Nora Roberts
Verlorene Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Marcel Bieger
Nora Roberts wurde 1950 in Silver Spring, Maryland, als einzige und jüngste Tochter von fünf Kindern geboren. Ihre Ausbildung endete mit der Highschool in Silver Spring. Bis zur Geburt ihrer beiden Söhne Jason und Dan arbeitete sie als Sekretärin, anschließend war sie Hausfrau und Mutter. Anfang der siebziger Jahre zog sie mit ihrem Mann und den beiden Kindern nach Maryland aufs Land. Sie begann mit dem Schreiben, als sie im Winter 1979 während eines Blizzards tagelang eingeschneit war. Nachdem Nora Roberts jedes im Haus vorhandene Buch gelesen hatte, schrieb sie selbst eins. 1981 wurde ihr erster Roman Rote Rosen für Delia (Originaltitel: Irish Thoroughbred) veröffentlicht, der sich rasch zu einem Bestseller entwickelte. Seitdem hat sie über 200 Romane geschrieben, von denen mehr als 400 Millionen Exemplare verkauft wurden; ihre Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Sowohl die Romance Writers of America als auch die Romantic Times haben sie mit Preisen überschüttet; sie erhielt unter anderem den Rita Award, den Maggie Award und das Golden Leaf. Ihr Werk umfasst mehr als 175 New-York-Times-Bestseller, und 1986 wurde sie in die Romance Writers Hall of Fame aufgenommen.
Heute lebt die Bestsellerautorin mit ihrem Ehemann in Maryland.
Das Flugzeug sauste über das Lincoln Memorial hinweg. Grace’ Aktenkoffer lag offen auf ihrem Schoß. Dutzende Dinge wollten eingepackt werden, doch sie blickte in aller Ruhe aus dem Fenster und freute sich zu sehen, wie der Boden näher kam. Was sie betraf, gab es nichts, das sich mit dem Fliegen vergleichen ließe.
Das Flugzeug hatte Verspätung. Grace wußte das, weil der Mann auf Sitzplatz 3B sich ständig darüber beschwerte. Sie war versucht, sich über den Mittelgang zu beugen, seine Hand zu tätscheln und ihm zu versichern, daß eine zehnminütige Verspätung nun wirklich nicht den Untergang der Welt bedeutete. Aber er machte nicht den Eindruck, als sei er für solchen Trost empfänglich.
Kathleen würde bestimmt auch schon ungehalten sein, dachte Grace. Natürlich würde sie sich nicht lautstark beschweren oder ihrem Unmut sonstwie Luft machen, sagte sie sich mit einem Lächeln und lehnte sich zurück, um sich für die Landung anzuschnallen. Kathleen mochte genauso irritiert sein wie der Herr auf 3B, aber sie war viel zu sehr Dame, um sich wie der Mann in lautstarken Beschwerden zu ergehen.
Grace kannte ihre Schwester gut genug, um zu wissen, daß Kathleen eine Stunde vor der Zeit das Haus verlassen hatte, weil sie natürlich damit rechnete, irgendwo im unvorhersehbaren Verkehr von Washington steckenzubleiben. Grace hatte deutlich aus der Stimme ihrer Schwester einen Vorwurf darüber herausgehört, daß sie sich ausgerechnet einen Flug ausgesucht hatte, der um achtzehn Uhr fünfzehn landen sollte, wenn die Rush Hour ihren Höhepunkt erreichte. Kathleen war bestimmt zwanzig Minuten zu früh angekommen, hatte ihren Wagen auf den Platz für Kurzparker abgestellt, das Fenster hochgekurbelt, kontrolliert, ob alle Türen verriegelt waren, und sich dann, ohne sich von den Auslagen der Geschäfte ablenken zu lassen, direkt auf den Weg zur Ankunftshalle gemacht. Kathleen würde nie vor dem falschen Gate warten oder die Ankunftszeit durcheinanderbringen.
Kathleen war stets pünktlich. Grace hingegen kam ständig und überall zu spät. So war es immer gewesen, und so würde es immer sein.
Trotzdem hoffte Grace jetzt aus tiefstem Herzen, daß es zwischen ihnen ein paar Gemeinsamkeiten geben würde. Sie waren zwar Schwestern, hätten aber unterschiedlicher nicht sein können.
Das Flugzeug setzte auf, und Grace fing an, alles, was ihr zwischen die Finger kam, in den Aktenkoffer zu werfen: Lippenstift und Streichholzbriefchen, Kugelschreiber und Pinzette. Das war auch eines der Dinge, die eine so ordentliche Frau wie Kathleen nie verstehen konnte. Bei ihr hatte alles seinen festen Platz. Grace stimmte ihr da im Prinzip durchaus zu, aber irgendwie schienen sich bei ihr die Plätze für die Dinge von Mal zu Mal zu ändern.
Mehr als einmal hatte Grace sich gefragt, wie zwei so verschiedene Frauen Schwestern sein konnten. Sie selbst war sorglos, saumselig und erfolgreich, Kathleen hingegen liebte die Ordnung, war praktisch veranlagt und hatte es im Leben nie leicht gehabt. Dabei hatten sie dieselben Eltern, waren im selben Einfamilienhaus in einem Vorort von Washington aufgewachsen und hatten dieselben Schulen besucht.
Die Nonnen in der Schule hatten es nie vermocht, Grace beizubringen, ihre Hefte ordentlich zu führen. Aber schon in der sechsten Klasse waren sie davon fasziniert, wie geschickt und spannend das Mädchen Geschichten erfinden und erzählen konnte.
Als das Flugzeug am Gate stand, blieb Grace sitzen, während die eiligeren Passagiere bereits den Mittelgang verstopften. Sie wußte, daß Kathleen jetzt nervös vor dem Ausgang auf und ab lief und sich bereits fragte, ob ihre schusselige Schwester womöglich den Flug verpaßt hatte. Aber Grace brauchte noch eine Minute, um sich zu sammeln. Wenn sie gleich ihrer Schwester gegenüberstand, wollte sie an die schönen Momente und nicht an die Wortgefechte denken.
Wie Grace es vermutet hatte, wartete Kathleen unmittelbar am Ausgang. Sie verfolgte, wie die Passagiere einer nach dem anderen herausströmten, und spürte eine neue Aufwallung von Arger. Die ersten fünfzig Personen hatten sie passiert, und Grace war nicht unter ihnen gewesen. Vermutlich hält sie gerade mit den Flugbegleitern ein Schwätzchen, dachte Kathleen und bemühte sich, den Neid zu unterdrücken, der bei dieser Vorstellung in ihr hochstieg.
Grace hatte nie Mühe gehabt, Freunde zu finden. Im Gegenteil, die Menschen fühlten sich sofort zu ihr hingezogen. Schon zwei Jahre nach ihrem Abschluß hatte Grace, die auf der Wolke ihres Charmes durch die Schule geschwebt war, ihre Karriere begonnen. Ein halbes Leben später arbeitete Kathleen, die ihren Abschluß mit Auszeichnung bestanden hatte, an derselben High-School, die sie und ihre Schwester früher besucht hatten. Sie saß zwar heute auf der anderen Seite des Lehrerpults, aber sonst hatte sich seit damals wenig geändert.
Aus dem Lautsprecher ertönten in endloser Folge Ankunfts- und Abflugzeiten. Änderungen der Gate-Nummer und Verspätungen wurden durchgegeben, und noch immer war keine Grace in Sicht. Gerade als Kathleen sich entschloß, an der Information nach ihrer Schwester zu fragen, kam Grace heranmarschiert. Der Neid in Kathleen verging, und ebenso verflog ihre Irritation. Es war unmöglich, auf Grace böse zu sein, wenn man ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.
Warum sah Grace immer so aus, als käme sie gerade aus einem schweren Sturm? Ihr Haar, genauso tiefschwarz wie das von Kathleen, reichte bis auf Kinnhöhe herab und wirkte in seinem kühnen Schwung, als hätten sich diverse Böen daran ausgetobt. Beide Frauen besaßen den gleichen Körper, doch während er bei Kathleen zu stämmig aussah, wirkte er bei Grace schlank und biegsam. Sie ähnelte einer Weide, die sich geschmeidig im Wind beugt. Allerdings machte sie im Moment einen etwas verknitterten Eindruck. Sie trug einen hüftlangen Pullover über Leggings, eine Sonnenbrille, die von der Nase zu rutschen drohte, und gelbe hohe Turnschuhe, die farblich zum Pullover paßten. Kathleen hingegen hatte noch immer den Rock und das Jackett an, in denen sie zum Unterricht erschienen war.
»Kath!« Kaum hatte Grace ihre Schwester erspäht, ließ sie alle Taschen fallen, die sie mit sich schleppte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie den nachfolgenden Passagieren dadurch den Weg versperrte. Sie umarmte Kathleen mit dem Enthusiasmus, mit dem sie alles anzugehen pflegte. »Ich freue mich so sehr, dich zu sehen. Du siehst großartig aus. Oh, ein neues Parfüm.« Sie schnüffelte intensiv. »Hm, gefällt mir.«
»Lady, geht es heute nochmal weiter?«
Ohne Kathleen loszulassen, lächelte Grace den entnervten Geschäftsmann hinter ihr an und riet ihm: »Steigen Sie doch einfach über die Sachen.« Knurrend befolgte er ihren Vorschlag. Grace hatte ihn schon vergessen, so wie ihr Unannehmlichkeiten nie lange etwas anhaben konnten. »Und, wie gefällt dir mein Outfit?« fragte sie ihre Schwester. »Was sagst du zu meiner neuen Frisur? Ich hoffe, du magst sie, denn ich habe ein wahres Vermögen für die Publicity-Aufnahmen hingeblättert.«
»Ich hoffe, du hast dich vorher wenigstens gekämmt.«
Grace fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Wahrscheinlich.«
»Die neue Frisur steht dir gut«, urteilte Kathleen. »Und jetzt komm. Gleich bricht hier ein Aufstand los, wenn wir deine Sachen nicht endlich aus dem Weg räumen. Was ist denn das?« Sie hob einen klobigen Aktenkoffer.
»Maxwell«, antwortete Grace und sammelte ihre Taschen ein. Mein tragbarer Computer. Maxwell und ich haben die wundervollste Affäre, die du dir nur vorstellen kannst.«
»Ich dachte, du wolltest Urlaub machen.« Kathleen gelang es, sich den wiederaufkeimenden Ärger nicht anmerken zu lassen. Der Computer war ein zu deutliches Symbol für Grace’ Erfolg und ihr eigenes Scheitern.
»Ich will ja auch Urlaub machen. Aber irgendwie muß ich mir doch die Zeit vertreiben, wenn du in der Schule unterrichtest. Hätte das Flugzeug noch weitere zehn Minuten Verspätung gehabt, wäre das Kapitel zu Ende geschrieben.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, stellte fest, daß sie schon wieder stehengeblieben war, und vergaß sie im nächsten Moment. »Ehrlich, Kath, das wird der sensationelleste Mord, von dem du je gelesen hast.«
»Wo ist dein Gepäck?« unterbrach Kathleen sie rasch, weil sie wußte, daß Grace ihr sonst den ganzen Roman erzählt hätte.
»Meine Kiste wird morgen bei dir zu Hause abgeliefert.«
Die Kiste. In Kathleens Augen eine weitere Exzentrizität ihrer Schwester. »Grace, wann fängst du endlich an, wie normale Menschen mit Koffern zu verreisen?«
Sie liefen am Gepäckförderband vorbei, wo die Menschen dicht gedrängt standen, um sich beim Anblick ihres geliebten Samsonite-Koffers gegenseitig totzutrampeln. Erst wenn die Hölle zufriert, verreise ich so wie alle normalen Menschen, dachte Grace und lächelte. »Du siehst wirklich gut aus. Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Doch weil sie schließlich ihre Schwester vor sich hatte, fügte Kathleen hinzu: »Eigentlich schon besser.«
»Du bist ohne den Mistkerl auch wirklich besser dran«, sagte Grace, als sie durch die automatischen Türen gingen. »Ich sage das nicht gern, weil ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, aber es ist die Wahrheit.« Eine kalte Brise wehte aus dem Norden heran und ließ die Menschen vergessen, daß es bereits Frühling war. Über ihnen dröhnten startende und landende Flugzeuge. Grace lief, ohne sich nach links oder rechts umzusehen, auf die Straße und zum Parkplatz. »Das einzige Schöne, was er in dein Leben gebracht hat, war Kevin. Wo steckt mein Neffe eigentlich? Ich hatte gehofft, du würdest ihn mitbringen.«
Der schmerzhafte Stich kam und verging. »Er ist bei seinem Vater. Wir sind übereingekommen, daß es für ihn besser ist, wenn er während der Schulzeit bei Jonathan bleibt.«
»Wie bitte?« Grace blieb mitten auf der Fahrbahn stehen. Eine Hupe ertönte, aber sie kümmerte sich nicht darum. »Kathleen, das kann doch unmöglich dein Ernst sein. Kevin ist erst sechs! Er sollte bei seiner Mutter sein. Jonathan läßt ihn wahrscheinlich nicht die Sesamstraße, sondern irgendwelche Schundcomics gucken.«
»Die Entscheidung ist getroffen. Wir sind der festen Überzeugung, daß es so für alle am besten ist.«
Grace kannte den Gesichtsausdruck, den ihre Schwester bei diesen Worten aufsetzte. Er besagte, daß Kathleen jetzt nicht mehr darüber reden wollte. Sie würde das Thema erst dann wiederaufnehmen, wenn sie sich dazu bereit fühlte. »Okay«, sagte Grace und lief neben ihr her. Automatisch beschleunigte sie ihre Schritte, während Kathleen über den Parkplatz raste. Ihre Schwester hatte es immer eilig. Sie selbst hingegen wanderte eher ziellos hierhin und dahin. »Du weißt, daß du immer mit mir reden kannst, wenn du das Bedürfnis dazu hast.«
»Ja, das weiß ich.« Kathleen blieb neben ihrem gebrauchten Toyota stehen. Vor einem Jahr noch hatte sie einen Mercedes gefahren. Aber dieser Verlust war noch der geringste gewesen. »Tut mir leid, wenn ich eben etwas barsch geklungen habe, Grace. Es ist nur so, daß ich im Moment nicht daran erinnert werden möchte. Ich habe mein Leben fast wieder in den Griff bekommen.«
Grace sagte nichts dazu und stellte ihre Taschen in den Kofferraum. Sie sah dem Wagen an, daß er seine besten Jahre hinter sich hatte, und sie wußte, daß er bei weitem nicht dem Lebensstil entsprach, den ihre Schwester früher gepflegt hatte. Aber weitaus mehr als dieser soziale Abstieg besorgte sie der angespannte Unterton in Kathleens Stimme. Am liebsten hätte Grace sie jetzt in den Arm genommen, unterließ das aber, weil sie wußte, daß ihre Schwester Mitgefühl für eine Form von Mitleid hielt. »Hast du in der letzten Zeit mit Mom und Dad gesprochen?«
»Ja, letzte Woche. Es geht ihnen gut.« Kathleen setzte sich hinters Steuer und legte den Sicherheitsgurt an. »Wenn man sie hört, könnte man annehmen, Phoenix sei das Paradis auf Erden.«
»Solang es ihnen nur gutgeht.« Grace nahm auf dem Beifahrersitz Platz und fand zum erstenmal Gelegenheit, sich umzusehen. National Airport. Von hier aus war sie abgeflogen, vor acht, nein, großer Gott, schon vor zehn Jahren. Was für eine Angst sie damals gehabt hatte. Sie wünschte, sie könnte diese Mischung aus Elan und Bangen vor der Zukunft in all ihrer Unschuld und Frische noch einmal erleben.
Bist du es langsam müde, Gracie? fragte sie sich, die zu vielen Flüge, die zu vielen Städte, die zu vielen Gesichter? Nun war sie zurückgekehrt, nur noch wenige Meilen von dem Haus entfernt, in dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und Seite an Seite mit ihrer Schwester. Eigenartig, daß sie nicht das Gefühl hatte heimzukommen.
»Was hat dich eigentlich dazu bewogen, nach Washington zurückzukehren, Kath?«
»Ich mußte dringend raus aus Kalifornien. Und das hier war der einzige Ort, den ich kannte.«
Aber warum wolltest du nicht bei deinem Sohn bleiben? Wie kannst du als Mutter dein Kind zurücklassen? dachte Grace, und sie mußte an sich halten, das nicht laut auszusprechen; sie wußte aber, das dies nicht der rechte Moment war, ihre Schwester danach zu fragen. »Und jetzt unterrichtest du wieder an der Our Lady of Hope? Auch vertrautes Terrain, nicht wahr, obwohl sich dort so manches verändert hat.«
»Es gefällt mir da sehr gut. Vermutlich brauche ich die Disziplin, die das Unterrichten von mir fordert.« Kathleen fuhr den Toyota mit gewohnter Präzision aus der Parklücke und zum Schalter. Hinter dem Sonnenschutz steckten der Parkschein und drei Ein-Dollar-Noten. Grace fiel ein, daß Kathleen immer schon ihr Geld abgezählt bereitgelegt hatte.
»Und gefällt es dir im Haus?«
»Die Miete ist erträglich, und von dort fahre ich nur fünfzehn Minuten bis zur Schule.«
Grace unterdrückte das Bedürfnis zu seufzen. Konnte Kathleen denn nie Freude über etwas zeigen? »Und, hast du jemand Neues kennengelernt?«
»Nein.« Aber Kathleen setzte wenigstens ein leises Lächeln auf, als sie sich in den Verkehr einfädelte. »Sex interessiert mich nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Aber jeder interessiert sich doch für Sex. Was glaubst du denn, warum die Bücher von Jackie Collins immer auf den Bestsellerlisten landen? Aber davon abgesehen, ich meinte, ob du jemanden kennst, der hin und wieder mal mit dir etwas unternimmt, mit dem du reden kannst.«
»Im Moment steht mir nicht der Sinn danach, mit jemandem zusammenzusein.« Dann legte sie eine Hand auf die ihrer Schwester, und das war mehr, als sie, mit Ausnahme von ihrem Mann und Kevin, je einem Menschen zu geben vermocht hatte. »Damit meine ich natürlich nicht dich. Im Gegenteil, ich bin richtig froh, daß du gekommen bist.«
Wie stets reagierte Grace ihrerseits mit Wärme, sobald sie solche empfing. »Ich wäre schon viel früher gekommen, wenn du mich gelassen hättest.«
»Du warst doch mitten in einer Tournee.«
»Tourneen kann man auch absagen.« Sie rutschte auf dem Sitz hin und her. Sie hätte die Tournee platzen lassen, wenn das ihrer Schwester hätte weiterhelfen können. »Na ja, jetzt ist die Sache ja ausgestanden, und ich bin hier.« Sie kurbelte das Fenster herunter und spürt den Aprilwind, der noch genauso wie der im März biß. »Frühling in Washington. Was machen die Kirschblüten?«
»Der späte Frosteinbruch hat ihnen großen Schaden zugefügt.«
»Hier bleibt doch stets alles gleich.« Hatten sie sich eigentlich immer noch so wenig zu sagen? Grace drehte das Radio auf, um die Kluft zwischen ihnen zu füllen. Wie konnten zwei Menschen miteinander aufwachsen, zusammen leben, miteinander streiten und sich doch fremd bleiben? Jedesmal, wenn sie ihre Schwester sah, hoffte sie, diesmal würde es anders. Und regelmäßig wurde sie enttäuscht.
Als der Toyota die Fourteenth Street Bridge überquerte, erinnerte sich Grace an das Zimmer, das sie sich in der Kindheit mit Kathleen geteilt hatte: die eine Hälfte stets adrett und ordentlich, die andere ein immerwährendes Chaos. Dieser krasse Gegensatz war zwischen ihnen ein stetiger Stein des Anstoßes gewesen. Ein anderer waren die Spiele, die Grace sich ausdachte und die ihre Schwester mehr frustrierten als erfreuten. Wie lauten die Regeln? Kathleen hatte bei allem und jedem stets zuerst die Regeln auswendig gelernt. Und wenn es keine gab – oder zumindest keine klaren –, war Kathleen nicht in der Lage, das Spiel an sich zu begreifen.
Immer nur Regeln, Kath, dachte Grace, während sie schweigend neben ihrer Schwester saß. In der Schule, in der Kirche und im Leben. Kein Wunder, daß eine Regeländerung sie in tiefste Verwirrung stürzte. Und jetzt hatten sich die Regeln im Spiel ihres Lebens schon wieder gewandelt.
Hast du deine Familie einfach verlassen, Kath, so wie du früher immer aufgestanden und gegangen bist, wenn dir die Regeln eines Spiels nicht zusagten? Bist du hierher an den Anfang zurückgekehrt, um alle bisherigen Ergebnisse zu tilgen und nach deinen eigenen Regeln von vorn anzufangen? Ja, das ist deine Art, die Dinge anzugehen, dachte Grace und hoffte für ihre Schwester, daß es so endlich funktionieren würde.
Aber dann war sie doch überrascht, als sie die Straße sah, in die Kathleen gezogen war. Grace hatte ein hochmodernes Apartmenthaus erwartet. Die modernsten Einrichtungen und vierundzwanzigstündiger Hausmeisterdienst entsprachen mehr Kathleens Stil als diese altmodischen, leicht heruntergekommenen Häuser inmitten von hohen Bäumen.
Kathleens Haus war eines der kleinsten auf dieser Straßenseite. Obwohl Grace sich kaum vorstellen konnte, daß ihre Schwester mehr im Garten getan hatte, als den Rasen zu mähen, schoben sich am Rand des gepflegten Bürgersteigs die ersten Blüten aus dem Boden.
Als Grace neben dem Wagen stand, ließ sie den Blick über die Straße wandern. Vor jedem Haus lagen Fahrräder und standen mehrere Jahre alte Kombiwagen. Hier und da war ein frischer Farbanstrich auszumachen. Man sah den Häusern an, daß die Familien schon lange in ihnen wohnten, und die Gegend lag irgendwo in der Mitte zwischen frisch renoviert und altersschwach. Grace gefiel diese Straße; irgendwie fühlte man sich hier gleich wie zu Hause und geborgen.
Genau ein solches Viertel hätte Grace sich ausgesucht, wenn sie hierher zurückgezogen wäre. Und ihr Lieblingshaus wäre das nebenan gewesen, entschied sie sofort und ohne länger darüber nachzudenken. Das Gebäude mußte dringend generalüberholt werden. Eines der Fenster war mit Brettern vernagelt, und auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel. Aber im Garten hatte jemand Azaleen gepflanzt. Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und die Pflanzen waren in kleine Hügel eingebettet. Noch erreichten die Sträucher kaum einen halben Meter Höhe, aber schon zeigten sich die ersten Knospen, die bald aufblühen würden. Während Grace sie betrachtete, hoffte sie, sie könnte lange genug bleiben, um die Azaleen in voller Blütenpracht zu erleben.
»Oh, Kath, es ist wunderschön hier.«
»Na ja, ist nicht ganz Palm Springs«, entgegnete Kathleen, doch ohne Bitterkeit in der Stimme, und fing an, Grace’ Sachen auszupacken.
»Nein, meine Liebe, ich meine es ernst. So stelle ich mir ein richtiges Zuhause vor.« Und sie sagte das wirklich nicht aus Höflichkeit. Ihre Fantasie und ihr Schriftstellerauge malten sich bereits aus, wie es sein mußte, hier zu leben.
»Ich wollte Kevin etwas bieten ... wenn er zu mir kommt.«
»Er wird sich sofort darin verlieben«, verkündete Grace mit der für sie typischen Selbstverständlichkeit. »Der Bürgersteig ist wie geschaffen für Skateboards und erst die vielen Bäume.« Ein Stück weiter stand ein Baum, der aussah, als sei der Blitz in ihn eingeschlagen, aber davon ließ Grace sich nicht beeinträchtigen. »Kath, wenn ich dieses wunderbare Haus so sehe, frage ich mich ernsthaft, was ich eigentlich noch in Upper Manhattan will.«
»Reich und berühmt werden.« Wieder war ihr nichts von ihrer Bitterkeit anzumerken. Sie reichte ihrer Schwester die Taschen.
Grace blickte abermals zum Nachbarhaus. »Ich denke, ein paar Azaleen könnte ich mir auch zulegen.« Sie hakte sich bei Kathleen ein. »Und jetzt mußt du mir unbedingt zeigen, wie es drinnen aussieht.«
Die Einrichtung entsprach dem, was Grace erwartet hatte. Kathleen hatte es gern, wenn alles ordentlich war und hübsch an seinem Platz stand. Das Mobiliar war eine Spur zu wuchtig, aber geschmackvoll (und natürlich entstaubt und poliert). Genauso wie Kath, dachte Grace mit einer Spur Bedauern. Die vielen kleinen Zimmer, die irgendwie ineinander verschachtelt wirkten, gefielen ihr sehr.
Kathleen hatte in einem Raum ein Arbeitszimmer eingerichtet. Der Schreibtisch wirkte noch sehr neu. Sie hat wirklich nichts aus Kalifornien mitgenommen, sagte sich Grace. Nicht einmal ihren Sohn. Ihr fiel auf, daß auf dem Schreibtisch ein Telefon stand und nicht weit davon auf einem Stuhl noch eins. Aber sie schwieg dazu, wußte sie doch, daß Kathleen bestimmt eine durchaus einleuchtende Erklärung dafür hatte.
»Spaghetti-Soße!« Der Duft führte Grace geradewegs in die Küche. Wenn jemand sie nach ihrer Lieblingsfreizeitbeschäftigung fragen würde, hätte Essen bestimmt ganz oben auf der Liste gestanden.
Die Küche war genauso makellos gepflegt wie der Rest des Hauses. Grace war fest davon überzeugt, daß sich im Toaster kein einziger Krümel finden ließe, darauf hätte sie sogar gewettet. Ihre Schwester hob immer noch alle Reste in Plastikdosen auf und stellte sie ordentlich etikettiert in den Kühlschrank; die Gläser waren bestimmt der Größe nach geordnet im Küchenschrank untergebracht. So hatte Kathleen es immer schon gehalten und sich in dieser Hinsicht in dreißig Jahren um keinen Deut geändert.
Während Grace über den alten Linoleumboden lief, hoffte sie, daß sie nicht vergessen hatte, sich vor der Tür die Füße abzutreten. Dann hob sie den Deckel vom Topf auf dem Herd und sog das Aroma lange und tief ein. »Ich würde sagen, du hast deine Kochkünste nicht verlernt.«
»Ich habe mich wieder auf sie besonnen.« Und das nach Jahren in einem Haushalt voller Bediensteter und Köche. »Hast du Hunger mitgebracht?« Zum erstenmal wirkte Kathleens Lächeln ehrlich und entspannt. »Was frage ich überhaupt.«
»Ach je, ich habe völlig vergessen, daß ich dir etwas mitgebracht habe.«
Während Grace in die Diele zurückeilte, stellte sich Kathleen ans Fenster. Warum nur wurde ihr nun, da Grace gekommen war, bewußt, wie leer sich ihr Haus vorher angefühlt hatte? Welchen besonderen Zauber besaß ihre Schwester, mit dem sie einen Raum, ein Haus, ja vermutlich eine ganze Arena ausfüllen konnte? Und was um alles in der Welt sollte sie nur anfangen, wenn Grace wieder abgereist war?
»Valpolicella!« verkündete sie, als sie in die Küche zurückkehrte. »Du siehst, ich habe schon mit einem italienischen Essen gerechnet.« Als Kathleen sich vom Fenster abwandte und zu ihr umdrehte, konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten. »Ach, du armes Liebes.« Mit der Flasche in der Hand lief Grace auf sie zu.
»Gracie, ich vermisse ihn so furchtbar, daß ich manchmal am liebsten sterben möchte.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst. Ach, Kleines, mir tut es so leid für dich.« Sie fuhr ihrer Schwester übers Haar, und Kathleen strich die Strähnen sofort wieder gerade. »Laß mich dir helfen, Kath. Sag mir, was ich für dich tun kann.«
»Ach, da ist nichts.« Diese Worte auszusprechen, kostete sie mehr Kraft, als sie je zuzugeben bereit gewesen wäre, aber wenigstens hörten die Tränen auf. »Ich mache mich jetzt besser an den Salat.«
»Nein, tust du nicht.« Grace nahm ihren Arm und führte sie zu dem kleinen Küchentisch. »Setz dich hin. Es ist mir ernst, Kath.«
Obwohl sie ein Jahr älter war als ihre Schwester, gehorchte sie. So war es zwischen ihnen immer schon gewesen, und beide konnten es sich nicht anders vorstellen. »Ich möchte eigentlich nicht darüber reden, Grace.«
»Dann scheint es ja wirklich schlimm um dich zu stehen. Wo bewahrst du den Korkenzieher auf?«
»In der obersten Schublade links vom Ausguß.«
»Und die Gläser?«
»Im zweiten Fach im Schrank neben dem Kühlschrank.«
Grace entkorkte die Flasche. Obwohl draußen bereits die Dämmerung einsetzte, machte sie sich nicht die Mühe, in der Küche das Licht einzuschalten. Sie stellte ein Glas vor ihre Schwester und füllte es bis fast an den Rand. »Jetzt trink. Ist ein ziemlich edler Tropfen.« Sie fand ein leeres Mayonnaiseglas (an dem Platz, an dem ihre Mutter sie aufzubewahren pflegte) und schraubte den Deckel ab, um ihn als Aschenbecher zu benutzen. Grace wußte, wie sehr Kathleen das Rauchen ablehnte, und sie hatte sich auch fest vorgenommen, sich in dieser Hinsicht zurückzuhalten. Aber wie die meisten Vorsätze brach sie auch diesen ohne Anflug eines schlechten Gewissens. Sie zündete sich eine Zigarette an, füllte das zweite Glas und nahm am Tisch Platz. »Erzähl mir alles, Kath. Sonst muß ich dich so lange piesacken, bis du endlich den Mund aufmachst.«
Dazu war sie durchaus fähig, wußte Kathleen. Und sie hatte das schon gewußt, bevor sie zugestimmt hatte, daß Grace sie besuchen kam. Möglicherweise war das sogar der Grund dafür gewesen, dem Ansinnen ihrer Schwester zuzustimmen. »Ich wollte die Trennung nicht. Und du brauchst mir jetzt gar nicht vorzuwerfen, ich sei blöd, weil ich an einem Mann hänge, der mich nicht will. Ich weiß nämlich selbst, wie dumm das von mir ist.«
»Ich halte dich bestimmt nicht für dumm.« Grace stieß den Zigarettenrauch aus und verbarg sich schuldbewußt dahinter, denn sie hatte ihrer Schwester schon mehr als einmal mangelnde Intelligenz unterstellt. »Du liebst Jonathan und Kevin. Sie haben dir gehört, und du willst sie behalten.«
»Ich glaube, das trifft den Punkt.« Sie nahm einen großen Schluck. Grace hatte wie so oft recht. Der Wein war wirklich gut. Es widerstrebte ihr zutiefst, das zuzugeben, und sie hatte sich lange genug dagegen gewehrt, aber jetzt war es soweit: Sie mußte dringend mit jemandem reden. Und dieser jemand sollte Grace sein; denn ihre Schwester würde trotz aller Differenzen, die zwischen ihnen bestanden hatten und immer noch bestanden, bedingungslos auf ihrer Seite stehen. »Eines Tages kam der Moment, an dem ich der Trennung zustimmte, zustimmen mußte.« Sie war noch nicht in der Lage, das Wort »Scheidung« auszusprechen. »Jonathan war ... grausam zu mir.«
»Was soll das heißen?« Grace’ leicht rauchige Stimme war wie Stacheldraht. »Hat er dich mißhandelt, gar geschlagen?« Sie war aufgesprungen und bereit, sich sofort ins nächste Flugzeug nach Kalifornien zu setzen.
»Es gibt mehrere Arten von Grausamkeit«, antwortete Kathleen müde. »Zum Beispiel seelische. Er hat mich gedemütigt. Da waren andere Frauen, recht viele sogar. Oh, Jonathan war überaus diskret. Ich glaube, nicht einmal seine besten Freunde haben davon gewußt. Aber er hat dafür gesorgt, daß ich es erfahre ... hat mich geradezu mit der Nase draufgestoßen.«
»Das tut mir so leid.« Grace setzte sich wieder hin. Sie wußte, daß es eigentlich Kathleens Art gewesen wäre, ihm dafür eine runterzuhauen. Und wenn sie darüber nachdachte, mußte sie zugeben, daß sie und ihre Schwester wenigstens in puncto ehelicher Untreue die gleiche Meinung vertraten.
»Du hast ihn doch nie gemocht.«
»Habe ich auch nicht, und es tut mir auch nicht leid.« Grace schnippte heruntergefallene Asche in den Mayonnaisedeckel.
»Das spielt ja jetzt auch keine Rolle mehr. Wie dem auch sei, als ich in die Trennung eingewilligt habe, hat Jonathan deutlich klargemacht, daß sie zu seinen Bedingungen erfolgen würde. Er wollte die Vereinbarungen aufsetzen, und darüber sollte es keine Diskussion geben. Acht Jahre meines Lebens sind ausgelöscht, und niemandem ist ein Vorwurf zu machen.«
»Kath, du weißt, daß du diesen Bedingungen nicht zustimmen mußtest! Wenn er dich betrogen hat, kannst du erst recht Ansprüche an ihn geltend machen.«
»Wie hätte ich ihm denn seine Seitensprünge nachweisen können?« Diesmal war flammende und scharfe Verbitterung in ihrer Stimme. Kathleen war anzumerken, daß sie sehr lange gewartet hatte, bis sie all die aufgestaute Enttäuschung herauslassen konnte. »Du weißt nicht, in was für einer Welt ich dort gelebt habe, Grace. Jonathan Breezewood der Dritte ist nicht wie jeder x-beliebige Normalbürger zu belangen. Er ist Anwalt, verdammt nochmal, und Partner in einer Familienkanzlei, die sogar Satan gegen Gott den Allmächtigen vertreten und eine gütliche Vereinbarung herausholen würde. Selbst wenn jemand von seinen Affären gewußt oder sie zumindest geahnt hätte, wäre er mir nicht zu Hilfe geeilt. Für unsere Freunde und Bekannten war ich nicht Kathleen, sondern Jonathans Frau, Mrs. Jonathan Breezewood III. Das war in den vergangenen acht Jahren meine ganze Identität.« Und abgesehen von Kevin war sie am schwierigsten aufzugeben gewesen. »Kein einziger von ihnen würde einer Kathleen McCabe zur Seite stehen. Aber es war schließlich meine eigene Schuld. Ich bin ganz darin aufgegangen, Mrs. Breezewood zu sein, ich wollte es unbedingt. Ich wollte die perfekte Ehefrau, die perfekte Gastgeberin, die perfekte Mutter und die Frau sein, die ihrer Familie ein perfektes Heim beschert. Und damit bin ich immer langweiliger geworden. Als ich ihm schließlich zu langweilig war, wollte er mich nur noch loswerden.«
»Verdammt nochmal, Kathleen, warum mußt du dich selbst immer so runtermachen?« Grace drückte erregt die Zigarette aus und griff nach ihrem Weinglas. »Es war seine Schuld, Himmel nochmal, und nicht deine. Du hast ihm genau das gegeben, was er von dir verlangte. Du hast deine Karriere, deine Familie, dein Zuhause, einfach alles für ihn aufgegeben und dein ganzes Leben auf ihn ausgerichtet. Und jetzt ist es damit vorbei. Du verzichtest wieder mal auf alles und bist sogar bereit, Kevin herzugeben.«
»Ich gebe Kevin nicht her!«
»Aber du hast doch gesagt ...«
»Ich habe mit Jonathan nicht um Kevin gestritten. Ich konnte es nicht, weil ich viel zuviel Angst davor hatte, was er dann tun würde.«
Grace war so wütend, daß sie ihr Weinglas lieber wieder hinstellte. »Angst davor, was er dir oder was er Kevin antun würde?«
»Nein, nicht Kevin«, antwortete Kathleen rasch. »Was immer Jonathan tun wird oder zu tun imstande ist, er wird dem Jungen kein Haar krümmen. Er liebt ihn über alles. Und mag er auch noch so ein schlechter Ehemann sein, als Vater ist er einfach wunderbar.«
»Na gut.« Grace wollte sich einstweilen ein Urteil darüber vorbehalten. »Aber du hattest Angst vor dem, was er dir antun könnte. Meinst du damit, er hätte dich körperlich angegriffen?«
»Jonathan hat nur sehr selten die Beherrschung verloren. Er hat sich gut im Griff, vermutlich weil er weiß, daß er sonst zur Gewalttätigkeit neigt. Einmal, als Kevin noch sehr klein war, habe ich ihm ein kleines Kätzchen geschenkt.« Kathleen erzählte vorsichtig und mit Bedacht, wußte sie doch, daß ihre Schwester voreilige Schlüsse zog und aus diesen eine ganze Geschichte zusammensetzte, von der man sie nur schwer wieder abbringen konnte. »Die beiden haben miteinander gespielt, und plötzlich hat das Kätzchen Kevin gekratzt. Als Jonathan später die Spuren davon auf Kevins Wange entdeckt hat, ist er so außer sich geraten, daß er das Tier vom Balkon geworfen hat. Und das aus dem dritten Stock.«
»Ich wußte ja immer, daß er etwas ganz Besonderes ist«, bemerkte Grace ironisch und nahm noch einen Schluck von dem Wein.
»Dann war da die Sache mit dem Aushilfsgärtner. Der Mann hatte aus Versehen einen Rosenstrauch ausgegraben. Es war wirklich nur ein Mißverständnis, denn er sprach nicht sehr gut Englisch. Jonathan hat ihn auf der Stelle entlassen. Darüber sind die beiden in Streit geraten. Jonathan hat ihn so furchtbar verprügelt, daß der Mann ins Krankenhaus mußte.«
»Allmächtiger!«
»Natürlich hat Jonathan später die Krankenhauskosten in voller Höhe übernommen.«
»Natürlich«, sagte Grace spitz, wußte aber, daß ihr Sarkasmus gar nicht zu Kathleen durchdrang.
»Jonathan hat ihm dann noch ein Schweigegeld bezahlt, damit er die Presse aus dem Spiel ließe. Dabei ging es doch nur um einen Rosenstrauch. Ich weiß nicht, wozu Jonathan fähig wäre, wenn ich ihm Kevin wegnehmen würde.«
»Kath, Liebes, du bist doch seine Mutter. Und du hast Rechte. Ich bin mir sicher, daß es hier in Washington ein paar ausgezeichnete Anwälte gibt. Wir suchen einige von ihnen auf und lassen uns beraten. Es gibt doch bestimmt einiges, was du unternehmen kannst.«
»Ich habe mir bereits einen Anwalt genommen«, erklärte Kathleen und mußte einen Schluck trinken, weil ihr Mund wie ausgetrocknet war. Der Wein half ihr, die Worte leichter über die Zunge zu bringen. »Und ich habe einen Privatdetektiv beauftragt. Es wird bestimmt nicht einfach, und man hat mir auch schon gesagt, daß die ganze Geschichte mich viel Zeit und Geld kosten wird. Aber so habe ich wenigstens eine Chance.«
»Ich bin sehr stolz auf dich.« Grace legte die Hände auf die ihrer Schwester und verschränkte die Finger ineinander. Die Sonne war fast untergegangen, und in der Küche breiteten sich Schatten aus. Grace’ graue Augen leuchteten jedoch auf: »Liebes, Jonathan Breezewood III. erwartet eine unliebsame Uberraschung, wenn er es mit den McCabes zu tun bekommt. Ich verfüge hier auch über die eine oder andere Verbindung.«
»Nein, Grace, ich muß sehr vorsichtig vorgehen. Niemand darf von der Aktion erfahren, nicht einmal Mom und Dad. Ich darf kein Risiko eingehen.«
Grace dachte einen Moment darüber nach, was sie über Familien wie die Breezewoods wußte. Alteingesessene Familien, Geldadel, Klans mit langen Tentakeln. »Also gut, vermutlich ist es am besten so. Ich kann dir trotzdem helfen. Anwälte und Detektive kosten ein Vermögen. Und ich habe mehr Geld, als ich brauche.«
Zum zweitenmal seit dem Wiedersehen füllten sich Kathleens Augen mit Tränen. Doch diesmal gelang es ihr, sie zurückzuhalten. Sie wußte, daß Grace über ein kleines Vermögen verfügte, und sie wollte ihr das auch nicht übelnehmen. Doch genau dieses Gefühl beherrschte sie, auch wenn ihr bewußt war, daß ihre Schwester es sich redlich verdient hatte. O Gott, warum konnte sie es ihr nicht einfach gönnen? »Ich muß da allein durch.«
»Kath, jetzt ist nicht der richtige Moment für falschen Stolz. Du kannst eine Schlacht wie diese nicht mit einem Lehrergehalt gewinnen. Und bloß, weil du dich wie eine Idiotin benommen und dich ohne einen Penny von Jonathan hast vor die Tür setzen lassen, mußt du noch lange nicht meinen, du könntest jetzt auf meine finanzielle Hilfe verzichten.«
»Ich wollte nichts von Jonathan haben. Ich habe die Ehe mit genau dem verlassen, was ich in sie eingebracht habe: dreitausend Dollar.«
»Ich will dir jetzt gar nicht groß mit der Frauenemanzipation kommen, aber der Umstand bleibt bestehen, daß du dir nach acht Jahren Ehe mindestens eine Abfindung verdient hast. Und hier geht es doch nur darum, daß ich deine Schwester bin und dir helfen will.«
»Aber nicht mit Geld. Du kannst es falschen Stolz nennen, aber es ist sehr wichtig für mich, die Sache allein durchzustehen. Davon abgesehen habe ich mir eine Beschäftigung nach Feierabend gesucht.«
»Was denn? Etwa Tupperware-Partys abhalten? Oder denkfaulen Kindern Nachhilfe geben? Oder gehst du gar auf den Strich?«
Zum erstenmal seit Wochen lachte Kathleen befreit auf. Sie schenkte für sie beide Wein nach. »Du hast ins Schwarze getroffen.«
»Du verkaufst wirklich Tupperware?« Grace brauchte eine halbe Sekunde, um das zu verdauen. »Führen sie immer noch diese kleinen Cornflakes-Schüsseln mit den undurchlässigen Deckeln?«
»Keine Ahnung. Ich vertreibe keine Tupperware.« Sie nahm einen langen Schluck. »Ich arbeite in Sachen Liebe.«
Sie erhob sich, um das Licht einzuschalten, und Grace mußte dringend etwas trinken. Es kam selten genug vor, daß Kathleen einen Witz machte. Deshalb wußte sie jetzt nicht, ob sie lachen sollte. Sie entschied sich dafür, erst einmal nachzufragen: »Hast du nicht vorhin gesagt, du seist an Sex nicht mehr interessiert?«
»Auf mich persönlich trifft das auch voll und ganz zu, wenigstens für den Augenblick. Ich bekomme für einen siebenminütigen Anruf sieben Dollar, und wenn ich einen Stammkunden dranhabe, muß er insgesamt zehn ausspucken. Die meisten meiner Anrufer sind Stammkunden. Im Durchschnitt führe ich pro Abend zwanzig Telefonate, und das an drei Tagen in der Woche. Hinzu kommen fünfundzwanzig bis dreißig Anrufe an den Wochenenden. So komme ich in der Woche locker auf neunhundert Dollar.«
»Großer Gott!« Grace’ erster Gedanke war, daß sie ihrer Schwester so viel Energie nie zugetraut hätte. Doch dann kam ihr gleich in den Sinn, daß Kathleen sich einen Scherz mit ihr erlaubte, um sie davon abzubringen, ihr Geld geben zu wollen.
Grace starrte ihre Schwester in dem grellen Neonlicht an. Nichts in ihrer Miene oder in ihrem Blick ließ den Schluß zu, daß sie scherzte. Im Gegenteil, sie machte einen durchaus selbstzufriedenen Eindruck. So wie damals, in ihrer Kindheit, als sie fünf Schachteln Pfadfinder-Plätzchen mehr verkauft hatte als Grace.
»Allmächtiger!« stöhnte Grace wieder und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Kommt keine Moralpredigt, Gracie?« »Nein.« Sie schluckte hart und mußte etwas trinken. Grace war sich noch lange nicht im klaren darüber, welchen moralischen Standpunkt sie in diesem Fall einnehmen sollte. »Tut mir leid, Kath, aber das muß sich erst in mir setzen. Hast du das eben wirklich ernst gemeint?«
»Absolut ernst.«
Natürlich, Kathleen machte nie Witze. Zwanzig Anrufe in der Nacht, dachte Grace und schüttelte sich, um das Bild aus ihren Gedanken zu vertreiben. »Nein, du bekommst von mir keine Moralpredigt, aber ich werde dir wohl etwas über gesunden Menschenverstand erzählen müssen. Mein Gott, Kathleen, hast du überhaupt eine Ahnung, wie viele Irre und Spinner sich da draußen herumtreiben? Selbst ich weiß das, und ich hatte seit sechs Monaten keine richtige Verabredung mehr, nur geschäftliche Treffen und so. Und ich rede hier nicht davon, daß du dir dabei etwas holen kannst, das du neun Monate später auf den Knien schaukelst. Was du da treibst, Kathleen, ist nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Und wenn du nicht auf der Stelle damit aufhörst, werde ich ...«
»Mom davon erzählen?«
»Mir ist es auch ernst!« Grace rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her, denn ihr hatte genau das auf der Zunge gelegen, was Kath gesagt hatte. »Und wenn du schon nicht an dich selbst denken willst, dann wenigstens an Kevin. Falls Jonathan davon Wind bekommen sollte, kannst du es dir abschminken, deinen Sohn jemals wiederzusehen.«
»Ich denke dabei an Kevin. Er ist alles, woran ich in diesen Zeiten überhaupt denken kann. Jetzt trink deinen Wein, Grace, und hör mir zu. Du hast immer schon dazu geneigt, vorschnell zu urteilen, noch bevor du alle Fakten kanntest.«
»Eines dieser Fakten lautet ja wohl, daß meine Schwester nach Feierabend als Callgirl tätig ist.«
»Damit hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich bin ein ›Callgirl‹, eine Frau, die man anruft. Ich verkaufe meine Stimme, Grace, nicht meinen Körper.«
»Kath, was hindert diese Kerle denn daran, an deinen Namen und deine Adresse zu gelangen? Einer von ihnen könnte doch auf die Idee kommen, daß ihm deine Stimme nicht mehr ausreicht.«
Kathleen schüttelte langsam den Kopf und wischte mit einem Finger den feuchten Kranz vom Tisch, den das Glas hinterlassen hatte. »Alle Akten von Mitarbeitern der Firma stehen unter strengstem Verschluß. Einem Anrufer wird nie, unter gar keinen Umständen, unsere Privatnummer gegeben. Und fast alle von uns benutzen falsche Namen. Ich zum Beispiel melde mich als Desiree.«
»Desiree ...« Grace wiederholte den Namen mit einiger Bewunderung.
»Ich bin ein Meter sechzig groß und blond. Und ich habe einen absoluten Traumkörper.«
»Was?« Normalerweise vertrug Grace Alkohol besser als ihre Schwester, aber sie hatte heute nicht mehr als einen Schokoladenriegel auf dem Weg zum Flughafen zu sich genommen. Die Vorstellung, ihre Schwester habe ein Alter ego, erschien ihr jetzt nicht nur plausibel, sondern auch logisch. »Dazu kann man dir ja wirklich nur gratulieren. Aber was passiert, wenn einer der männlichen Angestellten von Fantasy, Incorporated, beschließt, das Arbeitsverhältnis zu einer der weiblichen Angestellten auf eine mehr private Ebene zu verlagern?«
»Du arbeitest schon wieder an einem neuen Roman, was?«
»Schon möglich, aber trotzdem ...«
»Grace, wir sind wirklich perfekt geschützt. Alles läuft streng auf rein geschäftlicher Ebene ab. Ich rede am Telefon, der Kunde bekommt das, wofür er bezahlt hat, die Firma macht dabei auch ihren Schnitt, und so sind alle Beteiligten glücklich und zufrieden.«
»Klingt vernünftig.« Grace schwenkte den Wein in ihrem Glas und versuchte, alle Zweifel zu verdrängen. »Und damit liegst du voll im Trend. Das neue Sexualverhalten der Neunziger. Von einem Telefongespräch kann man schließlich kein AIDS bekommen.«
»Ja, vom medizinischen Standpunkt ist das sehr vernünftig. Worüber lachst du denn?«
»Ich stelle mir das nur gerade vor.« Grace wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »›Haben Sie Angst vor einer festen Bindung? Sind Sie die Single-Bars leid? Dann rufen Sie Fantasy, Incorporated, an und sprechen Sie mit Desiree, Delilah oder Dee-Dee. Orgasmus garantiert oder Geld zurück. Wir akzeptieren alle gebräuchlichen Kreditkarten.‹ Himmel, ich sollte wirklich auf Werbetexter umsatteln.«
»Ich habe diese Sache nie als Witz angesehen.«
»Du hast überhaupt nur sehr wenige Dinge im Leben leichtgenommen«, entgegnete Grace, wenn auch freundlich. »Hör mal, wenn der nächste Kunde anruft, darf ich dann neben dir sitzen und mithören?«
»Nein.«
Grace zuckte nach dieser Ablehnung nur die Achseln. »Na ja, da können wir später nochmal drüber reden. Wann essen wir denn?«
Als sie in dieser Nacht, angefüllt mit Pasta und Wein, in das Bett in Kathleens Gästezimmer schlüpfte, fühlte Grace eine Nähe zu ihrer Schwester, wie sie sie schon lange nicht mehr verspürt hatte. Wann war Kathleen zuletzt so lange aufgeblieben, hatte mit ihr getrunken und wie mit ihrer besten Freundin geredet? Es fiel Grace nicht leicht, sich einzugestehen, daß es eigentlich nie so zwischen ihnen abgelaufen war.
Kathleen unternahm endlich etwas Außergewöhnliches, und parallel dazu fing sie endlich an, auf eigenen Beinen zu stehen und sich um sich selbst zu kümmern. Solange ihre Schwester sich damit nicht in Schwierigkeiten brachte, war Grace nicht nur vollauf damit einverstanden, sondern geradezu begeistert darüber. Kathleen übernahm die Kontrolle über ihr Leben. Und allem Anschein nach ging es ihr richtig gut dabei.
In dieser Nacht lauschte er drei Stunden lang und wartete auf sie. Doch Desiree meldete sich nie. Natürlich hörte er andere Frauen, die exotische Namen trugen und sehr sexy Stimmen hatten, aber keine von ihnen kam Desiree nahe. Er lag zusammengerollt in seinem Bett, stellte sie sich vor und versuchte auf diese Weise, zum Höhepunkt zu gelangen, doch leider reichte das nicht. So streckte er schließlich frustriert und verschwitzt alle viere aus und fragte sich, wann er endlich den nötigen Mut aufbringen würde, Desiree aufzusuchen.
Bald, schwor er sich. Wie würde sie sich freuen, ihn endlich persönlich kennenzulernen. Desiree würde ihn einlassen und ihn dann auf diese Weise entkleiden, wie sie es ihm am Telefon immer beschrieb. Und dann durfte er sie berühren. Wo immer er wollte. Ja, er würde sie schon sehr bald aufsuchen.
Im schattigen Mondlicht erhob er sich und setzte sich an seinen Computer. Er wollte sie noch einmal sehen, bevor er sich schlafen legte. Der Terminal erwachte mit leisem Summen zum Leben. Seine schlanken, geschickten Finger tippten rasch ein paar Befehle ein. Sekunden später erschien sie auf dem Bildschirm: Desirees Adresse.
Sehr bald schon.