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Buch

Während in den Straßen Edinburghs das berühmte Fringe-Festival tobt, wird direkt darunter in den labyrinthischen Gewölben von Mary King’s Close ein Mann mit sechs Kugeln ermordet. Das klassische Vorgehen, das die Terrorgruppen der IRA und verbündete Separatisten Verrätern und Feinden angedeihen lassen. Doch Inspector Rebus ist nicht wirklich überzeugt von dieser allzu einfachen Erklärung. Unter Hochdruck fahndet er nach dem wirklichen Täter – um dessen Leben zu retten. Denn bei dem Ermordeten handelt es sich um niemand Geringeren als den Sohn von Unterweltboss »Big Ger« Cafferty. Und »Big Ger« hat bereits blutige Rache geschworen …


Weitere Informationen zu Ian Rankin sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Ian Rankin

Blutschuld

Kriminalroman

Aus dem Englischen
von Giovanni und Ditte Bandini

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Die Originalausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Mortal Causes« bei Orion, an imprint of Orion Books Ltd., London.


Neuveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 1993 by Ian Rankin

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Laurence Winram / Trevillion Images

Th · Herstellung: mw


ISBN: 978-3-641-11395-7
V003

www.goldmann-verlag.de


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Vielleicht ist Edinburghs schreckliches
Nicht-sprechen-Können,

Edinburghs Verschweigen all dessen,
was es sagen sollte,

Lediglich die Stille, die dem Donner vorausgeht,

Der befreienden Explosion,
die so beklemmend bevorsteht …

Hugh MacDiarmid


Wir werden alle nur Dreck sein auf der Erde.

Tom Waits

Er konnte schreien, so viel er wollte.

Sie waren unter der Erde, an einem Ort, den er nicht kannte, in einem kühlen, uralten Raum, der allerdings elektrisch beleuchtet war. Und er wurde bestraft. Sein Blut tropfte auf den gestampften Lehmboden. Er hörte Geräusche wie von fernen Stimmen, noch etwas anderes als das Atmen der Männer, die um ihn herum standen. Geister, dachte er. Gekreisch und Gelächter, die Geräusche eines lustigen Abends. Er musste sich irren: Was er erlebte, war eher ein Albtraum.

Seine nackten Zehen berührten gerade noch den Fußboden. Die Schuhe hatte er verloren, als sie ihn die Treppe hinuntergeschleift hatten. Die Strümpfe waren ihnen irgendwann gefolgt. Er litt unsägliche Schmerzen, aber gegen Schmerzen ließ sich etwas unternehmen. Schmerzen waren nicht für die Ewigkeit. Er fragte sich, ob er je wieder würde laufen können. Er erinnerte sich an die Mündung der Waffe an seinem Knie, deren Berührung ein unwillkürliches Zucken in seinem Bein ausgelöst hatte.

Seine Augen waren geschlossen. Er wusste, dass er, wenn er sie geöffnet hätte, Spritzer seines Blutes an der getünchten Wand gesehen hätte, der Wand, die sich ihm entgegenzuwölben schien. Seine Zehen bewegten sich noch immer über den Fußboden, glitschten durch warmes Blut. Jedes Mal, wenn er zu sprechen versuchte, spürte er, wie sein Gesicht rissig wurde: eine Salzhaut aus getrockneten Tränen und Schweiß.

Es war seltsam, wie sich das Leben entwickelte. Man konnte in Liebe und Geborgenheit aufwachsen und trotzdem auf die schiefe Bahn geraten. Man konnte die reinsten Ungeheuer als Eltern haben und dennoch keinerlei seelischen Schaden davontragen. Sein Leben war weder so noch so gewesen. Oder besser gesagt, es war beides gleichzeitig gewesen, denn er war gleichermaßen umsorgt und im Stich gelassen worden. Er war sechs und schüttelte einem korpulenten Mann die Hand. Sie hätten sich näher stehen müssen, aber irgendwie war das nicht möglich. Er war zehn, und seine Mutter sah müde und abgespannt aus, wie sie, über die Spüle gebeugt, Geschirr abwusch. Ohne zu merken, dass er in der Tür stand, hielt sie inne und stützte die Hände auf den Rand der Spüle. Er war dreizehn und wurde in seine erste Gang aufgenommen. Die Jungen schlugen ihm mit der Kantenseite eines Kartenspiels die Fingerknöchel blutig. Einer nach dem anderen schlugen sie alle elf zu. Es tat weh dazuzugehören.

Jetzt hörte er das Geräusch von schlurfenden Schritten. Die Revolvermündung berührte sein Genick und jagte weitere Wellen durch seinen Körper. Wie konnte etwas nur so kalt sein? Er atmete einmal tief durch und spürte die Anspannung in den Schulterblättern. Es konnte nicht mehr Schmerz geben, als er schon jetzt verspürte. Gepresste Atemzüge nah an seinem Ohr, und dann noch einmal die Worte:

»Nemo me impune lacessit

Er öffnete die Augen und sah die Geister. Sie saßen in einer verräucherten Schenke an einem langen rechteckigen Tisch, die mit Wein und Bier gefüllten Kelchgläser hoch erhoben. Eine junge Frau rekelte sich auf dem Schoß eines einbeinigen Mannes. Die Gläser hatten einen Stiel, aber keinen Fuß: Erst wenn man sie geleert hatte, konnte man sie wieder, umgekehrt, hinstellen. Es wurde gerade ein Toast ausgebracht. Elegant Gekleidete saßen Seite an Seite mit Bettlern. Es gab keinerlei Schranken, nicht im Schummerlicht der Schenke. Dann richteten sie die Augen auf ihn, und er versuchte zu lächeln.

Die letzte Explosion spürte er nur noch, hörte sie aber nicht mehr.

1

Es war wahrscheinlich die schlimmste Samstagnacht des Jahres, ein Grund, warum Inspector John Rebus die Schicht übernommen hatte. Gott war in seinem Himmel und hielt sich fein raus. Am Nachmittag hatte es ein Lokalderby gegeben, Hibs gegen Hearts im Stadion an der Easter Road. Auf dem Weg zurück ins West End und weiter hatten Fans im Stadtzentrum Zwischenstation gemacht, um sich voll laufen zu lassen und ein paar optische und akustische Eindrücke des Festivals mitzunehmen.

Das Edinburgh Festival war Rebus’ Albtraum. Jahrelang hatte er dagegen angekämpft, hatte versucht, ihm zu entgehen, hatte es verflucht, war in seinen Sog geraten. Es gab Leute, die meinten, das Festival sei irgendwie untypisch für Edinburgh, eine Stadt, die den größten Teil des Jahres verschlafen, bieder, maßvoll wirkte. Doch das stimmte nicht: In Edinburghs Geschichte gab es genügend Ausschweifungen und Rebellionen. Aber das Festival, und besonders dessen alternative Parallelveranstaltung, der »Festival Fringe«, war anders. Beide lebten vom Tourismus, und wo es Touristen gab, gab’s Ärger. Taschendiebe und Einbrecher strömten in die Stadt wie zu einem Kongress, während all die Fußballfans, die normalerweise einen großen Bogen um die Stadtmitte machten, plötzlich zu deren erklärten Liebhabern wurden und den fremden Eindringlingen, die an den Tischen kurzlebiger Straßencafés entlang der High Street saßen, herausfordernde Blicke und Bemerkungen zuwarfen.

Heute Nacht konnte es durchaus zum großen Knall kommen.

»Da draußen ist die Hölle los«, hatte ein Constable schon gemeint, als er zu einer Pause in die Kantine gekommen war. Rebus glaubte ihm das aufs Wort. Die Zellen füllten sich ebenso stetig wie die Eingangskörbe des CID. Eine Frau hatte die Finger ihres betrunkenen Ehemanns durch den Fleischwolf gedreht. Irgendjemand versiegelte die Ausgabeklappen von Geldautomaten mit Sekundenkleber und meißelte sie später wieder auf, um die angesammelten Geldscheine herauszuholen. In der Gegend der Princes Street waren mehrere Handtaschen gestohlen worden. Und die Dosen-Gang war wieder unterwegs.

Die Dosen-Gang hatte eine simple Strategie. Ihre Mitglieder blieben an Bushaltestellen stehen und boten einem der Wartenden einen Schluck aus ihrer Dose an. Sie waren einschüchternde Gestalten, und das Opfer nahm das Angebotene an, ohne zu wissen, dass das Bier oder die Cola zerstoßene Mogadon-Tabletten oder einen anderen ähnlich schnell wirkenden Tranquilizer enthielt. Sobald das Opfer umkippte, nahm ihm die Gang Geld und Wertsachen ab. Man wachte mit einem matschigen Kopf oder, im schlimmsten Fall, mit ausgepumptem Magen wieder auf. Und auf alle Fälle mit leeren Taschen.

Mittlerweile war eine weitere telefonische Bombendrohung eingegangen, diesmal nicht bei Lowland Radio, sondern bei der Zeitung. Rebus war zur Redaktion gefahren, um die Aussage des Journalisten aufzunehmen, der mit dem anonymen Anrufer gesprochen hatte. Der Raum glich einem Irrenhaus voll von Festival- und Fringe-Kritikern, die an ihren Rezensionen schrieben. Der Journalist hatte von seinen Notizen abgelesen.

»Er sagte bloß, wenn wir das Festival nicht abbliesen, würden wir es bereuen.«

»Klang er so, als ob er es ernst meinte?«

»O ja, absolut.«

»Und er hatte einen irischen Akzent?«

»Klang so.«

»Nicht nur nachgemacht?«

Der Reporter zuckte die Achseln. Er hatte es eilig, seine Story zu schreiben, also ließ Rebus ihn laufen. Das war der dritte Anruf im Lauf dieser Woche, jedes Mal mit der Drohung, das Festival mit einer Bombe oder sonst wie zum Platzen zu bringen. Die Polizei nahm die Drohungen ernst. Wie hätte sie es sich auch leisten können, das nicht zu tun? Bislang hatten sich die Touristen nicht abschrecken lassen, dennoch legte man den Veranstaltern dringend nahe, vor den Auftritten Sicherheitskontrollen durchzuführen.

Wieder in St. Leonard’s erstattete Rebus seinem Chief Superintendent Bericht und versuchte anschließend, etwas Papierkram aufzuarbeiten. Als bekennender Masochist mochte er die Samstagspätschicht recht gern. Sie zeigte einem die Stadt mit ihren vielen verschiedenen Gesichtern, gewährte einem einen lehrreichen Einblick in Edinburghs graue Seele. Die Sünde und das Böse waren nicht schwarz – darüber hatte er schon lange Gespräche mit einem Geistlichen geführt –, sondern von einer grauen Anonymität. Man sah sie die ganze Nacht lang, die grauen, starrenden Gesichter der Übeltäter und Unzufriedenen, der Frauenschläger und jugendlichen Messerstecher. Leer blickende Augen, ohne jedes Interesse außer an der eigenen Person. Und man betete, wenn man John Rebus war, betete darum, dass möglichst wenig Menschen je gezwungen sein würden, dieses undurchdringliche graue Namenlose aus solcher Nähe zu erleben.

Dann ging man in die Kantine und tauschte mit den Jungs ein paar Witze aus, ein Lächeln im Gesicht, auch wenn man gar nicht zuhörte.

»Hier, Inspector, kennen Sie den vom Tintenfisch mit dem Schnurrbart? Also gut, er kommt in ein Restaurant und –«

Rebus wandte sich vom Detective Constable und dessen Witz ab und seinem klingelnden Telefon zu.

»D.I. Rebus.«

Während er zuhörte, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Dann legte er auf und nahm sein Jackett von der Lehne des Stuhls.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte der D.C.

»Worauf Sie Gift nehmen können, mein Junge.«


Die High Street war voll von Menschen, die größtenteils nur herumschlenderten und sich umschauten. Junge Leute wuselten zwischen ihnen hin und her und versuchten, sie für die Fringe-Aufführungen zu begeistern, für die sie sich jeweils stark machten. Wahrscheinlich spielten sie darin sogar die Hauptrollen. Sie schoben eifrig Flugblätter in Hände, die schon voll von ähnlichen Wischen waren.

»Nur zwei Pfund, so billig wie auf dem ganzen Fringe nicht!«

»Eine solche Show bekommen Sie sonst nirgendwo geboten!«

Es gab Jongleure und Leute mit bemalten Gesichtern und eine Flut von disharmonischen Klängen. Wo sonst auf der Welt würden Dudelsäcke, Banjos und Kazoos zu solch einer infernalisch-musikalischen Straßenschlacht aufeinander prallen?

Die Einheimischen meinten, dieses Festival sei ruhiger als das letzte. Das sagten sie seit Jahren. Rebus fragte sich, ob diese Kulturkirmes je eine Glanzzeit erlebt hatte. Für seinen Geschmack war mehr als genug los.

Trotz der warmen Nacht ließ er die Wagenfenster geschlossen. Doch er konnte nicht verhindern, dass ihm, während er im Schritttempo dahinkroch, Flugblätter unter die Scheibenwischer geschoben wurden, bis er kaum noch etwas sehen konnte. Seine strengen Blicke prallten an ungerührt lächelnden Schauspielschülergesichtern ab. Es war zehn Uhr und noch nicht lange dunkel; das war das Schöne am schottischen Sommer. Er versuchte, sich vorzustellen, er befände sich an einem menschenleeren Strand oder auf dem Gipfel eines Berges, allein mit seinen Gedanken. Wem versuchte er eigentlich, etwas vorzumachen? John Rebus war immer allein mit seinen Gedanken. Und momentan dachte er an Alkohol. Noch ein, zwei Stunden, und die Bars würden sich abrupt leeren – das heißt, wenn sie nicht wegen des Festivals einen Antrag auf verlängerte Ausschankgenehmigung gestellt und ihn bewilligt bekommen hatten.

Er war unterwegs zum Rathaus, den City Chambers, gegenüber von der St. Giles’ Cathedral. Er bog von der High Street ab, fuhr durch einen von zwei steinernen Bogen und gelangte auf einen kleinen Parkplatz direkt vor den Chambers. Unter einem der Bogen hielt ein uniformierter Constable Wache. Er erkannte Rebus und trat nickend beiseite. Rebus parkte sein Auto neben einem Streifenwagen, stellte den Motor ab und stieg aus.

»’n Abend, Sir.«

»Wo ist es?«

Der Constable deutete mit dem Kopf auf eine Tür in der Nähe der Bogen, an der Seitenwand der Chambers. Sie gingen darauf zu. Neben der Tür stand eine junge Frau.

»Inspector«, sagte sie.

»Hallo, Mairie.«

»Ich hab sie aufgefordert weiterzugehen, Sir«, entschuldigte sich der Constable.

Mairie Henderson schenkte ihm keinerlei Beachtung. Sie sah Rebus in die Augen. »Was ist los?«

Rebus zwinkerte ihr zu. »Die Loge, Mairie. Wir treffen uns nämlich immer heimlich.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Na also, seien Sie vernünftig. Unterwegs zu einer Show?«

»War ich, bis ich das Spektakel hier gesehen habe.«

»Samstag ist Ihr freier Tag, wie?«

»Presseleute haben keine freien Tage, Inspector. Was ist hinter der Tür?«

»Sie ist verglast, Mairie. Schauen Sie doch selbst nach.«

Aber durch die Scheiben konnte man lediglich einen engen Korridor mit mehreren Türen sehen. Eine davon war offen und ließ eine Treppe erkennen, die nach unten führte. Rebus wandte sich zum Constable.

»Wir machen jetzt richtig dicht, mein Junge. Sperren Sie die Bogen ab, dass keine Touristen reinkommen, bevor die Show losgeht. Fordern Sie, wenn nötig, über Funk Verstärkung an. Entschuldigen Sie, Mairie.«

»Dann gibt es also was zu sehen?«

Rebus ging an ihr vorbei, öffnete die Tür und zog sie hinter sich wieder zu. Er stieg die Treppe hinunter, die von einer nackten Glühbirne beleuchtet wurde. Von unten drangen Stimmen zu ihm herauf. Am Ende des ersten Treppenlaufs bog er um die Ecke und sah sie: Am Boden saßen oder kauerten zwei halbwüchsige Mädchen und ein Junge, die Mädchen zitternd und in Tränen aufgelöst. Direkt neben ihnen standen ein uniformierter Constable und ein Mann, der offenbar Arzt war. Bei Rebus’ Erscheinen sahen alle auf.

»Das ist der Inspector«, erklärte der Constable den Teenagern. »So, jetzt gehen wir wieder runter. Ihr drei bleibt hier.«

Als er sich an den Jugendlichen vorbeidrückte, sah Rebus, dass der Arzt ihnen einen besorgten Blick zuwarf. Er zwinkerte ihm zu, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie schon darüber wegkommen würden. Der Arzt schien da nicht so sicher zu sein.

Zusammen stiegen die drei Männer die nächste Treppe hinunter. Der Constable hatte eine Taschenlampe dabei.

»Es gibt elektrisches Licht«, sagte er. »Aber ein paar Birnen sind kaputt.« Sie gingen durch einen engen, niedrigen Gang, der durch die Lüftungs- und Heizungsrohre, die entlang der Decke verliefen, noch niedriger wurde. Gerüststangen lagen fertig zum Zusammenbau auf dem Boden. Dann kam wieder eine Treppe.

»Sie wissen, wo wir sind?«, fragte der Constable.

»Mary King’s Close«, erwiderte Rebus.

Nicht dass er schon hier unten gewesen wäre – nicht direkt jedenfalls. Aber er war schon in ähnlichen alten überbauten Straßen unter der High Street gewesen. Er wusste von Mary King’s Close.

»Es ist nämlich so«, erklärte der Constable, »dass es sechzehnhundertsoundsoviel eine Seuche gab. Die Leute sind gestorben oder ausgezogen und nie wieder richtig eingezogen. Dann gab es einen Brand. Sie sperrten die Enden der Straße ab. Später haben sie das Stück Straße einfach überbaut.« Er richtete seine Taschenlampe zur Decke, die jetzt drei oder vier Stockwerke über ihnen lag. »Sehen Sie die Marmorplatte da oben? Das ist der Fußboden der City Chambers.« Er lächelte. »Ich hab letztes Jahr die Führung mitgemacht.«

»Unglaublich«, meinte der Arzt. Dann, zu Rebus gewandt: »Ich bin Dr. Galloway.«

»Inspector Rebus. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«

Der Arzt ging nicht darauf ein. »Sie sind mit Dr. Aitken befreundet, stimmt’s?«

Ah, Patience Aitken. In dem Moment würde sie zu Hause sein, die Beine untergeschlagen, auf dem Schoß eine Katze und ein Buch, im Hintergrund langweilige klassische Musik. Rebus nickte.

»Wir hatten früher eine Gemeinschaftspraxis«, erklärte Dr. Galloway.

Jetzt waren sie im eigentlichen close, einer engen, ziemlich steilen Straßenschlucht zwischen steinernen Gebäuden. Entlang einer Seite der Straße verlief ein primitiver Abwasserkanal. Rechtwinklig abzweigende Gänge führten in dunkle Gelasse, wovon eines nach Auskunft des Constable eine Backstube mit noch intakten Öfen beherbergte. Der Constable ging Rebus allmählich auf den Geist.

Es gab weitere Rohre und Leitungen, Rollen von Elektrokabeln. Das hintere Ende des close war durch einen Fahrstuhlschacht abgesperrt. Überall konnte man Spuren von Restaurierungsarbeiten sehen: Zementsäcke, Gerüste, Eimer und Schaufeln. Rebus zeigte auf eine Bogenlampe.

»Können wir die anschließen?«

Der Constable nickte. Rebus schaute sich um. Es war weder feucht noch kalt, noch waren irgendwelche Spinnweben zu sehen. Die Luft wirkte frisch. Und dennoch befanden sie sich drei oder vier Stockwerke unter dem Straßenniveau. Rebus nahm die Taschenlampe und leuchtete durch eine offene Tür. Am Ende des Flurs konnte er ein aufgeklapptes hölzernes Klosett erkennen. Die nächste Tür führte in einen langen Raum mit gewölbter Decke, verputzten Wänden und einem Fußboden aus gestampfter Erde.

»Das ist die Weinschenke«, sagte der Constable. »Die Schlachterei ist direkt nebenan.«

So war es. Auch sie bestand aus einem einzigen Raum mit gewölbter Decke, verputzten Wänden und einem Fußboden aus festgetretener Erde. Aus der Decke ragten Eisenhaken, kurz und geschwärzt, aber ehemals dazu benutzt, Fleisch daran aufzuhängen.

An einem von ihnen hing noch immer Fleisch.

Es war der leblose Körper eines jungen Mannes. Sein Haar war dunkel und glatt und klebte an Stirn und Nacken. Man hatte ihm die Hände gefesselt und das Seil über einen Haken gezogen, so dass er, die Finger knapp unter der Decke, ausgestreckt herunterhing und mit den Zehen gerade noch den Fußboden berührte. Auch seine Fußknöchel hatte man zusammengebunden. Alles war voller Blut, das konnte man deutlich sehen, als die Bogenlampe plötzlich aufflammte. Es roch leicht nach Verwesung, aber Fliegen waren Gott sei Dank keine da. Dr. Galloway schluckte krampfhaft und ging eilig wieder hinaus auf die Gasse, um sich zu übergeben. Rebus ging mit gebührendem Abstand um die Leiche herum.

»Erzählen Sie«, forderte er den Constable auf.

»Na ja, Sir«, begann dieser, »die drei jungen Leute, also die hatten beschlossen, hier runterzukommen. Für die Dauer der Bauarbeiten finden keine Führungen statt, aber sie wollten bei Nacht hier runter. Über diesen Ort sind ein Haufen Gespenstergeschichten in Umlauf, von kopflosen Hunden und –«

»Wie sind sie an den Schlüssel gekommen?«

»Der Großonkel des Jungen macht hier Führungen, war bis zu seiner Pensionierung beim Bauamt oder so was in der Art.«

»Sie kamen also auf der Suche nach Geistern her und fanden das.«

»Genau, Sir. Sie sind wieder zur High Street hochgerannt und Police Constable Andrews und mir in die Arme gelaufen. Anfangs dachten wir, die wollten sich einen Jux mit uns erlauben.«

Aber Rebus hörte schon gar nicht mehr zu, und als er sprach, waren seine Worte nicht an den Constable gerichtet.

»Du armer kleiner Mistkerl, schau, was sie dir angetan haben.«

Obwohl es gegen die Vorschriften war, beugte er sich vor und berührte das Haar des jungen Mannes, das sich noch immer etwas feucht anfühlte. Er war wahrscheinlich Freitagnacht gestorben und hätte eigentlich das Wochenende über hängen bleiben sollen – lange genug, um jede Spur zu verwischen.

»Was meinen Sie, Sir?«

»Schüsse.« Rebus betrachtete die Blutspritzer an der Wand. »Irgendwelche Hochgeschwindigkeitsgeschosse. Kopf, Ellbogen, Knie und Knöchel.« Er atmete scharf ein. »Er hat ein six-pack bekommen.«

Auf der Gasse ertönten Schritte, und jetzt war der schwankende Strahl einer weiteren Taschenlampe zu sehen. Zwei Gestalten blieben in der Tür stehen, schwarze Silhouetten im Licht der Bogenlampe.

»Kopf hoch, Dr. Galloway«, dröhnte eine männliche Stimme, an das Häufchen Elend gewandt, das noch immer draußen auf der Gasse kauerte. Als er die Stimme erkannte, lächelte Rebus.

»Von mir aus kann’s losgehen, Dr. Curt«, sagte er.

Der Pathologe trat in den Raum und schüttelte Rebus die Hand. »Die verborgene Stadt, eine richtige Offenbarung.« Seine Begleiterin kam ebenfalls herein. »Kennen Sie sich schon?« Dr. Curt klang wie der Gastgeber bei einem Empfang. »Inspector Rebus, das ist Ms. Rattray von der Staatsanwaltschaft.«

»Caroline Rattray.« Sie gab Rebus die Hand. Sie war groß, so groß wie die zwei Männer, und trug ihr langes dunkles Haar hinten zusammengebunden.

»Caroline und ich«, sagte Curt, »soupierten gerade nach dem Ballett, als der Anruf kam. Also dachte ich, ich nehm sie gleich mit, schlag zwei Fliegen mit einer Klappe … sozusagen.«

Curt verströmte die Wohlgerüche eines guten Essens. Er und die Anwältin hatten sich beide fein gemacht, und schon war Caroline Rattrays schwarze Jacke von weißem Putzstaub bedeckt. Als Rebus die Hand ausstreckte, um den Staub abzuklopfen, fiel ihr Blick zum ersten Mal auf die Leiche, und sie wandte sich hastig ab. Rebus konnte es ihr nicht verdenken; Curt hingegen ging bereits auf die hängende Gestalt zu, als sei sie ein weiterer Gast auf seinem Empfang. Er blieb kurz stehen, um sich Überschuhe aus Polyethylen anzuziehen.

»Ich habe immer welche im Auto«, erklärte er. »Man weiß nie, wann man sie braucht.«

Er trat nah an die Leiche heran und untersuchte zunächst den Kopf, bevor er sich nach Rebus umwandte.

»Dr. Galloway hat sich das angeschaut, nicht?«

Rebus schüttelte den Kopf. Er wusste, was jetzt kam. Er hatte Curt Leichen ohne Kopf untersuchen sehen, zermalmte Leichen und solche, die wenig mehr als ein Rumpf oder zur Konsistenz von Schweineschmalz zusammengeschrumpft waren. Und jedes Mal sagte der Pathologe das Gleiche.

»Der arme Kerl ist tot.«

»Danke.«

»Ich nehme an, die Mannschaft ist unterwegs?«

Rebus nickte. Die Mannschaft war unterwegs. Ein Kleinbus, voll bepackt mit allem, was sie für die erste Szene des Ermittlungsdramas benötigen würden: Beamten von der Spurensicherung, Leuchten und Kameras, Klebestreifen, Beweismittelbeutel und natürlich einem Leichensack. Manchmal kam auch ein Team von der Gerichtsmedizin, wenn die Todesursache besonders unklar war oder der Tatort wie ein Schlachthaus aussah.

»Die Staatsanwaltschaft«, sagte Curt, »wird mir vermutlich darin beipflichten, dass Verdacht auf ein Tötungsdelikt vorliegt.«

Rattray nickte, noch immer ohne hinzusehen.

»Selbstmord war es jedenfalls nicht«, kommentierte Rebus. Caroline Rattray drehte sich zur Wand, nur um sich mit den Blutspritzern konfrontiert zu sehen. Also wandte sie sich zur Tür, wo Dr. Galloway sich gerade den Mund mit einem Taschentuch abwischte.

»Wird besser sein, wenn jemand mir mein Werkzeug holt.« Curt musterte die Decke. »Hat jemand eine Ahnung, was das hier ursprünglich war?«

»Eine Schlachterei, Sir«, antwortete der Constable, nur zu froh, sich nützlich machen zu können. »Eine Weinschenke ist auch noch da, und ein paar Wohnhäuser. Da kann man noch immer rein.« Er wandte sich an Rebus. »Sir, was ist ein Six-pack?«

»Ein Six-pack?«, echote Curt.

Rebus starrte auf die Leiche. »Das ist eine Strafe«, erwiderte er leise. »Nur dass man eigentlich nicht daran sterben sollte. Was ist das da auf dem Boden?« Er wies auf die Füße des Toten, auf die Stelle, wo sie den dunkel gefleckten Lehm berührten.

»Sieht so aus, als hätten Ratten seine Zehen angenagt«, meinte Curt.

»Nein, nicht das.« Im Lehm waren Spuren zu sehen, so breit, als seien sie mit einer großen Zehe gemacht worden. Man konnte vier unbeholfene Blockbuchstaben erkennen.

»Heißt das Neno oder Nemo?«

»Könnte sogar Memo sein«, bemerkte Curt.

»Kapitän Nemo«, sagte der Constable. »Das ist der Typ in Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer

»Jules Verne«, sagte Curt nickend.

Der Constable schüttelte den Kopf. »Nein, Sir, Walt Disney«, korrigierte er ihn.

2

Am Sonntagmorgen beschlossen Rebus und Dr. Patience Aitken, den Alltag hinter sich zu lassen und lange im Bett zu bleiben. Er rannte früh zum Laden an der Ecke, um Croissants und Zeitungen zu besorgen, dann frühstückten sie von einem Tablett, das sie auf die Bettdecke stellten, und blätterten dabei die Zeitungen durch, wobei sie mehr übersprangen, als sie lasen.

Vom grausigen Fund der Nacht zuvor in Mary King’s Close kein einziges Wort. Die Nachricht war zu spät durchgesickert, als dass sie noch hätte veröffentlicht werden können. Doch Rebus wusste, dass in den lokalen Radionachrichten etwas darüber berichtet würde, und so war es ihm ausnahmsweise einmal ganz recht, als Patience das Nachttischradio auf einen Klassiksender einstellte.

Seine Schicht hätte um Mitternacht zu Ende sein sollen, aber Morde pflegten nur selten Rücksicht auf den Dienstplan zu nehmen. Wenn man in einer Mordsache ermittelte, machte man dann Feierabend, wenn es sich irgendwie einrichten ließ. Rebus war bis zwei Uhr früh dageblieben und hatte sich mit der Nachtschicht über die Leiche in Mary King’s Close beraten. Er hatte seinem Chief Inspector und Chief Super Meldung gemacht und war mit der Zentrale in Fettes, wo das von der Spurensicherung gesammelte Material hingebracht wurde, in ständigem Kontakt geblieben. D.I. Flower hatte ihn immer wieder gedrängt, nach Haus zu fahren, was er zuletzt auch tat.

Das eigentliche Problem mit den Spätschichten war, dass Rebus danach nicht mehr richtig schlafen konnte. Er war schon nach vier Stunden wieder aufgewacht, und vier Stunden würden genügen müssen. Aber es hatte etwas Wohliges, ins Bett zu schlüpfen, wenn die Dämmerung nahte, und sich an den Körper dessen zu kuscheln, der da schon schlief. Und ein weiterer Genuss lag darin, dabei die Katze vom Bett zu schubsen.

Vor dem Hinlegen hatte er sich einen vierfachen Whisky genehmigt. Er sagte sich, das sei aus rein medizinischen Gründen, spülte aber das Glas ab und stellte es weg in der Hoffnung, dass Patience nichts merken würde. Sie beklagte sich oft über seine Trinkerei – unter anderem.

»Wir gehen essen«, sagte sie jetzt.

»Wann?«

»Heute Mittag.«

»Wo?«

»In diesem Lokal in Carlops.«

Rebus nickte. »Hexensprung«, sagte er.

»Was?«

»Das ist die Bedeutung von ›Carlops‹. Da gibt’s einen großen Felsen. Früher warf man mutmaßliche Hexen da hinunter. Wenn man nicht fliegen konnte, war man unschuldig.«

»Aber auch tot.«

»Das damalige Gerichtswesen war noch etwas unausgereift, siehe die Wasserprobe. Gleiches Prinzip.«

»Woher hast du diese ganzen Dinge?«

»Es ist erstaunlich, was diese jungen Constables heutzutage alles wissen.« Er schwieg kurz. »Was das Essen angeht … Ich müsste arbeiten gehen.«

»O nein, das tust du nicht.«

»Patience, es hat einen –«

»John, es gibt bald hier einen Mord, wenn wir nicht anfangen, etwas Zeit miteinander zu verbringen. Meld dich krank.«

»Das kann ich nicht machen.«

»Dann mach ich das. Ich bin Ärztin, sie werden mir schon glauben.«

Sie glaubten ihr.


Nach dem Mittagessen unternahmen sie einen Verdauungsspaziergang zum Carlops Rock und wagten anschließend trotz des heftigen Windes einen Aufstieg in die Pentlands. Wieder in Oxford Terrace, meinte Patience schließlich, sie habe noch einigen »Bürokram« zu erledigen – was Patientenblätter, Buchhaltung oder die Lektüre der neuesten medizinischen Fachzeitschriften bedeuten konnte. Also fuhr Rebus die Queensferry Road entlang stadtauswärts und parkte vor der Kirche Unserer lieben Frau von der immer währenden Hölle, wobei er mit Vergnügen, aber auch ein wenig schuldbewusst bemerkte, dass der boshafte Graffito, der »Hilfe« in »Hölle« verwandelte, immer noch nicht von der Tafel entfernt worden war.

Innen war die Kirche leer, kühl und still und vom farbigen Licht der Glasmalereien durchflutet. In der Hoffnung, den richtigen Zeitpunkt erwischt zu haben, schlüpfte er in den Beichtstuhl. Auf der anderen Seite des Gitters saß jemand.

»Vergib mir, Vater«, sagte Rebus, »denn ich bin nicht einmal katholisch.«

»Ah, gut, Sie sind das, Sie Heide. Ich hatte gehofft, dass Sie kommen würden. Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Sollte das nicht mein Text sein?«

»Keine Frechheiten, Rotzlöffel. Kommen Sie, lassen Sie uns einen trinken.«


Pater Conor Leary war fünfundfünfzig bis siebzig und hatte Rebus einmal gesagt, er habe vergessen, welchem Alter er näher sei. Er hatte eine stämmige, fassförmige Gestalt und dichtes Silberhaar, das ihm auch aus Ohren, Nase und Nacken spross. In Zivil, fand Rebus, hätte er ohne weiteres als Hafenarbeiter oder Handwerker im Ruhestand durchgehen können, der in seiner Jugend einen ganz passablen Boxer abgegeben hatte. Und Pater Leary besaß Fotos und Trophäen, die bewiesen, dass Letzteres der Wahrheit entsprach. Er schlug oft eine kurze Gerade in die Luft, um ein Argument zu unterstreichen, und schloss mit einem Aufwärtshaken, um zu zeigen, dass dem nichts entgegenzusetzen war. In Gesprächen mit ihm hatte sich Rebus oft einen Ringrichter gewünscht.

Heute aber saß Pater Leary gemütlich und weitgehend friedfertig in einem Liegestuhl im Garten. Es war ein schöner Abend, warm und klar, mit einer leichten, kühlen Meeresbrise.

»Ein idealer Tag für eine Ballonfahrt«, sagte Pater Leary und nahm einen Schluck Guinness aus seinem Glas. »Oder zum Bungeespringen. Ich glaub, sie haben so was Ähnliches auf den Meadows aufgebaut, nur für die Dauer des Festivals. Mann! Das würd ich gern mal ausprobieren.«

Rebus blinzelte, schwieg aber. Sein Guinness war so kalt, dass er damit seine Zähne hätte betäuben können. Er verlagerte im Liegestuhl vorsichtig sein Gewicht. Bevor er sich hineingesetzt hatte, war ihm aufgefallen, wie verschlissen der Stoff war, wie abgewetzt an der Stelle, an der er sich um die waagrechten Holme spannte. Er hoffte, dass sie halten würde.

»Gefällt Ihnen mein Garten?«

Rebus betrachtete die leuchtenden Blüten, den sauber gemähten Rasen. »Ich weiß nicht viel über Gärten«, gestand er.

»Ich auch nicht. Das ist keine Sünde. Aber ich kenn da so einen alten Burschen, der weiß darüber Bescheid, und für ein paar Kröten kümmert er sich um den hier.« Er führte sein Glas an die Lippen. »Und, wie geht’s so?«

»Ganz gut.«

»Und Dr. Aitken?«

»Auch.«

»Und sind Sie beide noch immer …?«

»Mehr oder weniger.«

Pater Leary nickte. Rebus’ Ton warnte ihn davor weiterzubohren. »Noch eine Bombendrohung, hm? Ich hab’s im Radio gehört.«

»Könnte auch einfach ein Spinner sein.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

»Die IRA verwendet normalerweise bestimmte Kodewörter, damit wir wissen, dass sie es ernst meint.«

Pater Leary nickte vor sich hin. »Und dazu noch einen Mord?«

Rebus leerte sein Glas. »Ja.«

»Die hören nicht mal für das Festival auf, oder? Was müssen nur die Touristen denken?« Pater Learys Augen blitzten.

»Es wird langsam Zeit, dass die Touristen die Wahrheit erfahren«, sagte Rebus ein bisschen zu hastig. Er seufzte. »Es war ziemlich grausig.«

»Tut mir Leid, das zu hören. Ich hätte nicht so schnoddrig sein sollen.«

»Schon in Ordnung. Es ist ein Selbstschutzmechanismus.«

»Sie haben Recht, das ist es wirklich.«

Rebus kannte das. Das war auch der Grund für seine Witzeleien mit Dr. Curt, ihre Art, das Offensichtliche, das Unbestreitbare nicht an sich heranzulassen. Trotzdem hatte Rebus seit letzter Nacht das Bild dieser traurigen, aufgeknüpften Gestalt vor Augen, eines jungen Mannes, den sie bislang noch nicht einmal hatten identifizieren können. Das Bild würde ihn nie wieder loslassen. Jeder Mensch hat ein fotografisches Gedächtnis für das Grauen. Als er aus Mary King’s Close gekommen war, hatte er die High Street in den Glanz eines Feuerwerks getaucht vorgefunden, die Straßen voll von Menschen, die staunend zu den blauen und grünen Kaskaden am Nachthimmel emporstarrten. Das Feuerwerk wurde auf dem Schloss veranstaltet; das allabendliche Military Tattoo neigte sich seinem Ende zu. Er hatte keine große Lust gehabt, mit Mairie Henderson zu reden. Ja, er war ihr regelrecht über den Mund gefahren.

»Das ist nicht besonders nett«, hatte sie gemeint, ohne sich einschüchtern zu lassen.

»Das ist sehr nett«, sagte Pater Leary jetzt und rekelte sich noch wohliger in seinem Liegestuhl.

Der Whisky, den Rebus getrunken hatte, konnte das Bild nicht auslöschen, sondern lediglich seine Ränder und Kanten verwischen, so dass das Motiv in der Mitte nur umso klarer hervortrat.

»Wir sind nicht sehr lange hier, wie?«, fragte er jetzt.

Pater Leary runzelte die Stirn. »Sie meinen, hier auf der Erde?«

»Ja. Wir sind nicht lange genug hier, um irgendetwas ausrichten zu können.«

»Erzählen Sie das dem Mann mit der Bombe in der Tasche. Jeder Einzelne von uns richtet einfach dadurch etwas aus, dass er da ist.«

»Ich rede nicht vom Mann mit der Bombe, sondern davon, ihn aufzuhalten.«

»Sie reden davon, Polizist zu sein.«

»Ach, vielleicht rede ich auch über gar nichts.«

Pater Leary gestattete sich ein flüchtiges Lächeln, während er den Blick nicht von Rebus’ Gesicht wandte. »Nicht etwas trübsinnig für einen Sonntag, John?«

»Sind Sonntage nicht genau dafür da?«

»Vielleicht für euch Söhne Calvins. Ihr redet euch ein, dass ihr verdammt seid, und dann verbringt ihr die ganze Woche damit, euch darüber lustig zu machen. Manche von uns danken dagegen für diesen Tag und seine Bedeutung.«

Rebus verlagerte sein Gewicht auf dem Stuhl. In letzter Zeit bereiteten ihm Pater Learys Gespräche nicht mehr nur Vergnügen. Sie hatten etwas Missionarisches an sich. »Sollten wir nicht langsam zum Thema kommen?«, fragte er.

Pater Leary lächelte. »Die protestantische Arbeitsethik.«

»Sie haben mich nicht mitgenommen, um mich zu bekehren.«

»Einen sauertöpfischen Kerl wie Sie würden wir gar nicht wollen. Abgesehen davon fiele es mir leichter, in Murrayfield einen 50-Yards-Strafstoß bei Seitenwind zu verwandeln als Sie in einen Katholiken.« Er verpasste der Luft einen Schwinger. »Ach, es ist auch eigentlich gar nicht Ihr Problem. Vielleicht ist es überhaupt kein Problem.« Er strich mit einem Finger an der Bügelfalte seiner Hose entlang.

»Sie können mir trotzdem davon erzählen.«

»Kleiner Rollentausch, wie? Na ja, was in der Art hatte mir sowieso vorgeschwebt.« Er setzte sich etwas aufrechter hin, wodurch er dem überdehnten Stoff ein Ächzen entlockte. »Also dann. Kennen Sie Pilmuir?«

»Seien Sie nicht albern.«

»Klar, blöde Frage. Und in Pilmuir das Garibaldi Estate?«

»Das Gar-B, die übelste Siedlung der Stadt, vielleicht sogar des ganzen Landes.«

»Da wohnen etliche gute Leute, aber im Prinzip haben Sie Recht. Deswegen hat die Kirche einen Sozialarbeiter da hingeschickt.«

»Und der steckt jetzt in Schwierigkeiten?«

»Möglicherweise.« Pater Leary leerte sein Glas. »Das war meine Idee. In der Siedlung gibt es ein Gemeindezentrum, nur war es seit Monaten geschlossen. Ich dachte, wir könnten es als Jugendklub wieder eröffnen.«

»Für Katholiken?«

»Für beide Konfessionen.« Er lehnte sich zurück. »Sogar für die Ungläubigen. Das Garibaldi ist überwiegend protestantisch, aber Katholiken gibt’s da auch. Wir bekamen das Okay und stellten etwas Geld bereit. Ich wusste, dass wir als Leiter jemand Besonderes brauchten, jemand wirklich Dynamisches.« Er boxte in die Luft. »Jemanden, der es schaffen würde, die zwei Seiten zusammenzubringen.«

Mission impossible, dachte Rebus. Dieser Plan wird sich in zehn Sekunden selbst vernichten.

Das vielleicht größte Problem des Gar-B war die konfessionelle Trennung – oder das Fehlen einer solchen, je nachdem, wie man die Sache betrachtete. Protestanten und Katholiken wohnten in denselben Straßen, denselben Hochhäusern. Sie lebten größtenteils in relativer Harmonie und gleicher Armut. Aber da man in der Siedlung wenig unternehmen konnte, neigten die Jugendlichen dazu, sich in rivalisierenden Gangs zu organisieren und gegenseitig zu bekriegen. Jedes Jahr gab es wenigstens eine offene Straßenschlacht, bei der die Polizei einschreiten musste; meist im Juli, meist um den heiligen Tag der Protestanten, den zwölften.

»Also haben Sie den SAS hingeschickt?«, fragte Rebus. Pater Leary bekam den Witz nicht gleich mit.

»Gar nicht«, sagte er, »bloß einen jungen Mann, einen ganz gewöhnlichen jungen Mann, aber von großer innerer Kraft.« Seine Faust zerteilte die Luft. »Spiritueller Kraft. Eine Zeit lang sah es katastrophal aus. Niemand kam zum Klub, die Fenster wurden eingeschlagen, kaum dass wir sie repariert hatten; die Graffiti wurden immer schlimmer und immer aggressiver. Aber dann gelang ihm allmählich der Durchbruch. Das erschien wie ein Wunder. Die Besucherzahlen stiegen, und von beiden Seiten traten Jugendliche dem Klub bei.«

»Was ist also schief gelaufen?«

»Sagen wir, es ist einfach nicht ganz richtig gelaufen. Ich hatte gedacht, sie würden Sport treiben, vielleicht eine Fußballmannschaft gründen oder so was. Wir kauften die Trikots und stellten den Antrag, in die Bezirksliga aufgenommen zu werden. Aber die Jungs waren nicht interessiert. Sie wollten nichts anderes tun, als in den Räumen des Jugendzentrums herumhängen. Und das Gleichgewicht stimmt mittlerweile auch nicht mehr. Es kommen keine neuen Katholiken dazu. Die meisten von ihnen bleiben ganz weg.« Er sah Rebus an. »Aber das ist nicht das eigentliche Problem, klar?«

Rebus nickte. »Die prod-Gangs haben den Klub vereinnahmt?«

»Das hab ich nicht gesagt.«

»Hat für mich so geklungen. Und Ihr … Sozialarbeiter?«

»Er heißt Peter Cave. Oh, er ist noch immer da. Sogar zu oft für meinen Geschmack.«

»Ich weiß noch immer nicht, wo das Problem liegt.« Das tat er zwar durchaus, aber er wollte es im Klartext hören.

»John, ich habe mit Leuten aus der Siedlung gesprochen, und aus ganz Pilmuir. Die Gangs sind so schlimm wie eh und je, nur scheinen sie jetzt zusammenzuarbeiten, die Siedlung unter sich aufzuteilen. Der einzige Erfolg der Sache war, dass sie jetzt besser organisiert sind. Sie veranstalten Treffen im Klub und teilen das umliegende Territorium auf.«

»Dann treiben sie sich wenigstens nicht auf der Straße herum.« Pater Leary verzog keine Miene. »Dann machen Sie eben den Klub dicht.«

»Das ist nicht so einfach. Zunächst einmal würde es nicht gut aussehen. Und wäre dadurch irgendwas gelöst?«

»Haben Sie mit Mr Cave gesprochen?«

»Er hört nicht zu. Er hat sich verändert. Das macht mir überhaupt am meisten Sorgen.«

»Sie könnten ihn rauswerfen.«

Pater Leary schüttelte den Kopf. »Er ist Laie, John. Befehlen kann ich ihm nichts. Wir haben dem Klub die Mittel gestrichen, aber das nötige Geld, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, fließt trotzdem weiter.«

»Woher?«

»Keine Ahnung.«

»Wie viel?«

»Viel ist dazu nicht nötig.«

»Was möchten Sie also, dass ich tue?« Das war die Frage, die Rebus sich die ganze Zeit zu verkneifen versucht hatte.

Wieder setzte Pater Leary sein müdes Lächeln auf. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht. Vielleicht musste ich es einfach nur jemandem erzählen.«

»Kommen Sie mir nicht so. Sie möchten, dass ich da hingehe.«

»Nicht, wenn Sie das nicht wollen.«

Jetzt war es an Rebus zu lächeln. »Ich bin schon an ungefährlicheren Orten gewesen.«

»Und auch an ein paar schlimmeren.«

»Von denen habe ich Ihnen nicht mal die Hälfte erzählt, Pater.« Rebus trank aus.

»Noch eins?«

Er schüttelte den Kopf. »Schön ruhig hier, nicht?«

Pater Leary nickte. »Das ist das Schöne an Edinburgh, man ist nirgendwo allzu weit von einem friedlichen Fleckchen entfernt.«

»Und auch nie allzu weit von einer netten kleinen Hölle. Danke für das Bier, Pater.« Rebus stand auf.

»Wie ich höre, hat Ihre Mannschaft gestern gewonnen.«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich Hearts-Fan bin?«

»Das sind doch prods, oder? Und Sie sind auch Protestant.«

»Auf dem Weg in die Hölle, Pater«, sagte John Rebus lachend.

Pater Leary stemmte sich aus dem Stuhl. Er streckte den Rücken und verzog das Gesicht. Er spielte jetzt bewusst den alten Mann. Den einfachen alten Mann. »Was das Gar-B anbelangt, John«, sagte er und breitete die Arme aus, »bin ich in Ihren Händen.«

Wie Nägel, dachte Rebus, wie Zimmermannsnägel.