Obergeschoss und verbarg eine enge, knarzende Holztreppe, die in einen dunklen, stickigen Keller hinabführte. In seinen Händen hielt Georg ein schmutzbeflecktes Tuch. Er blickte auf seine Hände, die er mit diesem Tuch reinigen wollte. Ein Versuch, der nicht sehr erfolgversprechend war. Offenbar hatte er seine Arbeit im Keller – er hatte vor, ein paar neue Leitungen zu verlegen – beendet oder legte vielleicht eine Pause ein.
„Gertrud, ich brauch unbedingt…“, begann Georg. Er sah auf und verstummte. Seine Augen nahmen einen leeren Ausdruck an.
„Hallo, Liebling…“, flüsterte sie. „Nicht so laut, bitte… Lisa ist gerade eingeschlafen!“
Georg sagte zunächst nichts.
Schweigend machte er zwei große Schritte ins Wohnzimmer hinein, während seine rechte Hand unablässig versuchte, seine linke mit dem schmutzigen Tuch sauber zu rubbeln. Mit leerem Blick sah er auf seine Frau hinab. Seine Zähne rieben aufeinander, sodass seine Kiefermuskeln arbeiteten.
„Gertrud…“, sagte er, mit einer Stimme so kalt wie Eiswasser. Erschrocken blickte sie auf. „Willst du mir verraten, was du da machst?“
„Ich… Was soll ich schon machen… ich… ich geb’ unserer kleinen Lisa die Brust! Sie hat Hunger …“
Mit einer schnellen Bewegung warf Georg die Tür zum Flur plötzlich ins Schloss, dass es nur so krachte. Irgendwo fiel etwas herab und zerschellte auf dem Boden. Er fuchtelte wild mit den Armen, als wolle er einen Schwarm Mücken vertreiben und stieß einen unkontrollierten, scheinbar völlig motivationslosen Schrei aus. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich das nicht will? Wie oft? Ich will das nicht sehen! Ich will nicht, dass du das…“ Er reckte ihr einen starren Finger entgegen. „… hier tust!“
Mit einer Mischung aus Angst und Unverständnis starrte Gertrud ihren Mann mit großen Augen an, der sich in seiner kompletten Größe – und er maß einen Meter und zweiundneunzig – vor ihr aufbaute und sie mit bösen Augen fixierte. Augen, in denen nun nicht mehr die geringste Spur jenes Azurblau enthalten war wie in Lisas Augen. Georgs Augen hatten das düstere Blau eines Gewitterhimmels angenommen. Und das bedeutete immer, dass er mehr war als nur wütend.
Warum konnte Gertrud nicht sagen.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung.
Sie spürte, dass sie zitterte. Eine nackte Angst ergriff sie, umklammerte ihre Kehle und drückte ihr die Luft ab. Sie wollte etwas sagen, etwas, dass ihn besänftigte. Doch ihre Stimme versagte.
„Georg… ich…“
„Geh in den Keller!“, schrie er sie an, während ihm Speichel aus dem Mund flog und in ihrem Gesicht landete. „In die Garage, verdammt … von mir aus auch in die Küche oder ins Schlafzimmer. Du kannst dich auch auf dem Klo einschließen, was mir noch das liebste wäre. Egal wo du es machst, aber nicht hier … nicht im Wohnzimmer, nicht da, wo ich es sehen muss!“
Gertrud rechnete damit, dass Georg sie nun schlagen würde. Sie hätte nicht gewusst, warum. Aber dass er es tun würde, dessen war sie sich sicher. Aber er tat es nicht. Noch nicht…
Gertrud konnte nichts sagen. Sie zitterte zu sehr, dass sich noch nicht einmal ihre Stimme kontrollieren ließ.
„Ich will es nicht!!!“ Er ballte die Fäuste und hielt sie ihr vors Gesicht. „Kapiert!?! Du packst hier einfach deine Titten aus und lässt dieses Ding, dieses Etwas, an ihnen herum lutschen!!! Ich will das nicht!!!“ Er grunzte noch einmal wütend und wandte sich ab. Er stemmte die Fäuste in die Hüfte und anhand seines sich hebenden und senkenden Oberkörpers erkannte sie, dass er versuchte, sich zu beruhigen. Er atmete tief ein und aus.
Immer wenn er das tat, bestand zumindest die Möglichkeit, mit ihm zu reden. Also nahm Gertrud all ihren Mut zusammen und erwiderte etwas. „Was ist denn nur los mir dir, Schatz?“ Sie hatte die Worte gerade ausgesprochen, als sie erkannte, dass es die falschen gewesen waren.
Weiß Gott die falschen!
Hätte sie doch einfach nur den Mund gehalten.
Georg wirbelte herum, fuchtelte erneut mit seinen Fäusten und schrie sie an, wie ein Tier, das einem anderen Tier mit seinem immensen Gebrüll imponieren wollte. Gertrud drückte Lisa enger an sich, sodass ihr Kopf unmittelbar neben ihrem Ohr lag. Gertrud hörte Lisa schreien, ein an den Nervenenden nagendes Babygeschrei. Sie registrierte es, hätte aber auch nicht mit Sicherheit sagen können, ob Lisa nicht schon die ganze Zeit geschrien hatte.
Bestimmt hatte sie das.
Georg machte einen gewaltigen Schritt auf beide zu.
„Nein… Georg!“
Gertrud übermannte die Panik.
Ihr Mann streckte die Arme aus und grub sie unter die Achseln des Babys. Mit einem Ruck, der Gertrud jegliche Möglichkeit nahm zu reagieren, entriss er ihr das Baby und hielt es in die Höhe. Lisas krebsrotes Gesicht verzog sich zu einer schreienden Grimasse, während es den Eindruck hatte, als spritzten die Tränen in alle Himmelsrichtungen wie in einem Comic.
Doch diese Szene hatte absolut nichts Lustiges zu bieten.
„Lass das Baby los! Georg … BITTE!!!“
„Du elendes kleines Etwas!!!“, schrie Georg das Baby an. „Ich will, dass du wieder aus meinem Leben verschwindest.“
Gertrud schaffte es aufzustehen. Sie hatte sich erst gar nicht die Mühe gemacht, ihre entblößte Brust wieder einzupacken. Sie stapfte nun mit schwankendem, nacktem Busen eilig auf Georg zu und fasste ihn am Arm. Georg reagierte mit einem kurzen, aber harten und direkten Ellbogenschlag in Gertruds Magen. Sie fuhr zusammen und würgte. Die Luft blieb ihr weg. Übelkeit erfasst sie. Beinahe hätte sie sich übergeben.
45 Jahre später zuckte Gertrud zusammen, in dem Moment, als ihr die Erinnerung an diesen Schlag erneute Schmerzen bereitete. Die Erinnerung an diesen Schlag holte sie ins Jetzt zurück.
Sie weinte.
Die Bilder ihrer Vergangenheit waren verschwunden.
Aber der Schmerz blieb.
Gertrud versuchte sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht. Während sie in ihrem Wohnzimmer stand und tief durchatmete, glaubte sie, nach wie vor das durchdringende Weinen ihres Babys zu hören. Es blieb als schmerzhafte Erinnerung in ihrem Kopf und trieb ihr einen Stich ins Herz wie einen Dolch, den ein erbarmungsloser Angreifer mit Wollust hin und her drehte. Die Erinnerungen an die Zeit, die sie in diesem Haus zugebracht hatte, nagten weiter an ihr. Bald schon würde sie das Haus verlassen, es neuen Besitzern überlassen. Einem jungen Pärchen aus Köln, Anna und Thomas Rieth.
Und das war gut so.
Nicht nur Gertrud hatte mit ihren Erinnerungen zu kämpfen. Zwar lagen Thomas Rieths Erinnerungen nicht ganz so weit in der Vergangenheit, aber sie waren trotzdem nicht weniger schmerzhaft.
Thomas saß hinter dem Lenkrad seines Wagens und starrte gedankenverloren auf die Straße. Seine Frau Anna saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Sie schlief, den Kopf an die Scheibe gelehnt und die Hände zwischen ihre Schenkel geschoben. Thomas blickte zu ihr hinüber und lächelte schwach. Es war kein freudiges Lächeln. Vielleicht war ein Funken Freude darin enthalten, der sich von dem Gedanken, ein neues Leben zu beginnen, veranlasst fühlte aufzuglühen, doch in erster Linie enthielt dieses Lächeln die Trauer über das alte Leben, das sie zurückließen.
Zurücklassen mussten.
In Köln.
Die Erinnerungen wirbelten in seinem Kopf wie in einem Kaleidoskop durcheinander. Es waren Bilder, die sich in rascher Abfolge abwechselten. Die nicht lange genug vor seinem geistigen Auge verharrten, als dass Thomas sie sich hätte in allen Einzelheiten betrachten können. Denn so rasch ein Bild aus der Versenkung seines Unterbewusstseins auftauchte, so schnell war es auch schon wieder verschwunden und wurde von einem anderen Bild abgelöst. Er hätte sich diese Bilder auch gar nicht länger anschauen brauchen, denn jede Einzelheit war so deutlich in sein Hirn eingebrannt, dass nur das kurze Aufblitzen eines Bildes sofort das Grauen und den Schmerz der letzten eineinhalb Jahre in seine Gefühlswelt zurück brachte. Eine Gefühlswelt, die er in den letzten Monaten mehr schlecht als recht versucht hatte, zu sensibilisieren. Doch dieser Versuch war vergebens gewesen.
Er sah das Bild eines kleinen Babys, seines Babys, das mit geöffneten Augen starr zu dem rosa Vorhang seines Himmelbettchens aufsah, ohne es doch wirklich sehen zu können. Neben dem Bettchen hockte seine Frau Anna, die ihre Finger in ihr leicht gelocktes Haar (es war noch nass von der morgendlichen Dusche) gekrallt hatte, daran zog, als wolle sie es sich ausreißen. Sie schrie aus Leibeskräften wie ein wildes Tier, das den Mond anbrüllte.
Dann sah er das Bild einer Frau. Dass es seine Frau war, wusste er, doch das Äußere der Frau hielt einem Vergleich mit der Frau, die er kennen und als seine Frau lieben gelernt hatte, kaum noch stand. Sie lag in einer gefüllten Wanne, geistesabwesend. Sie schaute auf ihren Arm, der über den Rand der Wanne hing, aus dem das Blut aus einem kaum sichtbaren Schnitt hervorsickerte und sich auf dem Fliesenboden des Badezimmers in einer kleinen Lache gesammelt hatte.
Es folgte das Bild eines Namens. Ein Name in roter, schmieriger Schrift an die geflieste Wand des Badezimmers geschrieben. Es war Blut. LENA stand dort, und darunter, kaum zu lesen: ES TUT MIR LEID!
Dann erinnerte er sich an seine Frau, wie sie in einem karg eingerichteten Krankenhauszimmer auf dem Boden kauerte, während sie ihre angewinkelten Knie umschlungen hielt (ihre Unterarme wegen der selbstverletzenden Schnitte bandagiert) und apathisch vor sich hin starrte. Sie hatte gesummt. Ein altes Kinderlied. Er hatte versucht mit ihr zu reden, doch sie schien ihn gar nicht bemerkt zu haben. Er erinnerte sich noch gut an den Schmerz, den er empfunden hatte. An den Schmerz, die Hilflosigkeit … und die Wut. Auch wenn er sich dessen schämte, aber an diesem Abend, als er Anna in die Klinik gebracht hatte, nachdem sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, war er so wütend auf sie gewesen wie noch nie zuvor. Vor allem als er sie so vor sich sitzen sah und sie ihn nicht beachtet hatte. In diesem Moment hatte er eine immense Wut in sich aufsteigen gespürt. Eine Wut, die er nur schwer kontrollieren konnte. Am liebsten wäre er zu ihr herüber gegangen, hätte sie bei den Schultern gefasst und sie geschüttelt. Am liebsten hätte er sie angebrüllt, was ihr verdammt nochmal einfiele, es sich so leicht zu machen. Ihm das anzutun. Er hatte nichts von all dem getan. Vielleicht aber auch nur, weil im nächsten, und wohl richtigen Moment Dr. Thal den kahlen Raum betreten hatte.
„Ihre Frau leidet an einer reaktiven Depression, aus der sie alleine nicht mehr herausfindet. Sie hat sich so sehr in ihre düstere Welt der Trostlosigkeit vergraben, dass sie glaubte, nur ein Weg führe sie aus dieser Hölle hinaus.“
„Selbstmord.“ Thomas saß dem verhältnismäßig jungen Psychiater in dessen Büro gegenüber. Er starrte auf das halbrunde Muttermal auf der Wange des Arztes, weil er keine Ahnung hatte, wohin er sonst gucken sollte. „Wie kann ich ihr helfen, Herr Doktor?“
„Indem Sie Geduld haben. Für Angehörige von Menschen, die an reaktiver Depression erkrankt sind, ist der Weg der Genesung meist genauso schwierig wie für die Depressiven selbst. Es ist eine Zeit der Entbehrung des Menschen, den man lieben gelernt hat. Nur selten sieht man in dem Kranken denjenigen, den man liebt. Es wird Ihnen schwer werden.“
„Was kann ich tun?“
„Seien Sie für sie da, wenn sie Sie braucht.“