Dieter Janz
Die Regatta der härteren Art
Mord am Biggesee
Krimi
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Impressum:
© by Verlag Kern, Bayreuth
© Inhaltliche Rechte beim Autor
1. Auflage, November 2014
Autor: Dieter Janz
Titelfoto: Dieter Janz
Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de
Lektorat: Manfred Enderle
Sprache: deutsch, broschiert
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014
ISBN: 9783957160973
ISBN E-Book: 9783957161413
www.verlag-kern.de
Cover
Titel
Impressum
Dank
Die Regatta der härteren Art
Ebenfalls in diesem Verlag erschienen
Ich bedanke mich bei Frau Simone Hüpper, die mein schwer lesbares handschriftliches Manuskript in die verwertbare digitalisierte Version verwandelt hat.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Franz-Wilhelm Schwipp für die vielen Tipps, Anregungen und die Geduld bei unseren gemeinsamen Unternehmungen, einschließlich des Besuches beim ‚Martinus-Cup‘.
Der ließ in der Tat in nächster Zeit nichts von sich hören. Auch für die Polizei war er wie vom Erdboden verschwunden. Man hätte die Bedrohung beinahe vergessen können, doch die Furcht im Unterbewusstsein der Betroffenen verhinderte dies unwiederbringlich. Die Gedanken an Kuperius kamen immer wieder hoch.
Der Plan schien nun perfekt zu sein. Seine Aufzeichnungen lasen sich fast wie das Protokoll von einem Tathergang, nüchtern und präzise. Jetzt wollen wir noch einmal die Gegend erkunden. Eine Generalprobe war kaum möglich. Als er in den unter falschem Namen geliehenen SUV einstieg, musste er grinsen. Trotz verschiedener Zwischenfälle hatte man es ihm doch im Allgemeinen leicht gemacht. Das neue Quartier zu mieten, war kein Problem gewesen. Keinen hatte seine wahre Identität interessiert.
Während er seine Runde um den Biggesee begann, dunkelte es bereits. Der Verkehr hielt sich in Grenzen. Einige Motorradfahrer nutzten die letzte Helligkeit für eine Spritztour. Die meisten fuhren eher gemäßigt, aber es gab immer wieder solche, die wie die Verrückten rasten und auf Teufel komm raus überholten. Die letzten Sonnenstrahlen waren schließlich verschwunden und Kuperius hatte die Straße für sich alleine. Er wollte die Ruhe vor dem Sturm der folgenden Tage genießen; es sollten ja wohl seine letzten sein.
Dann war der Moment gekommen, den er wie ein Ritual zelebrieren wollte. Langsam rollte er auf einen leeren, unbeleuchteten Parkplatz, hielt an und stellte den Motor ab. Während er sich in aller Ruhe in seinem Fahrersitz zurücklehnte, atmete er tief durch. Er verharrte eine Weile mit geschlossenen Augen in dieser Stellung und genoss die Stille, bis er sich vorbeugte, um die mit Stofffetzen umwickelte Waffe aus dem Handschuhfach zu holen. Das fahle Licht des Innenraumes reichte ihm vollkommen, um die Pistole freizulegen und eingehend zu betrachten. Sie im Vorfeld seiner Planungen zu besorgen, hatte ihn keine nennenswerten Mühen gekostet. Obwohl er kaum Erfahrungen im Umgang mit Schusswaffen hatte, war er absolut zuversichtlich, sie ohne Probleme einsetzen zu können. Fast zärtlich strich er über sie, als er im Rückspiegel die Scheinwerfer zweier Kräder auf sich zukommen sah, die sich dicht hinter seinem Wagen mit aufheulenden Motoren postierten. Vorsichtshalber umwickelte er seine Waffe und legte sie zügig zurück ins Handschuhfach. Es schien ihm auch angebracht zu sein, den Parkplatz wieder zu verlassen. Bei der Dunkelheit konnte er außer den blendenden Lichtern hinter sich nichts erkennen. In ihm kam die vage Befürchtung auf, dass es sich um Polizeibeamte handeln könnte, eine wahrlich unangenehme Vorstellung. Sollte ihm ein so blöder Zufall womöglich noch einen Strich durch die Rechnung machen? Noch bevor er den Motor starten konnte, setzte sich eines der Kräder in Bewegung, umrundete seinen SUV und platzierte sich genau davor. Es war mit zwei pechschwarz bekleideten Personen besetzt, die nun ohne jegliche Hektik abstiegen. Eine der beiden stellte sich vor die Beifahrertür und bedeutete ihm, die Windschutzscheibe herabzulassen.
„Ich denke gar nicht daran!“ fuhr es ihm durch den Kopf.
Inzwischen standen vier fast identische Gestalten in bedrohlicher Haltung um sein Auto herum. Kuperius ließ langsam den Arm in Richtung des Handschuhfaches gleiten. Doch bevor er die Ablage erreichen konnte, hielt der Mann vor der Windschutzscheibe bereits seinerseits eine Waffe auf ihn richtend in der Hand. Dies waren eindeutig keine Polizisten, sondern irgendwelche kleine, miese Gangster, die ihn überfallen wollten, eine geradezu groteske Situation. Der Mann versuchte die Tür zu öffnen, vergebens. Sie war verriegelt. Darauf fuchtelte er nervös mit seiner Pistole herum. Kuperius bewahrte eiskalt die Ruhe. Diese Typen hier würden ihm seine Pläne nicht durchkreuzen. Der Parkplatz war von der Straße her schlecht einzusehen. Es passierten zwar jetzt ein paar Fahrzeuge diese Stelle, aber keiner der Insassen konnte auch nur im Geringsten ahnen, was sich hier abspielte. Selbst der Schuss, der plötzlich durch die die Dunkelheit knallte, blieb weitgehend unbemerkt.
Kurze Zeit später ging bei der Feuerwehr in Attendorn ein anonymer Notruf ein. Ein Mann liege schwer verletzt auf einem Parkplatz an der L 512. Als die Rettungskräfte und die Polizei eintrafen, fanden sie eine leblose Gestalt in Motorradkluft auf dem rechten Grünstreifen neben dem Gehweg. Um ihn herum eine Blutlache und Schleifspuren. Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Es ergab sich ein äußerst merkwürdiges Bild. Der Mann war eindeutig erschossen worden. Doch man hatte ihn nicht einfach so liegen gelassen, sondern auf den Rasen gezogen und dort offenbar behutsam niedergelegt. Der Helm befand sich neben ihm und die Handschuhe lagen wie ein Kissen unter seinem Kopf. So geht ein Mörder wohl kaum mit seinem Opfer um. Für die Polizei stellte das Ganze ein bizarres Rätsel dar. Dann glaubte einer der Beamten, die Tatwaffe in unmittelbarer Nähe am Rand des Fahrstreifens gefunden zu haben. Doch das stellte sich schnell nach kurzer Begutachtung als Irrtum heraus. Es handelte sich lediglich um eine täuschend echt aussehende, mit Platzpatronen geladene Schreckschusspistole.
Obwohl das Opfer keine Papiere bei sich getragen hatte, war seine Identität schnell festgestellt. Es ging um einen polizeibekannten, schon mehrfach vorbestraften, jungen Mann. Die Liste seiner Taten umfasste wirklich üble Dinge, doch echte Gewaltverbrechen und erst recht solche mit Schusswaffen fehlten. Sie las sich eher wie die Aneinanderreihung verzweifelter Abstürze eines vom Leben Benachteiligten. Damit war den Ermittlern schnell klar, dass ihm auch diesmal das Schicksal übel mitgespielt hatte. Um den Bogen zu einem anderen Kriminalfall zu spannen, bedurfte es keiner allzu großen detektivischen Spitzfindigkeiten.
Noch bevor Spurensicherung und KTU ihre Arbeit richtig aufgenommen hatten, wurden die Kommissare vom LKA, Ehling und Pfeiffer, von dem Vorfall in Kenntnis gesetzt. Der tote Gangster war offenbar zur falschen Zeit und am falschen Ort einem weitaus größeren Kaliber von Kriminellem in die Quere gekommen.
Diesmal reagierte das LKA ziemlich schnell. Die beiden Hauptkommissare leiteten sofort eine Großfahndung ein. Ein entsprechendes Aufgebot an Polizei führte Straßenkontrollen durch, die sogar bis über die Landesgrenzen von NRW hinausgingen; leider erfolglos.
Die Nachricht von dem schrecklichen Ereignis auf dem Parkplatz machte natürlich sofort die Runde. Noch bevor die Freunde aus Münster von der Polizei darüber informiert wurden, erfuhren sie es mehrfach aus anderweitigen Quellen. Im Hotel war es das Thema Nummer 1 und die Medien berichteten ständig davon. Im ‚Literarischen Lextett‘ herrschte tiefe Betroffenheit. Das kurze Zwischenspiel scheinbarer Ruhe hatte nun also ein jähes Ende gefunden. Und das in einer völlig neuen Dimension. Zum ersten Mal war eine Schusswaffe ins Spiel gekommen, was die Angelegenheit nicht unbedingt leichter machte. So sah es natürlich auch die Kripo. Hauptkommissarin Pfeiffer versuchte zwar, im Gespräch mit ihnen beruhigende Worte zu finden, konnte aber den Ernst der Lage nicht erkennen. Sie wies auf eine erhöhte Polizeipräsenz in der Umgebung des Hotels hin und dass es für Kuperius kaum möglich wäre, unerkannt hier aufzutauchen. Trotzdem mahnte sie zur Vorsicht. Allerdings ging auch ein wenig Optimismus von ihr aus.
„Der Mann hat einen schweren Fehler begangen“, meinte sie, „das könnte ihm jetzt das Genick brechen. Ich gehe davon aus, dass die KTU herausfindet, welchen Wagen er benutzt. Am Tatort wurden etliche Reifenspuren entdeckt. Wir können dann noch gezielter gegen ihn vorgehen.“
„Noch gezielter?“, erwiderte Ronald sarkastisch. „Wie soll das denn gehen? Bisher waren doch die Erfolge ihrer Fahndung kaum zu überbieten! Der Kerl ermordet hier in der Gegend ungehindert ein Opfer nach dem anderen. Da ist es beruhigend zu wissen, dass er es auf keinen von uns abgesehen hat.“
Frau Pfeiffer überhörte seinen Zynismus geflissentlich, jedenfalls tat sie so. Ihr lagen zwar Bemerkungen wie: „Sie müssen uns vertrauen. Ich verstehe ja ihre Aufregung, doch wir geben unser Bestes …“ auf der Zunge, aber sie verkniff sich diese Worte, wohl wissend, wie zwecklos sie gewesen wären.
Daniel Echterding hielt sich indessen auffallend zurück. Nicht dass ihm auch einiges dazu eingefallen wäre. Er hatte jedoch insgeheim einen anderen Entschluss gefasst, der ja schon lange in ihm gekeimt hatte. Nun war er sich sicher, auf eigene Faust handeln zu müssen, egal was die anderen auch immer darüber dachten. Einer musste ja endlich die Initiative ergreifen. So ganz konkrete Vorstellungen fehlten ihm zwar noch, aber da würde ihm schon eine Idee kommen, dessen war er sich sicher.
Die Hauptkommissarin schien zu spüren, was in den Köpfen der Einzelnen vor sich ging. Deshalb warnte sie eindringlich davor, eigene Wege, ohne Abstimmung mit der Kripo, zu gehen. Abgesehen von der Gefahr, die von Kuperius ausging, verwies sie auf die Tatsache, dass Selbstjustiz strafbar sei.
Claudia Vechtermann verfolgte völlig andere Überlegungen, die von Zweifeln geprägt waren. Sie wollte sich nicht so recht mit den von der Polizei aufgestellten Zusammenhängen der jeweiligen Verbrechen abfinden. Das kam in ihren Augen einer Vorverurteilung gleich. Außerdem wunderte sie sich, dass das die anwesenden Juristen, allen voran Ronald mit seinen Erfahrungen, nicht genauso sahen.
Kuperius musste den Mietwagen loswerden, dessen war er sich absolut sicher. Früher oder später würde die Polizei herausfinden, dass er sich das Auto unter falschem Namen besorgt hatte. Und so ein SUV war ein auffälliges Gefährt. Warum sollte er also kurz vor Schluss das Risiko eingehen, damit erwischt zu werden? Er parkte das Auto auf einem Waldweg und spazierte zu einem an der Bigge gelegenen Ausflugslokal. Dort konnte er ungehindert eine Kleinigkeit zu sich nehmen und anschließend ein Taxi rufen.
Der SUV blieb nicht lange unentdeckt. Aber es war nicht die Polizei, die sich für das Fahrzeug interessierte. Der Wagen stellte für jemand anderen eine allzu große Verlockung dar. Bei dem unverschlossenen Auto steckte obendrein auch noch der Zündschlüssel; eine Beute wie auf einem Präsentierteller.
Daniel kehrte immer mehr in sich. Während seine Mitstreiter sich mithilfe von Gesprächen über die anstehende Regatta der härteren Art Ablenkungen von den aktuellen, weniger schönen Ereignissen verschafften, grübelte er immer intensiver über die Möglichkeiten, diesem Kuperius eine Falle zu stellen. Selbst seine Freundin Chiara kam in solchen Momenten kaum an ihn heran. Auf ihre Versuche, ihn aus seiner Gedankenwelt zu locken, reagierte er meist gereizt. Deshalb stellte sie solche Bemühungen auch bald ein, obwohl sie sich natürlich Sorgen machte. Und das nicht nur, weil sie Angst vor möglichen Gefahren hatte, die auf Daniel zukommen könnten, sondern auch, weil sein Verhalten ihre Beziehung auf die Probe stellte. Von einem besonders vertrauensvollen Umgang miteinander konnte man jedenfalls nicht mehr sprechen.
Die Spurensicherung vermochte schnelle Erfolge zu verbuchen. Es war schon erstaunlich, welche Details mithilfe moderner Technik zutage gefördert wurden. Die Informationen der Kommissare hellten die Stimmung der Gruppe deutlich auf. So hatte man unter anderem die Leihwagenfirma ausfindig gemacht, bei der sich Kuperius den SUV verschafft hatte. Folglich würde man das Fahrzeug bald finden. Insgesamt breitete sich jetzt Optimismus aus. Auch Daniel nahm dies mit Erleichterung zur Kenntnis. Aufmerksam verfolgte er, was die Kommissare Ehling und Pfeiffer zu berichten hatten; ja, er sog deren Mitteilungen geradezu wie ein Schwamm auf.
Die aufkommende Euphorie wurde schnell wieder etwas gedämpft. Die Polizei fand den Wagen tatsächlich relativ schnell, doch es kamen neue Rätsel auf. Das SUV war offenbar in den Seitenstreifen einer Straße abgerutscht und dort manöverunfähig liegen geblieben. Am Lenkrad und dem Fahrersitz deuteten Blutflecken auf einen Unfall hin. Außerdem gab es auf der Fahrbahn Reifenspuren eines anderen Fahrzeugs, die den eindeutigen Rückschluss zuließen, dass Kuperius Wagen abgedrängt worden war. Der Schweregrad seiner Verletzung ließ sich kaum bewerten; offenbar aber als keineswegs so gravierend, den Unfallort nicht verlassen zu können. Es musste also schon wieder ein unvorhersehbares Ereignis eingetreten sein, das Kuperius aus Sicht der Polizei in die Quere gekommen war.
Jetzt war es definitiv so weit. Die Regatta sollte endlich stattfinden. Doch bei Einigen des ‚Literarischen Lextetts‘ wollte keine so rechte Vorfreude aufkommen. Der Zusammenhalt schien auch nicht mehr hundertprozentig zu funktionieren, weil der eine oder andere seine eigenen Wege ging. Manchmal wusste man gar nicht, wo sich wer gerade aufhielt.
„Hauptsache, es erschienen alle pünktlich zum Start“, meinte Ronald, als Joline in einem Gespräch mit ihrem Mann ihre Bedenken über das Team äußerte.
„Das ist ja wohl auch das Mindeste, was man von unseren Leuten erwarten kann!“, erwiderte sie ein bisschen verschnupft und fügte dann deutlich weniger echauffiert hinzu: „Die äußeren Umstände lassen allerdings in der Tat zu wünschen übrig. Unser kleines Abenteuer mit dieser Regatta stand von vorneherein unter keinem guten Stern.“
„Das ist wohl wahr.“ Er nahm Joline behutsam in die Arme, bevor er weiterredete: „Wir sollten uns den Spaß aber nicht vollends verderben lassen. Kuperius wird sicher bald geschnappt werden. Dann ist der Spuk endgültig vorbei.“
Sie löste sich langsam wieder von ihm, gab ihm einen Kuss und trat ans Fenster des Hotelzimmers.
„Da draußen lauert er womöglich auf uns, versteckt sich im Wald und hat das Gebäude mit einem Fernglas im Visier. Vielleicht wartet er auf eine günstige Gelegenheit, zuzuschlagen; oder besser zu schießen.“
„Mein Gott, Joline, mal den Teufel nicht an die Wand!“ Er hatte sich neben sie gestellt.
„Ich glaube kaum, dass ihm ein solcher Coup gelingen würde. Siehst du all die unauffälligen Männer und Frauen da unten? Das sind wahrscheinlich alles Sicherheitsbeamte, die uns beschützen.“
Joline schüttelte sich ein wenig. „Irgendwie unheimlich, nicht wahr?“
Ronald lachte auf ihre Bemerkung hin. „Ich fände es noch gruseliger, wenn es dort keine Polizisten zu unserem Schutz gäbe“, hielt er dagegen.
Während er den Arm um sie legte, seufzte sie leise auf. So standen sie eine Weile in Gedanken versunken da, bis sie wieder das Wort ergriff: „Mir gehen so verschiedene Dinge durch den Kopf. Genauer gesagt, die Verhaltensweisen einiger von uns. Nehmen wir zum Beispiel Claudia. Sie scheint fast eine gewisse Sympathie Kuperius gegenüber aufzubringen, zumindest so etwas wie Mitleid. Das ist schwer nachvollziehbar.“
Ronald nickte.
„Oder Daniel Echterding“, fuhr sie fort, „obwohl er mit am wenigsten von der Sache betroffen ist, war er eine Zeit lang fest entschlossen, persönlich gegen den Kerl vorzugehen und dabei Kopf und Kragen zu riskieren.“
„Ach was! Der hat meiner Meinung nach nur eine große Klappe, will sich ein wenig wichtig machen, mehr steckt nicht dahinter.“
„Bist du dir da so sicher? Er hat sich zeitweilig ziemlich rar gemacht. Mich würde es nicht einmal wundern, wenn er herausgefunden hätte, wo Kuperius steckt.“
„Nun mach aber mal halblang, Joline! Sonst geht die Fantasie mit dir noch vollends durch.“
Joline schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Was bis jetzt alles passiert ist, hätte ich mir selbst in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Und dann befürchtest du, dass mit mir die Fantasie durchgeht?“
„Na ja, bei jedem von uns liegen die Nerven mehr oder weniger blank. Da können einem schon mal komische Gedanken kommen.“
„Du meinst wohl eher, mir können komische Gedanken kommen. Du bist dagegen jedoch gefeit.“
„Danke für dieses nette Kompliment.“
„Nein, so war das nicht gemeint. Selbstverständlich habe auch ich schon solche Überlegungen angestellt, bin aber dann zu dem Schluss gekommen, dass Daniel nicht so weit gehen würde, ich gebe allerdings auch zu, mich bei meiner Einschätzung gründlich täuschen zu können.“
„Es ist doch schon komisch“, meinte sie nach einer Weile grüblerisch, „welche Kreise das ursprünglich Iffi betreffende Problem gezogen hat.
Aus einem üblen Stalker wurde ein mehrfacher Mörder, der inzwischen eine Menge Leute in Anspannung hält.“
Ronald stimmte dem mit einem tiefen Seufzer zu.
Iffi nahm den Rummel scheinbar relativ gelassen hin. Das lag sicherlich nicht zuletzt daran, dass Jan einen beruhigenden Einfluss auf sie ausübte. Er beteiligte sich schon längst nicht mehr an irgendwelchen Diskussionen über eigenmächtige Maßnahmen gegen Kuperius. Außerdem verstand er es immer wieder, beschwichtigend auf sie einzuwirken, wenn doch mal so etwas wie Panik in ihr aufkeimte. Und sie genoss seine Beschützerrolle offensichtlich. Bei aller Zurückhaltung hatte sich Jan allerdings geschworen, im Notfall Iffi mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen, auch wenn es dabei zum Äußersten kommen sollte.
Die Veranstalter der Regatta legten noch letzte Hand am Vorstaubecken in Olpe-Kirchesohl an, um für das Event am Nachmittag optimal gerüstet zu sein. Und es schien auch alles perfekt vorbereitet zu sein. Der DLRG fuhr mit einem Boot noch einmal routinemäßig die Strecke ab, eine halbe ‚Olper Seemeile‘. Die Teilnehmer mussten das Gewässer vom Startpunkt aus der Länge nach durchqueren, dann eine markierte Wende beschreiben und schließlich wieder zurückpaddeln. Dies würde die ganze Zeit über unter den Anfeuerungsrufen der begeisterten Fans der jeweiligen Teams geschehen. Noch war es hier aber beschaulich ruhig. Kaum ein Wölkchen trübte den Himmel und es versprach ein für den Spätherbst recht warmer Tag zu werden. Doch die Idylle trügte.
Einer der DLRG-Leute entdeckte plötzlich am Uferrand der Wiese eine Gestalt, die sich dort offenbar zum Schlafen oder einfach zum Relaxen rücklings hingelegt hatte, die Arme weit von sich gestreckt. Dafür war es allerdings doch etwas zu kühl.
„Fahr mal näher ran; vielleicht geht es dem Mann nicht gut.“, forderte der aufmerksame DLRG-Retter den Bootsführer auf. „Mir kommt das ein wenig merkwürdig vor.“
Und er wurde tatsächlich in seinem Misstrauen bestätigt. Schon nach kurzer Distanz erkannte die Mannschaft, dass es sich hier um alles andere als um eine friedlich schlafende Person handelte. Doch das volle Ausmaß des Dilemmas offenbarte sich ihm erst beim Anlanden. Das Gras um seinen Kopf war blutgetränkt, die Augen hatte er weit aufgerissen. Auf der Stirn zeigte sich eine große, klaffende Wunde. Es bedurfte keines großen Fachwissens, um den Mann als Leiche einzustufen; dennoch prüfte einer der DLRG-Leute vorschriftsmäßig den Carotispuls und bestätigte den Sachverhalt durch ein kurzes Nicken, bevor er über Funk Alarm auslöste. Für sie gab es ansonsten nichts mehr zu tun, als zu warten, bis die Polizei eintraf. Das geschah auch relativ schnell.
„Sieht kaum nach einem Unfall aus.“, meinte einer der Mannschaft. „Wir sollten uns dennoch von der Leiche fernhalten, um keine Spuren zu verwischen.“
„Genau!“, erwiderte ein anderer grinsend, das überlassen wir besser der Polizei.“
Der Fundort wurde hermetisch abgeriegelt. Fast zeitgleich zu den Uniformierten traf auch die Kripo samt Spurensicherung an. Die Identifizierung des Toten stellte keine große Schwierigkeit dar und glich einer Sensation: Martin Kuperius. Der schon fast zum Phantom mutierte lag da im Gras. Schon allein seine Position ließ keine Zweifel aufkommen; das war kein Unfall gewesen.
Hauptkommissarin Katja Pfeiffer betrachtete die auf dem Rücken liegende Leiche. Ihr Gesichtsausdruck verriet keinerlei Emotionen, obwohl ihr mit Sicherheit viele Gedanken durch den Kopf rasten.
Als sich ihr Kollege Burkhard Ehling zu ihr gesellte, verlor auch er zunächst kein Wort.
„Der Tod von Martin Kuperius stellt keineswegs den Schlusspunkt dieser Angelegenheit dar“, sagte er schließlich, mehr zu sich selbst redend als zu Katja Pfeiffer!
„So ist es!“, pflichtete sie ihm dennoch bei. „Im Gegenteil. Das Wirrwarr wird immer undurchschaubarer.“
In diesem Moment trat ein Mann von der Spurensicherung zu ihnen, um erste Ergebnisse mitzuteilen:
„Der Fundort der Leiche ist wohl auch der Tatort. Es gibt keine Schleifspuren, dafür aber haufenweise Fingerabdrücke. Dummerweise latschen hier auch haufenweise Enten herum …“
„Ach, und deren Fährte ist denen von Menschen zum Verwechseln ähnlich!“, unterbrach in Ehling grinsend.
„Nein, natürlich nicht. Aber die Viecher picken wie wild herum und wühlen den Boden auf. Außerdem stößt man überall auf ihre Hinterlassenschaften und die verteilen sich. Das macht die Verwertung nützlicher Anhaltspunkte nicht unbedingt leichter. Also, ich hätte keine besondere Lust, mich hier ins Gras zu setzen.“
„Das verlangt auch niemand von Ihnen“, bemerkte Pfeiffer lakonisch.
„Sie sollen in dem Dreck nur Beweise sichern. Das reicht uns vollkommen aus.“
Diese Belehrung hätte sie sich in den Augen des Beamten ruhig verkneifen können. Jedenfalls versprühte seine Mimik nicht unbedingt Begeisterung.
„Ich glaube, ich habe die Tatwaffe gefunden!“, tönte es von ein paar Metern hinter ihnen, während dort eine Kollegin einen beachtlichen Stein in die Höhe stemmte. Sie setzte sich sogleich zu den Kommissaren in Bewegung.
„Hier! Einen Schlag mit diesem Wackerstein hält wohl der stärkste Schädel kaum aus.“ Mit diesen Worten streckte sie ihm den Stein entgegen. „Nur anschauen, nicht anfassen!“, fügte sie schnell hinzu.
Das gute Stück war blutverschmiert, sodass wohl sowieso niemand auf die Idee gekommen wäre, das Ding mit bloßen Händen anzupacken.
„Da hat sich offenbar einer nicht viel Mühe gegeben, die Tatwaffe zu verstecken.“
„Wozu auch?“, entgegnete Frau Pfeiffer ihrem Kollegen. „Auf diesem rauen Material werden sich garantiert nur sehr ungenaue Fingerabdrücke feststellen lassen, wenn überhaupt. Der Täter hat möglicherweise Handschuhe getragen.“
„Das setzt allerdings voraus, dass ein geplantes Verbrechen vorliegt, was ich sehr bezweifle.“
Sie schaute ihn verwundert an und hakte schließlich nach: „Lässt du mich vielleicht an diesen Überlegungen teilhaben? Was macht dich in der Annahme eines Totschlags im Affekt so sicher?“
„Erstens bin ich mir nicht absolut sicher. Und zweitens gibt es noch weitere Möglichkeiten außer Mord.“
„Aha. Wenn du schon dabei bist, deine dumme Kollegin zu belehren, kannst du mir vielleicht auch noch deine dir vorschwebenden Alternativen mitteilen.“
„Erstens …“
„Nein!“, unterbrach sie ihn sofort, fang nicht schon wieder mit erstens/zweitens an. Das bringt mich auf die Palme.“
„Du bist aber leicht in Rage zu versetzen. Also gut, ich beabsichtige keineswegs, dich zu belehren, sondern teile dir nur wunschgemäß meine Überlegungen mit. Was hältst du denn von Notwehr?“
Sie ruderte mit den Armen.
„Das ist doch nicht allzu schwer nachzuvollziehen. Der Mann ist …“ – mit einem Blick auf die Leiche korrigierte er sich sofort – „ ... der Mann war im wahrsten Sinne des Wortes mordsmäßig gefährlich. Was liegt also näher, dass er jemandem gefährlich wurde und der Betreffende schneller reagiert hat, als Kuperius dachte.“
„Das wäre in der Tat eine vernünftige Erklärung, aber keineswegs die einzig mögliche. In der Gruppe seiner potenziellen Opfer gab er nämlich auch Überlegungen, Kuperius in einen Hinterhalt zu locken.“
„Du denkst an einen Fall von Selbstjustiz?“
Katja Pfeiffer nickte.
„Mmh, kann man auch nicht unbedingt von der Hand weisen. Dann wäre es allerdings wirklich Mord. Auf der anderen Seite stand er seinem Widersacher gegenüber, schaute ihm also ins Gesicht.“
„Was ändert das? In seinem Gefühl der Überlegenheit hat er eben nicht mit einem Angriff gerechnet. Auf alle Fälle sollten wir unsere Regatta-Freunde mal genauer unter die Lupe nehmen. Von dem ‚Lextett‘ hat irgendwie jeder ein Motiv.“
Hauptkommissar Ehling stimmte seiner Kollegin in diesem Punkt 100%ig zu. Was nutzten alle Spekulationen ohne die entsprechenden Verhöre.
„Vielleicht sind wir der Lösung des Falls schon näher als wir glauben.“, dachte er laut nach.
Frau Pfeiffer fügte hinzu: „Wie auch immer diese Lösung aussieht, handelt es sich um eine echte Tragödie. Wir sind zwar als Kripo-Beamte zur Neutralität verpflichtet, aber der Mörder von Kuperius tut mir jetzt schon leid.“
Sie wurden in ihren philosophischen Betrachtungen von einem Polizisten unterbrochen: „Kann die Leiche abtransportiert werden?“
„Meinetwegen, wenn die Spusi damit einverstanden ist, sind wir es natürlich auch.“
„Moment noch!“, sagte Frau Pfeiffer. „Wurde bei dem Toten oder in seiner unmittelbaren Umgebung eine Schusswaffe entdeckt?“
„Wieso?“, fragte der Uniformierte erstaunt nach. „Der Mann wurde erschlagen, nicht erschossen!“
„Das wissen wir auch. Trotzdem ist die Frage der Kollegin berechtigt.“ Herr Ehling wirkte ein wenig genervt.
Es war keine Schusswaffe gefunden worden.
Der Hauptkommissar pfiff durch die Zähne. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass er ohne den Ballermann unterwegs war.“
„Ganz genau!“, stimmte ihm Frau Pfeiffer zu. „Sie wurde ihm demnach entwendet, das ist keine besonders aufmunternde Tatsache.“
Die Leiche wurde endlich abtransportiert. Die Sorge der Veranstalter, die Regatta müsste abgeblasen werden, bestätigte sich nicht. Dazu gab es seitens der Kripo keinen zwingenden Grund, da die Spurensicherung schnell und trotzdem sorgfältig gearbeitet hatte. Da gab es nichts mehr zu verwischen. Lediglich die Stelle, an der Kuperius gelegen hatte, blieb abgesperrt; ein Areal etwa im Umfang eines Grabes. Und selbst das machte keinen großartigen Sinn mehr, weil sich das auf der Wiese ansässige Federvieh nicht im Geringsten darum scherte und dort weiter seine Hinterlassenschaften ablegte, genau wie auf der übrigen Uferwiese.
Ronald und Joline waren die Ersten, die von dem Ereignis erfuhren. Frau Pfeiffer hatte sie im Hotel angerufen und dabei gleichzeitig darum gebeten, eine Zusammenkunft ihres Teams im Restaurant zu arrangieren. Die Stimme der Hauptkommissarin klang nicht unbedingt so, als wollte sie einen kleinen Plausch mit ihnen abhalten. Also machte sich Ronald auf den Weg, um alle Freunde zusammenzutrommeln. Er hielt sich nicht länger als notwendig an den jeweiligen Zimmertüren auf, zumal er mangels näherer Informationen sowieso keine Fragen beantworten konnte. Daniel Echterding machte zwar Anstalten, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber er wiegelte sofort mit dem Hinweis auf das folgende Treffen ab. Besonders glücklich wirkte Daniel allerdings nicht. Das bestätigte sich auch, als sie schließlich alle zusammen saßen.
Daniel rutschte auffallend nervös auf seinem Stuhl hin und her und suchte Ronalds Nähe. Ansonsten beteiligte er sich kaum an der Diskussion, die unweigerlich einsetzte. Die Lust auf eine Teilnahme an der für den heutigen Nachmittag geplanten Regatta hielt sich in engen Grenzen. Ronald und Joline waren diejenigen, die die anderen aufmunterten, die Flinte nicht ins Korn zu werfen.
„Wenn die Veranstaltung nicht abgesagt wird, sehe ich keinen Grund, uns davon fernzuhalten“, stellte Ronald resolut fest.
„Einer von uns wird von der Polizei wahrscheinlich als Täter verdächtigt.“ Auch wenn jeder so dachte, schreckte Daniels Bemerkung doch auf.
„Warten wir ab, bis die Kripo eintrifft“, wendete Jan ein, „es nutzt uns wenig, wenn wir uns auf Spekulationen einlassen.“
Das geschah auch in diesem Moment. Frau Pfeiffer und Herr Ehling steuerten direkt auf ihren Tisch zu, nahmen aufgebracht Platz und kamen ohne Umschweife auf das Problem zu sprechen. Der Hauptkommissar erklärte zunächst den Sachverhalt und hielt nicht hinterm Berg, dass die Ermittlungen auch einen der Anwesenden als Täter einschlossen.
„Das ist allerdings eine äußerst gewagte Theorie. Haben Sie denn konkrete Anhaltspunkte dafür?“
„Allerdings, Herr Kutscher!“ Ehlings Antwort kam sehr prompt. „Da wäre zum einen das Motiv. Sie können wohl kaum abstreiten, dass es in ihrer Gruppe leicht ist, solche Gründe zu finden.“