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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
(UMFRAGE)
II
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
III
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Copyright

AUTOR: Mikael Niemi, Jahrgang 1959, wuchs im hohen Norden Schwedens in Pajala auf, wo er heute noch lebt. Im Jahr 2000 erschien sein erster Roman »Populärmusik aus Vittula«, für den er den angesehenen »Augustpreis« bekam. Es war das spektakulärste Debüt, das Schweden je erlebt hatte. Das Buch stand monatelang auf Platz 1 der Bestsellerliste, verkaufte sich rund eine Million Mal und wurde in 24 Sprachen übersetzt. »Der Mann, der starb wie ein Lachs« ist sein dritter Roman.

 

 

 

Mehr Informationen zum Autor unter: www.mikael-niemi.de

1

Die Morgenmaschine aus Stockholm war fast voll besetzt, als sie auf der riesigen Frachtfluglandebahn des Kallax-Flughafen kurz vor Luleä landete. Im Passagiergewimmel gab es drei Personen, die nicht den Langzeitparkplatz oder den Flughafenbus ansteuerten, sondern sich durch das Terminalgebäude bis zu Gate 5 ganz hinten begaben. Im Gegensatz zu den ersten vier Gates lag dieses auf ebener Erde, und statt durch die riesigen Saugrohre an Bord zu gehen, mussten die Passagiere einen kurzen Spaziergang im Freien unternehmen, zu dem kleinen Propellerflugzeug mit neun Sitzplätzen, das auf dem juliwarmen Asphalt wartete. Das Flugzeug 8N402, unterwegs zur Nordkalotte, hob fahrplanmäßig kurz nach zehn Uhr vormittags mit Ziel Pajala ab. Die beiden Piloten und die drei Passagiere spürten, wie die Maschine sich mit wiegendem Ruckeln durch die Morgenthermik arbeitete. Rechts unter ihnen zeigte sich kurz das Zentrum von Luleä, eine dicht bebaute Halbinsel am Meeresrand, umgeben von Buchten und Sonnengefunkel. Im Meer war eine Unzahl von bewaldeten Inseln und kleinen weißen Dreiecken der Sommersegelboote zu sehen, auf dem Weg hinaus in den nordbottnischen Schärengürtel. Nur gut hundert Kilometer weiter entfernt, momentan im Sonnennebel nicht auszumachen, lag Finnland. Der Pilot schaltete, schwenkte in die richtige Richtung und kletterte weiter hinauf auf die Flughöhe von 18000 Fuß, gut 5000 Meter. Wollige Kumuluswolken zogen am Fenster vorbei, während das Flugzeug seinen Weg über die in der Wettervorhersage als nördliches Inland von Norrland bezeichnete Gegend nahm.

Therese Fossnes spürte die Kälte des Kabinenfensters an ihrer Wange, während sie hingerissen über die Weiten hinwegschaute. Es war ihr erster, alles bestimmender Eindruck. So schrecklich viel Wald. Sie hatte versucht, sich die norrländische Taiga vorzustellen, von ihr fantasiert, und jetzt sah sie sie zum ersten Mal mit eigenen Augen. Von allen Seiten. Ein dunkelgrüner Flickenteppich, ein Riesenwasserfall. Moosgrün. Nadelgrün. Zum Horizont immer blauer werdend, und hier und da blitzten Teiche und Waldseen auf. Entlang dahinschlängelnden Wasserzügen bahnten sich Straßen durch die Ebene. Und ab und zu, als wären sie zu schüchtern, waren vereinzelte Hausgruppen zu erkennen. Unbedeutende norrbottnische Orte. Viel zu klein für diese unfassbare Landschaft. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, dort unten zu leben. Ausgesetzt in dieser Ödnis. Ein einsames Mädchen, das ruft. Das durch die Sümpfe schlendert und auf etwas Abwechslung hofft.

Nein, sie war Städterin. Sie war zu festgelegt, es gab so viel anderes im Leben als den Wald.

Therese öffnete die apfelsinenfarbene Plastikmappe mit dem Emblem des Landeskriminalamts und las noch einmal das Fax mit den Namen der lokalen Polizeibeamten, mit denen sie zusammenarbeiten sollte. An den Rand kritzelte sie ein paar Anmerkungen. Es ging darum, von Anfang an das Kommando zu übernehmen, Kompetenz zu zeigen. Für die da oben war sie nur eine blondierte Null, sie musste zubeißen, falls sie Schwierigkeiten machten. Sie sah jünger aus als ihre 33 Jahre. Einige dieser Schnauzer glaubten, das ausnutzen zu können. Besonders die Polizisten. Es gab wenige Berufsgruppen in diesem Land, die machogeprägter waren, vielleicht noch die Staatsanwälte. Aber mit der Zeit lernte man dazu. Man achtete darauf, dass die Krallen geschärft blieben.

Nach einem halbstündigen dröhnenden Flug senkte das Flugzeug seine Nase und näherte sich den Baumwipfeln. Sie konnte nirgends eine Landebahn entdecken, nur Waldwege. Ihr Mund wurde trocken, ein Schutzreflex. Adrenalin. Die beiden anderen Passagiere beugten sich vor und zeigten hinaus, ein gemütliches Rentnerehepaar, das sie bereits im Flugzeug aus Stockholm gesehen hatte. Die Frau sagte etwas Unverständliches. Die Worte drangen durch den Motorenlärm, waren aber nicht zu verstehen. Der Mann gab etwas ebenso Wunderliches zurück, am Tonfall war zu erkennen, dass er ihr zustimmte.

Und jetzt erst begriff Therese. Es war Finnisch. Sie hatten Finnisch miteinander gesprochen.

Mit einem kurzen Gummikreischen traf das Flugzeug auf der Erde auf und brauste schaukelnd weiter, während die Geschwindigkeit gebremst wurde. Ziel war das kleine Flughafengebäude, umgeben von hohen Kiefern. Pajala stand kurz und knapp auf der Fassade. Zwei Männer in gelben Sicherheitswesten schoben eine Gepäckkarre vor sich her, schlossen dann die Kabinentür ganz hinten auf und klappten die eingebaute Treppe aus. Sie kletterte hinunter und spürte ihre Blicke. Schweigende Neugier, ein wenig aufdringlich. Sie ging über den Asphalt und registrierte den Geruch nach Waldhitze, trockener, dampfender Wildnis. Eine Tür im Gebäude wurde aufgeschlagen, und ein langer, grauhaariger Polizeibeamter in Uniform kam heraus und streckte ihr die Hand entgegen. Sein Gesicht verzog sich zu einem runzligen, leicht schüchternen Lächeln.

»Willkommen«, begrüßte er sie. »Willkommen im Tornedal.«

Das klang steif und eingeübt. Er musste es den ganzen Morgen wiederholt haben. Therese holte ihre eingecheckte Reisetasche, bevor sie in sein von der Sonne aufgeheiztes Dienstauto stiegen und durch den Wald zur Stadt hin fuhren. Eino, wie der Polizist hieß, saß die meiste Zeit schweigend da und nahm eine auffallend entspannte Haltung ein. Er ist es gewohnt, Auto zu fahren, dachte sie. Lange Ausfahrten mit viel Zeit für eigene Gedanken. Doch plötzlich bremste er scharf.

»Piru ...«

Pi ... roo ..., wiederholte sie wortlos das Wort. Gleichzeitig kreuzten die Tiere die Fahrbahn ohne jede Eile, grau wie Steine. Die Geweihspitzen wogten, während sie sich daran machten, das Gras im Graben zu fressen.

»Rentiere?«, fragte sie.

»Du bist hier in Tornedal«, bestätigte er.

Er hat Finnisch gesprochen, dachte sie und wollte sich das merken. Rentiere hieß piru. Ihr Fotoapparat lag in der Tasche im Kofferraum, aber sie wollte ihn nicht bitten, anzuhalten. Es wäre zu peinlich gewesen. Sie würde später herfahren und fotografieren. Das wäre wirklich etwas, um es Doris zu mailen.

 

Das Gerichtsgebäude von Pajala war ein wuchtiges rotes Ziegelgebäude, das auf einer kleinen Anhöhe mitten in der Gemeinde stand, umgeben von Birken und Ebereschen inmitten eines Rasens. Mo – Fr 9–12, 13–15 Uhr war auf einem Schild an der Eingangstür aus dunklem Holz zu lesen. Therese wurde von Eino zu einem Büroraum gebracht, der schnell eingerichtet worden war, ein Schreibtisch, ein Telefon, eine elektrische Schreibmaschine aus den Achtzigern.

»Dein Dienstwagen«, sagte eine Stimme.

Ein Schlüsselbund fiel auf die Tischplatte. Sie drehte sich um und begegnete einem kurzen Lächeln, hellblondes Haar, militärisch kurz geschnitten, ein gestutzter Schnauzer und kräftige Kiefermuskeln. Sein Handschlag war sehr fest, als wollte er seine Unsicherheit verbergen.

»Sonny Rantatalo«, stellte er sich vor, »Polizeianwärter. Svedberg hast du ja schon kennen gelernt.«

Eino Svedberg war der Grauhaarige, der sie abgeholt hatte. Sie setzten sich alle drei in einen kleinen Konferenzraum, der nach altem Klassenzimmer roch. Ein Fenster stand einen Spalt offen, dennoch war es warm und feucht.

»Ja, also, ich bin Therese Fossnes, von der Kriminalpolizei.«

Eino schaute schweigend auf den Tisch. Sonny erwiderte ihren Blick und versuchte ungerührt auszusehen. Aber die zuckenden Wangenmuskeln verrieten seine Nervosität.

»Als Erstes möchte ich den Tatort sehen«, sagte sie. »Die Spurensuche ist sicher noch damit beschäftigt?«

»Ja, sie sind gestern aus Luleä gekommen.«

»Habt ihr schon die Nachbarn befragen können?«

»Ja, einige. Mehrere sind verreist, sitzen sicher in ihren Sommerhäusern.«

»Und die Frau, die die Leiche gefunden hat?«

»Rauha Jauhojärvi, sie arbeitet als Haushaltshilfe für die Gemeinde. Sie ist heute zu Hause, krank geschrieben. Wir haben mit ihr gesprochen, aber sie war nicht in der Lage, viel zu sagen.«

Sonny war derjenige, der ihre Fragen beantwortete, während er gleichzeitig eine Schreibtischunterlage zurechtschob, bis sie genau parallel zur Tischkante lag. Anschließend wandte sie sich direkt an Eino, um ihn ins Gespräch einzubeziehen.

»Habt ihr irgendwelche Zeugen gefunden?«

»Nun, das kommt ganz darauf an ...«

»Worauf?«

»Das Ganze scheint ja am Wochenende passiert zu sein. Und es war ein ganz besonderes Wochenende. Wenn man es so sagen kann.«

Er sprach langsam, fast übertrieben korrekt. Als suche er nach Worten, drehe und wende er jedes einzelne, bevor er sich traue, sie zu benutzen. Dabei war ein deutlicher Akzent zu hören, eine finnische, singende Sprachmelodie.

»Wenn man was sagen kann?«

»Pajala-Markt. Am Wochenende fand der Pajala-Markt statt.«

»Und?«

Jetzt mischte sich Sonny ein.

»Ja, du bist nicht von hier. Das ist der größte Sommermarkt vom Norrbotten, mehr als dreißigtausend Besucher. Die Leute kommen aus dem ganzen Land, sogar aus dem südlichen Schweden.«

»Alle, die weggezogen sind«, ergänzte Eino.

»Der Pajala-Markt ist ein Wahnsinnsgetümmel«, fuhr Sonny fort, »mit Leuten und Marktständen überall. Die ganze Stadt ist voll. Da wird es nicht so leicht sein, die Nadel im Heuhaufen zu finden.«

»Deshalb bin ich ja hier«, erwiderte sie kurz und stand auf. »Ich möchte um sechzehn Uhr alle Diensthabenden hier haben. Und bis dahin möchte ich eine Liste aller Zeugenaussagen, ihr wisst schon, Autos, Menschen, die in der Gegend gesehen worden sind, alles. Übrigens: Kanntet ihr das Opfer, die Stadt ist ja klein?«

»Nun ja«, sagte Eino.

»Martin Udde«, erklärte Sonny. »Ein alter Zöllner.«

»Ich hatte ab und zu dienstlich mit ihm zu tun«, bestätigte Eino. »Aber es ist lange her, dass er in Pension gegangen ist.«

»Das ist ja prima, Eino. Mach mir doch eine Aufstellung von allem, was du weißt. Familie, Angehörige, sein Bekanntenkreis und so weiter. Sonny kann mit den Hausbefragungen weitermachen. Und kümmert euch weiter um diejenigen, die verreist sind. Aber als Allererstes zeigt ihr mir bitte den Tatort.«

»Der liegt in Texas.«

»Texas?«

»Das wird so genannt, das Viertel. Texas oder Der Wilde Westen.«

 

Ihr Dienstfahrzeug war ein normaler Mietwagen, der im Sonnenschein auf dem asphaltierten Hof des Gerichtsgebäudes stand. Er war heiß wie ein Backofen und strömte den Dunst von heißem Plastik aus. Sobald sie startete, hörte sie, wie die Klimaanlage sich dröhnend einschaltete. Sonny fuhr vor ihr in einem blau-weißen Dienstwagen durch das kleine Zentrum der Stadt, vorbei am Lebensmittelmarkt und dann weiter nach Texas, das, wie sich herausstellte, ein idyllisches Viertel war, irgendwann in den Sechzigern gebaut. Holzhäuser mit großen Gartengrundstücken, hochgewachsene Hecken und Ebereschen, Rasenflächen mit sonnengebräunten Kindern, Plastiktreckern und aufblasbaren Planschbecken. Die Straße, in die sie einbogen, hieß Handwerkerstraße, wie sie auf einem Schild las, und kurz darauf hielten sie vor einem gelben, eingeschossigen Klinkergebäude. Das blauweiße Plastikband der Polizei sperrte das gesamte Gelände ab. Eine Gruppe neugieriger Nachbarn hatte sich davor versammelt und verstummte, als Therese ausstieg. Ein Pressefotograf schoss eine Serie von Fotos, während sie über das Band kletterte und Sonny wieder zurück zum Revier fuhr. An der Treppe zur Eingangstür stand ein Polizeibeamter mit schwarzem Bart, ihm zeigte sie ihren Ausweis.

»Lundin«, brummte er mit einer nonchalanten Verbeugung und winkte sie vorbei. »So ein Mist, dass so etwas ausgerechnet in der Urlaubszeit passieren muss.«

»Ich weiß«, sagte sie.

»Eigentlich sollten wir alle frei haben. Außer Eino. Alle anderen sollten jetzt in ihren Ferienhäusern sitzen.«

»Ich in Barcelona«, sagte sie. »Hotel Grand Marina, Zimmer mit Whirlpool und Balkon mit Blick aufs Mittelmeer.«

»Mhm«, brummte er nachdenklich.

Sie zog sich neonlila Plastiküberzüge über die Schuhe, nahm ein Haarnetz in der gleichen schreienden Farbe und ein Paar dünne Chirurgenhandschuhe. Dann trat sie ein.

2

Das Erste, was ihr begegnete, war der Geruch, süßsauer und irgendwie rostig. Ihr kam ein Gericht in den Sinn, aber welches? Schlecht zubereitete Frühlingsrollen. Unfreiwillig registrierte sie, wie es ihr kalt den Rücken hinunterlief, das Säugetier in ihr wollte fliehen. Es war nicht gut, hier zu sein, hier lauerten Reißzähne im Schatten. Aber sie zwang sich, weiter den Flur entlangzugehen. Entdeckte bald Tropfen auf dem Boden. Dunkle, geronnene Flecken. Sie waren alle von Kreidekreisen umgeben und nummeriert. Kratzspuren zeigten, wo Proben genommen worden waren. Wachsam beugte sie sich vor, berührte vorsichtig die Blutreste mit dem Handschuh und führte die Fingerspitze an die Nase.

Ein kräftiger Blitz ließ sie zurückzucken. Unsicher kam sie hoch und wurde empfangen von einem riesenhaften Mundschutz und Spiegelgläsern einer Brille mit dicken schwarzen Plastikbügeln. Ihr erster Impuls war, sich loszureißen und wegzulaufen. Dann setzte ihr Atem wieder ein, während sie spürte, wie das Adrenalin durch ihr Herz strömte.

»Ånderman!«

Der Mundschutz wandte sich hastig ab und ging weiter ins Haus.

»Ich dachte, du wärst noch krankgeschrieben«, rief sie ihm nach, bekam aber immer noch keine Antwort. Nur ein Winken, das sagte, sie solle ihm folgen. Statt der Chirurgenhandschuhe trug er schwefelgelbe, ellbogenlange Obduktionshandschuhe. Komm, winkte er mit fast weiblich weichen Handgelenken. Komm, komm ... Sie folgte dem raschelnden pfefferminzgrünen Plastikkittel durchs Haus. Abscheuliche Farben, registrierte sie mit einem Schauder. Scheißkunstunterricht, das Schülerprojekt des Frühlings, verschönt den Alltag der Polizei. In einer Türöffnung blieb Änderman stehen und hielt ihr auch einen Mundschutz hin. Sie trat vorsichtig zu ihm, vermied sorgsam, in Blutspuren zu treten, und legte sich den Mundschutz an. Er inspizierte sie gewissenhaft, zupfte die Maske zurecht, so dass sie besser am Kinn saß, und justierte das Gummiband in ihrem Nacken. Sie ließ es mit einem leichten Gefühl der Unterlegenheit geschehen, als wäre sie ein kleines Kind. Dann richtete sie sich auf und versuchte dieses Gefühl abzuschütteln. Sog den Geruch ihrer eigenen Atemzüge durch den stickigen Fiberfilter ein, warmer Speichel, relativ teurer Lippenstift.

Sie befanden sich in einem kleinen Schlafzimmer vor einem Bett der breiteren Sorte, hundertzwanzig Zentimeter, wie sie schätzte. Kopf- und Fußteil waren aus Schmiedeeisen mit gedrehten Verzierungen. Das Bettzeug war zusammengeknüllt, das Laken weiß, der Bettüberzug zeigte ein verwaschenes Muster einzelner Sommerblumen auf einem hellgrünen Hintergrund. Jetzt waren sie von Blut durchtränkt, das dunkel geworden und geronnen war. Auch auf der Tapete befanden sich Blutspritzer, kleine Explosionen von Punkten, die nach außen hin weniger wurden – wie Magmaexplosionen bei einem Vulkanausbruch, dachte sie bei sich.

Die Leiche war inzwischen abtransportiert worden. Nur ihre Konturen waren noch da, markiert mit einem hennafarbenen Plastikband, das auf die Laken geklebt worden war. An der Längswand gab es ein Fenster und eine Tür, die auf eine verglaste Terrasse führte. Therese machte Anstalten, die Tür zu öffnen, wollte Luft hereinlassen, aber er hielt sie entschlossen zurück.

»Lass die Fliegen draußen«, befahl er.

Sie sah eine blau schimmernde Schmeißfliege eifrig herumkrabbeln und Eier zwischen irgendwelche dunklen, unförmigen Klumpen legen und sah ein, dass er Recht hatte.

Es war nicht das Schlimmste, was sie je gesehen hatte, absolut nicht. Aus den Sedimenten ihres Inneren löste sich das Bild des Minibusses bei Märsta heraus, zusammengedrückt wie eine Bierdose in einer Herbstnacht. Vor sich sah sie noch die funkensprühenden Trennschleifer des Rettungsdienstes. Wie es ihnen schließlich gelungen war, das Dach aufzubrechen. Sie hatte ihre Taschenlampe gehoben. Direkt in die Hölle geleuchtet, in einen klebrigen Wahnsinn. Und dann gesehen, wie sich etwas zu bewegen begann, wie ein Körper in dem triefenden Kindersitz mit dem Kopf zu wackeln begann. Hatte ihn dann gurgeln gehört. Als wäre ihm die Kehle zugedrückt worden, als versuchte er verzweifelt zu atmen. Oder zu weinen.

Therese schluckte das Bild hinunter. Weg, weg. Sie spürte, wie sich die Feuchtigkeit hinter der Atemmaske verdichtete, der Schweiß, das Kondenswasser. Das hier war nicht das Schlimmste, was sie je gesehen hatte, aber der Raum hatte etwas Verwestes an sich. Etwas Abstoßendes. Man wollte so schnell wie möglich fort von hier.

»Spürst du es auch?«, flüsterte Ånderman.

Sie sah ihn verwundert an.

»Den Wahnsinn«, fuhr er fort. »Das Maßlose. Alles ist irgendwie ... zu viel ...«

»Ein panischer Täter«, begann sie mechanisch herunterzuleiern.

»Nicht zu schnell, Therese, nicht zu schnell. Was siehst du? Sag mir nur, was du siehst.«

Ihr war schwindlig, als bekäme sie durch die Maske zu wenig Sauerstoff. Blinkte ein paar Mal mit den Augen. Hustete unterdrückt.

»Ein blutiges Bett«, sagte sie. »Ein ausufernder Blutfleck am Kopfende, ein konzentrierterer im Mittelteil des Bettes. Vereinzelte Flecken auf der Tapete und dem Fußboden. Ein Nachttisch mit der Abendzeitung und einem halb gelösten Kreuzworträtsel, ein Bleistiftanspitzer, ein Wasserglas mit Zahnprothese. Die Gardinen sind vorgezogen. Die Schranktüren geschlossen. Kein Zeichen von Beschädigung. Keine Mordwaffe.«

»Die steckte noch in ihm«, unterbrach Änderman sie.

Auf dem Laken sah sie die aufgeklebte Kontur eines länglichen Schaftes.

»Sie hat ihm vermutlich selbst gehört. Ich habe sie ins Labor schicken lassen.«

»Aber was war es? Eine Axt?«

»Nein«, sagte er leise. »Ein Fischspeer.«

»Ein Fischspeer?«

»Ein altes Fischereigerät. Es sieht ein bisschen so aus wie eine riesige Gabel, früher hat man damit Lachse gefangen. Wir sind uns sicher, dass es unten im Keller gehangen hat, im Partyraum.«

»Ein spontaner Mord?«, setzte Therese erneut an. »Der Täter bricht ein, wird entdeckt, er greift sich das erstbeste Gerät und sticht sein Opfer nieder.«

»Aber du hast das hier nicht gesehen.«

Änderman beugte sich zum Fußboden hinunter und deutete auf einige Bluttropfen.

»Die sind verschmiert«, sagte Therese. »Er ist reingetreten.«

»Aber fällt dir nichts daran auf? Es gibt keinen Schuhabdruck. Alle sind breit und verwischt.«

»Er hatte einen Schuhschutz.«

»Gut, Therese. Vielleicht einfach nur ganz normale Plastiktüten aus dem Supermarkt über die Füße gezogen, aber trotzdem. Er war vorbereitet. Komm mal mit, komm ...«

Änderman folgte den Blutspuren durchs Haus, bis in die Küche. Vor der Arbeitsplatte blieb er stehen. Ein rußiger, unangenehmer Dunst hing in der Luft. Änderman ließ es sie selbst entdecken.

»Der Herd ...«

Sie beugte sich verblüfft über die rußige Platte.

»Sie war eingeschaltet, als die Gemeindeschwester hereinkam. Und ein verkohltes Teil lag direkt auf der Herdplatte. Ich habe es zur Analyse gegeben, aber ich denke, dass es von ihm stammt.«

»Vom Opfer?«

»Hier lag auch noch ein Küchenmesser. Der Täter muss das Teil herausgeschnitten haben. Vielleicht direkt vor dem Tod. Hat es abgeschnitten, den Herd eingeschaltet und das Objekt direkt auf die heiße Herdplatte gelegt.«

»War es ein Körperteil?«

Ånderman schaute weg, seine Schultern waren angespannt wie immer. Als trüge er die ganze Zeit eine Last. Etwas Schweres. Ein Elternteil.

»Ich habe gehört, du hast deine Großmutter gefunden«, sagte er plötzlich.

»Ja, vielen Dank für die Hilfe. Ich besuche sie jetzt regelmäßig.«

»Sie ist wohl schon ziemlich abwesend, oder?«

»Ja, aber trotzdem. Ich hatte ja gedacht, sie sei tot.«

»Mm«, sagte er. »Mm ...«

»Und danke, dass du mich empfohlen hast«, sagte sie.

»Ich habe es immer als wichtig angesehen«, sagte er dann. »Innerhalb der Polizei. Dass Frauen weiterkommen.«

Er hustete unterdrückt. Er ist noch nicht ganz wiederhergestellt, dachte sie leicht besorgt.

Ånderman wandte sich wieder dem Herd zu, beugte sich vor und schnupperte. Schloss die Augen ein wenig.

»Aber was war es denn nun?«, fragte Therese.

Er richtete sich langsam wieder auf, wie nach einer standesgemäßen Verbeugung.

»Es war nicht mehr zu erkennen. Aber ein Organ ist dem armen Mann tatsächlich abgeschnitten worden. Du kannst ja mal raten.«

»Der Penis«, sagte sie schockiert.

Er starrte sie hinter seinem Mundschutz an. Sie konnte nicht sehen, ob er lachte.

»Nein«, sagte er. »Der Penis war es nicht.«

3

Sonny Rantatalo musste mehrere Male klopfen, bevor sie öffnete. Eine schlanke, kleine, leicht in sich zusammengefallene Frau mit müden Mundwinkeln.

»Polizei«, präsentierte er sich offiziell, obwohl er sie bereits kannte.

Rauha Jauhojärvi nickte. Ihr Gesicht war angeschwollen, als habe sie geschlafen.

»Jaksakkos sie? Schaffst du es?«

Sie nickte erneut. Drehte sich um, eilte in die Küche und begann unter großen Anstrengungen, Kaffee aufzusetzen. Er unterbrach sie und bat sie, sich an den Tisch zu setzen.

Sie hat Tabletten geschluckt, dachte er. Etwas Beruhigendes.

Mechanisch ratterte er ihre Personendaten herunter und zog gleichzeitig ein Aufnahmegerät heraus. Instinktiv beugte sie sich so weit wie möglich zum Mikrophon vor. Er registrierte es und begann zunächst einmal auf seinem feinsten Finnisch über die Hitze da draußen zu reden, über Bekannte, die er während des Marktwochenendes getroffen hatte. Sie antwortete einsilbig und begann langsam ruhiger zu werden. Nach einer Weile drückte er vorsichtig die Aufnahmetaste und wechselte ins Schwedische.

»Um wie viel Uhr bist du an Martin Uddes Haus angekommen?«

Ihre Stimme wurde tonlos, als sie anfing, Schwedisch zu sprechen. Es kostete sie Energie. Sie malte mit dem Finger Kreise auf die Tischdecke, rundherum und immer wieder rundherum, und sie erwiderte seinen Blick nicht. Es war wohl kurz nach zwei gewesen. Vielleicht zehn nach. Der Alte hatte nicht geöffnet, obwohl sie geklingelt und geklopft hatte. Schließlich war sie mit Hilfe ihres Notschlüssels hineingegangen. Sie hatte sofort bemerkt, dass es verbrannt roch. Sie war in die Küche gegangen und hatte gesehen, dass der Herd eingeschaltet war, also hatte sie die Platte ausgeschaltet.

»Der Herd war also eingeschaltet, als du hineingekommen bist?«

»Ja.«

»Erinnerst du dich noch, auf welcher Stufe der Schalter stand?«

»Wohl auf der Drei. Auf der Drei oder der Vier.«

»Bist du dir ganz sicher?«

»Er stand nicht auf der Sechs. Dann wäre die Platte rot gewesen, und so heiß war sie nicht.«

»Was glaubst du, wie lange die Platte schon eingeschaltet war?«

»Lange. Es war warm in der Küche. Und das, was drauf lag, war ja schon ganz verkohlt.«

»Wenn du die Zeit zu schätzen versuchst?«

»Na, eine Stunde bestimmt. Ich dachte, er hätte vergessen, die Platte auszuschalten. Dass er vielleicht krank geworden ist.«

»Hast du noch etwas Anderes im Haus gemacht? Fenster oder Türen geschlossen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hast du etwas sauber gemacht? Möbel verrückt oder sonst etwas?«

»Nein, alles war in bester Ordnung.«

»Ist dir etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Waren beispielsweise irgendwelche Lampen eingeschaltet?«

»Nein ... aber es hatte auf den Boden getropft.«

Er ließ sie erzählen, wie sie die Leiche gefunden hatte, ohne sie zu unterbrechen. Und mitten im Schock sah er außerdem Spuren von Anspannung. Sie war als Erste am Tatort gewesen. Der Gedanke hatte inzwischen Wurzeln in ihr geschlagen. Rauha Jauhojärvi, 60 Jahre alt, angestellt als Haushaltshilfe bei der Gemeinde von Pajala. Für lange Zeit würde sie die selbstverständliche Hauptperson an jedem Kaffeetisch sein. Vielleicht auch in die Zeitung kommen. Fifteen minutes of fame.

«Kannst du beschreiben, wie Martin Udde als Mensch war? Kanntest du ihn schon von früher?«

»Nein, kennen ist wohl zu viel gesagt. Ich wusste eigentlich nur, wer er war. Ein ungewöhnlich munterer 89jähriger, der es immer noch schaffte, alleine zu Hause zu wohnen. Wir haben bei ihm zweimal die Woche sauber gemacht und für ihn eingekauft. Mehr Hilfe brauchte er nicht, Essen kochen und sich waschen schaffte er allein.«

»Hat er sein Essen selbst gekocht? Ist das nicht ungewöhnlich für Männer seiner Generation?«

»Martin war ja Junggeselle. Er hat es sicher im Laufe der Jahre gelernt.«

»Und wie war er denn deiner Meinung nach? Als Person?«

»Ja, er war irgendwie ... gemütlich. Oder wie man es nennen soll. Wollte sich gern unterhalten und hat immer freundlich geredet.«

»Er war also nett?«

»Ja, der feinste Mensch, den man sich denken kann. Und das Saubermachen war einfach.«

»Wieso?«

»Er hielt Ordnung. Alles war an seinem Platz. Weißt du, bei einigen anderen, da sieht es manchmal aus wie der reinste Schweinestall, wenn man kommt.«

»Ich verstehe«, nickte Sonny. »Hatte er Kontakt mit Leuten? Hatte er Freunde?«

»Nein, er war wohl ziemlich einsam. Vielleicht wollte er deshalb so viel mit einem reden. Er hatte eine Schwester in Südschweden, aber ich weiß nicht, ob sie noch Kontakt miteinander hatten.«

»Hast du die Adresse der Schwester?«

»Nein, leider nicht.«

»Hatte Martin Udde vielleicht irgendwelche Feinde?«

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Überhaupt keine Feinde?«

»Nicht Martin, das kann ich einfach nicht glauben. Das muss ein Kranker gewesen sein, der das getan hat. Ein Wahnsinniger.«

 

Eino Svedberg umklammerte den Hörer und fühlte sich unwohl. Erst jetzt, mehr als einen Tag, nachdem der Mord entdeckt worden war, hatte er die nächste Angehörige des Opfers, Alice Herdepalm, erreicht. Sie sprach mit einer wohl artikulierten Altfrauenstimme, ihr Tornedal-Dialekt war schon seit langem gegen eine Art Filmschwedisch ausgetauscht worden. Wie Sickan Carlsson in einer Matinee aus den Fünfzigern.

»Sind Sie vielleicht die Schwester von Martin Udde?«

»Martin in Pajala? Ja, er ist mein Bruder. Ist etwas passiert?«

»Ich habe leider traurige Nachrichten für Sie.«

Eino berichtete so schonend wie möglich. Sie zeigte keine Gefühlsreaktion, klang eher wie gelähmt. Als habe sie nicht richtig verstanden.

»Wann haben Sie Martin das letzte Mal gesehen?«, versuchte er es.

»Ach, das muss vor zehn Jahren gewesen sein. Und Sie sagten, es gehe ihm schlecht?«

»Er ist seinen Verletzungen erlegen«, wiederholte Eino geduldig. »Er ist wie gesagt verstorben. Es tut mir leid.«

»Aber wer ...?«

»Wissen Sie, ob Ihr Bruder vielleicht irgendwelche Feinde hatte?«

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Nicht Martin.«

»Aber Sie hatten doch kaum Kontakt.«

»Man wird müde«, sagte sie langsam. »Man hat keine Lust mehr zu reisen, wissen Sie. Ich werde im November achtzig.«

Anschließend versuchte Eino ihren Sohn, Jan Evert Herdepalm, zu erreichen, sowohl unter seiner Privatnummer als auch übers Handy. Eine automatische Anrufbeantworterstimme bat ihn, eine Nachricht zu hinterlassen. Eino legte auf. Schaute durch die Fenster der Polizeiwache auf die grünenden Ebereschen, die kein Blatt rührten, und den schwindelnd blauen Julihimmel darüber. An so einem Tag sollte man am Fluss sein, dachte er. Lachse fangen.

 

Das Klinkenputzen ging den ganzen Nachmittag weiter, mit unterschiedlichem Ergebnis. Ein Nachbar ging schließlich ans Handy in seinem Ferienhaus, irgendwo am Ufer des Tärendö-Flusses. Eine andere Familie war gerade erst nach Griechenland gereist, konnte aber übers Reisebüro aufgespürt und via Hoteltelefon befragt werden. Sie waren während des Pajala-Markts daheimgewesen und hatten wie alle anderen viele Besucher und Autos im Viertel gesehen. Unter anderem einen dunklen Mercedes. Der war herumgefahren. Dunkelgrau oder dunkelblau. Therese berief eine kurze, hastig improvisierte Pressekonferenz ein für die beiden Abendzeitungen, die sich auf den Weg gemacht hatten, sowie die Norrländskan, den Norrbottenskuriren, das Haparandabladet und Nordnytt. Sie bestätigte, dass ein älterer Mann tot aufgefunden worden sei, und rief dazu auf, sich zu melden, sollte man Ende letzter Woche bzw. während des Marktwochenendes etwas Verdächtiges gesehen haben. Die Gemeindeschwester hatte den Mann das letzte Mal am Donnerstag besucht, und da war er noch wohlauf gewesen. Zwischen Donnerstagabend und Montag also. Ansonsten verriet Therese nichts, weder über die Mordwaffe noch über die Herdplatte. Der blonde Reporter vom Aftonbladet versuchte ihr Details zu entlocken, aber Therese unterbrach ihn, ohne allzu unhöflich zu erscheinen. Sie wusste, dass das Interesse ein paar Tage anhalten, dann aber abebben würde. Schließlich war Sommer, und es war nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Mädchenmord passierte. Ein nackter Frauenkörper in der Sommerfrische irgendwo im südlichen Schweden und weinende Freundinnen um brennende Fackeln auf dem Fahrradweg. Da würde ein erschlagener Greis in den Hintergrund treten, und sie konnten in Ruhe arbeiten.

Um Punkt 16 Uhr begann die Zusammenkunft im Konferenzraum. Anwesend waren Therese, Eino Svedberg, Sonny Rantatalo sowie zwei neue, durchtrainierte Kriminaltechniker aus Luleä, die beide auffallend braungebrannt und verbissen aussahen. Sie stellten sich als Petren und Dagewitz vor und waren offensichtlich gezwungen worden, ihren Urlaub abzubrechen.

»Lundin ist noch vor Ort«, teilte Sonny mit. »Die Spurensicherung wird vermutlich heute Abend mit dem Haus fertig sein. Dann fahren sie direkt nach Luleä.«

»Und Ånderman?«, wollte Therese wissen.

»Der ist vor einer Stunde abgereist.«

»Scheiße«, rutschte es Therese heraus. »Ich hatte ihn doch gebeten ...«

Ein Handy spielte plötzlich Tainted Love. Sonny kramte seinen Apparat hervor und schaltete einen winzigen Bildschirm ein. Das Armaturenbrett eines Autos tauchte auf, mit einem dichten Nadelwald hinter der Autoscheibe.

»Hier ist Ånderman«, war eine Stimme zu vernehmen. »Habt ihr schon angefangen? Ich habe mich auf den Polarkreisparkplatz einige Kilometer vor Överkalix gestellt ... hallo ...?«

»Du bist ausgezeichnet zu verstehen«, erklärte Therese trocken.

»Es ist etwas Eiliges dazwischengekommen, ich war gezwungen, noch das Flugzeug nach Stockholm zu erreichen.«

»Wir hören, Änderman.«

Sonny drehte den kleinen Bildschirm so, dass alle sehen konnten. Ånderman legte sein Handy auf das Armaturenbrett des Autos und blinzelte in die eingebaute Kameralinse. Nur seine Stirn und die dicken Brillengläser erschienen auf dem Bildschirm. Offenbar suchte er etwas in seiner Tasche, man hörte, wie er in seinen Papieren blätterte.

»Einen Augenblick noch ... Hier ist der vorläufige Bericht. Wir haben also nirgends irgendwelche Spuren eines Einbruchs gefunden. Und sämtliche Türen und Fenster des Hauses waren verriegelt. Wie ist also der Täter hineingekommen?«

»Er hatte einen Schlüssel«, vermutete Therese. »Oder einen Dietrich.«

»Oder der Alte hat ihn ganz einfach hereingelassen«, fügte Dagewitz schleppend hinzu.

»Es hat sich mittlerweile herausgestellt, dass die Garage nicht verschlossen war«, fuhr Änderman fort. »Die ist ans Haus angebaut, es gibt eine unterirdische Verbindung durch eine Kellertür. Wir können davon ausgehen, dass der Täter diesen Weg genommen hat und durch den Keller gekommen ist. Dort an der Wand des so genannten Partyraums hängt ein mächtiger Lachsspeer, den sich der Täter greift. Anschließend geht er die Kellertreppe hinauf in die Wohnung. Das Opfer wird in seinem Bett angegriffen, ohne dass wir Hinweise für einen vorangegangenen Streit hätten. Vermutlich liegt der Betreffende da und schläft. Der Zustand des Betts deutet darauf hin, dass das Opfer aufwacht und versucht, sich zu verteidigen. Es sind mehrere Stiche ausgeführt worden, in erster Linie in den Bauch, aber auch in den Brustkorb und den Kopf. Nach einer gewissen Zeit ist der Tod eingetreten, im Detail muss das der Gerichtsmediziner klären. Zu guter Letzt beendet der Angreifer das Ganze, indem er einen Körperteil herausschneidet und ihn in die Küche bringt. Hier legt er ihn direkt auf die Herdplatte, die eingeschaltet und angelassen wird.«

»Ein Körperteil?«, wunderte sich Petren.

»Wir nehmen es an«, sagte Änderman. »Es kann auch etwas anderes gewesen sein. Wir werden darauf zurückkommen, wenn wir die Reste analysiert haben. Es ist im Großen und Ganzen nur ein Kohlerest zurückgeblieben.«

»Ein Lachsspeer«, murmelte Sonny, »das ist ja krank. Der Alte ist wie ein Lachs umgebracht worden.«

»Wurde was gestohlen?«, fragte Dagewitz und spannte die Muskeln seiner würgeschlangendicken Oberarme an.

»Keine offensichtliche Beschädigung«, sagte Änderman. »Es scheint niemand in Schränken und Schubladen gewühlt zu haben. Weder elektronische Geräte noch anderes Wertvolles scheint gestohlen worden zu sein. Bis auf die Brieftasche. Die Brieftasche des Opfers haben wir nicht gefunden.«

Alle saßen eine Weile schweigend da.

»Vielleicht hatte er gar keine Brieftasche«, sagte Eino plötzlich.

»Natürlich hatte er eine Brieftasche«, widersprach Sonny.

»Nicht alle haben eine«, beharrte Eino. »Nicht alle Männer.«

»Wir haben auch seinen Führerschein nicht gefunden«, wandte Änderman ein. »Oder seine Bankkarte. Vieles deutet darauf hin, dass sie in der Brieftasche waren und dass der Täter sie mitgenommen hat.«

»Und der Körperteil«, nahm Petren das Thema wieder auf. »Du hast uns nie gesagt, welcher Körperteil fehlt.«

Alle warteten auf Änderman. Seine verschwitzte Brille starrte auf den Bildschirm.

»Mhm«, räusperte er sich schließlich. »Die Zunge. Man hat ihm die Zunge herausgeschnitten.«

 

Die Abendluft war immer noch mild, gespickt mit Hochsommerdüften. Die neuen Joggingschuhe fühlten sich ein wenig steif an, vielleicht hatte sie sie auch nur zu fest geschnürt. Therese lief in ruhigem Aufwärmtempo durch Pajalas Zentrum hinunter zum Fluss und folgte dann dem Laestadiusvägen auf das Flussufer zu, in Richtung Pylon-Brücke. Bald erhöhte sie das Lauftempo, kam in Fahrt, ging deutlich über den Durchschnittspuls. Musste alles abschütteln. Neue Energie tanken. Die Füße schlugen gegen den Asphalt, sie klangen wie zwei Tennisbälle. Die Kirche mit ihrem himmelhohen Holzturm glitt schnell auf der rechten Seite vorbei, danach folgte ein längerer Abhang, pom pom, pom pom, und dann bog sie nach links auf die Brücke ab.

Der Fluss. Das ist also der Torne älv, dachte sie. Er lag ruhig, fast weiß im Abendlicht da. Die Sonne stand immer noch hoch, obwohl es nach neun Uhr abends sein musste. Ein paar Felsen ragten am Strand empor, sie sah, wie das Wasser sie umspielte. Bewegung. Eine ständige Flucht, wie vor der Zeit. Eine breite Kühle, die ständig und stets durch die Landschaft strömte. Menschen alterten, Bäume wuchsen und verrotteten, Häuser wurden gebaut und abgerissen, immer und immer wieder im Laufe der Jahrhunderte. Aber die Zeit und der Fluss blieben sich gleich. Sich ringelndes Silber, entlang kräftigen Seidenfibern, die zu den stärksten Fäden gedreht werden konnten. Auf die man wie eine Perle aufgezogen war. Er rann ständig durch den Körper, durch den Bauchnabel. Und durch den Rücken wieder hinaus. Millionen kleiner rollender Sekunden.

Auf dem Strand hinter ihr breitete sich die abendstille Kirchengemeinde aus. Vor ihr begann der Wald. Sie wollte in ihn hinein, möglichst schnell. Doch eine Weile lief sie noch auf dem schmalen Horizontstreifen zwischen den Brückenfundamenten über die Wassermassen, während sich die Mittsommersonne langsam im Norden senkte.

Diese Landschaft hat etwas an sich, dachte sie. Sie dringt in dich ein. Sie lässt dich nicht in Ruhe.

4

Martin Udde, geboren 1917 in der Stadt Kukkola gleich nördlich von Haparanda als ältester Sohn eines Kleinbauern. Die Mutter stammte aus Finnland und konnte noch zwei Töchter zur Welt bringen, bevor sie an einer Krankheit verstarb. Martin Udde ging in Haparanda auf die Realschule, anschließend absolvierte er seinen Militärdienst bei der I 19 in Boden. Als Erster seiner Familie studierte er, und zwar am Lehrerseminar in Härnösand, und machte sein Examen zum Volksschullehrer. Einige Jahre lang arbeitete er an Schulen, in erster Linie im nördlichen Tornedal. Mit 29 Jahren ließ er sich zum Zollbeamten umschulen und verbrachte den Rest seines Berufslebens auf Grenzstationen in Karesuando, Pello und Kolari. Nach seiner Pensionierung 1980 kaufte er sich ein Haus in der Gemeinde Pajala, in dem er bis zu seinem Tod lebte. Martin Udde war nie verheiratet und hatte keine Kinder. Die mittlere Schwester verstarb bereits 1940, auch sie kinderlos. Seine Hinterlassenschaft fällt deshalb der einzigen noch lebenden Verwandten zu, der jüngsten Schwester Alice Herdepalm, momentan wohnhaft in Västeräs. Nach ihren Aussagen haben die Geschwister sich das letzte Mal vor mehr als zehn Jahren gesehen. Ihr Sohn Jan Evert Herdepalm scheint einen gewissen Kontakt zu Martin aufrechterhalten zu haben, aber der Sohn ist momentan verreist und nicht zu erreichen.«

Eino unterbrach seine Lektüre und blätterte nervös in seinen Papieren. Es war ihm anzusehen, dass es ihm nicht gefiel, vor so vielen zu sprechen, seine großen Hände zitterten, und der Stapel mit Aufzeichnungen sah verschwitzt und durchwühlt aus.

»Alice Herdepalm«, überlegte Therese. »Merkwürdiger Nachname.«

»Sicher gekauft«, nahm Sonny an. »Es gibt viele Tornedaler, die ihren Familiennamen ins Schwedische übersetzen.«

»Warum das?«

»Man will keinen finnischen Nachnamen haben. Es ist einigen peinlich ...«

Sonny brach ab, als ihm sein Kollege einfiel. Eino Svedberg, früher Palovaara, saß steif da, hustete ein paar Mal im Versuch, wieder auf sich aufmerksam zu machen, und erklärte zusammenfassend, dass es schwer sei, mehr über Martin Udde in Erfahrung zu bringen. Keiner der Nachbarn hatte näheren Umgang mit ihm gepflegt. Sie beschrieben ihn als altmodisch, in gewisser Weise pedantisch. Er hatte beispielsweise genaue Vorstellungen davon, wie sie Schnee zu fegen hatten. Oder über die Erziehung der Kinder im Viertel. Einige hatten rundheraus gesagt, dass er ein wenig anstrengend gewesen sei.

»Anstrengend«, notierte sich Therese. »Geh dem weiter nach, Sonny, such nach Kindern, über die er sich beschwert hat.«

»Es muss doch noch andere geben, die ihn kannten«, warf Petren ein. »Alte Schulkameraden, Jugendromanzen, Militärkumpane.«

»Die sind tot«, stellte Eino lakonisch fest.

»Doch wohl nicht alle?«

»Der Kerl sollte im Herbst neunzig werden. Es werden nicht viele so alt.«

»Aber ein paar Zöllner müssten doch wohl noch am Leben sein?«

»Wir werden dem nachgehen«, sagte Therese. »Petrén, übernimm du das, spür alte Kollegen auf.«

Eino hob höflich seinen Stift und schielte zu Therese.

»Ja?«, fragte sie.

»Ich kenne einen Zöllner, der mit Udde gearbeitet hat.«

»Gut, dann gib Petren seinen Namen.«

»Nun ja, das ist möglicherweise nicht so einfach ... Er redet möglichst nur Finnisch.«

»Stammt er aus Finnland?«

»Nein, er ist Schwede, aber er redet am liebsten nur Finnisch. Soll ich ihn vielleicht besser selbst übernehmen?«

»Ist er denn eingewandert?«

»Nein«, fuhr Eino geduldig fort, »er ist Tornedaler, ist hier in Schweden geboren. Aber er redet fast nur Finnisch, das tun ja die meisten Älteren ...«

»Dann ist der Mann also Schwede, lebt hier in Schweden, aber weigert sich, etwas Anderes als Finnisch zu sprechen«, fasste sie mit wachsender Verärgerung zusammen. »Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja«, sagte er. »Ungefähr so. Es handelt sich um meinen Vater.«

Eine beredte Stille breitete sich aus. Sonny räusperte sich und beugte sich ein wenig vor.

»Vielleicht kann Petren ja stattdessen mit den alten Polizeibeamten von Pajala reden. Die haben doch oft mit den Zöllnern zusammengearbeitet. Åke Niemi drüben in Laentausta lebt doch wohl noch, oder?«

»Ich hoffe, er kann Schwedisch«, bemerkte Petren nur trocken.

»Dann machen wir es so«, sagte Therese und gab sich alle Mühe, freundlich zu wirken. »Dagewitz, du versuchst diesen Neffen Jan Evert Herdepalm ausfindig zu machen. Hast du nicht gesagt, er sei verreist, Eino?«

»Stimmt.«

»Dann ruf im Hotel an.«

»Er wohnt nicht im Hotel.«

»Aber sein Handy hat er ja wohl mitgenommen, hast du seine Nummer?«

»Es gibt keinen Empfang dort.«

»Wo zum Teufel befindet er sich denn?«

»In Sambia. Am Kafue-Fluss, irgendwo im Regenwald am Lake Iteshi-Teshi.«

»Scheiße. Also im schwärzesten Afrika«, grinste Dagewitz.

Therese sah einen langen, geröteten Schweden in Tropenhelm vor sich, vor einer Gruppe bettelnder schwarzer Eingeborener hockend. Was tat er dort? Missionieren? Vom großen Erlöser sprechen, während die Dorfbewohner mit leuchtendem Weiß in den Augen verlegen grinsend unter den Fliegen hockten?

Ein Bürotelefon klingelte. Sonny ging ran. Therese wachte aus ihrem Tagtraum auf und musterte die Männer, die um den Tisch herum saßen. Männer, Kerle mit gemächlichem nördlichem Akzent. Hier ist man ja selbst im finstersten Afrika, dachte sie.

»Da ist eine Frau aus Uddes Stadtteil«, flüsterte Sonny, die Hand auf den Hörer gelegt.

»Ja?«

»Bei ihr ist jemand am Wochenende gewesen. Zwei Personen. Sie sind im Schritttempo durch die Straßen gefahren und haben ein Stück entfernt geparkt. Eine gut gekleidete Dame hat bei ihnen geklopft und um Wasser gebeten.«

»Das Auto?«

»Ein Mercedes. Dunkle Farbe.«

Therese richtete sich auf.

»Das übernehme ich«, beschloss sie schnell. »Ich fahre selbst zu ihr hinaus.«