Für den kleinen Wirbelwind.
Du warst Teil meiner Geschichte
und somit bist Du Teil meiner Geschichte.
In meinem Herzen wirst Du immer einen besonderen Platz haben.
V.S. GERLING: „Das Kanzlerspiel“
© 2009 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Februar 2011, Edition Totengräber
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Die Geschichte „Das Kanzlerspiel“ ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit echten Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und wären reiner Zufall. Die Organisation „Gladio“ gab es allerdings tatsächlich. Ob es sie heute auch noch gibt, ist nicht bekannt.
E-Book-Version: 1.2 ISBN: 9783943876093
Lektorat: Julia Bossart
Fotografien: Jasmin Bär
Buchcover: Sabrina Fuchs
Satz & Konvertierung: Thomas Manegold & Johannes Schönfeld
V.S. GERLING
TOTENGRAEBER
Das Böse existiert. Es ist allgegenwärtig. Es begegnet uns in den unterschiedlichsten Formen und Erscheinungen. Oft erkennt man es nicht und heißt es willkommen wie einen alten Freund, bis es dann seine wahre Natur offenbart. Und dann ist es zu spät, dann reißt es uns in den Abgrund und mit uns alles, was wir je geliebt haben.
Die Vergangenheit lebt in der Gegenwart. Sie ist nicht zu sehen, aber man kann sie fühlen. Sie lebt in uns als Erinnerung. Sie vergeht nicht, sie ist uns stets gegenwärtig. Manchmal, wenn wir uns erinnern. Wir denken an verflossene Liebste, an verlorene Kinder, verstorbene Eltern. Wir errichten neue Welten, die auf den Überresten einer alten stehen.
Und manchmal entstehen Bruchstellen. Dann verschmelzen die neu errichteten Welten mit den Überresten der alten Welten und etwas sehr Altes, Böses kommt an die Oberfläche. Es ist hungrig und sucht sich sein nächstes Opfer.
Das Böse existiert.
Der alte Mann starrte gebannt auf den Bildschirm seines großen Fernsehers. Was er dort sah, konnte durchaus als historisches Ereignis bezeichnet werden. Seit mehr als einem Jahr verfolgte er nun schon das Geschehen in den Vereinigten Staaten von Amerika. Angefangen mit den Vorwahlen bis zum heutigen Tage, an dem die Wahl entschieden wurde. Zu Beginn der Vorwahlen gab es eine klare Favoritin im Kreis der demokratischen Bewerber – Jenny Rodham Stanton, die ehemalige First Lady und jetzige Senatorin des Staates New York. Sie galt als die ideale Kandidatin und war auch klare Favoritin für die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Dann gab ein junger, afroamerikanischer Senator bekannt, dass auch er sich für den Posten des Präsidenten bewerben wolle. Der in den Vereinigten Staaten von Amerika relativ unbekannte und außenpolitisch unerfahrene Senator führte einen perfekt geplanten Wahlkampf und innerhalb weniger Wochen stiegen alle Kandidaten aus dem Vorwahlkampf aus; alle, bis auf Senatorin Stanton. Was folgte, war ein Wahlkampf, wie ihn Amerika noch nicht erlebt hatte. Beide Kandidaten bewiesen Kompetenz und eine wahre Kämpfernatur. Senator Cliffords Botschaft war klar: Er versprach einen Wechsel und er sprach von Hoffnung. Senatorin Stanton stand für Erfahrung und Konstanz. Ihr Problem war, dass sie gleichzeitig für das Establishment stand, also für genau den Typ Politiker, der das Land an den Rand des Abgrunds gebracht hatte.
Die Vorwahlen endeten mit keiner klaren Entscheidung, da keiner der beiden Kandidaten über eine ausreichende Mehrheit der Delegierten verfügte, obwohl der Vorsprung von Senator Clifford kaum noch aufzuholen war. Als dann mehr und mehr einflussreiche Politiker der demokratischen Partei, sogenannte Superdelegierte, ihre Stimme Senator Clifford gaben und einige dieser Superdelegierten, die zuvor für Senatorin Stanton gestimmt hatten, in das Lager von Clifford wechselten, war das Rennen gelaufen. Senator Clifford wurde zum demokratischen Bewerber für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ernannt.
Zu diesem Zeitpunkt nahm die Idee des alten Mannes Gestalt an. Senator Clifford war jung, unverbraucht und er besaß die Fähigkeit, parteiübergreifend zu überzeugen. Darüber hinaus gelang es ihm, vor allem junge Menschen und Erstwähler zu mobilisieren. Zu keinem Zeitpunkt des Wahlkampfes, auch als die Angriffe auf ihn persönlich wurden, verlor er die Beherrschung. Stets wirkte er souverän und vor allem aufrichtig. Niemals wich er auch nur einen Millimeter von seiner Linie ab. Und nun, am 04. November hatte er es geschafft. Mit überwältigender Mehrheit wurde er zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt.
Gerade konnte er sehen, wie der republikanische Kandidat seine Niederlage eingestand. Der alte Mann griff zum Telefon und wählte eine ihm bestens bekannte Telefonnummer. Nach dem zweiten Läuten wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen.
„Ich wusste, dass du anrufen würdest“, hörte Altkanzler Albrecht seinen alten Freund sagen.
„Wir müssen uns treffen“, sagte der Altkanzler.
Eine halbe Stunde später saßen sich die beiden Freunde im Wohnzimmer Albrechts gegenüber. Der Altkanzler musterte seinen Freund nachdenklich. ‚Er hat, genau wie ich, die Nacht durchgemacht und die Wahlen verfolgt,’ dachte Albrecht, ‚aber man sieht es ihm nicht an.’ Die blauen Augen blickten klar und funkelten neugierig. Tadellos gekleidet und kerzengerade sitzend, sah sein langjähriger Freund genauso aus, wie man ihn nannte. Er sah aus wie ein Graf: dichtes, kurz geschnittenes graues Haar, ein gepflegter Oberlippenbart, groß und schlank. Er schien dem Fotoalbum des Hochadels entsprungen.
„Clifford hat es geschafft“, stellte Albrecht fest.
Der Graf nickte langsam.
„Ja, erstaunlich was der junge Mann erreicht hat“, bestätigte er. Gedankenversunken musterte Albrecht eine Stelle an der Wand hinter dem Grafen. Dann richtete sich sein Blick auf ihn.
„Wir brauchen auch einen Clifford.“
Wieder nickte der Graf langsam und ein feines Lächeln erschien auf seinem schmalen Gesicht. „Ich dachte mir schon, dass dies der Grund für unser frühes Treffen ist“, antwortete der Graf. Albrecht stand auf und ging zu einem kleinen Beistelltisch, auf dem eine Kanne und zwei Tassen standen. Er schenkte sich und dem Grafen dampfenden Tee ein, reichte seinem Freund eine Tasse und setzte sich wieder.
„Wir brauchen auch einen wie Clifford“, wiederholte Albrecht mit leiser Stimme, „einen, der Hoffnung gibt, der nicht von der Gier nach Macht angetrieben wird, sondern von dem Wunsch, das Richtige zu tun.“ Albrecht sah seinen Freund lange schweigend an.
„Ist so etwas auch bei uns möglich?“, fragte er dann. Der Graf dachte über die ihm gestellte Frage nach.
„Die kurze Antwort lautet: ‚Ja. Es ist möglich‘. Die längere Antwort lautet: ‚Grundsätzlich ist es möglich. Aber die parteiinternen Widerstände würden enorm sein. Immerhin sind wir die einzige Demokratie, in der das Volk nicht einen einzigen Volksvertreter direkt wählen kann.‘ Das bedeutet, du brauchst für einen solchen Kandidaten die Unterstützung der Partei“, erwiderte der Graf.
Das war Albrecht durchaus bewusst. Es gab eine inoffizielle Reihenfolge, die vorgab, wer welchen Posten im Falle eines Wahlsieges bekleiden sollte. Ein bis dato unbekannter Kanzlerkandidat könnte diese Rangliste durcheinanderbringen. Nein, er müsste sie durcheinanderbringen. Bei dem Gedanken, wer auf dieser Rangliste stand, schnaubte Albrecht verächtlich.
„Weber wird Amok laufen“, stellte er fest.
„Nicht nur Weber. Denk vor allem an Lohmann und Krüger. Sie werden es sein, die den größten Widerstand leisten werden.“ Albrecht nickte. Lohmann war Ministerpräsident des Landes Hessen und als möglicher Kanzlerkandidat im Gespräch. Krüger, der Ministerpräsident von Bayern, galt als sicherer Kandidat für das Außenministerium. Der Graf beugte sich vor.
„Die ganze Sache würde natürlich anders aussehen, wenn du so tätest, als würdest du mit Weber gemeinsame Sache machen.“ Der Graf grinste listig. „Was wäre, wenn du Weber vorschlagen würdest, eine Marionette zu suchen? Einen unverbrauchten und unerfahrenen Hoffnungsträger, der dann, unter der Regie von Weber und dir, die Amtsgeschäfte im Kanzleramt übernehmen würde. Weber wäre seinem Traum, Kanzler zu werden, einen kleinen Schritt näher, auch wenn er nicht offiziell Kanzler wäre. So würdest du ihn auf deine Seite ziehen. Er wiederum hat gemeinsam mit Scholl und Meinhard ungefähr zwei Drittel der gesamten Partei hinter sich. Der Rest wird sich dem Urteil der Mehrheit beugen.“
Albrecht dachte kurz nach, dann grinste auch er.
„So könnte es klappen“, sagte er leise.
„Nein, mein Freund, so wird es klappen“, meinte der Graf. Albrecht stand auf, ging zur großen Fensterfront und blickte hinaus in den verschneiten Garten. Langsam drehte er sich um und sah seinen alten Freund an. „Vier Kandidaten...”, murmelte er. „Wir brauchen mindestens vier Kandidaten.“ Der Graf hörte regungslos zu.
„Von diesen vier Kandidaten sind drei lediglich Statisten, während der vierte Kandidat der ist, den wir wirklich wollen“, ergänzte er dann und stand ebenfalls auf. Beide fingen nun an, langsam in dem riesigen Wohnzimmer Albrechts hin und herzulaufen.
„Die drei Statisten müssten typische Politiker sein, so wie Lohmann. Lass uns auf jeden Fall Lohmann nehmen. Es gibt genügend belastendes Material gegen ihn, um ihn wieder aus dem Rennen zu werfen. Aber wir brauchen ihn, um der Partei das Gefühl zu geben, dass alles mehr oder weniger seinen gewohnten Gang geht“, meinte Albrecht.
„Genau. Drei Kandidaten, derer wir uns ohne große Probleme wieder entledigen können, sodass der Vierte die einzige und logische Wahl sein muss...“
„Such mir den richtigen Mann aus. Und dann...“
„Und dann werden wir zu Kanzlermachern”, beendete der Graf den Satz.
„Willst du den Charakter eines Menschen erkennen,
so gib ihm Macht.“
Abraham Lincoln, US-Staatsmann und 16. Präsident der USA
Der Mann saß im hinteren Teil der großen Limousine und dachte nach. Der heftige Regen prasselte in einem eintönigen Stakkato auf das Autodach. Es war Winter, ein typisch deutscher Winter. Es lag kein Schnee, aber es war kalt. Ein unangenehmer Ostwind quälte die Menschen und zwang sie dazu, sich in mehrere Schichten von warmer Kleidung zu zwängen, sodass sie nicht nur froren, sondern auch wie unförmige Mumien durch die Gegend wankten. Der Wagen parkte in einer kleinen Seitenstraße ganz in der Nähe des Hotels, in dem er sich mit den anderen treffen wollte. Der Mann hatte die Augen geschlossen und ein Beobachter, der zufällig an dem Wagen vorbeiging, hätte denken können, dass er schlief. Aber der Mann war alles andere als schläfrig. Er war hellwach und sein brillanter Verstand lief auf Hochtouren. Er liebte diese Art von Vorbereitung. Ganz für sich, im Dunklen, in der Sicherheit einer gepanzerten Limousine nachzudenken, versetzte ihn in die Lage, sich auf das Äußerste zu konzentrieren. Auf diese Art hatte er schon so manche Strategie entwickelt und viele Intrigen gesponnen. Und jetzt benötigte er die totale Konzentration, denn das, was jetzt kam, stellte alles Vergangene in den Schatten. Der Plan, den er und der Graf in den letzten zwei Monaten entworfen hatten, war bis zum heutigen Tage perfekt aufgegangen. Nun kamen sie in die entscheidende Phase. Ihm war aber auch klar, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel einließen, dessen Ausgang trotz allem ungewiss war. Er seufzte und sah auf die Uhr. Die anderen warteten seit zehn Minuten auf ihn. Hans Heinrich Albrecht, Altkanzler der Bundesrepublik Deutschland, gab dem Fahrer ein Zeichen. Dieser legte sofort die Fahrstufe ein und das schwere Fahrzeug setzte sich in Bewegung.
Der Fraktionsvorsitzende Hans Weber war eine beeindruckende Erscheinung. Knapp einsachtzig groß, vollschlank, dichtes graues Haar und kalte blaue Augen in einem schmalen Gesicht, das von einer Hakennase beherrscht wurde und ihm ein wenig das Aussehen eines Geiers verlieh. In der Partei gefürchtet, von seinen Gegnern gehasst, liebte er die Macht und das Spiel mit ihr. Jetzt plante er seinen persönlichen Höhepunkt. Gemeinsam mit seinen beiden engsten Vertrauten wartete er auf Albrecht.
Sie hatten es sich in der Suite des Hotels bequem gemacht und tranken Kaffee. Links von Weber saß Hartmut Scholl, ehemaliger Verteidigungsminister. Eine kleine, unscheinbare Gestalt mit Bauchansatz und lichter werdenden dunklen Haaren. Weber gegenüber saß Klaus Meinhard, ehemaliger Innenminister im Kabinett Albrecht. Klein, schlank, schütteres Haar und ein offenes und freundliches Gesicht. Hinter der Fassade lauerte ein messerscharfer Verstand und eine gewisse moralische Flexibilität. Zusammen mit Albrecht bildeten die Vier das Herz und den Kopf der CPD. Der Partei, die seit nunmehr sieben bitteren Jahren die Opposition stellte.
Um diesen Zustand zu ändern, trafen sie sich seit geraumer Zeit in verschwiegenen Hotels. Sie hatten einen Plan und sie hatten einige vielversprechende Kandidaten. Nun galt es die nächsten Schritte zu besprechen. Meinhard sah auf seine Uhr.
„Hans ist mal wieder spät dran“, beschwerte er sich.
Scholl wuchtete seinen kleinen Körper aus dem Sessel und watschelte zum Getränkewagen. „Sonst noch jemand Kaffee?“, fragte er die anderen, die beide mit einem Kopfschütteln verneinten. Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und watschelte zurück zu seinem Platz.
„Hans darf das. Er darf immer zu spät kommen und das weiß er genau“, stichelte Meinhard weiter.
Wie auf ein Stichwort öffnete sich die Zimmertür und Albrecht betrat die Suite. „Entschuldigt bitte die Verspätung. Aber bei Regen scheinen die Berliner spontan die Fähigkeit zu verlieren, Auto zu fahren.“
Er gab den anderen die Hand und ging zum Getränkewagen, um sich einen Kaffee einzuschenken. Dass die anderen Drei mit dem Straßenverkehr keine Schwierigkeiten hatten, schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Mit einem tiefen Seufzen ließ Albrecht sich in einen der Sessel sinken und betrachtete die Runde über den Rand seiner Kaffeetasse.
Dann fragte er niemanden bestimmtes: „Sind wir bereit für Phase zwei?“
Weber stand auf, ging zu seiner Aktentasche, die auf dem Schreibtisch lag und entnahm ihr vier Mappen, die er dann verteilte.
„Dies ist das Dossier von Jörn de Fries, unserem Top-Kandidaten. Wie ihr alle wisst, ist er der regierende Bürgermeister der Stadt Hamburg. Alle interessanten Informationen findet ihr in der Akte.“
Die Drei begannen die Informationen zu lesen. Weber fuhr fort:
„Morgen findet im Hamburger Rathaus eine Pressekonferenz statt. De Fries und einer seiner Senatoren stehen dann Rede und Antwort. Wir haben drei Personen vor Ort, die - sagen wir mal - unbequeme Fragen stellen werden. Mal sehen, wie de Fries sich schlägt.“
Weber sah die Drei der Reihe nach an. Sein Blick blieb schließlich auf Albrecht haften. „Ich schlage vor, dass wir Kontakt zu de Fries aufnehmen, wenn uns das Ergebnis der Fragestunde gefällt. Ich muss wohl nicht noch mal erwähnen, dass unsere Liste möglicher Kandidaten, nach den beiden Ausfällen, nicht mehr sehr groß ist. Um genauer zu sein, de Fries ist der letzte verbliebene Kandidat.“
Meinhard und Scholl zuckten zusammen, als sie an das Fiasko der letzten Wochen dachten, Albrechts Gesicht blieb ausdruckslos.
Die beiden anderen Kandidaten, zwei Ministerpräsidenten, hatten sich einer nach dem anderen aus dem Rennen verabschiedet, nachdem bei dem einen Unregelmäßigkeiten, finanzieller Natur, bekannt wurden und der andere bei außerehelichem Sex erwischt wurde. Zwei herbe Verluste, aber so ist das Leben in der Politik nun einmal. Die Vier konzentrierten sich wieder auf die wesentlichen Punkte und arbeiteten weiter.
Bürgermeister de Fries betrat den Presseraum des Rathauses und stellte ohne Erstaunen fest, dass er bis auf den letzten Platz gefüllt war. Das Medieninteresse an der Arbeit des Hamburger Senats war nach wie vor hoch, obwohl die Eskapaden und Skandale der Vergangenheit angehörten. Bürgermeister de Fries sah sich vor knapp zwei Jahren gezwungen, den damaligen Senat aufzulösen und so den Weg für Neuwahlen freizumachen. Grund für die Neuwahlen war sein ehemaliger Innensenator.
De Fries war seit fünf Jahren Bürgermeister der Stadt Hamburg und äußerst beliebt. Nach ihm betrat ein weiterer Mann den Presseraum. Genau so groß wie de Fries, ebenfalls schlank und sportlich, mit dunklerem Haar und einem markanten Gesicht, das von graugrünen Augen beherrscht wurde, musterte Jan Philip Gerling, neuer Innensenator der Stadt Hamburg, neugierig die Anwesenden.
Dann setzten sich die beiden an den für sie vorgesehenen Tisch. Dieser stand alleine in einem Abstand von drei Metern vor den Besuchern, sodass ungewollt die Atmosphäre eines Klassenzimmers entstand. De Fries lächelte in die Runde und begrüßte die Anwesenden. Dann erläuterte er kurz die Spielregeln. Immer nur eine Frage, keine Zwischenrufe und die jeweils Sprechenden bitte ausreden lassen. Das gälte auch für die beiden Politiker, fügte er hinzu und sorgte so für die ersten Lacher. Die Pressesprecherin des Bürgermeisters würde den jeweiligen Anwesenden das Wort erteilen.
Dann eröffnete er offiziell die Fragestunde. Mehrere Hände schossen sofort in die Höhe und die Pressesprecherin, Claudia Wächter, eine dunkelhaarige, zierliche Schönheit, erteilte das Wort an eine ältere Dame, die für eine größere Tageszeitung schrieb:
„Herr Bürgermeister, was halten Sie von den jüngsten Äußerungen Ihres ehemaligen Innensenators, der ankündigte, wieder in die Politik gehen zu wollen?“, fragte sie und machte sich bereit, jedes Wort des Bürgermeisters zu notieren. De Fries runzelte die Stirn, obwohl er sich beherrschen musste, ernst zu bleiben. Der Gedanke, dass dieser Wahnsinnige jemals wieder in der Politik würde Fuß fassen können, war einfach absurd.
„Wie heißt es so schön: Die Gedanken sind frei. Jeder kann mit dem Gedanken spielen, in die Politik zu gehen. Auch Herr Schiller. Die Entscheidung, ob aus dem Gedanken Realität wird, trifft jedoch der Wähler“, antwortete der Bürgermeister. Die zweite Frage kam von einem Reporter einer Wochenzeitschrift, der schon mehrmals vergeblich versucht hatte, einen Interviewtermin mit dem neuen Innensenator zu bekommen.
„Herr Doktor Gerling, Sie haben ein schweres Erbe übernommen. Hinzu kommt, dass Sie über keinerlei politische Erfahrung verfügten, als Sie das Amt des Innensenators annahmen. Ich habe eine einfache Frage: Wie geht es Ihnen?“
Jan Philip Gerling war kurz versucht die Frage mit einem knappen: ‚Mir geht’s gut, danke!‘ zu beantworten und ein kleines Lächeln erschien bei diesem Gedanken auf seinem Gesicht. Dann besann er sich auf die ihm gestellte Frage. Die steckte nämlich voller Tücken. Schweres Erbe und keine politische Erfahrung waren die Kernaussagen der „Frage“ des Reporters. Würde Gerling zugeben, dass das Erbe schwer war und immer noch ist, gäbe es Grund, an seiner Kompetenz zu zweifeln, was zweifelsohne mit seiner politischen Unerfahrenheit in Verbindung gebracht werden würde. Das wiederum brächte den Bürgermeister in Erklärungsnot, da er die Entscheidung, Gerling zum Innensenator zu machen, im Alleingang getroffen hatte. Wenn er jedoch sagen würde, das Erbe wäre nicht so schwer, dann könnte man die vom Bürgermeister genannten Gründe für Neuwahlen anzweifeln und aus der Absetzung des ehemaligen Innensenators einen privaten Rachefeldzug machen. Gerling dachte fieberhaft nach.
„Zunächst einmal möchte ich betonen, dass jede neue Aufgabe eine Herausforderung ist. Eine gewisse politische Unbedarftheit ist hier jedoch eher von Vorteil, denn zum Nachteil. Sie zum Beispiel sind ja auch nicht als fertiger Journalist auf die Welt gekommen. Irgendwann, an einem bestimmten Zeitpunkt in Ihrem Leben, haben Sie sich entschieden, einer zu werden. Und Sie sind es noch heute. Sie haben damals die Chance bekommen und ergriffen. Und das ohne große Erfahrung. Die mussten Sie erst noch machen. Aber Sie haben sich durchgebissen. Sie hatten wahrscheinlich einen oder mehrere Ratgeber und ein eingespieltes Team zur Verfügung. In der Politik ist es nicht anders. Einzelkämpfer sind auch hier nicht gefragt. Jeder braucht ein gutes Team. Und das habe ich.“ Gerling machte eine kurze Pause, dann grinste er. „Und um Ihre Frage zu beantworten: Mir geht’s gut!“
Die erste Stunde ging sehr schnell vorüber. Dann erhielt ein junger Mann das Wort. Er musterte de Fries und grinste dabei so frech, dass der Bürgermeister und sein Innensenator sofort wussten, dass es Ärger geben wird.
„Herr Bürgermeister. Wann bekennen Sie sich endlich öffentlich zu Ihrer Homosexualität?“
Ein Raunen ging durch den Presseraum.
De Fries blieb äußerlich völlig gelassen.
„Ich bin der Meinung, dass das Privatleben einen gewissen Schutz verdient und benötigt. Im Übrigen, selbst wenn Ihre Behauptung der Wahrheit entspräche, hätte dies keine Auswirkungen auf die Art und Weise, wie ich mein Amt ausübe. Es würde aus mir weder einen besseren noch einen schlechteren Politiker machen.“ Vereinzelt gab es Applaus und Wächter erteilte dem nächsten das Wort. Eine junge Frau stand auf und sah Gerling offen an.
„Herr Innensenator. Was qualifiziert Sie für diesen Posten?“ Gerling erwiderte den Blick genauso offen.
„Genau diese Frage habe ich mir auch gestellt, als der Bürgermeister mich bat, dieses Amt zu übernehmen. Zu den wichtigsten Aufgaben eines Innensenators gehören unter anderem die Gewährleistung der inneren Sicherheit sowie das allgemeine Polizeirecht, der Polizeivollzugsdienst und die Kriminalpolitik. Wie Sie sicher wissen, bin ich Jurist mit Schwerpunkt Strafrecht. Ich denke also schon, dass ich für die Kernaufgaben eines Innensenators die erforderliche Qualifikation besitze.“
Die junge Frau schien nicht zufrieden mit der Antwort, denn sie blieb stehen. „Das mag ja sein. Aber ich kenne mindestens zwei andere Kandidaten, die für das Amt genau so gut, wenn nicht noch besser qualifiziert wären, weil sie über mehr politische Erfahrung verfügen“, antwortete sie trotzig.
Gerling lächelte nickend.
„Ich kenne eine ganze Menge Leute, die für dieses Amt genauso gut oder noch besser qualifiziert wären als ich. Das habe ich dem Bürgermeister auch gesagt und ich habe genau das Argument angebracht, das Sie gerade nannten – die politische Erfahrung. Wissen Sie, ich bin davon überzeugt, dass auch in diesem Raum hier Leute sitzen, die dieses oder ein anderes Amt ausüben könnten. Das Problem ist, dass sie nie eine Gelegenheit dazu bekommen werden. Kennen Sie das Spiel ’Reise nach Jerusalem‘? Sie wissen schon, zehn Stühle im Halbkreis aufgestellt und elf Personen, die unter Begleitung von Musik um die Stühle herumgehen. Hört die Musik auf zu spielen, müssen sich alle hinsetzen. Es gibt aber nicht genug Stühle, sodass einer ausscheidet. Genauso läuft es in der Politik. Nicht der erhält einen Posten, der ihn verdient, sondern wer am schnellsten war oder am rücksichtslosesten. Qualifikation spielt, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Aber der Bürgermeister gab mir diesen Posten, weil er mich für die richtige Wahl hielt und nicht, weil ich an der Reihe war. Er hat das Spiel einfach ignoriert. Er wollte keinen Politiker, sondern jemanden, der etwas anpackt und bewegt. Der auch mal neue Wege geht und nicht ständig daran denkt, ob er wiedergewählt wird. Glauben Sie mir, ich bin jemand, der Dinge anpackt. Ich bin jemand, der sich nicht scheut, neue Wege zu gehen.“ Gerling warf de Fries einen Seitenblick zu und grinste. „Und auch wenn der Bürgermeister das nicht gerne hört: Eine Wiederwahl ist mir gleichgültig. Mein Ziel ist ein anderes. Ich will Hamburg sicherer und lebenswerter machen.“
Unbemerkt von den anderen stupste de Fries Gerling mit dem Ellenbogen an und reckte den linken Daumen nach oben.
„Dann finden Sie also, dass Hamburg unsicher und nicht lebenswert ist?“ Die junge Dame ließ nicht locker und de Fries hatte das Gefühl, dass das inszeniert war.
Gerling schüttelte den Kopf.
„Das habe ich nicht gesagt. Aber ich will Ihre Frage dennoch beantworten. Was bedeutet sicher? Einhundert Einbrüche pro Monat? Zweihundert bewaffnete Überfälle pro Monat? Wo wollen wir den Maßstab ansetzen? Wann gilt eine Stadt als sicher, wann als lebenswert? Meine Meinung ist, jeder Einbruch ist einer zu viel. Jeder bewaffnete Überfall ist einer zu viel. Aber es wäre vermessen und dumm, zu behaupten, man könne eine Stadt hundertprozentig sicher machen. Ein großes kulturelles Angebot zieht Touristen an und Touristen ziehen Taschendiebe an. Das ist vollkommen normal. Und mit einer Verdoppelung der Polizisten erreichen wir da gar nichts. Ein Problem sind die Drogen und da haben wir ein Konzept, das schon in der Vorschule greift. Das sind die richtigen Wege. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen einen Termin zu vereinbaren. Kommen Sie vorbei und ich erkläre Ihnen im Detail, was wir tun.“
Die Frau sagte trotzig: „Das werde ich vielleicht wirklich machen.“
„Ein hundertprozentiges Dementi klingt anders, oder?“
Weber legte die Hamburger Tageszeitung beiseite und sah Albrecht fragend an. Die Titelseite zierte ein Foto des Bürgermeisters von Hamburg und die Überschrift lautete „Ist Hamburgs erster Mann schwul?“
„Was meinst du, ist er schwul?“ fragte Weber.
Albrecht schüttelte den Kopf.
„Das spielt jetzt keine große Rolle mehr. Wenn er es ist, dann hätte er von selbst den Weg an die Öffentlichkeit wählen sollen. Tut er es jetzt, sieht es so aus, als wurde er gezwungen. Ist er es nicht, sieht er keine Veranlassung, an die Öffentlichkeit zu gehen, und lässt damit Spielraum für Gerüchte und Vermutungen.“ Albrecht stand schnaufend auf und ging zum Fenster seines Büros.
„So oder so. Als Kandidat kommt er für uns nicht mehr in Frage.“ Der regierende Bürgermeister der Stadt Hamburg war eine zeitlang ein möglicher Kandidat auf der Liste des Grafen und Albrecht gewesen. Der Grund, weshalb er wieder gestrichen wurde, hatte allerdings nichts mit seiner Homosexualität zu tun, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass er eine Koalition mit einer extrem rechten Partei eingegangen war. Diese Vorgehensweise wurde in der Öffentlichkeit heftig kritisiert und das Risiko, in einer Bundestagswahl dafür abgestraft zu werden, war unkalkulierbar.
Die Tür des Büros ging auf und Scholl kam hereingestürmt, in der Hand die Hamburger Tageszeitung.
„Habt ihr den Artikel schon gelesen? Das ist eine Katastrophe. Was sollen wir jetzt machen? Wir können doch keinen Schwulen als Kandidaten vorschlagen!“
„Er ist nicht schwul“, sagte Albrecht
„Ist er nicht?“, fragte Scholl hoffnungsvoll.
„Er ist schwul“, meinte Weber.
„Ist er doch?“, fragte ein sichtlich irritierter Scholl.
„Schwul oder nicht. Das Thema de Fries ist wohl vom Tisch“, versetzte Albrecht und sah wieder aus dem Fenster. Scholl blickte verunsichert von einem zum anderen. Dann setzte er sich hin und schwieg.
Albrecht drehte sich wieder zu den anderen um. „Lasst uns nochmal die Videoaufnahme von der Pressekonferenz ansehen.“
Es war ein seltsamer Anblick. Die vier Spitzen der CPD saßen in Eintracht vor dem Fernseher und schauten sich ein Video an. Der Norddeutsche Rundfunk hatte für das Regionalfernsehen einen Mitschnitt der Pressekonferenz gedreht und war sofort bereit, dem Fraktionsvorsitzenden Weber eine Kopie auszuhändigen. Gerade fragte die junge Frau den Innensenator, was ihn für diesen Posten qualifizierte. Albrecht hatte die Augen geschlossen und hörte aufmerksam zu.
„Der Mann gefällt mir“, sagte Albrecht, nachdem sie das Video zweimal angesehen hatten.
„Er hat Ausstrahlung“, bestätigte Weber.
„Ist er nicht ein bisschen zu jung?“, gab Meinhard zu bedenken. Albrecht und Weber schüttelten den Kopf.
„Wir hatten doch gesagt, dass wir frisches Blut brauchen. Er ist definitiv nicht zu jung“, sagte Weber.
„Überprüfen wir ihn und dann sehen wir weiter”, meinte Albrecht und die anderen nickten zustimmend.
Dass Jan Philip Gerling immer die erste Wahl Albrechts war, ahnten sie nicht.
„Wo ist der Haken bei Gerling?“, fragte Albrecht und putzte seine Brille, die er überhaupt nicht brauchte, aber sein ehemaliger Imageberater hatte ihm gesagt, dass die Brille ihm etwas Intellektuelles verleihe, und so benutzte er sie heute noch. Natürlich wusste er, dass es bei Gerling keinen Haken gab. Der Graf hatte die Vergangenheit Gerlings bis ins Kleinste durchleuchtet.
„Er stand einmal kurz unter Mordverdacht, das hat sich aber innerhalb von Stunden ins Gegenteil umgekehrt. Seine Schwester wurde ermordet und Gerling hat auf eigene Faust Ermittlungen angestellt.“ Scholl erläuterte den anderen, was damals vorgefallen war. Er warf einen kurzen Blick in den Bericht über Gerling, den eine private Überwachungsfirma erstellt hatte. Dann fuhr er fort:
„Bevor er Innensenator wurde, hat er seine Anteile an einer sehr erfolgreichen Anwaltskanzlei an seine Partner verkauft und sich... zurückgezogen. Grund unbekannt. Dann wurde er Innensenator. Und er ist nach allem, was wir wissen, nicht schwul“, fügte er schnell noch hinzu. Meinhard schnaubte verächtlich und schenkte sich Kaffee nach. „Das fehlte gerade noch – ein weiterer Schwuler.“
Er schüttelte angewidert den Kopf. Weber beobachtete das Ge-spräch ohne sichtbare Regung. Er stand auf und ging an die große Fensterfront des Büros und blickte auf Berlin hinab. Dann drehte er sich um.
„Gerling könnte der perfekte Kandidat sein. Politisch unerfahren, intelligent, aber nicht intellektuell, jung, sympathisch und offen – jemand, der vertrauensvoll wirkt. Dann sieht er auch noch gut aus.“ Weber sah in die Runde. Albrecht erwiderte den Blick und ein feines Lächeln ließ ihn fast sympathisch aussehen.
„Grundsätzlich gebe ich dir Recht – aber ich schlage einen Test vor.“ Er griff in seine Ledermappe, holte vier Blätter heraus und reichte jedem ein Blatt. „Das Thema von Yvonne Heidfelds nächster Talkshow lautet: Die Lage der Nation.“ Sonntag in einer Woche findet sie statt. Eigentlich sollte de Fries daran teilnehmen. Ich möchte, dass Gerling an dieser Talkshow teilnimmt. Es wäre interessant zu beobachten, wie er sich schlägt.“
Weber stimmte zu. „Soweit ich weiß, ist der Bundesinnenminister auch eingeladen.“ sagte er leicht süffisant.
Die anderen begannen zu grinsen. Horst Schulz, der amtierende Innenminister, war allgemein als aufbrausend und schnell unsachlich werdend bekannt. ‚Das dürfte interessant werden‘ , dachten sie.
Gerling wurde vom Klingeln des Telefons wach. Er stöhnte und richtete sich auf, um einen Blick auf die Uhr zu werfen. Sein Wecker stand nicht auf dem Platz, auf dem er normalerweise stand – er hatte ihn irgendwann früher, bei dem Versuch, ihn auszumachen, umgeworfen. Er stieg aus dem Bett, hob den Wecker auf und stellte fest, dass es 09.00 Uhr morgens war. Da er einen Tag Urlaub hatte, konnte er ausschlafen. Er schüttelte den Kopf, um die letzten Nebelschwaden des Schlafes zu vertreiben, und ging zum Telefon, das immer noch klingelte. Er hob den Hörer ab.
„Gerling.“
„Herr Jan Gerling?“ Eine weibliche Stimme, jung und sexy.
„Ja, am Apparat, mit wem spreche ich?“ Gerling ging mit dem Telefon in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen.
„Mein Name ist Beatrice van der Saar. Ich bin die persönliche Assistentin von Yvonne Heidfeld.“
„Aha.“ Gerling versuchte sich zu erinnern, wo die Filtertüten waren.
„Sind Sie noch da, Herr Gerling?“ Die persönliche Assistentin von Frau Heidfeld schien etwas verunsichert zu sein.
„Ja, ja. Ich bin noch da.“ Gerling öffnete eine andere Schranktür.
„Wie bitte? Rufe ich vielleicht zu einem ungünstigen Zeitpunkt an? Ich könnte später noch mal anrufen, wenn Ihnen das lieber ist.“ Gerling seufzte und setzte sich an den Küchentisch.
„Frau van der Saar, warum sagen Sie mir nicht einfach, warum Sie mich sprechen wollen.“
„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie. Wir, also Frau Heidfeld, möchte Sie zu ihrer nächsten Talkshow einladen. Sie kennen unsere Show doch, oder?“
Natürlich kannte Gerling diese Show. Jeden Sonntagabend live in einem der privaten Fernsehsender schlugen Prominente oder solche, die sich dafür hielten, aufeinander ein. Sehr zum Vergnügen der Zuschauer im Saal und an den Bildschirmen. Talkmaster, oder besser Ringrichter, war eine atemberaubende Blondine mit einem messerscharfen Verstand.
Gerling rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Nummer gewählt haben?“ Gerling konnte sich nicht erklären, wie die Assistentin von Heidfeld gerade auf ihn kam.
„Ganz sicher, Herr Gerling. Ich habe Ihre Telefonnummer von Ihrem Fraktionsvorsitzenden, Herrn Weber. Herr Weber hat Sie uns empfohlen. Er meinte, Sie passen ausgezeichnet zu unserem aktuellen Gesprächsthema.“
Gerling wurde schlagartig wach. Woher hatte Weber diese Nummer, warum denkt er, ich sollte zu dieser Talkshow gehen? Gerling überlegte fieberhaft, wie es zu dieser Empfehlung kommen konnte. Er kannte Weber nicht einmal persönlich.
„Und um welches Thema handelt es sich bei dieser Talkshow?“, fragte Gerling.
„Oh, es ist ein sehr interessantes Thema. Die Lage der Nation.“ Man spürte förmlich, wie angetan Frau van der Saar von diesem Thema war. Voller Elan und Begeisterung fuhr sie fort: „Es haben sehr interessante Gäste zugesagt. Olaf Förster, der bekannte Finanzmanager, Horst Schulz, der Innenminister, Wolfgang Walser, der ehemalige Innenminister, diese Frau von den Grünen, Moment, ich hab’s gleich..”, Gerling hörte Papier rascheln.
„ Ach ja, Sabine Seifert, hat irgendein hohes Amt bei den Grünen. Und natürlich Reinhard von Tjaden, der Bundeswehrgeneral. Und wenn Sie auch zusagen, sind wir komplett. Sie sagen doch zu Herr Gerling, oder?“
„Guten Tag, mein Name ist Jan Philip Gerling. Ich hätte gerne Herrn Weber gesprochen.“ Gerling nahm einen Schluck Kaffee – er hatte die Filtertüten irgendwann, während des Gespräches mit der Assistentin von Heidfeld, dann doch gefunden. Gerling war Beatrice van der Saar nur losgeworden, nachdem er ihr versprochen hatte, noch am selben Tag zurückzurufen, um ihr seine Entscheidung mitzuteilen. Bevor er sich jedoch entschied, wollte er unbedingt mit dem Mann sprechen, der ihn in dieser Talkshow sehen wollte – dem Fraktionsvorsitzenden der CPD, Hans Weber.
„Es tut mir leid, Herr Gerling, der Fraktionsvorsitzende ist in einer Besprechung und darf nicht gestört werden.“ Die Stimme der Sekretärin von Weber klang völlig emotionslos, fast wie eine Maschine. Gerling vermutete, dass sie seinen Namen mit voller Absicht falsch aussprach, nur um ihm zu zeigen, wie unwichtig er war. Gerling warf einen Blick aus dem Fenster seines Arbeitszimmers und schätzte die Außentemperatur. Es sah kalt aus.
„Richten Sie Herrn Weber bitte aus, dass ich angerufen habe. Ich wüsste gerne, warum ich einen Anruf von der Assistentin von Frau Heidfeld bekommen habe, die mich zu ihrer Talkshow einladen möchte – angeblich auf Empfehlung von Herrn Weber.“ Gerling schätzte die Temperatur auf 5 Grad und bewegte sich in Richtung Dachterrasse, um am Außenthermometer die Temperatur abzulesen.
„Einen Moment bitte, ich verbinde Sie mit Herrn Weber!“
Das Erstaunliche war nicht nur die schnelle Verbindung mit Weber, sondern die Veränderung der Stimme der Sekretärin. Sie mutierte in Sekunden von einer emotionslosen Maschine zu einer gehetzt wirkenden, unsicheren Frau.
Plötzlich war Gerling klar, was passiert war. Während des Gespräches musste Weber in ihrem Büro aufgetaucht sein und Teile des Gespräches mitbekommen haben – wahrscheinlich ihre Absage und seine Bitte, Weber seinen Anruf mitzuteilen. Daraufhin hatte Weber signalisiert, dass er mit Gerling zu sprechen wünscht, deshalb die Veränderung in der Stimme der Sekretärin. Gerling musste grinsen.
„Mein lieber Jan Philip, ich grüße Sie!“
Gerling wäre fast der Hörer aus der Hand gefallen. Mein lieber Jan Philip? Weber tat gerade so, als hätten sie schon unzählige Biere miteinander getrunken. Was ist da los? Vergessen war die Außentemperatur, die gesamte Aufmerksamkeit Gerlings galt jetzt seinem Gesprächspartner.
„Es tut mir wirklich leid, ich wollte Sie anrufen, bevor die Heidfeld Sie kontaktiert, habe es aber nicht geschafft. Ich, also die Partei, würde es sehr begrüßen, wenn Sie am nächsten Sonntag an dieser Gesprächsrunde teilnehmen würden. Das Thema liegt Ihnen und Ihre Ansichten decken sich mit denen der Partei. Darüber hinaus möchten wir, dass mal ein frisches Gesicht im Fernsehen unsere Partei repräsentiert.“
„Bei allem Respekt, Herr Weber, woher wollen Sie meine An-sichten zum Thema innere Sicherheit kennen?“
Gerling konnte sich diese Frage nicht verkneifen.
Weber schnaufte, vielleicht sollte das ein Lachen sein, Gerling war sich aber nicht sicher.
„Junger Mann, wir beobachten Sie schon lange. Verfolgen Ihren Weg in der Partei, Ihre Ansichten sind uns wohl bekannt. Glauben Sie mir, Sie werden bei dieser Talkshow Ihren Spaß haben.“ ‚Und wir lernen dich noch ein bisschen besser kennen‘, fügte er in Gedanken hinzu.
„Nehmen wir einmal an, ich nehme die Einladung an. Wie wollen Sie das ich mich verhalte – was erwarten Sie von mir?“ Gerling fühlte sich unwohl, während er diese Fragen stellte – bedeuteten sie doch, dass er grundsätzlich bereit wäre, die Einladung anzunehmen, dabei war er sich selbst noch nicht sicher.
„Seien Sie einfach Sie selbst. Und was wir erwarten? Machen Sie den Klugscheißern Feuer unterm Arsch!“
„Bevor die Zuschauer Einlass erhalten, möchte ich Ihnen noch kurz unsere Spielregeln erläutern.“ Yvonne Heidfeld blickte mit einem strahlenden Lächeln in den Halbkreis. Gerling erwartete fast, dass sie voller Begeisterung anfing, in die Hände zu klatschen. Er musterte unauffällig die anderen Teilnehmer der Gesprächsrunde. Die Sitzordnung war einfach. Die Stühle waren in U-Form aufgestellt, in der Mitte saß die „Ringrichterin“ und jeweils links und rechts von ihr die Teilnehmer. Gerlings Platz befand sich am äußersten linken Ende des U’s. Links von ihm saß das Finanzgenie Olaf Förster, ein gut aussehender Mittvierziger mit kurzen dunklen Haaren, mittelgroß und sportlich. In seinem dunklen Anzug und blütenweißem Hemd sah er ein wenig aus wie der junge Robert Redford.
Neben Förster saß die Abgeordnete der Grünen Partei, Sabine Seifert. Sie hatte dunkles, kurzes Haar, ein attraktives, schmales Gesicht und trug ein elegantes Kostüm. Dann folgte Wolfgang Walser, ein ehemaliger Innenminister eines längst vergessenen Kabinetts. Walser war mindestens achtzig Jahre alt, fast kahl und taub wie ein Stein. Seine kleine, krumme Gestalt hing in dem unbequemen Freischwinger als wäre er hineingeworfen worden. Das hagere Gesicht wurde dominiert von einer Hakennase, die seinem Gesicht etwas Raubvogelartiges verlieh.
Yvonne Heidfeld thronte in der Mitte und sah in ihrem cremefarbenen Chanel-Kostüm einfach umwerfend aus. Selbst Walser starrte auf die langen schlanken Beine der Moderatorin. Rechts neben Heidfeld saß der Journalist Herbert Seitz, ein erfahrener Auslandskorrespondent, der mit allen Wassern gewaschen war und die Angewohnheit hatte, leicht überheblich zu werden, wenn er merkte, dass die Gesprächsteilnehmer weniger erfahren waren als er. Man sah ihm seine sechzig Lebensjahre nicht unbedingt an, trotzdem hatten durchgemachte Nächte, schlechte Hotels, noch schlechterer Wein und viel gutes oder auch schlechtes Essen ihre Spuren hinterlassen.
Dann folgte das genaue Gegenteil. Kerzengerade in tadelloser Uniform saß Generalleutnant Reinhard von Tjaden. Groß gewachsen und schlank, silbergraues, selbstverständlich akkurat kurz geschnittenes Haar, mit aristokratischen Gesichtszügen war er Soldat durch und durch. Selbst im Schlafanzug hätte man ihm den Berufssoldaten angesehen.
Tjaden zur Linken und Gerling gegenüber saß schlussendlich der Mann, dessen Anwesenheit ihn veranlasste, dem Drängen von Weber nachzugeben und sein Kommen zuzusagen. Horst Schulz, amtierender Bundesminister des Inneren.
Für Gerling war Schulz das personifizierte Grauen: rüpelhaft, ungebildet und maßlos arrogant. Dieser Mensch war einfach unausstehlich. Schulz war zweiundsechzig Jahre alt, etwa einsfünfundsiebzig groß und bestimmt hundert Kilo schwer. Sein Gesicht, eines Bullterriers nicht unähnlich, zierten diverse Kinne und seine kleinen Augen waren kaum auszumachen. Die Hände von Schulz waren ständig in Bewegung und kneteten einen unsichtbaren Teig. Yvonne Heidfeld beendete ihr Briefing und Gerling fluchte lautlos, da er bis auf die Einleitung nichts mitbekommen hatte. Er musterte Förster, und als dieser den Blick erwiderte, fragte Gerling: „Hab ich was Wichtiges verpasst?“ Förster schüttelte grinsend den Kopf.
„Wir sollen nicht alle durcheinander reden und wenn Blondi sagt: aus, dann haben wir den Mund zu halten.“
Gerling nickte. Etwas Ähnliches hatte er erwartet.