V.S. Gerling: „Pakt des Bösen“
© Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Edition Totengräber, Dezember 2011
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com - hq@periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, mechanische, elektronische oder fotografische Vervielfältigung, eine kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
ISBN: 978-3-943876-21-5
(e-pub Version: 1.2)
Ungekürzte, digitale Version der Printausgabe (ISBN 978-3-940767-75-2).
Lektorat: Julia Bossart-Meister
Covermotiv: Sabrina Fuchs, nach einer Idee von V.S. Gerling
Satz & Konvertierung: Thomas Manegold, Johannes Schönfeld
V.S. GERLING
TOTENGRAEBER
„So steht es mit euch. Nun bekommt ihr es zu fühlen. Und lasst euch gesagt sein, dass die Ungläubigen dereinst die Strafe des Höllenfeuers zu erwarten haben.“
Koran, Sure 8 (14)
„Und macht euch auf eine Prüfung gefasst, die keineswegs ausschließlich diejenigen von euch treffen wird, die freveln! Ihr müsst wissen, dass Allah schwere Strafen verhängt.“
Koran, Sure 8 (25)
„Das Paradies, das den Gottesfürchtigen versprochen ist, ist so beschaffen: In seinen Niederungen fließen Bäche. Und es hat andauernd Früchte und Schatten. Das ist der Lohn derer, die gottesfürchtig sind. Das letzte Ziel der Ungläubigen aber ist das Höllenfeuer.“
Koran, Sure 13 (35)
„So spricht Gott, der Herr: Siehe, es kommt ein Unglück über das andere! Das Ende kommt, es kommt das Ende, es ist erwacht über dich; siehe, es kommt! Es geht schon an und bricht herein über dich, du Bewohner des Landes. Die Zeit kommt, der Tag des Jammers ist nahe, an dem kein Singen mehr auf den Bergen sein wird. Nun will ich bald meinen Grimm über dich schütten und meinen Zorn an dir vollenden und will dich richten, wie du verdient hast, und alle deine Gräuel über dich bringen.“
Bibel, Hesekiel Kapitel 7
„Je weiter wir in die Vergangenheit blicken, desto weiter schauen wir wahrscheinlich in die Zukunft.“
Winston Churchill, britischer Staatsmann (1874-1965)
Geschichte wiederholt sich. Immer und immer wieder. Fast scheint es, als würde sie so versuchen, uns zu lehren, zu warnen. Der erste überlieferte Krieg fand etwa 2700 vor Christus statt. Die Sumerer kämpften gegen die Elamiter. Die Sumerer lebten im heutigen Irak und die Elamiter im heutigen Iran. Wahrscheinlich gab es schon viel früher kriegerische Auseinandersetzungen, aber wir werden es kaum erfahren – die Schrift war noch nicht erfunden.
Wir leben in Mustern. Diese Muster wiederholen wir. Immer und immer wieder. Der Mensch war schon immer eine kriegerische Spezies. Angetrieben von Hunger und Neugier erschloss sie sich neue, größere Territorien. Aus einem Jäger und Sammler wurde ein Eroberer. Aus Hunger wurde Machthunger, aus Neugier die schlichte Gier. Zwei Dinge unterscheiden den Menschen von allen anderen Lebewesen auf diesem Planeten: Zum einen ist sich der Mensch seiner Existenz und deren Endlichkeit bewusst. Die Konsequenz daraus ist der zweite Unterschied: Kein anderes Lebewesen tötet aus so niederen Gründen wie der Mensch: Neid, Gier, Zorn oder Machthunger. Der Mensch weiß um seine eigene Vergänglichkeit. Also will er alles – jetzt.
Was sagt es über unsere Spezies aus, dass aus Liebe sehr schnell Hass werden kann, aus Hass aber niemals Liebe?
Es war angenehm warm an diesem Abend. Die Temperatur lag bei 27 Grad Celsius. Die Insassen der Limousine freilich spürten von der Wärme nichts, da die Klimaanlage auf Hochtouren lief. Da sich wie immer einige Millionen Autos auf den Straßen Istanbuls bewegten, quälte sich das Fahrzeug durch den allseits zäh fließenden Verkehr.
Ihr Ziel war das alte, im Süden der europäischen Seite gelegene Stadtzentrum mit den Stadtteilen Eminönü und Fatih. Ihr Gastgeber hatte dort in einer kleinen Gasse ein Restaurant entdeckt, das er ihnen unbedingt vorstellen wollte. Heinrich Müller seufzte. Ihr Gastgeber ließ sich immer wieder neue Torheiten einfallen, in dem festen Glauben, die anderen damit begeistern zu können. Natürlich taten alle so, als wären sie begeistert, nur um ihn nicht zu verärgern. Sie wussten, was dann passieren konnte. Und da sie das wussten, würden sie auch in Zukunft Begeisterung vorgaukeln, selbst wenn der nächste Einfall eine Besprechung in einem Holzfass wäre, das die Niagarafälle hinunter stürzt.
Heinrich Müller versuchte, die eisige Brise, die ihm aus den Luftschlitzen entgegenströmte, in eine andere Richtung zu leiten, indem er die Lamellen verstellte. Als es ihm gelang, protestierte sein Nachbar, Jewgeni Kaschlenko, der jetzt an seiner Stelle die kühle Luft ins Gesicht bekam. Müller murmelte eine Entschuldigung und hantierte wieder an den Lamellen. Kaschlenko brummte zufrieden.
Was für ein unangenehmer Mensch, dachte Müller. Denkt, nur weil er über ein paar Millionen Dollar mehr verfügt als ich, kann er sich aufführen wie ein Zar. Scheiß Russe! Und überhaupt, was macht der schon großartig? Bohrt nach Öl. Das kann doch jeder Idiot! Ich stelle in meinen Fabriken wenigstens etwas her!
Heinrich Müller war einer der weltweit führenden Lieferanten von gepanzerten Fahrzeugen. Der Grund, weshalb er und Kaschlenko zu diesem Treffen mit dem Türken gereist waren, war einfach zu erklären: Weder er noch der Russe standen auf der Fahndungsliste irgendeiner Behörde.
Eine halbe Stunde später erreichten sie ihr Ziel. Müller stieg aus dem Fahrzeug und die Luft erwärmte ihn sofort. Kaschlenko stieg ebenfalls aus und sah sich misstrauisch um. Dann sah er Müller an und zwinkerte ihm zu. Müller lächelte schwach und gemeinsam folgten sie dem Fahrer, der sie zu diesem außergewöhnlichen Restaurant führen sollte.
Ihr Gastgeber, Özgür Karabey, erwartete sie bereits voller Ungeduld. Zum einen, weil er großen Hunger hatte, zum anderen wegen der guten Nachrichten, die er verkünden konnte. Er stand auf und ging seinen Geschäftspartnern entgegen. Mit seiner Körpergröße von eins sechzig und einem Gewicht von etwa hundertdreißig Kilo erinnerte er Müller an eine überdimensionale Bowlingkugel.
„Meine lieben Freunde. Willkommen!“, grölte er durch das kleine Lokal. Da sie allerdings die einzigen Gäste waren, störte sich niemand daran. Karabey hatte das gesamte Restaurant für den heutigen Tag gemietet. Müller registrierte die Schweißflecken auf dem Hemd des Türken und sah wahre Sturzbäche von seinem kahlen Schädel hinunterlaufen. Ihm graute vor der nun folgenden Umarmung, er ließ sie aber über sich ergehen. Vor einigen Monaten war Müller Zeuge eines Wutausbruchs Karabeys geworden. Dieser hatte sich von einem Geschäftspartner beleidigt gefühlt, und als der sich nicht entschuldigen wollte, hatte ihm der Türke mit einem Stuhl kurzerhand den Schädel eingeschlagen. Nein, Müller würde ihn umarmen, selbst wenn Karabey blutbesudelt auf ihn zugewankt käme.
Auch Kaschlenko ließ die Umarmung über sich ergehen, er hatte mit einer solchen Art der Begrüßung allerdings auch mehr Erfahrung.
„Setzt euch, setzt euch“, schnaufte der Türke und ließ sich auf die Bank fallen, die daraufhin verdächtig knirschte. Die beiden setzten sich vorsichtig.
„Ich habe gute Nachrichten“, verkündete Karabey, verstummte aber gleich wieder, da ein Kellner an ihren Tisch kam. Karabey bellte den Kellner auf Türkisch an, der sich in rasender Geschwindigkeit Notizen machte. Müller hoffte für ihn, dass er nichts vergaß. Der Kellner verschwand und Karabey beugte sich schwerfällig vor. Erneut stöhnte die Bank gequält auf.
„Es kann losgehen! Ich habe den Sprengstoff“, sagte er mit stolzem Lächeln. „Und ich habe die Leichen!“
„Wer seine Freiheit für die Sicherheit aufgibt,
hat weder das eine noch das andere verdient.“
Benjamin Franklin, amerikanischer Staatsmann (1706-1790)
Bundeskanzler Jan Philip Gerling frühstückte einmal pro Woche mit seinen wichtigsten Ministern. Er hatte mit diesem Ritual nach seiner Amtseinführung vor neun Monaten begonnen und es bewährte sich. In dieser halbwegs lockeren Atmosphäre besprachen sie alle wichtigen Dinge und trafen entsprechende Entscheidungen. War ein Minister wegen einer Dienstreise oder aus einem anderen Grund verhindert, nahm dessen Stellvertreter an dem Treffen teil.
Heute waren fast alle Minister selbst anwesend, nur der Gesundheitsminister hatte sich verspätet. Eines der Themen war der anstehende Weltklimagipfel in Oslo. Ein anderes Thema der Bundeswehreinsatz in Afghanistan.
Der Lieferwagen mit einem bekannten Logo fuhr langsam die Ebertstraße entlang. Dann blieb er stehen. Links von ihm befand sich das neue Holocaust-Mahnmal.
In Paris fuhr ein identischer Lieferwagen die Avenue du Franklin Delano Roosevelt entlang und bog dann links ab in die Avenue du Général Eisenhower. Dort blieb er stehen, rechter Hand befand sich das Grand Palais.
In London hielt ein Lieferwagen in der Straße Tower Hill. Rechts befanden sich Parkplätze für die Touristenbusse, links stand der berühmte Tower of London.
In der spanischen Hauptstadt kam ein Lieferwagen auf der Calle de Lope de Vega zum Stehen, in unmittelbarer Nähe des Prado.
Die Explosion war verheerend. Noch im Kanzleramt, ungefähr eintausend Meter Luftlinie von ihrem Zentrum entfernt, erbebten die Fenster. Das Holocaust-Mahnmal wurde zwar nicht vollständig zerstört, dennoch waren die Auswirkungen der Explosion katastrophal und über hundert Menschen kamen ums Leben. Die meisten hatten gerade das Denkmal besichtigt oder sich in unmittelbarer Nähe davon aufgehalten. Es gab aber auch Opfer in den vorbeifahrenden Autos und benachbarten Gebäuden. Auch am Reichstag entstanden schwere Schäden.
Der Kanzler und die Minister sprangen auf, als sie die Explosion hörten. Wenige Augenblicke später kamen Personenschützer in das Büro gestürmt. Martin von Sengen, eigentlich Leiter der Abteilung Personenschutz des BKA, aber seit der Krise vor mehr als einem Jahr im persönlichen Beraterstab des Bundeskanzlers, eilte auf Gerling zu.
„Wir müssen das Kanzleramt evakuieren. Sofort!“, rief er in das Kragenmikrofon und griff nach dem Arm des Kanzlers.
„Was genau ist passiert?“, wollte Gerling auf dem Weg nach draußen wissen.
Von Sengen sah sich gehetzt um.
„Eine Bombenexplosion. Wo genau wissen wir noch nicht. Aber ganz in der Nähe – soviel ist sicher“, antwortete er und schob den Kanzler nach draußen.
„Wo bringst du mich hin?“, fragte Gerling.
„Zum Hubschrauber!“
„Nein!“
Martin von Sengen blieb stehen und sah den Kanzler verwirrt an. „Wie, nein?“, fragte er.
„Ich haue doch nicht einfach ab! Ich muss wissen, was passiert ist“, sagte Bundeskanzler Gerling bestimmt.
„Hör mal, ich bin verantwortlich für…“, von Sengen beendete den Satz nicht. Stattdessen lauschte er konzentriert der Meldung, die durch seinen Ohrstöpsel drang. „Oh mein Gott“, flüsterte er.
„Was ist?“, fragte der Kanzler ungeduldig.
„Die haben das Holocaust-Mahnmal in die Luft gesprengt. Die Schäden sind enorm“, flüsterte von Sengen.
Gerling erstarrte. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass sich die US-Botschaft in unmittelbarer Nähe befand.
„Wie viele Tote?“, fragte er.
Von Sengen schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung, wie viele da waren. Aber von denen hatte kaum einer eine Chance.“
„Bring mich hin!“, forderte der Kanzler ihn auf.
Von Sengen blinzelte ungläubig.
„Wohin?“, fragte er, obwohl er die Antwort kannte.
„Zum Denkmal. Ich muss sehen, was passiert ist.“
„Das geht nicht! Wir haben keine Ahnung, ob es da sicher ist. Vielleicht gibt es noch mehr Bomben. Ich kann das nicht erlauben!“, sagte von Sengen entschieden.
„Martin, ich kann mich jetzt nicht verkriechen. Wenn es das ist, was wir glauben, dann werde ich mich nicht verkriechen!“ Gerling sah von Sengen mit festem Blick an. „Wenn du mich nicht hinbringst, dann finde ich jemanden anderes, der mich begleitet.“ Der Kanzler setzte sich in Bewegung, ohne auf eine Antwort zu warten. Er wollte gerade das Büro verlassen, als Huber, der Kanzleramtschef, ihm entgegenstürzte.
„Es gab noch mehr Anschläge!“, rief er.
„Oh Gott. Wo?“, fragte Gerling bestürzt.
„Paris, London und Madrid!“
Huber sah den Kanzler merkwürdig an.
„Was ist?“, wollte dieser wissen.
„Alle Bomben, einschließlich der in Berlin, explodierten exakt zur selben Zeit.“
„Das heißt…“
Huber nickte. „Genau. Das heißt, dass die Anschläge zusammengehören. Sie wurden von denselben Attentätern geplant und ausgeübt.“
„Wie damals in New York“, flüsterte Gerling.
Fassungslos starrte Gerling auf das Trümmerfeld, das einmal die Westseite des Holocaust-Mahnmals gewesen war. Überall rannten Einsatzkräfte umher. Die Feuerwehrmänner hatten reichlich zu tun, da es aufgrund der Explosion an einigen Stellen brannte. Die Sanitäter jedoch konnten sich lediglich um Passanten kümmern, die unter Schock standen. Überlebende an dieser Stelle gab es kaum. Die Luft war verqualmt und es stank nach verbranntem Fleisch. Dem Kanzler wurde schlecht. Martin von Sengen, der neben ihm stand, hielt sich das rechte Ohr zu. Ein Zeichen dafür, dass er Informationen über seinen Ohrstöpsel erhielt. Die zwei Staatsmänner waren umringt von sechs Sicherheitsleuten. Gerling beobachtete von Sengen. Dieser wurde plötzlich blass.
„Was ist passiert?“, fragte der Kanzler besorgt.
„Es waren auch Regierungsbeamte am Denkmal, als die Bombe explodierte.“
„Oh mein Gott…“, flüsterte Gerling.
„Der Gesundheitsminister war auch hier“, sagte Martin und sah den Kanzler bestürzt an. „Minister Schäfer ist tot.“
Der Kanzler schloss für einen kurzen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah Martin, dass sie voller Tränen waren.
„Lass uns zurückgehen“, sagte der Kanzler leise.
Martin nickte und sie setzten sich in Bewegung.
„Herr Bundeskanzler! Herr Bundeskanzler!“, rief jemand und Gerling blieb stehen. Als er erkannte, wer gerufen hatte, bereute der Kanzler seine Entscheidung, hierher zu kommen. Es war Holger Fachner, der Journalist, der damals, als Gerling mit einer Schusswunde in der Brust in ein Krankenhaus gebracht wurde, den Rettungswagen verfolgt und dann live vor dem Krankenhaus die Story brutal ausgeschlachtet hatte.
„Herr Bundeskanzler. Was ist hier passiert?“
Gerling sah irritiert in die Kamera. Was für eine dumme Frage! Da der Kanzler die Frage nicht beantwortete, stellte Fachner die nächste. „Wissen Sie schon, wer das war?“
Der Kanzler sah auf seine Uhr.
„Herr Fachner. Die Explosion ist erst fünfzehn Minuten her. Wie in aller Welt sollen wir jetzt schon wissen, wer das war?“
„Es gibt Meldungen, die besagen, dass es in Madrid, Paris und London ähnliche Anschläge gegeben haben soll. Was wissen Sie darüber?“
„Genau soviel wie Sie“, gab der Kanzler knapp zurück und wandte sich zum Gehen.
„Herr Bundeskanzler!“, setzte Fachner nach. „Es heißt, dass der Gesundheitsminister bei diesem Anschlag…“
Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, da Gerling herumwirbelte und sich dicht vor ihm aufbaute.
„Herr Fachner“, flüsterte der Kanzler, „wenn Sie auch nur einen Funken Anstand besitzen, dann behalten Sie diese Information für sich und sorgen so dafür, dass die Familie des Ministers das nicht über die Medien erfährt, sondern durch mich persönlich. Wenn nicht, dann haben Sie mich für den Rest Ihres Lebens zum Feind. Haben wir uns verstanden?“
Fachner schluckte. Dann nickte er.
John Patrick Ryan war sofort hellwach, als das abhörsichere Telefon läutete. Er setzte sich auf und hob den Hörer ab. „Ja?“
„Blitzmeldung aus Europa. Vier Bombenanschläge. Betroffen sind Berlin, Paris, Madrid und London. Zahl der Toten noch unbekannt. In Deutschland ist die Bombe in der Nähe unserer Botschaft explodiert. Gott sei Dank wurde vom Personal niemand getötet. Zuerst dachten wir, der Anschlag gelte unserer Botschaft. Aber das war falsch. Er galt dem Holocaust-Mahnmal. Alle vier Bomben wurden gleichzeitig gezündet. Pro Bombe schätzungsweise zwanzig Kilo Sprengkraft. Alles deutet auf Al-Qaida hin.“
„Scheiße! Alles klar, danke.“ Fluchend legte Ryan den Hörer auf die Gabel. Der Sicherheitsberater des Präsidenten wusste um dessen Verhältnis zu Europa im Allgemeinen und zu Deutschland im Besonderen. Deshalb entschied er, sofort zu reagieren und nicht zu warten, bis das normale Briefing begann. Rasch zog er sich an und machte sich auf den Weg ins Weiße Haus.
Präsident Clifford hörte sich an, was sein Sicherheitsberater zu sagen hatte. Sein Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen. Als Ryan geendet hatte, stand Clifford auf und ging im Oval Office auf und ab.
„Alles deutet auf Al-Qaida hin?“, vergewisserte er sich.
Ryan nickte bestätigend. „Mehrere Ziele, zeitlich perfekt aufeinander abgestimmt. Hoher Wirkungsgrad.“
„Typisch für Al-Qaida“, meinte der Präsident. „Aber warum in Deutschland und Frankreich? Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Wir können im Moment nur spekulieren. Aber ich bin sicher, dass demnächst ein Bekennerschreiben oder ein Video erscheinen wird. Vielleicht erfahren wir dann mehr.“
„Okay. Halten Sie mich auf dem Laufenden.“
Ryan verließ das Büro. Präsident Clifford setzte sich an seinen Schreibtisch und griff zum Telefon.
„Herr Bundeskanzler. Das Weiße Haus“, quäkte es aus dem Telefonhörer.
„Ok, stellen Sie durch! ... Gerling.“
„Jan, Bill hier. Furchtbare Sache, die da bei euch passiert ist. Wenn ich irgendetwas tun kann, dann sag es.“
„Danke Bill. Im Augenblick versuchen wir uns zu sammeln. Es gibt noch kaum verwertbare Informationen. Sobald wir die Lage sondiert haben, komme ich auf dein Angebot zurück.“
Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und der deutsche Bundeskanzler hatten sich kennengelernt, als sich Gerling mitten im Wahlkampf befunden und von den furchtbaren Plänen einer Nazi-Organisation erfahren hatte. Die Amerikaner hatten den Bundeskanzler unterstützt und Clifford und er waren gute Freunde geworden.
„Wie geht’s dir?“, fragte der Präsident leise.
„Nicht gut“, antwortete Jan. „Ich habe einen Minister verloren. Ein wirklich netter Kerl, der mit mir zusammen etwas bewirken wollte. Er war erst zweiundsechzig Jahre alt. Ich habe ihn überredet, diesen Job zu übernehmen. Ich ...“
„Wir leben in schwierigen und gefährlichen Zeiten. Das weißt du besser als jeder andere. So traurig der Tod des Ministers auch ist – dich trifft keine Schuld. Fang gar nicht erst an, dir so etwas einzureden. Du hast jetzt nur eine einzige Aufgabe: Finde die Schweine, die das getan haben!“
Mit ernstem Gesicht betrat Innenminister Rosenthal das Büro des Kanzlers. Neben Gerling war auch der Kanzleramtsminister Huber anwesend. „Das solltet ihr euch anschauen“, sagte er und schaltete den Fernseher ein. Zu sehen war eine Pressekonferenz mit Holger Fachner.
„Die Pressefreiheit ist im Grundgesetz verankert“, sagte er gerade. „Heute hat mich Bundeskanzler Jan Philip Gerling unter Androhung schwerster Konsequenzen daran hindern wollen, diesem Grundrecht nachzukommen. Wir Journalisten haben die Aufgabe und die Pflicht, unsere Mitbürger offen und ehrlich zu informieren. Ich stellte dem Bundeskanzler einige Fragen zum Bombenanschlag, die er mir, aus welchen Gründen auch immer, nicht beantworten wollte. Dann fragte ich Herrn Gerling, was er über den Tod von Bundesgesundheitsminister Schäfer wisse. Daraufhin drohte mir der Bundeskanzler, wenn ich diese Nachricht veröffentlichen sollte, hätte ich mit schwersten Konsequenzen zu rechnen. Mein Anwalt bereitet in diesem Moment eine Klage gegen Herrn Gerling vor.“
„Der spinnt doch“, war der einzige Kommentar des Kanzlers. Werner Rosenthal wirkte sehr nachdenklich.
„Hast du ihm gedroht?“, wollte er wissen.
Gerling dachte nach. Dann zuckte er mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, was ich zu ihm gesagt habe. Ich war wütend, weil er die Nachricht vom Tod Schäfers bringen wollte, noch bevor ich die Familie hätte informieren können. Ich meine, Herrgott, ich stand da vor diesem Trümmerfeld, überall brannten Feuer und der Geruch nach verbranntem Menschenfleisch hing in der Luft. Und dann kommt dieser Idiot und stellt mir lauter blödsinnige Fragen. Ich war schockiert, zornig und traurig!“
„Schlechte Ratgeber, das“, belehrte ihn Rosenthal.
„Wie bitte?“
„Zorn und Trauer sind schlechte Ratgeber. Du hättest gar nichts sagen sollen.“
„Vielen Dank für den tollen Tipp!“, erwiderte Gerling sarkastisch und verdrehte die Augen.
„Jan, du bist Bundeskanzler. Du musst dich jederzeit im Griff haben. Schließlich hat dich niemand gezwungen, dahin zu gehen.“
„Warum nehmen Sie diesen Schwachkopf eigentlich so ernst?“, fragte Gerling erstaunt. Huber und Rosenthal wechselten einen Blick. Das war das Problem mit diesem Kanzler. Er war kein Politiker, sondern ein Mann der Taten. Es kümmerte ihn nicht, ob Entscheidungen Wählerstimmen kosteten. Es war für ihn nur von Interesse, ob die Entscheidung die richtige war. Und er ließ sich einfach zu oft von seinen Gefühlen leiten. Meistens lag er zwar richtig. Aber in diesem Fall…
„Er wird Klage gegen dich einreichen. Und ich wette, er wirft dir Nötigung und Amtsmissbrauch vor. Das solltest du auch ernst nehmen. Schließlich hast du dir viele Feinde gemacht. Und alle werden sich darauf stürzen wie die Geier. Sie werden behaupten, du wärst dem Druck nicht gewachsen.“
Jetzt blickte auch der Kanzler nachdenklich.
Die Beamten des Verfassungsschutzes und des BKA saßen um den Fernseher herum und sahen sich immer wieder den gleichen Film an. Aufgenommen von den Überwachungskameras, die auf den Gebäuden rund um das Holocaust-Mahnmal angebracht waren. Die sechs Beamten, drei vom BKA und drei vom Verfassungsschutz, bildeten gemeinsam die Spitze der neuen Anti-Terror Abteilung. Ins Leben gerufen war diese neue Abteilung vom Innenminister worden, als dieser erfahren hatte, dass beide Ämter über unterschiedliche Informationen über Terrororganisationen- und Zellen verfügten, der Austausch untereinander aber zu wünschen übrig ließ.
Das Video zeigte einen Lieferwagen mit dem UPS-Logo, der langsam die Ebertstraße entlangfuhr und stehen blieb. Niemand verließ das Fahrzeug – es stand einfach nur da. Dann gab es plötzlich einen grellen Lichtblitz und man sah nur noch Qualm.
Es hatte etwas Unwirkliches an sich, diese Bilder ohne Ton und in schwarz-weiß zu sehen.
„OK. Jetzt wissen wir wie. Bleiben noch die Fragen wer und warum“, stellte Michael Rensing, Beamter des Verfassungsschutzes, fest. Dirk Voges, Hauptkommissar des BKA, spulte das Band noch einmal zurück, drückte an einer bestimmten Stelle auf die Pause-Taste und starrte auf das Standbild.
Normalerweise vermittelten Pressekonferenzen dem Kanzler immer ein wenig das Gefühl von Langeweile. Die Journalisten hingen mehr oder weniger interessiert in ihren Stühlen, ließen die leeren Worte der Politiker über sich ergehen, machten sich dann und wann Notizen oder taten nur so, als würden sie sich welche machen, stellten hin und wieder ein paar sinnvolle Fragen und verließen dann, in der Regel nicht viel klüger als vorher, den Presseraum.
Diese Pressekonferenz jedoch war anders. Das spürte Gerling sofort, als er den Raum betrat. Die Atmosphäre war voller Spannung und die anwesenden Journalisten musterten ihn voller Erwartung. Gerling ging zum Rednerpult, nahm einen Schluck Wasser und sah in die Runde.
„Heute um 09.00 Uhr wurde unser Land Opfer eines feigen Anschlages. Noch unbekannte Täter haben in unmittelbarer Nähe des Holocaust-Mahnmals eine Bombe gezündet und nach bisherigen Erkenntnissen über hundert Menschen getötet. Unter den Opfern befinden sich viele Kinder und Jugendliche, die das Denkmal besichtigen wollten.“ Der Kanzler nahm noch einen Schluck Wasser.
„Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren, aber bislang wissen wir nicht, wer für dieses abscheuliche Verbrechen verantwortlich ist. Gleichzeitig explodierten in Madrid, London und Paris ebenfalls Bomben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Anschläge von derselben Gruppe verübt wurden, die auch für den Anschlag in Berlin verantwortlich ist, ist sehr hoch. Insgesamt kamen bei den Attentaten mehr als eintausend Menschen ums Leben.“ Der Kanzler machte erneut eine Pause. Dann fuhr er fort.
„Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Anhaltspunkte, die darauf hindeuten, dass mit weiteren Anschlägen zu rechnen ist. Wir wissen nicht, wer dafür verantwortlich ist, daher möchte ich alle Medienvertreter bitten, sich mit Spekulationen über mögliche Terrorgruppen zurückzuhalten. Wir wollen nicht die üblichen Verdächtigen im Voraus beschuldigen. Dies würde uns keinen Schritt weiterbringen. Vielen Dank.“
Der Kanzler wandte sich ab und wollte den Raum verlassen. Die Journalisten riefen durcheinander und bombardierten ihn mit Fragen. Ein Reporter wartete, bis etwas Ruhe einkehrte. Dann rief er Gerling zu: „Herr Bundeskanzler. Was sagen Sie zu den Vorwürfen des Kollegen Fachner hinsichtlich Ihrer angeblichen Drohung?“ Augenblicklich wurde es still im Presseraum.
Der Kanzler sah den Journalisten streng an.
„Ist das Ihr Ernst? In dieser Situation diese Frage zu stellen, wo ich Ihnen gerade mitteilte, dass über eintausend Menschen ihr Leben verloren haben? Sie sollten sich ernsthaft Gedanken über Ihre Prioritäten machen!“ Mit diesen Worten verließ der Kanzler den Presseraum und ließ den Reporter mit hochrotem Gesicht zurück.
Nachdenklich verließ Dirk Voges das Bürogebäude auf der Suche nach einem Imbiss, da er seit fünf Uhr heute Morgen nichts gegessen hatte. Er überquerte die Straße und bog links ab, weil sich in dieser Seitenstraße angeblich eine Imbissbude befand. Aus den Augenwinkeln bemerkte er einen Lieferwagen der Firma UPS. Er blieb stehen und sah dem Fahrzeug nach. Plötzlich stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Er vergaß seinen Hunger und lief dem Wagen nach. Es war sein Glück, dass der Fahrer nicht sehr schnell fuhr, weil dieser eine bestimmte Hausnummer suchte. Als er das richtige Haus gefunden hatte, stellte er den Warnblinker und stieg aus dem Fahrzeug. Er wollte gerade die hintere Tür öffnen, als er sah, dass ein Mann schreiend auf ihn zulief. Irritiert hielt er mitten in der Bewegung inne und schaute den Mann entgeistert an.
Schnaufend kam Voges zum Stehen, zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Fahrer unter die Nase.
„Voges, BKA“, keuchte er und stützte sich am Lieferwagen ab.
Besorgt sah der Fahrer ihn an.
„Alles klar mit Ihnen?“, wollte er wissen.
„Alles klar. Zuviel Schreibtischarbeit, zu wenig Sport. Ist das hier ein ganz normaler Wagen von UPS? Ich meine, sehen alle Lieferwagen so aus wie dieser?“
„Ja, klar“, meinte der Fahrer.
Voges stellte ihm noch eine Frage, dann rannte er wie der Teufel zurück zum Bürogebäude. Kopfschüttelnd sah ihm der Fahrer hinterher.
Voges hatte die Teammitglieder wieder zusammengerufen und alle hatten sich im Besprechungsraum eingefunden. Er betätigte den Videorekorder und sah sich um.
„Schaut euch noch mal das Video an und sagt mir, was euch an dem Fahrzeug auffällt“, bat er die anderen und drückte auf die Starttaste. Das Video zeigte wieder den Lieferwagen, der langsam die Straße entlangfuhr und dann zum Stehen kam.
Er drückte auf die Pausetaste.
„Und?“, fragte er, erntete aber nur verwirrte Blicke. „Was seht ihr?“, hakte er nach.
„Einen Lieferwagen von UPS“, meinte einer.
„Einen stinknormalen Lieferwagen von UPS“, ergänzte ein anderer. Voges sah ihn nachdenklich an. Dann verteilte er Farbkopien, die er vor Beginn der Besprechung erstellt hatte. Sie zeigten einen Lieferwagen von UPS.
„Fällt euch irgendetwas auf?“, fragte er in die Runde.
Die anderen verglichen die Kopie mit dem Standbild. Einige schüttelten den Kopf.
„He!“, sagte einer. „Der Lieferwagen mit der Bombe hatte eine Antenne. Der auf der Kopie nicht!“
Voges lächelte und nickte.
„Genau. Kein einziger Lieferwagen von UPS hat eine Antenne. Die brauchen keine Antennen. Warum also hat dieser hier eine? Und was wir jetzt unbedingt wissen müssen: Wie sahen die Fahrzeuge in Paris, Madrid und London aus?“
Martin von Sengen erhielt kurzfristig einen Termin beim Kanzler. Dies war nicht unbedingt ungewöhnlich. Bemerkenswert war die Dringlichkeit, mit der von Sengen um diesen Termin bat.
„Martin, was kann ich für dich tun?“, fragte Gerling, nachdem sich die beiden gesetzt hatten.
„Die Anti-Terror-Abteilung verfolgt eine interessante Spur. Nur ist sie auf die Hilfe der Franzosen, Engländer und Spanier angewiesen. Aber aus irgendwelchen Gründen lassen die uns auflaufen“, erklärte von Sengen.
„Das heißt, ihr bekommt die Informationen nicht?“, fragte der Kanzler erstaunt nach.
Von Sengen nickte. „Richtig. Die Franzosen sagen, sie müssen erst alle Hinweise auswerten. Die Spanier sagen etwas Ähnliches und die Engländer sagen gar nichts.“
Fassungslos schüttelte Gerling den Kopf. „Die lernen es einfach nicht“, murmelte er. Dann sah er von Sengen an. „Ich kümmere mich darum. Du hörst so schnell wie möglich von mir.“
Es kostete den Kanzler drei Anrufe und fünfzig Minuten Zeit, dann trafen die nötigen Informationen ein.
„Okay. Hier ist der Lieferwagen aus Paris.“ Voges legte drei Kopien auf den Schreibtisch. „Hier der aus Madrid und hier der aus London. Und hier unser Berliner Exemplar. Was sehen wir?“
Es war eindeutig. Alle vier Lieferwagen, die genau wie in Berlin von Überwachungskameras aufgenommen worden waren, hatten auf dem Dach eine Antenne. Diese waren aber laut UPS unnötig und deshalb bei keinem ihrer Fahrzeuge vorhanden.
„Jetzt müssen wir herausfinden, welchen Zweck diese Antennen hatten. Dienten sie der Kommunikation, waren sie Teil des Auslösers, oder was?“ Voges sah in die Runde. „Machen wir uns an die Arbeit!“
Gerling legte gerade den Telefonhörer auf, als Rosenthal sein Büro betrat.
„Alles in Ordnung?“, fragte Rosenthal und setzte sich.
„Ja, alles ok. Das war Katja. Sie ist gerade mit einer Freundin in Griechenland und wollte wissen, wie es mir geht. Ich hab gelogen.“
„Wie meinst du das: du hast gelogen?“
„Ich habe ihr gesagt, dass es mir gut geht. Das war eine Lüge. Mir geht’s beschissen!“
Rosenthal nickte. Er verstand seinen Kanzler. Sie hatten bereits gemeinsam eine schwere Krise überstanden. Als Gerling zum Kandidaten bestimmt worden war, hatten sie herausgefunden, dass ein deutscher Unternehmer viele einflussreiche Politiker erpressbar gemacht hatte. Dieser Unternehmer, Jürgen Ehlers, hatte den Politikern Prostituierte und in einigen Fällen sogar kleine Kinder besorgt und sie bei ihren sexuellen Handlungen gefilmt. Im Zuge ihrer Ermittlungen fanden Gerling und seine Mitarbeiter heraus, dass Ehlers nicht nur die Politiker erpressbar gemacht hatte, sondern auch Nazi war und schon Jahre vorher Nazi-Schläfer in die demokratischen Parteien Deutschlands eingeschleust hatte. Sie deckten die ganze Verschwörung auf, was der Kanzler fast mit seinem Leben bezahlt hätte, als auf ihn ein Attentat verübt wurde. Sie glaubten, alles überstanden zu haben, und hatten gehofft, jetzt Politik machen zu können, da sich das Land immer noch in einer wirtschaftlichen Krise befand. Und nun die Bombenanschläge. Es war nicht weiter verwunderlich, dass es Gerling nicht gutging. Zu allem Überfluss strebte Fachner auch noch eine Klage gegen den Bundeskanzler an. Das einzig Positive war, dass es schlimmer nicht kommen könnte, dachte Rosenthal.
Gerling saß mit seinem neuen Sicherheitsberater zusammen, als die Tür aufging und Werner Rosenthal das Büro betrat. Er wirkte angespannt.
„Das solltet ihr euch ansehen“, sagte er und ging zum Fernseher. Der Kanzler hatte das starke Gefühl eines Déjà-vus. Vor etwas mehr als zehn Stunden hatte der Innenminister sein Büro mit denselben Worten betreten. Zu dem Zeitpunkt hatte der Journalist Fachner angekündigt, dass er vorhabe, den Kanzler zu verklagen.
Jetzt sahen sie die Liveübertragung einer Demonstration. Hunderte von Menschen gingen dicht gedrängt eine Straße entlang. Sie trugen Transparente mit Aufschriften wie „Stoppt das Töten“ oder „Wir haben genug vom islamischen Wahnsinn“. Einer hatte geschrieben „Moslems raus aus Europa!“.
Die Kamera schwenkte nach vorne und Gerling erkannte, dass es dort an der Spitze des Demonstrationszuges zu ersten Ausschreitungen kam. Ein Kommentar wurde eingespielt:
„Wir befinden uns hier im Herzen von Kreuzberg, wo sich Hunderte von Berlinern zu einer spontanen Demonstration zusammengefunden haben. Bis eben verlief alles friedlich, obwohl in diesem Stadtteil der Anteil von Ausländern, darunter sehr viele mit islamischem Glauben, sehr hoch ist. Jetzt jedoch scheint die Stimmung umzuschlagen. Ich sehe mehrere Schlägereien. Schaufenster werden eingeworfen. Ich kann im Augenblick nicht feststellen, ob es Polizeikräfte in der Nähe gibt. Hier droht eindeutig eine Eskalation, obwohl bis jetzt keine rechtsradikalen Parolen zu hören waren.“
Gerling stand auf und griff zu seinem Jackett.
„Wo willst du hin?“, fragte Rosenthal.
„Wohin wohl“, sagte der Kanzler knapp und ging Richtung Tür. Rosenthal sprang auf. Der Sicherheitsberater des Kanzlers beobachtete das Geschehen irritiert.
„Wenn du das vorhast, was ich glaube, dann rate ich dir dringend davon ab!“
Gerling blieb stehen und sah seinen alten Freund lange an. Er kannte Werner Rosenthal seit vielen Jahren. Dieser war sein Jura-Professor an der Uni gewesen und sie hatten sich damals angefreundet. Rosenthal war dem jungen Kanzler schon vor dessen Wahl eine große Hilfe gewesen und es war der ausdrückliche Wunsch Gerlings gewesen, dass Rosenthal das Amt des Innenministers übernahm. Jan legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter und lächelte.
„Soll ich mich hier in meinem Büro verstecken und hoffen, dass alles gut wird? Ist es das, was du von mir erwartest?“ Es war das erste Mal, dass der Kanzler ihn duzte, und Rosenthal blinzelte erstaunt. Ohne ein weiteres Wort verließ Gerling das Büro.
Als Kirchner bewusst wurde, wo Gerling hinwollte, griff er mit entsetzter Miene zum Telefon.
Martin von Sengen rannte auf der Suche nach Gerling durch das Kanzleramt. Kirchners Anruf hatte ihn natürlich alarmiert. Von Sengen gab sofort die Anweisung, dass der Kanzler nicht eher das Amt verlassen dürfe, bis er an dessen Seite sei. Es knackte in seinem Headset.
„Der Kanzler ist in der Tiefgarage und wartet auf Sie.“
Zwei Fahrzeuge verließen die Tiefgarage des Kanzleramtes und fuhren in Richtung Kreuzberg. Martin von Sengen hatte, als er die zuständige Polizei über den Plan des Kanzlers informiert hatte, erfahren, dass die Lage dort tatsächlich eskalierte. Mehrere hundert Demonstranten standen ebenso vielen Moslems gegenüber. Von Sengen war sehr besorgt, wusste aber, dass es keinen Zweck hatte, Gerling von seinem Vorhaben abzubringen. Nach wenigen Minuten tauchten vier Polizeimotorräder auf und verteilten sich. Zwei fuhren an der Spitze und zwei bildeten die Nachhut. Die beiden vorderen Motorradfahrer standen in ständigen Kontakt zur Einsatzzentrale und wurden über Nebenstraßen in die unmittelbare Nähe der Demonstration geleitet. Dort angekommen, stiegen sie ab und die Sicherheitsbeamten bildeten einen Schutzgürtel um den Kanzler. Von Sengen trat dicht an Gerling heran.
„Sobald die Lage bedrohlich wird, bringe ich dich da raus. Mir ist es egal, ob dir das gefällt oder nicht. Hast du mich verstanden?“, flüsterte Martin. Jan zwinkerte ihm zu und Martin verdrehte die Augen. Dann setzten sie sich in Bewegung.
Sie bahnten sich einen Weg durch die Massen. Als die Demonstranten nach und nach bemerkten, wer sich dort einen Weg frei schob, wurde es ruhiger. Vor ihnen bildete sich eine Gasse, die sich hinter ihnen wieder schloss. Die Menschen folgten ihnen langsam. Dann erreichten sie das Epizentrum der Unruhen. Sofort spürten sie die aggressive Stimmung, die in der Luft hing. Die Sicherheitsbeamten rückten näher an den Kanzler heran. Der Lärm war hier ohrenbetäubend. Jan wandte sich an von Sengen.
„Ich brauche ein Megafon“, stellte Gerling fest. Martin leitete den Wunsch weiter und wenig später drückte ihm jemand ein Megafon in die Hand.
„Und jetzt?“, fragte von Sengen und hielt dem Kanzler das Megafon hin.
„Jetzt muss ich auf die andere Seite – zu den Moslems“, sagte dieser und schob sich nach rechts durch die Menge. Die wich, als sie ihn erkannte, erstaunt aus. Von Sengen fluchte und folgte Gerling.
Die beste Übersicht hatte der Polizeihubschrauber, der über dem Geschehen kreiste. Der Demonstrationszug schob sich durch die Yorckstraße in westlicher Richtung auf eine Moschee zu. Ungefähr zehn Meter davor kam der Zug zum Stehen und dort standen sich die beiden Gruppen gegenüber. Auf der einen Seite die aufgebrachten Demonstranten und auf der anderen Seite die Moslems. Die Moschee selbst hatte noch keinen Schaden genommen, aber links und rechts vom Demonstrationszug gab es eingeworfene Schaufenster und Fensterscheiben sowie demolierte Autos. Beide Seiten schrieen sich nach Leibeskräften an und die Atmosphäre war bedrohlich. Jeden Augenblick konnte sie sich entladen.
Plötzlich kam Bewegung in die Gruppe der erregten Moslems. Der Kanzler bahnte sich einen Weg. Viele erkannten ihn und waren erstaunt über sein Erscheinen. Ein in weiß gekleideter Mann mittleren Alters mit schwarzem Haar und Vollbart stellte sich Gerling in den Weg.
„Guten Tag, Herr Bundeskanzler“, sagte er in akzentfreiem Deutsch. „Mein Name ist Akbar Ganji. Ich bin der Mufti dieser Moschee. Darf ich Sie fragen, was Sie vorhaben?“ Ganji lächelte den Kanzler freundlich an. Gerling erwiderte das Lächeln.
„Ich will vermeiden, dass das hier eskaliert“, antwortete er.
Ganji nickte.
„Ich verstehe. Aber Sie müssen wissen, dass eine Eskalation nicht von unserer Seite aus erfolgen würde.“
„Das weiß ich. Deshalb bin ich ja auch auf Ihrer Seite“, erwiderte Gerling doppeldeutig. Dann schob er sich weiter nach vorn bis an die Spitze der Menge. Jetzt hatte er freien Blick auf die aufgebrachte Menge vor ihm. Er hob das Megafon.
„Hallo. Mein Name ist Jan Gerling“, rief der Kanzler. Es wurde still. „Ich möchte Sie bitten, wieder nach Hause zu gehen. Ich denke, wir haben für heute wirklich genug Schlimmes in unserer Stadt erlebt.“
„Wir wollen wissen, wer für den Bombenanschlag verantwortlich ist!“, rief jemand.
„Scheiß Moslems. Das sind alles Killer!“, rief ein anderer und viele stimmten ihm lautstark zu.
„Wir wollen auch wissen, wer für das fürchterliche Attentat verantwortlich ist. Und ich garantiere Ihnen, dass wir die Täter finden werden. Aber das, was hier gerade passiert, hilft keinem!“, rief der Kanzler.
„Scheiß Politiker! Das sind doch alles nur leere Worte!“, hörte Gerling einen der Männer rufen.
„Ich werde nicht zulassen, dass einem dieser unschuldigen Menschen auch nur ein Haar gekrümmt wird. Diese Leute hier haben mit den Anschlägen nichts zu tun!“, machte Gerling klar.
„Verräter!“, schrie einer und ein faustgroßer Stein flog haarscharf am Kopf des Kanzlers vorbei. Mit energischen Schritten ging Gerling auf die pöbelnde Menge zu.
Martin von Sengen erstarrte.
„Oh Scheiße!“, rief er und versuchte, dem Kanzler zu folgen.
Gebannt verfolgten Kirchner und Rosenthal das Geschehen im Fernseher. Die Stimme des Reporters überschlug sich.
„Jetzt sehe ich… Sie werden es nicht glauben, meine Damen und Herren, der Bundeskanzler bahnt sich hier einen Weg durch die Menge. Ja, ist der denn wahnsinnig? Er steht hier auf der muslimischen Seite, wenn Sie mir diese Ausdrucksweise gestatten. Er hat ein Megafon dabei und spricht jetzt zu der aufgebrachten Menge. Ich kann nicht verstehen, was er sagt, aber ich glaube, er versucht, die Demonstranten zu beruhigen. Da! Ein riesengroßer Stein hätte ihn fast getroffen. Ja, gibt’s denn das?“
Rosenthal zuckte zusammen. Kirchner sah ihn von der Seite an.
„Macht der Kanzler öfters solche Sachen?“, fragte der Sicherheitsberater des Kanzlers betroffen.
Rosenthal verzog das Gesicht und schaute betroffen zu Boden.
Der Kanzler war zornig und das sah man ihm auch an. Ohne zu zögern, ging er auf die Menge zu. Diese bildete sofort eine Gasse. Gerling ging in die Richtung, in der er den Werfer vermutete. Eine Reihe unruhiger Bewegungen und Stimmen erregte seine Aufmerksamkeit.
„Lasst mich los!“ Gerling sah einen jungen Mann, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, der von mehreren Personen festgehalten wurde und in seiner Faust einen weiteren Stein umklammerte.
„Hast du eben auf mich geworfen, Junge?“, fragte der Kanzler und durchbohrte den Mann mit seinem Blick.
„Was haben Sie da drüben auch zu suchen?“, rief der junge Mann aufgebracht. „Die haben heute Morgen meine kleine Schwester umgebracht!“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse aus Schmerz und Hass.
„Die? Alle? Das glaubst du doch selbst nicht!“ Gerling ging einen weiteren Schritt auf den jungen Mann zu. Jetzt stand er unmittelbar vor ihm.
„Das mit deiner Schwester tut mir sehr leid“, flüsterte er. „Ich habe heute Morgen einen Freund verloren. Ich weiß, das ist nicht das Gleiche wie eine Schwester, aber es tut auch sehr weh.“
Der junge Mann senkte den Blick.
Dann drehte sich der Kanzler zur Menge und erhob die Stimme:
„Viele haben heute ihre Frau, ihren Mann, ihren Bruder oder ihre Schwester verloren. Aber glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass einer dieser Menschen“, er deutete auf die Moslems hinter ihm, „dass einer dieser unschuldigen Menschen etwas damit zu tun hat? Haltet ihr sie nicht alle für schuldig, weil sie Moslems sind, also anders als ihr?“ Beschwörend sah der Kanzler in die Runde. „Indem ihr unschuldige Menschen verfolgt, anschuldigt und verletzt, lindert ihr keinen Schmerz, ihr vergrößert ihn nur. Geht nach Hause. Geht alle nach Hause und vertraut mir, wenn ich euch sage, dass wir die Schuldigen finden werden.“
Die Menge geriet, wenn auch ein wenig widerwillig, in Bewegung und strebte schließlich auseinander. Der Kanzler wandte sich wieder dem jungen Mann zu. „Lust auf ein Bier?“, fragte er und der junge Mann sah ihn mit großen Augen an.
Akbar Ganji, der Mufti der Moschee, verfolgte das Ganze mit nachdenklicher Miene.
„Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Hast du Todessehnsucht, oder was?“, brüllte ein aufgebrachter Rosenthal. Bevor Gerling dazu kam, dem Innenminister zu antworten, klingelte sein Handy.
„Bist du wahnsinnig, Jan Philip Gerling?“, schrie Katja so laut, dass der Kanzler das Handy vom Ohr weghalten musste. Er grinste Rosenthal entschuldigend an.
„Das ist Katja“, erklärte er, „Hat wohl den Bericht im Fernsehen gesehen.“
Rosenthal, der jedes Wort, das Katja brüllte, mitbekam, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Katja ließ nicht locker, bis Gerling ihr versprach, niemals wieder einen solchen Unsinn zu machen.
Die Presse freilich sah das ganz anders. Für sie war das Einschreiten des Kanzlers kein Unsinn, sondern ein Zeichen von Courage. Der Polizeipräsident von Berlin meinte, dass durch das Einschreiten Gerlings eine Eskalation der Situation und ein Ausbruch von offener Gewalt verhindert worden sei. Auch international fanden die Ereignisse des vierzehnten Juni reges Interesse. Der amerikanische Präsident Clifford rief den Kanzler an und nannte ihn einen durchgedrehten Cowboy. Dann meinte er noch, er hätte einen verdammt guten Job gemacht.
Kanzleramtsminister Huber allerdings machte Gerling darauf aufmerksam, dass sein Einschreiten bei der Demonstration, so gut gemeint es auch war, enorm riskant gewesen sei.
„Was, glauben Sie, wäre geschehen, wenn Ihnen etwas passiert wäre?“, hatte er gefragt. „Stellen Sie sich vor, der Stein hätte Sie getroffen und einer der Demonstranten hätte die Gunst der Stunde genutzt und geschrieen ‚Die Moslems haben den Kanzler angegriffen!‘“ Huber hatte Gerling ernst angesehen. „Mit Ihrem Verhalten hätten Sie die Situation auch massiv verschärfen können, Herr Bundeskanzler. Fangen Sie bitte endlich an, ab und zu wie ein Politiker zu denken und zu handeln. Wenn Ihnen das nicht gelingt, geht das hier voll in die Hose!“
Der Nachrichtensprecher wirkte sehr ernst.
„Heute Morgen erreichte uns ein Bekennerschreiben zu den gestrigen Anschlägen in Berlin, London, Paris und Madrid, bei denen mehr als eintausend Menschen ums Leben kamen. Die Terrororganisation Al-Qaida bekennt sich zu den Anschlägen und kündigte weitere Attentate an. Wörtlich heißt es: ‚Wir werden nicht ruhen, bis auch der letzte westliche Soldat Afghanistan und den Irak verlassen hat. Tod und Verderben werden nicht aufhören und das Leid derer, die glauben, die Macht zu haben, wird ins Unermessliche steigen. Allah ist mächtig und diejenigen von uns, die in dem gerechten Krieg sterben, werden im Paradies unendliches Glück erfahren.’“ Der Nachrichtensprecher sah in die Kamera.
„Die Echtheit der Botschaft wird zurzeit noch überprüft, Kenner halten sie jedoch für authentisch. Eine offizielle Stellungnahme aus dem Kanzleramt liegt noch nicht vor.“
Um einen Menschen einwandfrei identifizieren zu können, genügt ein einzelnes Haar, am besten mit Wurzel, ein einziger Tropfen Blut oder etwas Speichel. Daraus lassen sich die Körperzellen eines Menschen isolieren. Und die enthalten die charakteristische DNS – diese ist so einmalig wie der Fingerabdruck oder die Handschrift der betreffenden Person. Einziges Kriterium zur Identifizierung ist ein Gegenstück der DNS, also eine eindeutig zuweisbare Haut- oder Blutprobe. Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit. Zum Beispiel werden Opfer eines Flugzeugabsturzes identifiziert, indem man die DNS der bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Leichen mit der von Eltern, Geschwistern oder Kindern vergleicht.
Was den Fall der Täter der Bombenanschläge vom vierzehnten Juni so bemerkenswert machte, war die Tatsache, dass von allen vier Tätern Vergleichsmaterial vorhanden war und somit eine hundertprozentige Identifizierung möglich machte. Dies war in der Tat bemerkenswert, aber auch höchst ungewöhnlich. Nur schien dies niemanden zu interessieren. Vielleicht fiel es auch niemanden auf.