Zaïda de Vico ist eine außerordentliche Frau. Schön, abenteuerlustig, mutig, selbstbewusst, emanzipiert. 1859 in eine englische Adelsfamilie geboren, verstößt sie schon als junges Mädchen gegen alle Konventionen. Eine frühe Liebesheirat hält sie nicht davon ab, in Zürich Medizin zu studieren und ihren Beruf später in Florenz und Mailand mit großem Engagement auszuüben. Da ist sie bereits mit ihrem zweiten Mann und Vater ihrer zwei Söhne verheiratet. Mit ihrem dritten Mann – wie sie in der Resistenza gegen den Faschismus – flüchtet sie am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nach Zürich, wo die beiden sich zu Psychoanalytikern ausbilden lassen, in der Überzeugung, sich damit für eine bessere Welt einzusetzen.
Ein pralles Leben lang liebt Zaïda, leidenschaftlich und bedingungslos: ihre Männer, ihre Söhne, ihren Beruf, die Menschen. Am Ende ihres Lebens, über hundert Jahre alt, schreibt sie ihre Geschichte auf. Eine Hymne an das Leben und an die Liebe.
Anne Cuneo, geboren in Paris, lebt in Zürich und in Genf. Zuletzt erschienen die Romane Štěpán. Tage der Wahrheit in Prag (2011) und Schon geht der Wald in Flammen auf (2013).
Anne Cuneo
Zaïda
Roman
Aus dem Französischen
von Erich Liebi
Insel Verlag
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Zaïda bei Bernard Campiche Éditeur, Orbe.
eBook Insel Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4359.
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eISBN 978-3-458-73937-1
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Es ist zwecklos, den Leuten sagen zu wollen, sie sollten sich mit einem ruhigen Leben zufriedengeben. Sie wollen, dass etwas läuft, und wenn sich nicht von selber etwas tut, fordern sie es heraus. […] Von den Frauen wird erwartet, etwas ruhiger zu sein, aber die Frauen haben die gleichen Gefühle wie die Männer; sie brauchen etwas, an dem sie ihre Talente beweisen, sie brauchen Platz, um sich verausgaben zu können, wie ihre Brüder.
Charlotte Brontë
Jane Eyre, 1847
Meine Urgroßmutter hieß Zaïda.
»Das bedeutet ›die Glückreiche‹ oder ›die Vielgeliebte‹ und kommt aus dem Arabischen«, sagte sie manchmal nicht ohne Stolz auf die Herkunft ihres Namens. »In einer Rossini-Oper gibt es sogar eine Rolle mit meinem Namen«, fügte sie zufrieden hinzu.
Als ich noch ein Kind war, wusste ich nicht, dass sie meine Urgroßmutter war. Sie war einfach eine sehr nette Dame, eine Tante. Aber die Tante von wem, habe ich mich nie gefragt. Alle nannten sie Zia Zaïda (Tante Zaïda). Ich auch.
Sie brachte mir das Walzertanzen bei. Sie setzte sich mit mir auf einen runden Tisch, der kaum mehr als einen Meter im Durchmesser hatte, dann erklärte sie mir ernsten Blickes, dass jemand, der mehr Platz brauche zum Walzertanzen, niemals ein guter Tänzer sein werde. Oder eine gute Tänzerin.
Bei ihr habe ich auch »Himmel und Hölle« und »Gummitwist« gelernt. Nachdem sie mir ein erstes Mal die verschiedenen Sprünge vorgemacht hatte, die für die Kunstfertigkeit solcher Übungen unerlässlich sind, beschränkte sie sich konsequent darauf, mich zu verbessern, bis ich es bis zur Meisterschaft gebracht haben würde, wie sie sich ausdrückte. Sie hat mir beigebracht, auf dem Fahrrad das Gleichgewicht zu halten. Sie hat mir Schlittschuh- und Rollschuhlaufen beigebracht. Sie hat mir Französisch beigebracht, und sie hat mir Englisch beigebracht, ihre Muttersprache, denn sie selbst war Engländerin und hielt es für unerlässlich, dass ich den paar Quentchen englischen Blutes, das in meinen Adern floss, die nötige Ehre erwies.
Zu sagen, Zaïda sei Engländerin, war allerdings ein großes Wort. Geboren wurde sie in London als Tochter einer englischen Mutter und eines italienischen Vaters aus mittelitalienischem Kleinadel, Leonardo De Vico mit Namen, der aus politischen Gründen nach London emigriert war; seine Ideen waren zu liberal für die Regierung des Kleinstaates im noch nicht vereinigten Italien, aus dem er stammte. Er hatte rasch eine Stellung beim Stock Exchange gefunden, ein kleines Vermögen gemacht und nicht mehr an Rückkehr gedacht. Zia Zaïda ihrerseits hatte schließlich einen Italiener geheiratet, Francesco Giocondo, und falls sie mir, als ich noch ein kleines Kind war, die näheren Umstände erklärt haben sollte, habe ich sie wieder vergessen. Über sich selbst sprach sie kaum. Deshalb habe ich nie begriffen, dass sie nicht irgendeine Großtante, sondern die Großmutter meines Vaters war. Für die Vergangenheit hat sich Zaïda anscheinend nie besonders interessiert.
»Lass uns lieber über Kommendes statt über Vergangenes reden«, pflegte sie zu sagen.
***
Als meine Mutter Witwe wurde (mein Vater starb bei einem Motorradunfall), war sie 28 und ich vier. Im Giocondo-Clan überließ man die Seinen nicht dem Schicksal, Verwandte eilten herbei, um zu verhandeln, wie ihr am besten zu helfen sei. In Vevey in der Schweiz fand sie rasch eine Stellung an der Rezeption eines Hotels, dessen Besitzer Italiener waren. Es war ihr gelernter Beruf. Das Problem dabei: Nach schweizerischem Recht war ihr der Nachzug der Familie, im vorliegenden Fall also ich, nicht erlaubt, jedenfalls nicht gleich am Anfang.
Das Getuschel, das heimlich zu belauschen für mich Ehrensache war, wenn ich wissen wollte, was aus mir werden sollte, drehte sich um dieses Thema: »Und Alice? Wohin geben wir die Kleine?« Man erwog diesen Onkel und jene Cousine, Tante X, Cousin Y. Man zog auch meinen Großvater in Betracht, sah aber davon ab, ihn überhaupt zu fragen. Ein verwitweter älterer Herr, Universitätsprofessor außerdem, wäre nicht in der Lage, sich um ein vierjähriges Mädchen zu kümmern. Ausgeschlossen! Was die anderen betraf, gab es überall irgendein Hindernis, das meiner Aufnahme im Weg stand. Nach mehreren ganze Abende dauernden Palavern meinte jemand – ungern, wie mir schien:
»Man könnte Zaïda fragen.«
Von Zaïda hatte ich bereits reden gehört, das lag wohl an ihrem Vornamen, den man nicht so schnell vergaß. Vielleicht hatte ich sie auch einmal gesehen, aber erinnerte mich nicht an sie. Kurz und gut: Ich kannte sie nicht. Ihren Namen nahm man nur sehr widerstrebend in den Mund, das hörten sogar meine Kinderohren, und entsprechende Kommentare aus der Tischrunde ließen nicht lange auf sich warten:
»Zaïda? Das ist nicht eurer Ernst! Sie ist sehr eigenartig! Und ihr Beruf erst … Meint ihr, sie könnte es? Und wäre sie überhaupt fähig dazu? Würde sie der Kleinen nicht ein schlechtes Vorbild sein? Und ihr Flausen in den Kopf setzen?«
Scheu, aber bestimmt fragte dann meine Mutter angesichts ihrer bevorstehenden Abreise:
»Meint ihr, sie wäre einverstanden?«
Sie war einverstanden.
So kam es, dass ich mit Zaïda einige meiner glücklichsten Kinderjahre verbrachte. Als sie starb, war ich neun.
Beim Begräbnis begriff ich, dass diese kleine Zia (sie war nur einsfünfzig), angezogen wie aus dem Modejournal, Chanel-Kostüm, seidene Bluse, hohe Absätze, nicht meine Tante war, sondern meine Urgroßmutter. Und über hundert Jahre alt. Trotz ihres Gehabes als feine Dame und trotz ihres hohen Alters kletterte sie ohne fremde Hilfe auf den Tisch, rannte mit mir im Park herum, sang freche Lieder und war jederzeit für einen Spaß zu haben.
Bei dieser Gelegenheit wurde mir auch klar, dass die Leute, die zum Begräbnis gekommen waren und die Tante Zaïda regelmäßig bei uns zu Hause aufgesucht und sich mit ihr hinter verschlossener Tür getroffen hatten, ihre Patienten waren. Tante Zaïda war Psychoanalytikerin. Und hatte gearbeitet bis zum Schluss.
Beim Begräbnis sah ich auch meinen Großvater wieder. Ich kannte ihn kaum. Aber Zia Zaïda hatte viel von ihm gesprochen, allerdings ohne je zu erwähnen, dass er ihr Sohn war, für sie war er einfach »dein Großvater« oder Alberto. Er sei Mathematiker, erfuhr ich von ihr. Er habe an Universitäten in den Vereinigten Staaten, in Italien und England gelehrt. Als sie starb, war er in Oxford. Und gerade eben in den Ruhestand getreten.
Auf dem Weg zurück vom Friedhof fragte er mich, ob ich einverstanden sei, dass er sich um mich kümmere. Ich fand ihn lieb und freundlich, fühlte mich von aller Welt verlassen und sagte ja.
Ich könnte den Eindruck erweckt haben, mit meiner Urgroßmutter allein gelebt zu haben, aber das traf nicht zu. Mathilda war auch da, Zia Zaïda nannte sie »ihre Gesellschafterin«. Sie kümmerte sich um Haus und Küche, um die praktischen Dinge unseres Lebens. Von ihr habe ich auch die paar Kochrezepte, die ich am Ende meiner Kindertage kannte.
Großvater bezog die Wohnung seiner Mutter, und Mathilda kümmerte sich weiterhin um alles.
Im Verlauf von annähernd vier Jahren schaffte er es, in mir den Eindruck zu erwecken, ich sei jemand. Er nahm sich meiner mit aller Sorgfalt an. Hausaufgaben machen mit Großvater gehört zu meinen schönsten Erinnerungen an die Schulzeit – ein Problem nicht zu verstehen, gab es bei ihm nicht. Was es auch sein mochte, er schaffte es immer, es mir so zu erklären, dass es mir einzuleuchten schien.
Auf den ersten Blick wirkte er streng, manchmal auch traurig, aber eigentlich war er ganz lustig, und er schaffte es, mich zum Lernen anzuhalten, indem er mich zum Lachen brachte. Und außerdem lehrte er mich eine Menge Dinge, die man in Schulbüchern vergeblich sucht. Auch mein Französisch und Englisch förderte er, er beherrschte beide Sprachen perfekt.
Er spielte so schön Geige, dass es meinen Kinderohren wie ein Wunder vorkam. Er entlockte seinem Instrument Bach, Zigeunerklänge, lustige Lieder, Jazz, lachte dazu, es schien ihn überhaupt keine Anstrengung zu kosten. Er wollte es mir auch beibringen, aber leider bin ich unmusikalisch. Punkto Musik musste ich mich immer mit der Rolle der Zuhörerin begnügen.
Nach ein paar Wochen bewunderte ich meinen Großvater, er verstand es, den Platz von Zia Zaïda einzunehmen, ohne sie zu verdrängen, denn er bezog sich oft auf sie.
Dann starb auch er. Eine Lungenentzündung raffte ihn innerhalb weniger Tage dahin. Ich war knapp dreizehn.
Mit ihm verlor ich auch die Freude am Leben. Plötzlich machte meine Mutter ihre Rechte geltend, selbstverständlich ohne mich zu fragen. Mathilda hatte angeboten, sich um meine weitere Erziehung zu kümmern, doch meine Mutter hatte sich entschieden, sich nicht auf sie verlassen zu wollen – aus Hochnäsigkeit vermutlich, für meine Mutter war Mathilda nur eine Dienstbotin. Ich war zum Schluss gekommen, meine Mutter habe es nur deshalb nicht schon früher gewagt, sich bemerkbar zu machen, weil sie sich von Zaïda und Alberto gar zu sehr eingeschüchtert fühlte. So kam es, dass ich heimatlos in einem Internat in der Nähe von Lausanne landete. Korrekt, aber kalt. Seit mich Zaïda in Obhut genommen hatte, sah ich meine Mutter kaum mehr. Zu Zaïdas Bestattung war sie nicht gekommen. Ich glaube, dass man sie gar nicht erst um ihre Meinung gebeten hat, als man mich Großvater anvertraute. Obwohl ich jetzt nur dreißig Kilometer von ihr entfernt lebte, änderte sich nichts. Sie holte mich in die Schweiz, um mich in der Nähe zu haben, nicht, um mich besuchen zu können.
Ich entschloss mich, meinen Kummer in Arbeit zu ertränken.
Dank Zaïda und Großvater entpuppte ich mich rasch als gute Schülerin, Französisch hatte ich bei ihnen gelernt, ohne dass es mir überhaupt bewusst gewesen wäre, und zu meinem Glück waren meine Mailänder Lehrer ganz gute Pädagogen gewesen. Und ich hatte viel gelesen. Zaïda holte regelmäßig stapelweise Bücher zu den unterschiedlichsten Themen aus der Bibliothek, und ich verschlang sie unverzüglich, »denn ein richtiges Fräulein liest jeden Tag«. Auch Großvater brachte laufend Bücher aus Bibliotheken und Buchhandlungen mit nach Hause, und er verband damit eine Gewohnheit, die ich sehr mochte. Er erzählte mir aus jenen Büchern, für die ich seiner Meinung nach noch zu jung war, über die ich aber dennoch Bescheid wissen sollte. Kurz und gut, dies alles brachte es mit sich, dass ich meinem Alter ziemlich voraus war.
Mit vierzehn hatte ich meine Zulassung zum Gymnasium, die man normalerweise mit sechzehn macht. Aber noch war ich nicht alt genug, und meine Mutter stöberte in Cornwall die De Vicos auf, die englische Verwandtschaft meines Vaters, die den Kontakt zu unserer Familie nicht abgebrochen hatte. Also verbrachte ich zwei Jahre bei ihnen, am Ortsausgang von Saint Askin, einem charmanten Dorf an der Küste, das Haus schien aus dem 17. Jahrhundert zu stammen, war geräumig und sonnig und lag inmitten eines großen Gartens, der von hohen Rhododendron-Büschen in allen Farben umgeben war. Vom ersten Stock aus, wo ich mein Zimmer hatte, konnte man einige hundert Meter weiter das Meer sehen. Auf dem Speicher unter dem Dach gab es einen großen leeren Raum unter einem Glasdach, es musste das Atelier eines Künstlers gewesen sein. Wenn Schule war, lebte ich in einem Internat in Exeter, in den Ferien streifte ich zu Fuß, mit dem Rad und sogar zu Pferd durch die Gegenden Cornwalls; manchmal allein, manchmal in Begleitung Simons, Sohn des Hauses, ein paar Jahre älter als ich, der mich mit Herablassung behandelte, ich fand ihn arrogant. Seine Eltern, Cousin John und Cousine Hermione, brachten mir immer viel Herzlichkeit entgegen, wenn auch mit sehr britischer Zurückhaltung.
Aus einem Satz hier und einem anderen dort ergab sich schließlich, dass meine Mutter überhaupt niemanden aufgestöbert hatte: Ich war hier, weil Zaïda und Alberto (das heißt mein Großvater) es so eingefädelt hatten. Sie hatten dafür gesorgt, dass mit dem Geld, das sie mir hinterlassen würden, mein Lausanner Internat bezahlt werden konnte. Sie waren es, die mit Hilfe eines dazwischengeschalteten Anwalts meinen Aufenthalt in England organisiert hatten. Heute weiß ich auch, dass ich es ihnen zu verdanken habe, dass ich mein Hochschulstudium beenden konnte.
Erst mit vierundzwanzig, als ich den Rest der Erbschaft in Händen hielt, begriff ich, dass Zaïda die Ausschüttungen so eingerichtet hatte, dass mir bei ihrem Tod noch genug bleiben würde, um unter dem Strich auf jeden Fall einen Beruf zu haben. Und mein Großvater hatte aufgepasst, dass es keine Schwierigkeiten gab.
So kam es, dass Zaïda zeit meines Lebens das strahlende Bild der guten Fee abgab, die mich auch dann noch, als sie schon gegangen war, bei der Hand hielt, bis ich wirklich auf eigenen Füßen stehen würde. Ein strahlendes Bild, ja, aber auch ein geheimnisvolles. Sie war von einer Wolke der Missbilligung umgeben, man fand sie sonderbar, ausgefallen – zu anders. Für den Rest der Familie galt sie als extravagant, mein Großvater fand sie außergewöhnlich. Für mich war es umso schwieriger, mich zu entscheiden, weil ich sie bedingungslos liebte.
Der schon vor sehr langer Zeit verstorbene Urgroßvater der englischen »Cousins« war Zaïdas ältester Bruder. Damit waren sie ihre Urgroßneffen und für mich sehr weit entfernte Cousins. Früher lebten sie in Truro in einer winzigen Wohnung. Zaïda verbrachte einen Teil des Jahres in ihrem Haus, das sie in ihrer Jugend gekauft oder geerbt hatte. Mit der Zeit wurde ihr das Haus zu groß, und sie fand es unmoralisch, dass Alberto und sie es nur gelegentlich bewohnten, während John, Hermione und Simon in ihrer kleinen Dreizimmerwohnung eingepfercht waren, ihre Mailänder Wohnung würde ihr durchaus reichen. Alberto war offenbar gleicher Meinung. Sie ermutigte die jungen De Vicos dazu, dort zu wohnen. Sie willigten ein, bestanden aber darauf, ihr eine Etage freizuhalten, damit sie weiterhin kommen konnte, wie es ihr beliebte. Sie mochten sie sehr, und Zaïda kehrte bei niemandem je die alte Dame heraus, sie war ein willkommener Gast, man brauchte sie einfach nur zu nehmen, wie sie war. So ergab es sich, dass sie weiterhin kam, seltener zwar, aber doch jedes Jahr (wobei ich mich frage, warum sie mich nie dorthin mitgenommen hat). Die De Vicos jedenfalls kannten sie gut.
»Sie war eigenartig«, sagten sie.
Ich wollte wissen, inwiefern sie sie »eigenartig« fanden, aber mehr als ein Schulterzucken war von ihnen nicht zu bekommen.
Als ich Simon danach fragte, meinte er theatralisch:
»Also wirklich! Die Alten und ihre Geschichten, wen interessiert denn so was. Mich jedenfalls nicht.«
Ich gab auf.
Zaïda aber blieb trotz allem Teil meines Lebens, nicht nur, weil sie als Einzige eine wirkliche Mutter für mich war, sondern auch des Bildes wegen.
Ihre Mailänder Wohnung war zu der Zeit, als ich bei ihr wohnte, nur spärlich möbliert. Nur das Notwendigste. Kaum Bücher von allgemeinem Interesse. Medizinische Fachliteratur aber füllte eine ganze Bibliothek, das Literarische beschränkte sich auf Werke wie »Die Brautleute« von Manzoni, auf ein paar Bücher von Dumas, auf die Stücke von Shakespeare und auf ein halbes Dutzend Romane von Wilkie Collins, Jane Austen und Paolo Valera. Die übrigen Bücher, die wir lasen, stammten aus verschiedenen öffentlichen Bibliotheken, wo wir ständig anzutreffen waren. Den einzigen Luxus in der Wohnung bildeten im Esszimmer zwei Porträtgemälde in blattvergoldeten Rahmen. Dass die junge lächelnde Frau mit roten Haaren und großen dunklen Augen in einem ovalen Gesicht mit etwas spitzem Kinn Zaïda war, hätte ich nie gedacht, wenn sie es mir nicht gesagt hätte. Der junge Mann war ebenfalls sehr schön, mit schwarzen krausen Locken auf dem Kopf, grauen Augen und einem glatten Gesicht mit konzentrierten Zügen. Zaïda hatte mir anvertraut, er sei früher einmal ihr Geliebter gewesen. Nach der Art ihrer Kleidung zu schließen, musste das Ende des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Sie sahen glücklich aus.
Ich war gerade neun geworden, als ich eines Tages, ich kam von der Schule, Zaïda tot auf ihrem Bett vorfand, vollständig bekleidet, mit geschlossenen Augen, einem friedvollen Gesicht, als ob sie gerade »un pisolino« (ein kleines Verdauungsschläfchen) machen würde. Mathilda war außer Haus und ich allein mit Zaïda. Auf diese Eventualität hatte sie mich immer wieder vorbereiten wollen, doch hatte ich mich geweigert, sie in Betracht zu ziehen.
Zunächst saß ich eine Stunde lang neben ihr, hielt ihre Hand und weinte. Während dieser Stunde der Verzweiflung glaubte ich, ohne sie auf keinen Fall weiterleben zu können, mein erster Gedanke war, mich umzubringen. Aber dann hatte ich eine Idee.
Ich legte Zaïdas Hand auf ihre Brust und ging ins Esszimmer, wo ich die Bilder abhängte. Mit einem Messer löste ich sorgfältig die Nägel, mit denen die Rahmen an der Rückwand befestigt waren. Ausgelöst aus ihren üppigen Goldrahmen, waren die Gemälde an sich kaum größer als ein großes Blatt Papier.
Ich lief in mein Zimmer, holte den Koffer unter dem Bett hervor, wo er sich seit meiner Ankunft befunden hatte, und legte die Bilder hinein. Dass Zaïda von ihrem Geliebten getrennt würde, kam nicht in Frage. Darüber legte ich ein paar Kleidungsstücke, dann schob ich den Koffer wieder unters Bett und verstaute die Rahmen im Besenschrank. Dann ging ich in Zaïdas Zimmer zurück. Bevor ich Hilfe holte, küsste ich sie noch einmal.
»Du bleibst bei mir, Zia Zaïda. Ich nehme dich mit.«
Nach den Bildern hat nie jemand gefragt. Ich könnte mir denken, dass Mathilda, die durchaus bemerkte, dass sie nicht mehr da waren, mit Großvater darüber gesprochen hat, aber – typisch für ihn – er sagte lieber nichts. Ich behielt sie. Immer, wenn ich eine neue Wohnung bezog, begann ich damit, sie an die noch nackten Wände zu hängen. Die neuen Rahmen sind weniger aufwendig als die ursprünglichen, doch der Frische der Bilder tut dies keinen Abbruch. Sie sind mit B. Tatley signiert, aber meine Neugier war nie groß genug, um herausfinden zu wollen, wer das war. Oft meinen die Leute, auf dem Bild mit Zaïda sei ich in einem Theaterkostüm zu sehen – ob das Nachahmung oder Vererbung zuzuschreiben wäre, weiß ich nicht. Tatsache ist jedenfalls, dass ich ihr mit der Zeit ähnlich sah, abgesehen davon, dass ich eins sechzig groß bin.
Gleichwohl war Zaïda in meinem Leben nur noch verschwommen gegenwärtig. Aber ich erzählte immer gern, ich sei von meiner Urgroßmutter erzogen worden – so etwas gab es nicht alle Tage.
Meine Mutter heiratete wieder, einen Hotelgast, und lebt jetzt in Deutschland. Der Typ schwimmt im Geld, aber ich finde ihn nicht besonders sympathisch. Da mich nichts wirklich Persönliches mit ihr verbindet, fällt es mir sehr schwer, in dieser Frau meine Mutter zu sehen, während sie es versteht, mir das Gefühl zu geben, überflüssig zu sein, aber doch jemand, um den sie sich bedauerlicherweise von Zeit zu Zeit zu kümmern hat. Ich tue mein Bestes, um ihr diese Last zu ersparen.
Ich wäre gern Ärztin geworden, aber weil ich mir das intellektuell wohl nicht zutraute, gab ich mich damit zufrieden, Apothekerin zu werden, als solche ließ ich mich später in Lausanne nieder, wo ich sogar das Bürgerrecht erworben habe. Die Italienerin aus England, wie mich einer meiner Professoren damals nannte, war nun Schweizerin.
Mit John und Hermione blieb ich in losem Kontakt, aber nach Cornwall bin ich nie mehr zurückgekehrt. Als John starb, war ich gegen dreißig. Er war mit Hermione sehr eng verbunden gewesen, und ein paar Monate später starb auch sie. Simon schrieb ich, ich verstünde seine Not, Vater und Mutter praktisch gleichzeitig verloren zu haben. Wochenlang hörte ich nichts von ihm.
Doch eines Abends rief er mich an.
»Kann ich dich sehen?«, fragte er nach der Begrüßung.
»Klar«, gab ich etwas verwundert zur Antwort. Simon war für mich eigentlich ein Fremder. Abgesehen von ein paar Spaziergängen und den Mahlzeiten am Familientisch hatten wir keinen näheren Umgang miteinander gehabt.
»Ich kann in die Schweiz kommen«, fügte er hinzu. »Aber in Anbetracht des Grundes meines Anrufs ist es vielleicht klüger, wenn du zu mir kommst.«
Mehr wollte er mir nicht verraten. Ich fuhr hin. Zur verheerendsten Zeit meiner Ehe kam mir oft dieses Haus wieder in den Sinn – es gehörte mir, Zaïda hatte es Alberto hinterlassen, und weil ich Albertos einzige Nachfahrin war, erbte ich das Haus und alles andere. Ich war allerdings immer der Auffassung, das Haus sei für die De Vicos wichtiger als für mich, weshalb ich über einen Anwalt einen langfristigen Mietvertrag hatte abschließen lassen.
Der erste Schock war, als Simon unter der Tür jenes Hauses stand, das einmal das Heim Zaïdas, dann das seiner Eltern gewesen war und in dem er jetzt selber wohnte. Wir blieben wie angewurzelt stehen, sahen uns an und glaubten unseren Augen nicht. Ich, weil er überhaupt nicht so aussah, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aus dem schlaksigen, pickeligen und missmutigen Jungen von einst war ein verführerischer Mann geworden. Schön wäre nicht das richtige Wort, er war magnetisch. Und er sah, wie er mir später erklärte, vor seinem geistigen Auge das kleine unansehnliche Mädchen mit Zöpfen, aus dem eine Frau geworden war, was er absurderweise nicht erwartet hatte.
Mit anderen Worten: Wir verliebten uns auf den ersten Blick ineinander. Doch in diesem Augenblick taten wir beide so, als ob nichts wäre.
»Ich bat dich zu kommen, weil ich in einem Schrank im Atelier etwas gefunden habe.«
»In einem Schrank?«
»In einem von Zadies Schränken.«
»Und was geht mich das an?«
Der Sitting Room der Eltern war behaglich neu eingerichtet worden, die Wände waren voller Bücher und Fotos, alles in warmen und hellen Farbtönen. Das Zimmer ging auf einen Rasen hinaus, an dessen Ende man jenseits des Gebüschs das Meer sehen konnte, das allerdings zwei- oder dreihundert Meter weit entfernt war, wie ich aus eigener Erfahrung wusste. Simon stand auf und griff nach einem Aktendeckel aus Karton auf dem Tisch, der von Papieren überquoll.
Er kam und setzte sich neben mich aufs Sofa. Er öffnete den Aktendeckel.
»Schau, der Anfang ist in Englisch, deshalb habe ich begriffen, worum es sich handelt.«
Ich nahm das Blatt, das er mir reichte. In rundlichen Buchstaben hatte jemand mit bräunlicher Tinte auf Englisch geschrieben: »Erinnerungen von Zadie De Vico Tatley Barber Giocondo.«
Ich wandte mich Simon zu, der darauf wartete, dass ich etwas sagte.
»Zaïda hat ihre Autobiographie geschrieben?«
»Ich denke schon.«
»Was heißt das denn? Hast du es nicht gelesen?«
»Eigentlich nicht. Der größte Teil des Textes ist Italienisch. Und es gibt französische und sogar deutsche Abschnitte. Die Seiten auf Englisch haben genügt, mich extrem neugierig zu machen, aber auch wenn ich De Vico heiße – Italienisch verstehe ich kein Wort. Du schienst mir die ideale Person dafür zu sein.«
Es waren mindestens zweihundert eng und beidseitig beschriebene Seiten ohne Korrekturen und Streichungen. Zaïda hatte geschrieben, was ihr gerade in den Sinn gekommen war, vermutete ich, und nach Belieben auf Englisch, Deutsch, Französisch oder Italienisch. Sie schrieb nicht, um gelesen zu werden – außer von mir, wie ich am Schluss zu verstehen glaubte. Dass Simon Mühe hatte zu folgen wundert mich nicht. Am liebsten hätte ich mich gleich hineingestürzt. Aber das ging nicht. Es berührte mich sehr, dass Simon diesen Schatz an dem Ort mit mir teilen wollte, wo er entstanden war. Sorgfältig legte ich den Aktendeckel auf den Beistelltisch vor mir und drehte mich ihm zu, um ihm das zu sagen.
»Danke, Simon, danke, dass du gedacht hast, das könnte wichtig sein für mich.« Dabei berührte ich seine Hand, ein Zeichen der Zuneigung, dachte ich. Doch diese einfache Geste brachte die geheimnisvolle Alchemie zum Explodieren, die seit dem Augenblick in uns wirkte, als ich an die Tür geklopft hatte. Wir lagen uns in den Armen, ohne zu wissen, wie es gekommen war, wir küssten uns leidenschaftlich, als ob unser Leben davon abhinge. Vielleicht war es ja auch so.
»Ist das, was wir hier tun, nicht ein bisschen inzestuös?«, fragte ich, weil ja etwas gesagt werden musste, als es uns endlich gelang, uns voneinander zu lösen.
Simon lachte. Seine Stimme war ebenso brüchig wie die meine.
»Alice, wir haben einen gleichen Urgroßvater. Ich finde unsere Verwandtschaft sehr verwässert. Was davon übrig bleibt, reicht gerade noch aus, um uns eine Spur Narzissmus zu gönnen, wenn wir im anderen einen Zug unserer selbst entdecken.«
Das muss es gewesen sein, was uns zu einem Paar zusammenschweißte, ohne Diskussionen, ohne Zweifel, weder bei mir noch bei Simon. Der Zufall oder die Vorsehung oder wie man es auch immer nennen will, wollte, dass wir beide frei waren. Ich hatte eine so leidvolle Ehe hinter mir, dass ich es vorzog, nicht mehr daran zu denken, seit zwei Jahren ging ich jeder engeren Beziehung aus dem Weg, die Wunden waren zu tief.
Abgesehen davon lebten wir tausend Kilometer voneinander entfernt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eines Tages wieder mit jemandem zusammenleben könnte, Simon nicht ausgeschlossen – und ich bin mir auch nicht sicher, ob ihm so sehr daran gelegen war. Die Frau, die er hatte heiraten sollen, hatte es sich im letzten Augenblick anders überlegt, das war einige Jahre her, und seither hatte er sich nach seinen eigenen Worten als Mann verhalten, flatterhaft und unverbindlich. Meiner Meinung nach steht ihm der Sinn ebenso wenig nach Heiraten wie mir. Obwohl einzuräumen ist, dass wir im Augenblick unserer Begegnung beide reif waren für einen neuen Anfang. Und außerdem ging mir durch den Kopf, das hier könnte ein weiterer Streich Zaïdas sein, Zadies, wie man sie in dieser Weltgegend nannte, oder Albertos. Es mochte sie geärgert haben, uns, die sie gekannt und geliebt hatten, jeden für sich unglücklich zu sehen, und sie mochten einen Vorwand gesucht haben, unter welchem wir uns wieder begegnen würden, weil beide wussten, dass die Möglichkeit bestand, dass wir zusammen glücklich werden könnten.
Seither sind wir auf Reisen. Ich besuche ihn in Cornwall, er besucht mich in Lausanne. Er arbeitet beim Radio und teilt seine Arbeitszeit entsprechend ein.
Aber ich komme zurück auf jenen Tag und auf die folgenden, als ich verstand, wer Zaïda wirklich war. Bald entschloss ich mich, ihren Bericht ins Reine zu schreiben. Und es bewegte mich sehr, als ich feststellte, dass er erst nach meiner Geburt endete. Zaïda hatte drei Söhne, einer von ihnen war mein Großvater, und mehrere Enkelkinder. Überlebt hatte nur mein Großvater und sein Sohn, mein Vater, ich war ihre einzige Urenkelin. Zaïda hatte ihre »Memoiren« mir gewidmet, noch ohne mich gekannt zu haben und ohne zu ahnen, dass ich nur wenig später fünf Jahre meines Lebens mit ihr verbringen würde. Sie wollte einfach, dass die zukünftige Frau, die sie vor Augen hatte (also mich – arme Zaïda, wenn sie mich mit meinem ersten Mann gesehen hätte …), wusste, was lange vor ihr eine andere Frau erlebt hatte, um Lehren daraus ziehen zu können. Was mein erstes Jahrzehnt des Erwachsenenlebens betraf, war das gründlich misslungen.
Später versprach ich Zaïda in Gedanken, es besser zu machen. Vielleicht sogar wieder zu studieren und Ärztin zu werden, nachdem diese Möglichkeit uns Frauen jetzt – im Vergleich – auf dem Silbertablett serviert wird. Ich kehrte nach Lausanne zurück. Abends und an den Wochenenden schrieb ich Zaïdas Erzählung in jene Sprache um, die mir unterdessen mündlich und schriftlich am geläufigsten war – ins Französische. Während dieser ganzen Schreibarbeit hatte ich ständig Zaïdas Stimme im Ohr, wir hatten so oft zusammen Französisch gesprochen, dass ich das Gefühl hatte, sie diktiere mir, was ich schreiben sollte.
von
Zadie De Vico Tatley Barber Giocondo
Hätte ich nur an mein eigenes Leben zu denken, so wäre dies ja einerlei, – aber ich wünsche für andere die Bahn zu brechen – wird mir das gelingen? Die Verantwortung, die ich auf mich genommen habe, ist groß – ich fühle, dass ich im Namen meines ganzen Geschlechts dastehe, und wenn ich meinen Weg schlecht mache, für mein ganzes Geschlecht ein Fluch werden kann.
Marie Heim-Vögtlin
erste Ärztin der Schweiz
Briefe, 28. 2. 1869