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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Auszüge aus Dr. Breuers Verlaufsbericht zum Falle Eckhardt Müller – 5. Dezember 1882
Auszüge aus Friedrich Nietzsches Notizen zu Dr. Breuer – 5. Dezember 1882
Brief Friedrich Nietzsches an Lou Salomé, Dezember 1882
Kapitel 15
Auszüge aus Dr. Breuers Verlaufsbericht zum Falle Eckhardt Müller – 6. Dezember 1882
Auszüge aus Friedrich Nietzsches Notizen zu Dr. Breuer – 6. Dezember 1882
Kapitel 16
Auszüge aus Dr. Breuers Verlaufsbericht zum Falle Eckhardt Müller – 7. Dezember 1882
Auszüge aus Friedrich Nietzsches Notizen zu Dr. Breuer – 7. Dezember 1882
Brief Friedrich Nietzsches an Lou Salomé, Dezember 1882
Kapitel 17
Kapitel 18
Auszüge aus Dr. Breuers Verlaufsbericht zum Falle Eckhardt Müller – 9. bis 14. Dezember 1882
Auszüge aus Friedrich Nietzsches Notizen zu Dr. Breuer – 9. bis 14. Dezember 1882
Brief Friedrich Nietzsches an Lou Salomé, Dezember 1882
Kapitel 19
Auszüge aus Dr. Breuers Verlaufsbericht zum Falle Eckhardt Müller – 15. Dezember 1882
Auszüge aus Friedrich Nietzsches Notizen zu Dr. Breuer – 15. Dezember 1882
Kapitel 20
Friedrich Nietzsches Notizen zu Dr. Breuer – vom 16. Dezember 1882
Kapitel 21
Kapitel 22
Nachwort
Copyright

Autor

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine bislang drei Romane wurden international zu Bestsellern.

Nachwort

Friedrich Nietzsche und Josef Breuer sind sich im Leben nie begegnet. Folglich markiert ihre ›Begegnung‹ auch nicht die Geburtsstunde der Psychotherapie. Doch die im Roman skizzierten Lebensumstände der Hauptfiguren beruhen auf Tatsachen, und die Hauptfäden der Romanerzählung – Breuers Seelenqual, Nietzsches tiefe Depression, Anna O., Lou Salomé, die enge freundschaftliche Verbindung zwischen Breuer und Freud, die aufdämmernde Psychotherapie – brauchten aus dem Lebensstoff des Jahres 1882 nur herausgelöst und neu verknüpft zu werden.

Friedrich Nietzsche lernte die junge Lou Salomé im Frühjahr 1882 durch Paul Rée kennen, und in den folgenden Monaten entspann sich zwischen beiden eine kurze, aber intensive platonische Liebesbeziehung. Lou Salomé sollte sich sowohl als Schriftstellerin wie auch als Analytikerin noch einen Namen machen; man würde sich ihrer nicht zuletzt als einer Vertrauten Freuds und ihrer Liaisons wegen erinnern, vor allem der Verbindung mit Rainer Maria Rilke.

Nietzsches Verhältnis zu Lou Salomé, ein schwieriges Dreiecksverhältnis mit Paul Rée als Drittem im Bunde und ständig unterminiert von Nietzsches Schwester Elisabeth, nahm für diesen einen katastrophalen Ausgang; noch jahrelang quälten ihn Verlustschmerz und der Verdacht, verraten worden zu sein. Während der letzten Monate des Jahres 1882 – der Zeitspanne der Romanhandlung – war Nietzsche schwer depressiv, ja selbstmordgefährdet. Seine verzweifelten Briefe an Lou Salomé, aus denen im Buch an verschiedenen Stellen zitiert wird, sind authentisch, auch wenn sich nicht mit Sicherheit sagen läßt, welche Briefe lediglich Entwürfe blieben und welche tatsächlich abgeschickt wurden. Der Brief Wagners an Nietzsche im ersten Kapitel ist ebenfalls echt.

 

Der Behandlung Bertha Pappenheims – oder der Anna O. – widmete der Wiener Arzt Josef Breuer im Jahre 1882 viel Zeit und Aufmerksamkeit. Im November desselben Jahres begann er den Fall eingehend mit seinem jungen Freund und Protegé Sigmund Freud zu erörtern, der, wie im Roman dargestellt, häufig bei den Breuers zu Gast war, und 1895 schließlich wurde der Verlaufsbericht der Behandlung der Anna O. als erster einer Fallsammlung in Freud und Breuers gemeinsam veröffentlichten Studien über Hysterie aufgenommen, dem Werk, welches die psychoanalytische Revolution einläutete.

Bertha Pappenheim war, wie Lou Salomé, eine bemerkenswerte Frau. Ihre späteren Pionierleistungen als Sozialarbeiterin und Feministin, lange nach ihrer Behandlung durch Breuer, würdigte man in Deutschland 1954 posthum durch die Herausgabe einer Sonderbriefmarke. Daß sie Anna O. war, erfuhr die Öffentlichkeit erst 1953 mit der Publikation der Biographie The Life and Work of Sigmund Freud (dt. 1978, Das Leben und Werk von Sigmund Freud) von Ernest Jones.

War Josef Breuer tatsächlich von einer leidenschaftlichen Liebe zu Bertha Pappenheim besessen? Wir wissen wenig von Breuers Gefühlsleben, doch schließt die Forschung diese Möglichkeit nicht aus. Widersprüchliche Darstellungen von Zeitgenossen stimmen immerhin darin überein, daß die Behandlung Bertha Pappenheims durch Breuer bei beiden ebenso heftige wie komplexe Emotionen wachrief. Breuer wurde von diesem Fall so in Anspruch genommen und widmete seiner jungen Patientin so viel Zeit, daß seine Frau Mathilde ihm dies in der Tat übelnahm und eifersüchtig wurde. Freud sprach mit seinem Biographen Ernest Jones ausführlich über die Verstrickung Breuers mit seiner Patientin, und in einem frühen Brief an seine Braut Martha Bernays beteuerte er dieser, ihm solle derartiges niemals widerfahren. Der Psychoanalytiker George Pollock hat die Frage aufgeworfen, ob nicht Breuers starke Reaktion auf Bertha Pappenheim darin gewurzelt haben könnte, daß er sehr früh seine Mutter Bertha verloren hatte.

Die Geschichte der Scheinschwangerschaft der Anna O. und Breuers kopflosen und überstürzten Abbruchs der Behandlung wuchs sich zur psychoanalytischen Legende aus. Freud schilderte den Vorfall erstmals 1932 in einem Brief an den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig, und Ernest Jones griff ihn in seiner Freud-Biographie auf. Erst in jüngster Zeit wird angezweifelt, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat. In seiner 1978 erschienenen Breuer-Biographie vertritt Albrecht Hirschmüller die Auffassung, die Begebenheit sei eine Kolportage Freuds. Breuer selbst hat nie Stellung bezogen; er hat allerdings zur Verwirrung um Anna O. noch beigetragen, indem er in der 1895 publizierten Fallstudie den Erfolg seiner Behandlung in unbegreiflicher Weise übertrieb.

In Anbetracht des enormen Beitrags, den Josef Breuer zur Entwicklung der Psychotherapie geleistet hat, verwundert es, daß er sich der Psychologie nur so kurze Zeit zuwandte. Den Medizinhistorikern bleibt Josef Breuer vor allem als bedeutender Erforscher der Physiologie der Atmung und des Gleichgewichtssinnes einerseits und als brillanter Diagnostiker andererseits in Erinnerung, als Hausarzt einer ganzen Generation von überragenden Persönlichkeiten des Wiener Fin de siècle.

Nietzsche war zeitlebens von schwacher Gesundheit. Obwohl der geistige Zusammenbruch 1889 in die schwere Demenz der progressiven Paralyse mündete (der er 1900 erlag, möglicherweise als Spätfolge einer Syphilis), gilt allgemein als gesichert, daß seinen früheren Leiden andere Ursachen zugrunde lagen. Wahrscheinlich plagte Nietzsche (dessen Krankheitsbild ich auf der Grundlage des sehr eindringlichen Nietzsche-Porträts von Stefan Zweig aus dem Jahre 1939 skizziert habe) extrem schwere Migräne. Nietzsche hat ihretwegen zahlreiche Ärzte in ganz Europa konsultiert; es ist keineswegs abwegig, daß ihm empfohlen worden sein könnte, sich auch an den namhaften Wiener Internisten Josef Breuer zu wenden.

Dagegen wäre es für Lou Salomé eher untypisch gewesen, sich voller Sorge bei Breuer für Nietzsche zu verwenden. Ihren Biographen zufolge besaß sie kein sonderlich ausgeprägtes Schuldempfinden, und sie hat bekanntermaßen eine ganze Reihe von Liebesbeziehungen ohne viel Federlesens und ohne Reue abgebrochen. Im ganzen war Lou Salomé verschwiegen und hat sich meines Wissens öffentlich nie zu ihrem persönlichen Verhältnis zu Nietzsche geäußert. Ihre Briefe an ihn sind nicht erhalten. Sie wurden vermutlich von Nietzsches Schwester Elisabeth vernichtet, deren erbitterte Fehde mit Lou Salomé ein Leben lang währte. Lou Salomé hatte in der Tat einen Bruder Jenia, der 1882 in Wien Medizin studierte. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, daß Breuer in diesem Jahr den Fall Anna O. in einem Kolleg präsentiert haben würde. Nietzsches Brief an seinen Freund und Lektor Peter Gast (im Anschluß an Kapitel XII) und auch der Brief Elisabeth Nietzsches (am Ende des Kapitels VII) sind fiktiv, ebenso die Lauzon-Klinik und die Figuren Fischmann und Max, Breuers Schwager. (Es stimmt jedoch, daß Breuer ein leidenschaftlicher Schachspieler war.) Sämtliche geschilderten Träume, mit Ausnahme zweier Nietzsches – des Traums von seinem dem Grab entsteigenden Vater und des Traums vom röchelnden Alten auf dem Sterbelager – sind frei erfunden.

1882 gab es noch keine Psychotherapie, und Nietzsche hat sich natürlich nie explizit diesen Fragen zugewandt. Doch gewann ich bei meiner Nietzsche-Lektüre den Eindruck, daß ihm Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung existentiell bedeutsame Anliegen waren. Der chronologischen Stimmigkeit halber habe ich nur aus jenen Werken Nietzsches zitiert, die vor 1882 entstanden, vor allem Menschliches, Allzumenschliches, Unzeitgemäße Betrachtungen, Morgenröte und Die fröhliche Wissenschaft. Allerdings bin ich stillschweigend davon ausgegangen, daß Nietzsche die großen Gedanken des Zarathustra, mit dessen Niederschrift er nur wenige Monate nach dem Zeitpunkt begann, an dem meine Romanerzählung endet, längst in seinem Geist bewegte.

 

Ich danke Van Harvey, Professor für Religionswissenschaft und Ethik an der Universität Stanford, der mir gestattete, an seinem hervorragenden Nietzsche-Seminar teilzunehmen – außerdem für viele erhellende Gespräche und für eine kritische Durchsicht des Manuskripts. Ebenso bin ich den Kollegen von der philosophischen Fakultät zu Dank verpflichtet, besonders Eckart Förster und Dagfinn Føllesdal, bei denen ich ähnliche Seminare zur deutschen Philosophie und Phänomenologie besuchte. Zu diesem Buch haben viele durch konstruktive Kritik beigetragen: Morton Rose, Herbert Kotz, David Spiegel, Gertrud und George Blau, Kurt Steiner, Isabel Davis, Ben Yalom, Joseph Frank, die Mitglieder des Stanforder Biographie-Seminars unter der Leitung von Barbara Babcock und Diane Middlebrook – ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Betty Vadeboncoeur, Bibliothekarin der medizin-historischen Bibliothek der Universität Stanford, hat mir unschätzbare Dienste geleistet. Timothy K. Donahue-Bombosch übersetzte die zitierten Brieffragmente und – entwürfe Nietzsches an Lou Salomé. Alan Rinzler, Sara Blackburn, Richard Elman und Leslie Becker lektorierten und berieten mich. Von meinem Verlag Basic Books erhielt ich jede erdenkliche Unterstützung, insbesondere von Jo Ann Miller und von meiner Lektorin Phoebe Hosse.

Meine Frau Marilyn, stets meine erste Leserin und schärfste Kritikerin, hat sich bei dieser Arbeit selbst übertroffen, indem sie nicht nur ihre Entstehung vom ersten Entwurf bis zur endgültigen Fassung kritisch begleitete, sondern auch noch den gelungenen Titel When Nietzsche Wept beisteuerte.

»Die heilige Dreifaltigkeit«: Lou Salomé, Paul Rée und Friedrich Nietzsche 1882 in Luzern.

Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken/Sachsen geboren. Seine Mutter und seine Schwester zogen ihn auf, denn sein Vater, ein lutherischer Pfarrer, starb, als Friedrich fünf Jahre alt war. Nach Schulbesuch und Studium der Philologie erhielt Friedrich Nietzsche eine Professur für Philologie in Basel, die er aber 1879 aus Gesundheitsgründen wieder aufgeben mußte. Nietzsches Gesundheitszustand wurde beständig schlechter, Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich, so mit Lou Salomé, schlossen sich an und veränderten seinen Seelenzustand. Sein Zusammenbrechen in den Straßen Turins im Jahre 1889 machte für seine Umwelt die schwere geistige Erkrankung Nietzsches offenbar. Am 25. August 1900 verstarb er in Weimar, nachdem ihn Mutter und Schwester elf Jahre gepflegt hatten.

(Bild: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin)

Josef Breuer wurde am 15. Januar 1842 in Wien geboren. Nach dem Studium der Medizin widmete sich der Internist Breuer vor allen Dingen Fragen des Gleichgewichtssinns und der Physiologie der Atmung in ihren Beziehungen zum Nervensystem. Zusammen mit Sigmund Freud verfaßte er die »Studien über Hysterie«. Josef Breuer verstarb am

20. Juni 1925 in seiner Geburtsstadt Wien.

Das Foto zeigt ihn Ende der 1890er mit seiner Frau Mathilde.

(Bild: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin)

Lou Andreas-Salomé wurde am 12. Februar 1861 in St. Petersburg als Tochter eines russischen Generals geboren. Seit 1887 verheiratet mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, pflegte die Autorin Lou Andreas-Salomé regen Kontakt zu anderen geistigen Größen ihrer Zeit, so zu Nietzsche, Rilke und Sigmund Freud. Ihr Lebenswerk umfaßt Romane, Essays und Erzählungen, sie starb am 5. Februar 1937 in Göttingen.

Sigmund Freud, der Vater und Begründer der Psychoanalyse, wurde am 6. Mai 1856 in Freiburg/Mähren geboren. Er widmete sich besonders Fragen der Physiologie und der Hirnpathologie, bevor er sich zu der psychotherapeutischen Tätigkeit entschloß, die er lange Zeit in Wien ausübte. Dort 1902 zum Professor berufen, emigrierte er 1938 wegen seiner jüdischen Abstammung nach England. Er starb am 23. September 1939 in London.

(Bild: Ullstein Bilderdienst, Berlin – Sigmund Freud Copyrights)

Bertha Pappenheim (»Anna O.«) wurde 1859 in Wien geboren und wuchs in einer reichen jüdischen Familie auf. Während ihrer hysterischen Erkrankung, ausgelöst durch das tödliche Leiden des Vaters, war sie von November 1880 bis Juli 1882 bei Josef Breuer in Behandlung, der ihr auch das Pseudonym »Anna O.« verlieh.

Bertha Pappenheim war Mitbegründerin des Jüdischen Frauenbundes und lange Jahre im Vorstand des Bundes deutscher Frauenvereine. Sie gründete Heime für junge Prostituierte und engagierte sich in Organisationen zur Bekämpfung des Mädchenhandels. Daneben verfaßte sie Märchen und Novellen und theoretische Schriften zur Frauenfrage. Sie starb 1936.

(Bild: Ullstein Bilderdienst, Berlin – Sigmund Freud Copyrights)

1

Das Glockenspiel von San Salvatore riß Josef Breuer aus seinen Träumen. Er zog seine schwere goldene Uhr aus der Westentasche. Neun. Zum wiederholten Male studierte er das Billett mit Silberrand, das er am Vortage erhalten hatte.

21. Oktober 1882

Doktor Breuer,

ich muß Sie in einer dringlichen Angelegenheit sprechen. Die Zukunft der deutschen Philosophie steht auf dem Spiele. Ich erwarte Sie morgen früh um neun im Café Sorrento.

Lou Salomé

Eine Impertinenz! Eine Unverfrorenheit, dergleichen er seit Jahren nicht erlebt hatte. Er kannte keine Lou Salomé. Keine Adresse auf dem Kuvert. Keine Möglichkeit, dieser Person mitzuteilen, daß neun Uhr eine unpassende Zeit sei, daß es Frau Breuer ganz und gar nicht gefiele, alleine frühstücken zu müssen, daß Dr. Breuer Ferien mache und daß ihn ›dringliche Angelegenheiten‹ nicht interessierten, ja, daß Dr. Breuer gerade deshalb nach Venedig gereist sei, um sich ›dringlicher Angelegenheiten‹ zu entziehen.

Und doch saß er nun Punkt neun hier im Café Sorrento, musterte die Gesichter der Gäste und fragte sich, wer von den Damen wohl die impertinente Lou Salomé sein mochte.

»Nehmen Sie noch Kaffee, Signore?«

Breuer nickte auf die Frage des Kellners, eines Knaben von dreizehn oder vierzehn Jahren mit naß zurückgekämmtem schwarzem Haar. Wie lange saß er wohl schon versunken da und träumte vor sich hin? Er blickte abermals auf seine Taschenuhr. Wieder zehn Minuten Lebenszeit vergeudet. Und womit? Wie gewöhnlich war er in Gedanken bei Bertha gewesen, der lieblichen Bertha, zwei lange Jahre seine Patientin. Er hatte an ihre spöttischen Worte denken müssen: ›Doktor Breuer, was fürchten Sie von mir?‹ Und daran, was sie gesagt hatte, als er ihr hatte eröffnen müssen, er könne sie nicht länger betreuen: ›Ich werde warten. Sie werden immer der einzige Mann in meinem Leben sein.‹

Er wies sich zurecht: ›Genug! Hör auf! Höre auf zu denken! Wozu hast du Augen! Sieh dich um! Gewähre der Welt Einlaß!‹

Breuer hob seine Tasse und sog zusammen mit tiefen Zügen kalter, venezianischer Oktoberluft den Duft des aromatischen Kaffees ein. Er wandte den Kopf und schaute. Sämtliche Tische des Café Sorrento waren mit Frühstücksgästen besetzt – größtenteils Touristen, größtenteils ältere Herrschaften. Einige Gäste hielten Zeitungen in der einen Hand, Kaffeetassen in der anderen. Hinter den Tischen stoben Wolken stahlblauer Tauben auf. Auf dem stillen Canal Grande ließ nur das Kielwasser einer einsam dahingleitenden Gondel die schimmernden Spiegelungen der Palazzi an beiden Ufern erzittern. Andere Gondeln schliefen noch, vertäut an schiefstehenden Pfählen, die da und dort aus dem Kanal ragten wie wahllos von Riesenhand hingeschleuderte Speere.

›So ist’s recht, alter Narr, mach die Augen auf!‹ sagte sich Breuer. ›Von überallher kommen die Menschen, um Venedig zu bewundern, Menschen, die sich weigern zu sterben, ehe sie nicht der Gnade seiner einzigartigen Schönheit teilhaftig geworden sind. Wieviel vom Leben mag wohl schon an mir vorbeigezogen sein, allein, weil ich nicht hingesehen habe? Oder hingesehen habe, ohne zu sehen?‹ Gestern hatte er einen einsamen Spaziergang unternommen, hatte die Insel Murano umrundet und hatte gleichwohl nach einer Stunde nichts gesehen, nichts wahrgenommen; es waren keine Bilder von der Netzhaut ins Gehirn gelangt. Seine Aufmerksamkeit hatte einzig Bertha gegolten: ihrem betörenden Lächeln, ihrem hingebungsvollen Blick, der Wärme ihres vertrauensvollen Körpers und ihrem beschleunigten Atem, wann immer er sie untersuchte oder massierte. Diese Bilder besaßen Macht, sie führten ein Eigenleben. Sobald seine Wachsamkeit nachließ, stahlen sie sich in sein Bewußtsein und usurpierten seine Vorstellungen. ›Soll das mein Los sein?‹ fragte er sich. ›Bin ich dazu verdammt, die Bühne zu sein, auf der sich bis in alle Ewigkeit meine Erinnerungen an Bertha in Szene setzen?‹

Am Nebentisch erhob sich jemand. Das metallische Scharren der Stuhlbeine auf dem Pflaster brachte ihn zur Besinnung, und erneut hielt er Ausschau nach Lou Salomé.

Ah, da kam sie! Die Dame, welche nun die Riva del Carbon herunterschritt und die Café-Terrasse betrat, die mußte es sein. Nur sie konnte jenes Billett verfaßt haben, diese stolze, schlanke Frau im Pelz, welche sich nun gebieterisch einen Weg zwischen vollbesetzten Tischen hindurch zu ihm bahnte. Aus größerer Nähe erkannte Breuer, daß sie jung war, jünger womöglich noch als Bertha, ein Schulmädchen gar. Aber was für ein sicheres Auftreten! Bei einem solchen Charisma würde sie es noch weit bringen!

Lou Salomé hielt zielstrebig, ohne das geringste Zögern, auf ihn zu. Wie konnte sie sich dessen nur so sicher sein, daß er der Gesuchte war? Mit der linken Hand strich sich Breuer hastig über den krausen, rötlichen Bart, damit auch ja keine Krümel vom Frühstücksgebäck darin hingen, die Rechte zupfte den schwarzen Rock zurecht und sorgte dafür, daß der Kragen sich nicht unvorteilhaft im Nacken hochschob. Kaum einen Meter vor ihm blieb sie unverhofft stehen und blickte ihm einen Moment lang geradewegs in die Augen.

Mit einemmal verstummte das Geschwätz in Breuers Kopf. Plötzlich bedurfte das Hinsehen keinerlei Anstrengung. Nun spielten sich Netzhaut und Hirnrinde das Bild Lou Salomés ohne weiteres zu und schleusten es bereitwillig in sein Bewußtsein. Eine ungewöhnliche Frau von nicht landläufiger Schönheit: ausgeprägte Stirn, kräftiges, gut geschnittenes Kinn, strahlend blaue Augen, volle, sinnliche Lippen, achtlos frisiertes, am Oberkopf zum Knoten geschlungenes silberblondes Haar, die Ohren und der lange, schlanke Hals gut sichtbar. Insbesondere gefiel ihm, wie einzelne, widerspenstige Haarsträhnen sich der Bändigung widersetzten und verwegen in alle Richtungen standen.

Drei Schritte noch, und dann stand sie an seinem Tische. »Doktor Breuer, ich bin Lou Salomé. Darf ich?« Sie deutete auf einen Stuhl. Und dann saß sie auch bereits, ohne daß Breuer Zeit geblieben wäre, sie angemessen zu begrüßen – also sich zu erheben, sich zu verbeugen, einen Handkuß anzudeuten, den Stuhl zurechtzurücken.

»Cameriere!« Breuer schnippte forsch mit den Fingern. »Einen Kaffee für die Dame. Cafèlatte?« Er blickte fragend zu Fräulein Salomé hinüber. Sie nickte. Trotz der morgendlichen Frische legte sie ihren pelzgefütterten Umhang ab.

»Ja, cafèlatte.«

Breuer und sein Gegenüber schwiegen einen Augenblick lang. Dann sah ihm Lou Salomé forschend in die Augen und hob zu sprechen an: »Ich habe einen zutiefst verzweifelten Freund. Es steht zu befürchten, er könnte sich in naher Zukunft das Leben nehmen. Das wäre für mich ein schmerzlicher Verlust, und überdies insofern tragisch, als ich selber daran einen gewissen Anteil hätte. Nun, das könnte ich ertragen und überwinden, doch ...« – sie beugte sich zu ihm vor und senkte die Stimme – » ... der Verlust ginge weit über meine Person hinaus; der Tod dieses Mannes hätte gewaltige Folgen – für Sie, für die europäische Kultur, für uns alle. Glauben Sie mir.«

Breuer wollte protestieren. ›Sie übertreiben gewiß, mein Fräulein‹, wollte er sagen, brachte die Worte jedoch nicht heraus. Was bei ihren Altersgenossinnen den Eindruck jugendlicher Emphase gemacht haben würde, wirkte an ihr nicht überzogen, klang vielmehr durchaus glaubwürdig. Ihr Ernst und ihre Eindringlichkeit waren nicht so leicht abzutun.

»Wer ist der Herr, der Freund, von dem Sie sprechen? Ist mir der Name geläufig?«

»Noch nicht! Aber sein Name wird bald in aller Munde sein. Er heißt Friedrich Nietzsche. Vielleicht mag Ihnen dieser Brief von Richard Wagner an Professor Nietzsche als Empfehlung dienen.« Sie zog einen Brief aus ihrer Handtasche, strich den Bogen glatt und hielt ihn Breuer hin. »Eines sollten Sie jedoch zuvor wissen: Weder ahnt Nietzsche, daß ich hier bin, noch, daß dieser Brief in meinen Händen ist.«

Fräulein Salomés Bekenntnis ließ Breuer zögern. ›Ja, darf ich die Zeilen denn lesen? Einen Brief, von welchem dieser Professor Nietzsche nicht weiß, daß sie ihn mir aushändigt – nicht einmal weiß, daß sie ihn hat! Wie ist der Brief in ihren Besitz gelangt? Geborgt? Gestohlen?‹

Einer Reihe seiner eigenen Wesenszüge maß Breuer großen Wert bei. Er war loyal, er war großzügig, er war für seinen diagnostischen Spürsinn berühmt. In Wien war er Hausarzt bedeutender Wissenschaftler, Künstler und Denker wie Brahms, Brücke und Brentano. Mit vierzig Jahren genoß er in ganz Europa eine hohe Reputation, distinguierte Persönlichkeiten aus aller Welt nahmen lange Reisen auf sich, um ihn zu konsultieren. Doch weit mehr Wert als auf all dies legte er auf seine Gradsinnigkeit: In seinem ganzen Leben hatte er sich nichts Unehrenhaftes zuschulden kommen lassen. Es sei denn, man legte ihm die Wollust zur Last, welche in seinen Phantasien Bertha galt, und nicht, wie es hätte sein sollen, seiner Frau Mathilde.

Er zögerte daher, den Brief entgegenzunehmen, den ihm Lou Salomé reichen wollte. Aber nur kurz. Ein Blick in ihre ungewöhnlichen kristallblauen Augen, und er griff nach dem Schreiben, das als Datum den 10. Januar 1872 führte und mit der Anrede ›Mein lieber Freund!‹ begann. Mehrere Absätze waren angestrichen.

Nun veröffentlichen Sie eine Arbeit, welche ihresgleichen nicht hat. Was Ihr Buch vor allen anderen auszeichnet ist die vollendete Sicherheit, mit welcher sich eine tiefsinnige Eigentümlichkeit darin kundgibt. Wie anders hätte sonst mir und meiner Frau der sehnlichste Wunsch erfüllt werden können, einmal von außen Etwas auf uns zutreten zu sehen, das uns vollständig einnehmen möchte? Wir haben Ihr Buch – früh jedes für sich – abends gemeinsam – doppelt durchgelesen; wir bedauern, nicht bereits die uns verheißenen doppelten Exemplare zur Verfügung zu haben. Um das eine Exemplar streiten wir uns.

Aber Sie sind krank. Sind Sie auch mißmutig, o! so wünschte ich Ihren Mißmut zerstreuen zu können. Wie soll ich das anfangen? Genügt Ihnen mein grenzenloses Lob?

Nehmen Sie es wenigstens freundlich auf, selbst wenn es Ihnen nicht genügt! –

Herzliche Grüße von

Ihrem

Richard Wagner

Richard Wagner! Bei aller Wiener Weltläufigkeit, bei allem vertrauten Umgange mit den großen Gestalten seiner Zeit war Breuer doch zutiefst beeindruckt. Ein Brief, und gleich ein solcher Brief, von des Meisters eigener Hand! Er fing sich jedoch rasch wieder.

»Überaus interessant, mein liebes Fräulein, aber vielleicht sagen Sie mir, was ich für Sie tun kann.«

Lou Salomé neigte sich abermals vor und legte eine behandschuhte Hand leicht auf die Breuers. »Nietzsche ist krank, sehr krank. Er braucht Ihre Hilfe.«

»Welcher Art ist denn sein Leiden? Welche Symptome zeigt er?« Breuer, verwirrt durch die Berührung, war froh, sich auf vertrautes Terrain begeben zu können.

»Kopfschmerz. Vor allem quälender Kopfschmerz. Dazu wiederholte Anfälle von Übelkeit. Und drohende Erblindung, seine Sehkraft nimmt seit einiger Zeit stetig ab. Zudem Magenbeschwerden; keine Arznei gewährt ihm den benötigten Schlaf, so daß er bedenkliche Mengen Morphin einnimmt. Schwindelgefühle; mitunter ist er auf festem Boden tagelang wie seekrank.«

Endlose Aufzählungen von Symptomen waren für Breuer, der täglich zwischen fünfundzwanzig und dreißig Patienten behandelte und der nach Venedig gekommen war, um sich eine Erholung von eben diesem beruflichen Einerlei zu gönnen, weder neu noch von sonderlichem Reiz. Und doch sprach Lou Salomé mit einer Eindringlichkeit, daß er nicht umhin konnte, ihr aufmerksam zuzuhören.

»Zu Ihrer Frage, verehrtes Fräulein: Gewiß, ich bin gerne bereit, Ihren Freund zu untersuchen. Das versteht sich von selbst. Schließlich bin ich Arzt. Aber bitte, erlauben Sie mir eine Frage. Weshalb wählen Sie und Ihr Bekannter nicht den direkten Weg? Warum schreiben Sie mir nicht nach Wien und ersuchen um einen Termin?« Und mit diesen Worten sah sich Breuer nach dem Kellner um, damit man ihm die Rechnung bringen möge. Mathilde wäre angenehm überrascht, dachte er, ihn so zeitig schon ins Hotel zurückkehren zu sehen.

Doch die unerschrockene junge Frau ließ sich nicht ohne weiteres abspeisen. »Herr Doktor, ein paar Minuten noch, ich bitte Sie. Die Bedenklichkeit der Verfassung Nietzsches, das Ausmaß seiner Verzweiflung, sie lassen sich gar nicht genug betonen.«

»Ich will es Ihnen gern glauben. Doch ich muß Sie abermals fragen, Fräulein Salomé: Weshalb konsultiert mich Herr Nietzsche nicht in Wien? Oder einen Arzt in Italien? Wo hält sich Ihr Freund auf? Kann ich Ihnen vielleicht mit der Empfehlung eines Kollegen in seiner Heimatstadt dienen? Weshalb kommen Sie zu mir? Woher wußten Sie überhaupt, daß ich in Venedig bin? Und daß ich ein Freund der Oper und Verehrer Wagners bin?«

Lou Salomé zeigte keinerlei Verlegenheit. Sie lächelte, als Breuer sie mit Fragen zu überschütten begann, und ihr Lächeln wurde um so schelmischer, je mehr Fragen es wurden.

»Fräulein, Sie lächeln, als hüteten Sie ein Geheimnis. Sie lieben wohl Rätsel!«

»Fragen über Fragen, Doktor Breuer. Erstaunlich. Da unterhalten wir uns gerade erst wenige Minuten miteinander, und schon gibt es zahlreiche, verwirrende Fragen. Das läßt Gutes hoffen für künftige Gespräche. Lassen Sie mich Ihnen Näheres über unseren Patienten berichten.«

Unseren Patienten! Während Breuer nur erneut über ihre Kühnheit staunen konnte, fuhr Lou Salomé fort: »Nietzsche hat die medizinischen Möglichkeiten in Deutschland, der Schweiz und Italien erschöpft. Kein Arzt war imstande, sein Leiden zu bestimmen oder seine Symptome zu lindern. In den vergangenen vierundzwanzig Monaten hat er, seiner eigenen Darstellung nach, ebenso viele der besten Ärzte Europas konsultiert. Er hat Heimat und Freunde verlassen, er hat seine Dozentur aufgegeben. Er ist zum rastlosen Wanderer geworden, beständig auf der Suche nach einem erträglichen Klima, nach ein, zwei Tagen Erlösung vom Schmerz.«

Die junge Frau schwieg einen Moment lang, hob ihre Tasse an die Lippen und nippte, indes sie Breuers Blick gefangenhielt.

»Verehrtes Fräulein, zwar suchen mich häufig Patienten in ungewöhnlicher oder unerklärlicher Verfassung auf, aber in aller Offenheit: Wunder kann ich nicht vollbringen. In einem Falle wie diesem – Blindheit, Kopfübel, Schwindel, Gastritis, Schwäche, Schlaflosigkeit –, in welchem viele ausgezeichnete Kollegen konsultiert und für machtlos befunden worden sind, besteht kaum Aussicht, daß ich mehr erreichen könnte, als der fünfundzwanzigste hervorragende Arzt in ebenso vielen Monaten zu werden.«

Breuer lehnte sich zurück, zog eine Zigarre hervor und zündete sie an. Er blies dünne blaue Rauchschleier aus, wartete, bis sich der Dunst verzog, und fügte hinzu: »Wie dem auch sei, ich wiederhole mein Angebot, Professor Nietzsche in meiner Ordination zu empfangen. Es ist jedoch durchaus möglich, daß Diagnose und Heilung eines solch hartnäckigen Leidens wie des seinen die Möglichkeiten der Medizin des Jahres achtzehnhundertzweiundachtzig übersteigen. Vielleicht ist Ihr Freund um eine Generation zu früh geboren.«

»Zu früh geboren!« Sie lachte. »Eine hellsichtige Bemerkung, Doktor Breuer! Wie oft habe ich Nietzsche eben diese Ansicht äußern hören! Das überzeugt mich restlos davon, daß Sie der richtige Arzt für ihn sind.«

Trotz seiner Aufbruchsstimmung, und trotzdem er im Geiste Mathilde voller Ungeduld im Hotelzimmer in Straßenkleidung auf und ab schreiten sah, war Breuer plötzlich ganz Ohr. »Das müssen Sie mir erklären!

»Er selbst bezeichnet sich oft als ›posthumen Philosophen‹ einen Philosophen, für den die Welt nicht reif ist. Stellen Sie sich vor, im neuen Werk, an dem er arbeitet, dreht es sich eben darum: Ein Prophet, Zarathustra, vor Weisheit übergehend, will den Menschen die Erleuchtung bringen. Doch es versteht ihn keiner. Die Menschen sind nicht reif für ihn, der Prophet muß erkennen, daß er zu früh gekommen ist, und kehrt in die Einsamkeit zurück.«

»Fräulein, was Sie sagen, ist sehr interessant – ich habe ein Faible fürs Philosophieren. Doch meine Zeit ist heute knapp bemessen, und eine klare Antwort auf die Frage, weshalb Ihr Freund mich nicht in Wien aufsuchen will, haben Sie mir vorenthalten.«

»Doktor Breuer.« Lou Salomé blickte ihm direkt in die Augen. »Verzeihen Sie, wenn ich dunkel spreche oder zu umschweifig. Immer habe ich mich gern in der Gesellschaft großer Geister gewußt – sei’s, weil ich selbst ihrer als Mentoren bedarf, sei’s, weil ich sie einfach gern ›sammle‹. Es ehrt mich, mich mit einem Manne Ihres Tiefsinns und Ihres Horizonts unterhalten zu dürfen.«

Breuer spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten und schlug die Augen nieder, als sie fortfuhr:

»Ich will damit andeuten, daß ich mich möglicherweise der Umschweife schuldig mache, um unser Gespräch in die Länge ziehen zu können.«

»Noch einen Kaffee, Fräulein Salomé?« Breuer winkte den Kellner herbei und orderte zudem noch von den köstlichen Frühstückshörnchen. »Haben Sie jemals über den Unterschied zwischen deutscher und italienischer Backkunst nachgedacht? Erlauben Sie mir, Ihnen meine Anschauung über die Übereinstimmung zwischen Brot und Nationalcharakter darzulegen.«

 

Breuer eilte also nicht an Mathildes Seite zurück. Während er in Gesellschaft Lou Salomés gemächlich frühstückte, wurde er der Ironie der Situation inne. War es nicht seltsam, wie er, der er nach Venedig geflohen war, um das Unheil wiedergutzumachen, welches eine schöne Frau angerichtet hatte, hier nun im Tête-à-tête mit einer noch reizvolleren Frau beisammensaß? Es fiel ihm außerdem auf, daß er sich zum erstenmal seit Monaten frei fühlte von den um Bertha kreisenden Zwangsvorstellungen.

›Vielleicht‹, sinnierte er, ›besteht ja doch noch Hoffnung. Vielleicht gelingt es mit Hilfe dieser Frau, Bertha von der Bühne meines Bewußtseins abzudrängen. Könnte ich gar eine psychologische Entsprechung zur pharmakologischen Substitutionstherapie entdeckt haben? Mit einer harmlosen Droge wie Baldrian läßt sich eine gefährlichere wie Morphin ersetzen. Entsprechend mit Lou Salomé Bertha – was bedeutete dies für einen erfreulichen Fortschritt! Diese junge Frau ist gereifter, geformter. Gegen sie ist Bertha – wie soll ich sagen – sexuell unterentwickelt, femme manqué, ein in einem Frauenkörper gefangenes, ungelenkes Kind.‹

Und doch wußte Breuer sehr wohl, daß es gerade die vorsexuelle Unschuld Berthas war, die ihn anzog. Beide Frauen erregten ihn, der bloße Gedanke an sie erzeugte Hitze in seiner Lendengegend. Und beide Frauen jagten ihm Angst ein, beide waren gefährlich, jede auf ihre Weise. An Lou Salomé erschreckte ihn ihre Macht, das, was sie ihm anzutun vermöchte, bei Bertha hingegen war es die Duldsamkeit, das, was er ihr anzutun vermöchte. Er schauderte, als er daran dachte, wie nahe er mit Bertha dem Abgrund gekommen war, wie nahe er daran gewesen war, die Grundregeln der ärztlichen Ethik zu verletzen, sich und seine Familie ins Verderben zu stürzen, sein Leben zu ruinieren.

Indessen aber war er so ins Gespräch vertieft und so in den Bann seiner jungen Frühstücksgefährtin geschlagen, daß zuletzt sie diejenige war, die wieder auf die Krankheit ihres Freundes zu sprechen kam – genauer, auf Breuers Bemerkung über medizinische Wunder.

»Ich bin einundzwanzig Jahre alt, Herr Doktor, und ich glaube nicht mehr an Wunder. Der Mißerfolg Ihrer vierundzwanzig achtbaren Kollegen kann nur bedeuten, daß wir die Grenzen des heutigen medizinischen Wissens erreicht haben, darüber bin ich mir im klaren. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bilde mir nicht ein, Sie vermöchten Nietzsches körperliche Gebrechen zu heilen. Nicht aus diesem Grunde habe ich mich an Sie gewandt.«

Breuer betupfte sich Schnurrbart und Bart mit der Serviette. »Verzeihen Sie, wertes Fräulein, nun bin ich vollends perplex. Soviel ich aus Ihren Worten ersehe, haben Sie um meine Hilfe gebeten, weil Ihr Freund krank sei.«

»Nein, Doktor Breuer, ich sprach von einem Freunde, der verzweifelt ist und der Gefahr läuft, seinem Leben ein Ende zu machen. Es ist Nietzsches Verzweiflung, die ich Sie zu heilen bitte, nicht seinen Körper.«

»Aber Fräulein, wenn doch Ihr Freund über seine gesundheitliche Verfassung verzweifelt ist und ich keine medizinische Abhilfe bieten kann, dann ist nichts zu machen. Ich kann nichts ersinnen für ein krank Gemüt.«

Breuer deutete Lou Salomés Kopfnicken als Wiedererkennen der Forderung Macbeths an seinen Arzt und sprach weiter: »Fräulein Salomé, es gibt keine Arznei gegen die Verzweiflung, keinen Arzt für die Seele. Ich kann wenig mehr tun, als eine Reihe ausgezeichneter Heilbäder in Österreich oder Italien zu empfehlen. Oder eine Unterredung mit einem Priester oder anderen gläubigen Ratgeber, vielleicht einem Angehörigen oder einem Freunde und Vertrauten.«

»Doktor Breuer, ich weiß, daß Sie mehr tun können. Ich habe einen Spion. Mein Bruder Jenia ist Medizinstudent und hat Anfang des Jahres in Wien bei Ihnen gehört.«

Jenia Salomé! Breuer überlegte angestrengt, ob er den Namen je vernommen hatte. Es gab so viele Studenten.

»Von ihm erfuhr ich, daß Sie Wagner lieben, daß Sie eine Woche im Hotel Amalfi in Venedig zu verbringen gedächten und auch, woran ich Sie erkennen könnte. Allem voran aber war er derjenige, von dem ich hörte, Ihre Heilkunst erstrecke sich sehr wohl auf die Verzweiflung. Im Sommer des Vorjahres besuchte er ein Kolleg, bei welchem Sie über Ihre Behandlung einer jungen Frau sprachen, einer gewissen Anna O., einer Patientin, die tiefer Verzweiflung anheimgefallen war und welche Sie mit einer neuen Methode behandelten, einer ›Redekur‹, einer auf der Vernunft beruhenden, mit dem Entwirren vermengter gedanklicher ›Assoziationen‹ befaßten Kur. Jenia meinte, Sie seien der einzige Arzt in Europa, der sich tatsächlich auf eine Behandlung der Psyche verstünde.«

Anna O.! Breuer schrak bei der Erwähnung des Namens zusammen, und er verschüttete Kaffee, als er zitternd seine Tasse an die Lippen hob. Er trocknete sich die Hand möglichst unauffällig mit der Serviette ab und hoffte, Fräulein Salomé habe sein Ungeschick nicht bemerkt. Anna O.! Unfaßlich! Wohin er sich auch wandte, überall stieß er auf Anna O. – sein Deckname für Bertha Pappenheim. Aufs peinlichste diskret, benutzte Breuer niemals die wirklichen Namen von Patienten, wenn er seinen Studenten Fälle vorstellte. Statt dessen bildete er ein Pseudonym, indem er die Initialen der Patienten um einen Buchstaben weiter zum Anfang des Alphabets hin verschob, also B. P., Bertha Pappenheim, zu A. O. oder Anna O.

»Jenia war tief von Ihnen beeindruckt, Doktor Breuer. Er schilderte mir Ihr Kolleg und Ihre Behandlung der Anna O. nicht ohne zu beteuern, wie er es als Gnade empfinde, vom Lichte eines solchen Genies gestreift worden zu sein. Und Jenia ist wohlgemerkt kein leicht zu beeindruckender Jüngling. Nie zuvor hatte ich ihn so reden gehört. Ich beschloß, eines Tages Ihre Bekanntschaft zu machen, vielleicht bei Ihnen zu studieren. Dieses unbestimmte ›eines Tages‹ nahm eine neue Dringlichkeit an, als nun Nietzsches Verfassung im Laufe der letzten zwei Monate immer bedenklicher wurde.«

Breuer blickte sich um. Viele Gäste waren aufgebrochen, indes er noch immer hier saß, auf der Flucht vor Bertha, und sich mit einer außergewöhnlichen Frau unterhielt, welche erstere ihm zugeführt hatte. Ein Frösteln befiel ihn. Wäre er denn niemals vor Bertha sicher?

»Fräulein«, hob Breuer an und mußte sich räuspern, ehe er fortfahren konnte: »Der Fall, den Ihr Bruder Ihnen schilderte, war eben dies und nicht mehr: ein Einzelfall, bei dem ich eine äußerst ungesicherte, experimentelle Methode erprobte. Es besteht keinerlei Grund zu der Annahme, daß die nämliche Methode Ihrem Freund helfen könnte. Im Gegenteil, es besteht aller Grund zu der Annahme, daß sie es nicht täte.«

»Weshalb, Doktor Breuer?«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen aus Zeitnot nicht ausführlich antworten. Nur soviel: Die Leiden von Anna O. und Ihrem Freund unterscheiden sich stark voneinander. Anna O. war Hysterika und litt an gewissen Gebrechen, die Ihr Bruder Ihnen beschrieben haben wird. Meine Methode bestand darin, Schritt für Schritt alle Symptome aufzulösen, indem ich der Patientin unter Hypnose dazu verhalf, sich an das vergessene psychische Trauma zu erinnern, aus welchem das Symptom entsprungen war. Sobald der eigentliche Anlaß ausgemacht war, verschwand das Symptom.«

»Gesetzt, Doktor Breuer, wir betrachteten die Verzweiflung als Symptom. Könnten Sie nicht ebenso verfahren?«

»Die Verzweiflung ist kein klinisches Symptom, Fräulein, sie ist zu vage, zu wenig faßbar. Jedes der Symptome von Anna O. zeigte sich an einem ganz bestimmten Körperteil, jede Störung wurde durch das Abströmen intrazerebraler Erregung über bestimmte Nervenbahnen verursacht. Ihrer Beschreibung zufolge ist hingegen die Verzweiflung Ihres Freundes rein ideogener Natur. Für diese Gemütsverfassung ist keine Behandlungsmethode bekannt.«

Zum erstenmal wirkte Lou Salomé unsicher. »Aber, lieber Herr Doktor ...« Erneut bedeckte sie seine Hand mit der ihren. »Vor Ihrem Versuche mit Anna O. gab es auch für die Hysterie keine psychologische Behandlung. Meines Wissens gab es nur Bäder und diese abscheuliche elektrische Therapie. Ich bin überzeugt, daß Sie – Sie vielleicht als einziger! – eine neue Therapie für Nietzsche entwickeln können.«

Unvermittelt wurde sich Breuer wieder der verstrichenen Zeit bewußt. Er mußte zu Mathilde zurück. »Fräulein, ich will gern alles in meiner Macht Stehende tun, um Ihrem Freunde zu helfen. Bitte sehr, meine Karte. Ich erwarte einen Besuch Ihres Freundes in Wien.«

Sie ließ den Blick nur flüchtig auf der Visitenkarte ruhen, ehe sie sie einsteckte. »Doktor Breuer, ich fürchte, die Sache ist so einfach nicht. Nietzsche kann man nicht unbedingt – wie soll ich sagen – als willigen Patienten bezeichnen. Genaugenommen weiß er nichts davon, daß ich mit Ihnen spreche. Er ist ein sehr verschlossener Mensch und ein furchtbar stolzer Mann. Niemals würde er sich dazu verstehen können, seine Hilfsbedürftigkeit anzuerkennen.«

»Dennoch sagen Sie mir, er rede unverhüllt von Selbstmord.«

»In jedem Gespräch, in jedem Brief. Aber er bittet nicht um Hilfe. Wüßte er von unserer Begegnung, er würde mir niemals verzeihen, und ganz gewiß würde er sich weigern, Sie zu konsultieren. Selbst wenn ich ihn irgend bereden könnte, Sie aufzusuchen, würde er die Konsultation auf seine körperlichen Beschwerden beschränken. Nie, um nichts in der Welt, würde er sich in die Lage desjenigen begeben, der Sie darum bäte, ihm die Verzweiflung zu nehmen. Er hat sehr entschiedene Ansichten über Schwäche und Macht.«

Breuer verspürte Verärgerung und Ungeduld. »Soso, Fräulein, das Drama gerät vollends zum Verwirrspiel. Sie verlangen von mir, ich möchte mich mit einem gewissen Professor Nietzsche treffen, welchen Sie für einen der bedeutendsten Philosophen unseres Jahrhunderts halten, und möchte ihn davon überzeugen, wie das Leben – oder zum mindesten sein Leben  – lebenswert sei. Aber nicht genug damit, Sie verlangen, ich möchte dies bewerkstelligen, ohne daß unser Philosoph davon das geringste weiß.«

Lou Salomé nickte und sank in ihren Stuhl zurück.

»Aber wie das möglich!« rief er. »Allein das erste – jemandem die Verzweiflung zu nehmen – übersteigt an sich schon die Möglichkeiten der Medizin. Und gar Ihr zweites Anliegen – daß der Patient unter der Hand behandelt werde – verweist das gesamte Unternehmen ins Reich des Phantastischen. Womöglich bestehen weitere Hemmnisse, die Sie verbergen? Womöglich spricht Professor Nietzsche nur Sanskrit, oder er weigert sich, überhaupt seine Einsiedelei in Tibet zu verlassen?«

Breuer schwamm der Kopf. Als er aber Lou Salomés belustigten Gesichtsausdruck bemerkte, riß er sich zusammen. »Im Ernst gesprochen, Fräulein Salomé, wie sollte ich das Unmögliche vollbringen?«

»Sehen Sie, Doktor Breuer! Sehen Sie nun, weshalb ich Sie aufgesucht habe und keinen Geringeren?«

Die Glockenschläge von San Salvatore meldeten die volle Stunde. Zehn Uhr! Mathilde würde sich mittlerweile beunruhigen. Ja, wenn Mathilde nicht wäre ... Breuer winkte erneut dem Kellner. Während sie auf die Rechnung warteten, machte Lou Salomé einen – ungewöhnlichen Vorschlag.

»Doktor Breuer, darf ich Sie morgen zum Frühstück einladen? Wie ich eingangs schon sagte, ich trage ein Teil Verantwortung für Professor Nietzsches Verzweiflung. Es gibt noch vieles, was ich Ihnen darlegen müßte.«

»Bedaure. Zwar geschieht es nicht alle Tage, daß ich von einer so reizenden Dame zum Frühstück gebeten werde, Fräulein, aber es ist mir nicht möglich, Ihre Einladung anzunehmen. Die Beweggründe für meine Reise nach Venedig lassen es unratsam erscheinen, meine Frau ein zweites Mal im Stich zu lassen.«

»Dann mache ich Ihnen einen anderen Vorschlag. Ich versprach meinem Bruder, ihn in diesem Monat noch zu besuchen. Tatsächlich hatte ich bis vor kurzem die Absicht, die Reise in Gesellschaft Professor Nietzsches anzutreten. Erlauben Sie mir, Sie bei meinem Aufenthalt in Wien noch genauer zu unterrichten. Und in der Zwischenzeit will ich mein Bestes tun, Professor Nietzsche zu bewegen, Sie offiziell wegen seines gesundheitlichen Verfalles zu konsultieren.«

Sie verließen das Café gemeinsam. Es waren nur wenige Gäste, Bummler, geblieben, die Kellner stellten bereits Tische und Stühle zusammen. Als Breuer sich verabschieden wollte, nahm Lou Salomé seinen Arm und zog ihn mit.

»Doktor Breuer, diese Stunde war viel zu kurz. Ich bin gierig, ich möchte Ihnen gern noch mehr Zeit stehlen. Darf ich Sie zum Hotel zurückbegleiten?«

Ihre Äußerung erschien Breuer unerhört gewagt, männlich. Und doch klang die Aufforderung aus ihrem Munde passend, ungekünstelt – so, wie es im Verkehr mit den Menschen Usus sein sollte. Wenn eine Frau die Gesellschaft eines Mannes genoß, weshalb sollte sie nicht seinen Arm nehmen und bitten, ihn begleiten zu dürfen? Und doch würde keine einzige Frau seiner Bekanntschaft die Worte ausgesprochen haben. Er hatte eine vollkommen neue Art Frau vor sich. Diese Frau war frei!

»Selten habe ich so bedauert, eine Bitte ausschlagen zu müssen!« versicherte Breuer und drückte ihren Arm. »Doch ich muß zurück, und zwar allein. Meine liebe wie besorgte Frau wird am Fenster stehen und warten, und ich muß ein wenig Rücksicht auf ihre Gefühle nehmen.«

»Gewiß, aber ...« – sie entzog ihm ihren Arm und wandte sich ihm zu, unumschränkt und bestimmt wie ein Mann – » ... mich mutet Ihr ›muß‹ bleischwer und drückend an. Ich selber habe meine Pflichten auf eine einzige zusammengestrichen: die, meine Freiheit zu wahren. Die Ehe mit ihrem ganzen Gefolge von Besitzdenken und Eifersucht versklavt den Geist. Hiervon will ich nie die Beute werden. Ich hoffe, Doktor Breuer, es wird eine Zeit kommen, da weder Männer noch Frauen sich mehr zu freiwilligen Opfertieren ihrer gegenseitigen Schwächen herabwürdigen.« Sie wandte sich mit dem gleichen Aplomb, welcher ihr Erscheinen gekennzeichnet hatte, zum Gehen. »Adieu, Doktor Breuer. Bis zum Wiedersehen in Wien.«