Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Professor Dr. Dr. Tobias Banaschewski

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters

68159 Mannheim

Andreas Becker

Zentrum für Psychosoziale Medizin

Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Von-Siebold-Straße 5

37075 Göttingen

Priv.-Doz. Dr. Katja Becker

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters

68159 Mannheim

Professor Dr. Günter Esser

Klinische Psychologie und Psychotherapie

Universität Potsdam

Komplex 2

Karl-Liebknecht-Straße 24–25

14476 Potsdam-Golm

Priv.-Doz. Dr. Christine M. Freitag

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum des Saarlandes

66421 Homburg

Professor Dr. Alexander von Gontard

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Universitätsklinikum des Saarlandes

66421 Homburg

Professor Dr. Sabine C. Herpertz

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

Dr. Christian P. Jacob

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bayerische Julius-Maximilians-Universität

Füchsleinstraße 15

97080 Würzburg

Dr. Monika Johann

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Regensburg am Bezirksklinikum

Universitätsstraße 84

93042 Regensburg

Katrin Lampe

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

Zentrum für Nervenheilkunde der Universität Rostock

Gehlsheimer Straße 20

18147 Rostock

Dr. Rainer Laufkötter

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universität Regensburg am Bezirksklinikum

Universitätsstraße 84

93042 Regensburg

Professor Dr. Klaus-Peter Lesch

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bayerische Julius-Maximilians-Universität

Füchsleinstraße 15

97080 Würzburg

Professor Dr. Wolfgang Retz

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie

Universität des Saarlandes

66421 Homburg

Professor Dr. Michael Rösler

Institut für Gerichtliche Psychologie und Psychiatrie

Universität des Saarlandes

66421 Homburg

Dr. Veit Roessner

Zentrum für Psychosoziale Medizin

Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Von-Siebold-Straße 5

37075 Göttingen

Professor Dr. Aribert Rothenberger

Zentrum für Psychosoziale Medizin

Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Von-Siebold-Straße 5

37075 Göttingen

Dr. Harald Scherk

Zentrum für Psychosoziale Medizin

Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie

Von-Siebold-Straße 5

37075 Göttingen

Professor Dr. Dr. Martin H. Schmidt

Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters

68159 Mannheim

Jutta Schmitt

Psychosomatische Fachklinik Münchwies

Turmstraße 50–58

66540 Neunkirchen

Christina Schwenck

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Füchsleinstraße 15

97080 Würzburg

Professor Dr. Jürgen Staedt

Vivantes-Klinikum Berlin-Spandau

Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Neue Bergstraße 6

13585 Berlin

Dr. Monika Vogelgesang

Psychosomatische Fachklinik Münchwies

Turmstraße 50–58

66540 Neunkirchen

Priv.-Doz. Dr. Susanne Walitza

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Füchsleinstraße 15

97080 Würzburg

Professor Dr. Andreas Warnke

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Füchsleinstraße 15

97080 Würzburg

Priv.-Doz. Dr. Norbert Wodarz

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum

Universitätsstraße 84

93053 Regensburg

Anne Wyschkon

Klinische Psychologie und Psychotherapie

Universität Potsdam

Komplex 2

Karl-Liebknecht-Straße 24–25

14476 Potsdam-Golm

Vorwort

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine häufige Erkrankung, mit der sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie schon seit vielen Jahren intensiv auseinandersetzt. Es existieren daher inzwischen gut ausgearbeitete und evidenzbasierte Leitlinien zur Diagnose und Behandlung betroffener Kinder und Jugendlicher. Anders als dies in der Vergangenheit und bisweilen noch immer angenommen wird, persistiert die Erkrankung in vielen Fällen auch bis in das Erwachsenenalter. Die psychopathologische Kernsymptomatik besteht in allen Lebensaltern aus Aufmerksamkeitsstörungen, erhöhter Impulsivität und Hyperaktivität. Während Impulsivität und Hyperaktivität im Verlauf eine rückläufige Tendenz erkennen lassen oder einem Symptomwandel unterliegen, bleiben die Aufmerksamkeitsstörungen bei Erwachsenen oft unverändert und sind meist mit desorganisiertem Verhalten vergesellschaftet.

Die unterschiedlichen Entwicklungen in den psychiatrischen Fachdisziplinen, die sich entweder mit den Erkrankungen des Kinder- und Jugendalters oder denen des Erwachsenenalters beschäftigen, haben dazu geführt, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der ADHS bei Kindern und Jugendlichen nur teilweise von der Erwachsenenpsychiatrie wahrgenommen und für deren Patienten nutzbar gemacht wurden. Obwohl aus Längsschnittuntersuchungen die Persistenz der ADHS im Erwachsenenalter bereits seit über 20 Jahren bekannt ist, erfolgte bis in die letzten Jahre weder ein nennenswerter Austausch zwischen den Fachdisziplinen noch waren in größerem Umfang wissenschaftliche Aktivitäten im Erwachsenenbereich zu verzeichnen.

Inzwischen sind im deutschsprachigen Raum erfreuliche Entwicklungen des Austausches und der gemeinsamen Erforschung des Krankheitsbildes, seiner Ätiologie, Diagnose und Behandlung in Gang gekommen. Zum Nutzen auch erwachsener Betroffener konnten diese bereits vielerorts in Form ambulanter Hilfsangebote nutzbar gemacht werden. Auch die Erarbeitung evidenzbasierter Leitlinien für die Diagnose und Behandlung der ADHS in diesem Lebensabschnitt stellt einen großen Fortschritt dar. Gleichwohl ist noch ein erheblicher Nachholbedarf an Forschung, deren Vermittlung und Umsetzung vorhanden.

Vor diesem Hintergrund wurde vom Neurozentrum des Universitätsklinikums des Saarlandes 2003 erstmals zu einer nationalen Konferenz eingeladen, bei der unter Einbeziehung aller Berufsgruppen und der Betroffenen selbst die unterschiedlichen Aspekte der ADHS in ihrer biographischen Dimension diskutiert wurden. Die in zweijährigem Abstand stattfindende Veranstaltung will Impulse für einen anhaltenden Dialog und eine Zusammenarbeit geben. Mit Unterstützung verschiedener Fachgesellschaften der Kinder-, Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie wurde 2005 eine zweite Veranstaltung durchgeführt, die sich intensiv mit Fragen der Differentialdiagnose und der Komorbidität der ADHS auseinandersetzte, da sich gezeigt hatte, dass sowohl bei Kindern und Jugendlichen als auch bei Erwachsenen oftmals eine erhebliche Unsicherheit besteht, wenn es darum geht, ADHS von anderen psychischen Störungen abzugrenzen.

Tatsächlich ist der Verlauf der ADHS im Erwachsenenalter mit einer Fülle von gesundheitlichen Risiken, komorbiden Leiden und sozialen Gefährdungen belastet, die ihren Ausgang von der ADHS im Kindesalter und den Komorbiditäten in diesem Lebensabschnitt nehmen. Während bei Kindern die diagnostische Differenzierung der ADHS von anderen Entwicklungs- bzw. Sozialisierungsstörungen oft nicht einfach ist, sind es im Erwachsenenalter affektive Syndrome, Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, die den Blick auf die ADHS-Symptomatik verdecken können. Es liegt auf der Hand, dass eine sorgfältige differentialdiagnostische Abklärung und die angemessene Erfassung komorbider Störungen eine entscheidende Voraussetzung für die Wahl der adäquaten Therapie darstellen.

Wegen des großen Interesses an den auf unserem 2. Saarbrücker ADHS-Kongress im September 2005 diskutierten Themen entstand die Idee, den aktuellen Wissensstand über ADHS und komorbide Erkrankungen in einer Monographie zusammenzutragen. Bei der Konzeption des vorliegenden Buches ließen wir uns inhaltlich von den Vorträgen leiten, die bei der Tagung von namhaften Fachleuten referiert wurden. Durch die Bereitschaft vieler Referenten, das Thema in einem Buchbeitrag darzustellen, ist auf diese Weise ein Buch entstanden, das alle wesentlichen Aspekte der Differentialdiagnose, der Komorbiditätsproblematik sowie der Differentialtherapie abdeckt. Es stellt insofern eine Ergänzung des Angebotes von Büchern zum Thema ADHS dar, als es sich ausschließlich mit der speziellen Komorbiditätsproblematik befasst, und dabei die üblichen Altersgrenzen psychiatrischer Tätigkeit überwindet.

Zur besseren Übersichtlichkeit wurden allgemeine Fragen zur Komorbidität im ersten Teil des Buches zusammengestellt. Weitere Kapitel widmen sich der Komorbidität der ADHS mit einzelnen Störungskomplexen, die je nach ihrer Bedeutung in den verschiedenen Lebensabschnitten von namhaften Kinder- und Jugendpsychiatern und Allgemeinpsychiatern dargestellt werden. Allen Autoren, die am Gelingen dieses Buches engagiert beteiligt waren, gilt der Dank der Herausgeber. Den wissenschaftlich interessierten Leserinnen und Lesern bietet das Buch die Gelegenheit, sich über den aktuellen Stand der Forschung zu informieren, den mehr praxisorientierten Leserinnen und Lesern gibt es Hilfestellungen für die Diagnose und Behandlung der ADHS im Spannungsfeld mit komorbiden psychischen Erkrankungen in verschiedenen Lebensaltern.

Homburg, im Sommer 2007
Christine M. Freitag und Wolfgang Retz

4 ADHS und Ausscheidungsstörungen

Alexander von Gontard

Einleitung

4.1 Kinder mit ADHS/HKS

4.2 Kinder mit Enuresis

4.3 Mögliche Zusammenhänge

Zusammenfassung

Literatur

Einleitung

Ausscheidungsstörungen gehören zu den häufigsten Störungen des Kindesalters. 7-jährige Kinder nässen zu 10 % nachts und 2–3 % tags ein, weitere 2–3 % koten ein (überwiegend tags). Die Prävalenzraten für eine Hyperkinetische Störung (HKS) liegen nach den strengeren ICD-10 Kriterien bei 1–2 %, für ein ADHS nach den weicheren Vorgaben der DSM-IV bei 5–10 %. Selbst unter Annahme der maximalen Häufigkeiten müsste das gleichzeitige, zufällige Zusammentreffen der beiden Störungen bei 1,5 % liegen (15 % Ausscheidungsstörungen x 10 % ADHS = 1,5 % für beide). Tatsächlich liegt die Komorbidität sehr viel, d. h. überzufällig höher. Es scheint eine spezifische Assoziation, möglicherweise aufgrund gemeinsamer neurobiologischer Faktoren, vorzuliegen.

Dieses Kapitel wird auf die Komorbidität von nächtlichem Einnässen (Enuresis nocturna) und ADHS/HKS fokussieren, obwohl auch tags einnässende Kinder betroffen sind. Die Assoziationen wurden seltener bei Kindern mit ADHS untersucht. Die meisten Studien stammen aus der Enuresisforschung, die getrennt dargestellt werden sollen. Zuletzt sollen mögliche gemeinsame Pathomechanismen diskutiert werden.

4.1 Kinder mit ADHS/HKS

In aktuellen Lehrbüchern der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden als wichtige komorbide Störungen des ADHS genannt: Störungen des Sozialverhaltens, affektive, Angst-, Tic- und Teilleistungsstörungen. Dagegen wird die häufige komorbide Assoziation zwischen ADHS und Enuresis ignoriert (Lehmkuhl und Döpfner 2003; Schachar und Tannock 2002). Zwei wichtige Untersuchungen zu Kindern mit ADHS sollen deshalb näher besprochen werden.

Biederman et al. (1995) verglichen 140 6-bis 17-jährige Jungen mit ADHS und 120 Kontrollen (ohne ADHS). Signifikant mehr Kinder mit ADHS hatten Enuresis (32 %) als Kontrollen (14 %). In beiden Gruppen nässten der überwiegende Teil nachts ein – 78 % (bei ADHS) bzw. 77 % (bei den Kontrollen). Wie zu erwarten, waren psychosoziale Risiken häufiger bei Kindern mit ADHS als bei den Kontrollen, dagegen waren sie nicht erhöht bei Kindern mit Enuresis im Vergleich zu nicht-einnässenden Kindern. Interessant ist der Effekt von weiteren Komorbiditäten, auf die das Einnässen (unabhängig ob mit oder ohne ADHS) keinen Einfluss zu haben scheint (s. Tab. 4.1). In anderen Worten, Enuresis steigert nicht das allgemeine Risiko für weitere psychopathologischen Auffälligkeiten.

Tab. 4.1: Komorbiditäten bei vier Gruppen von Kindern jeweils mit/ohne ADHS und Enuresis (nach Biederman et al. 1995)

ADHS (n = 140)

Kontrollen (n = 120)

Enuresis

Keine Enuresis

Enuresis

Keine Enuresis

Jede Komorbidität

56 %

50 %

6 %

8 %

Angststörungen

36 %

24 %

0

5 %

Depressive Störungen

29 %

28 %

6 %

1 %

Störungen des Sozialverhaltens

18 %

23 %

0

4 %

Tab. 4.2: Odds-ratio für Enuresis nocturna und für Einnässen tags (nach Robson et al. 1997)

Kinder mit ADHS (n = 153)

Kontrollen (n = 152)

Odds-ratio

Im Alter von 6 Jahren

Enuresis nocturna

20,9 %

7,8 %

2,7

Einnässen tags

6,5 %

2,1 %

4,5

Aktuelles Alter

Enuresis nocturna

3,9 %

2,9 %

2,6

Einnässen tags

13,1 %

1,4 %

11,7

In der zweiten, retrospektiven Studie verglichen Robson et al. (1997) 153 6- bis 14-jährige Patienten mit ADHS und 152 Kontrollen. Wie in der nächsten Tab. 4.2 ersichtlich, war die Wahrscheinlichkeit (odds-ratio) für eine Enuresis um 2,6- bis 2,7-fach erhöht, wenn die Kinder ein ADHS aufwiesen. Sehr viel deutlicher war der Unterschied für ein Einnässen tagsüber – bezogen auf das Alter von 6 Jahren, aber vor allem, wenn das aktuelle Alter berücksichtigt wurde (11,2 Jahre bei ADHS, 10,2 Jahre bei Kontrollen).

4.2 Kinder mit Enuresis

Die meisten Untersuchungen gehen von einnässenden Kindern aus. Die Ergebnisse der eigenen Studie finden sich in Tab. 4.3. Es wurden prospektiv 167 konsekutiv vorgestellte Kinder im Alter von 5–11 Jahren mit Einnässen untersucht (von Gontard et al. 1999). Insgesamt erfüllten 9,6 % die Kriterien für ein HKS nach ICD-10. Erstaunlicherweise unterschieden sich die einzelnen Subgruppen des Einnässens nicht bezüglich der Häufigkeit eines gleichzeitigen HKS. Es fanden sich keine Unterschiede zwischen Kindern mit Enuresis nocturna und Einnässen tags. Kinder mit einer sekundären Enuresis nocturna (d. h. mit einem Rückfall nach > 6 Monaten Trockenheit) und Kinder mit einer Harninkontinenz bei Miktionsaufschub (tags einnässende Kinder, die selten auf die Toilette gehen und die Miktion zurückhalten) hatten die höchsten Raten von HKS – allerdings waren die Differenzen nicht signifikant. Zudem sind es auch die beiden Einnässformen, die allgemein das höchste Risiko für eine begleitende psychische Störung tragen (von Gontard et al. 1999).

Tab. 4.3: Komorbidität von HKS bei verschiedenen Formen des Einnässens (nach von Gontard et al. 1999)

Einnässform (n)

Häufigkeit von HKS (ICD-10)

Gesamt (167)

9,6 %

Enuresis nocturna (110)

9,1 %

Primäre EN (82)

6,1 %

Sekundäre EN (28)

17,9 %

Einnässen tags (57)

10,5 %

Dranginkontinenz (22)

4,5 %

Miktionsaufschub (28)

14,3 %

Zusammengefasst ist das Risiko für ein HKS nicht spezifisch für die Enuresis nocturna, sondern scheint global für alle einnässenden Kinder erhöht zu sein – besonders bei den Störungen, bei denen psychische Faktoren besonders beteiligt sind.

Gegenüber nicht einnässenden Kindern sind diese Komorbiditätsraten eindeutig erhöht. In einer neuen eigenen Studie wurden 37 Kinder mit Enuresis nocturna und 40 Kontrollen im Alter von 8–13 Jahren verglichen. Die Raten für ein HKS oder ein ADHS waren gleich: 13,5 % (5) der einnässenden Kinder, aber nur 2,5 % (1) der Kontrollen waren betroffen (Freitag et al. 2006).

Die besten und umfassendsten Arbeiten zur Komorbidität von Enuresis nocturna und ADHS stammen von der belgischen Arbeitsgruppe um Baeyens (2005), die mehrere, z. T. noch nicht publizierte Studien durchführten.

Bei 120 Kindern (6–12 Jahre) mit Enuresis nocturna, die an einer Universitätskinderklinik vorgestellt wurden, fand sich eine hohe ADHS-Gesamtrate von 40 % (n = 48). 22,5 % hatten den unaufmerksamen, 15 % den kombinierten und 2,5 % den hyperaktiven Subtyp. Diese Komorbiditätsrate ist abhängig von Selektionseffekten wie Baeyens (2005) in einer zweiten Studie an 80 Kindern mit Enuresis nocturna zeigen konnte, die über Anzeigen rekrutiert wurden: Insgesamt hatten 29 % ein ADHS – 14 % den unaufmerksamen, 9 % den hyperaktiven und 6 % den kombinierten Subtyp.

In einer 2-Jahres-Katamnese konnten 86 (von 120) Kinder der ersten Studie nachuntersucht werden. Die ADHS-Diagnose zeigte eine hohe Stabilität und konnte bei 72,5 % (n = 29) wieder bestätigt werden. Kinder mit ADHS nässten zum Katamnese-Zeitpunkt wesentlich häufiger ein (65 %) als Kontrollen (37 %) (odds-ratio 3.17; Baeyens 2005).

Ohne Zweifel haben Kinder mit der Kombination von Enuresis und ADHS schlechtere Behandlungsergebnisse und nässen länger und häufiger ein. Crimmins et al. (2003) untersuchten retrospektiv 192 einnässende Kinder mit ADHS und einnässende Kontrollen ohne ADHS. Die wichtigsten Ergebnisse sind Tab. 4.4 zusammengefasst. Für die Enuresis nocturna ist die apparative Verhaltenstherapie (AVT) mit einem Klingelgerät Mittel der ersten Wahl – korrekt durchgeführt, werden 70 % der Kinder trocken (Houts et al. 1994). Die AVT erfordert allerdings eine aktive Mitarbeit von den Kindern. Wie man sehen kann, ist die Erfolgsrate nach sechs und nach zwölf Monaten bei Kindern mit einem ADHS sehr viel ungünstiger – aufgrund der fehlenden Compliance, die sehr viel schlechter ist als bei Kindern ohne ADHS. Medikamente sind Mittel der zweiten Wahl. Sowohl Desmopressin wie auch Imipramin haben eindeutige antienuretische Effekte – allerdings sind sie bei den meisten Kindern nicht kurativ, da sie nach dem Absetzen einen Rückfall erleiden (Houts et al. 1994; von Gontard und Neveus 2006). Da sie keine aktive Kooperation erfordern – sprechen Kinder mit und ohne ADHS ähnlich an – solange sie unter Medikation stehen.

Tab. 4.4: Therapieerfolg und Compliance bei einnässenden Kindern mit und ohne ADHS (nach Crimmins et al. 2003)

Einnässen + ADHS

Einnässen

p

Enuresis nocturna

Therapieerfolg

AVT* (6 Monate)

43 %

69 %

< 0.01

AVT* (12 Monate)

19 %

66 %

< 0.01

Desmopressin (unter Medikation – 12 Monate)

63 %

66 %

n. s.

Imipramin (unter Medikation – 12 Monate)

40 %

32 %

n. s.

Non-Compliance

38 %

22 %

< 0.05

Einnässen tags

Therapieerfolg

Therapie insgesamt

68 %

91 %

< 0.01

Non-Compliance

48 %

14 %

< 0.01

* AVT: Apparative Verhaltenstherapie (Klingelgerät)

Auch tags einnässende Kinder haben eine schlechtere Therapieprognose. Bis auf die Dranginkontinenz, bei der zusätzlich Anticholinergika indiziert sein können, sind verschiedene Trainingsprogramme Mittel der ersten Wahl (von Gontard und Neveus 2006). Diese erfordern wiederum Mitarbeit und Compliance, die viele Kinder mit ADHS nicht leisten.

4.3 Mögliche Zusammenhänge

Das Einnässen tags (funktionelle Harninkontinenz) ist eine heterogene Gruppe von Störungen, die sich bezüglich Ätiologie und Pathogenese völlig unterscheiden (von Gontard und Neveus 2006). Einige Störungen (wie die Harninkontinenz bei Miktionsaufschub) sind eher psychogen bedingt, bei anderen (wie die Dranginkontinenz) sind genetische Faktoren beteiligt. Warum ADHS global bei so divergenten Störungen so häufig auftritt, ist nicht geklärt.

Tab. 4.5: Einnässen bei Eltern in vier Gruppen von Kindern mit/ohne ADHS/primäre Enuresis nocturna (nach Bailey et al. 1999)

Diagnosen der Kinder

Einnässen bei Eltern

Primäre Enuresis nocturna

40 %

Primäre Enuresis nocturna + ADHS

38 %

ADHS

11 %

Kontrollen

6 %

Bei der Enuresis nocturna sind drei pathogenetische Mechanismen am wichtigsten: 1. eine vermehrte Urinbildung nachts (Polyurie), 2. ein fehlendes Erwachen bei voller Blase und 3. eine fehlende Unterdrückung des Miktionsreflexes im Schlaf (von Gontard und Neveus 2006). Diese werden über genetische Faktoren vermittelt – bei der Hälfte der Familien geht man von einem autosomal-dominanten Erbgang mit reduzierter Penetranz aus und mehrere Loci wurden in Kopplungsuntersuchungen identifiziert (s. von Gontard et al. 2001).

Bisher wurde nur eine formal genetische Untersuchung zur Komorbidität von ADHS und Enuresis an 126 Jungen (6–12 Jahre) durchgeführt (Bailey et al. 1999). Es wurden vier Gruppen gebildet und die jeweilige Einnässhäufigkeit bei den Eltern erfasst. Wie man in der nächsten Tab. 4.5 sehen kann, nässten ähnlich viele Eltern von Kindern mit Enuresis nocturna ein – unabhängig, ob sie zusätzlich von einem ADHS betroffen waren oder nicht. Da auch Eltern von Kindern mit ADHS ohne Enuresis und Kontrollen sich nicht unterschieden, wurde gefolgert, dass Enuresis nocturna und ADHS nicht gemeinsam vererbt werden. Allerdings erfordern diese Ergebnisse eine Replikation und molekulargenetische Studien fehlen.

In der Pathogenese der Enuresis nocturna scheinen Hirnstammfunktionen eine besondere Rolle zu spielen. Neurophysiologisch zeigte sich in zwei Studien ein Inhibitionsdefizit der „passiven“ Modulation des Blinkreflexes (prepulse inhibition) bei der Enuresis – nicht jedoch bei ADHS und bei Kontrollen (Ornitz et al. 1999; Baeyens 2005). Dies wurde als spezifisches Defizit des pontinen Miktionszentrums interpretiert, das die Blasenentleerung im Schlaf nicht genügend hemmt. In einer neuen Studie konnten diese Befunde nicht repliziert werden, dafür fanden sich verzögerte Latenzen der frühen akustisch evozierten Potentiale, die mit einer allgemeinen Hirnstammdysfunktion, z. B. des Arousals vereinbar wären (Freitag et al. 2006).

Wenn jedoch die Blink-Modulation (prepulse inhibition) nicht „passiv“ abgeleitet wurde, sondern mit einem aktiven Aufmerksamkeitsparadigma verbunden war, zeigten Kinder mit einem ADHS des unaufmerksamen Subtyps besondere Schwierigkeiten (Baeyens 2005). Dies könnte eine Erklärung für die ungünstige Therapieprognose sein – vor allem bei Therapiemethoden, die eine aktive Mitarbeit erfordern (Crimmins et al. 2003).

Letztendlich ist auch die Komorbidität zwischen Enuresis nocturna und ADHS nicht geklärt, obwohl gemeinsame neurobiologische Mechanismen sehr wahrscheinlich sind. Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren sind geplant, aber bisher noch nicht erfolgt. Alle anderen Annahmen, z. B. ob gemeinsame dopaminerge Systeme betroffen sind, sind zum jetzigen Zeitpunkt reine Spekulation. Interessant und für die Zukunft möglicherweise wegweisend sind jedoch die pharmakologischen Zusammenhänge: Stimulanzien wirken bei ADHS, nicht jedoch bei der Enuresis nocturna (Houts et al. 1994). Trizyklische Antidepressiva haben sowohl einen antidiuretischen Effekt und verfügen über positive Effekte bei ADHS. Zuletzt hat Desmopressin einen antidiuretischen Effekt, kann aber als Nebenwirkung eine Hyperkinese auslösen (von Gontard und Lehmkuhl 1996).

Zusammenfassung

Literatur

Baeyens D (2005) The relationship between attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) and enuresis in children. PhD thesis, Gent, Belgium

Bailey JN, Ornitz EM, Gehricke JG, Gabikian P, Russell AT, Smalley SL (1999) Transmission of primary nocturnal enuresis and attention deficit hyperactivity disorder. Acta Paediatr 88: 1364–1368

Biederman J, Santagelo SL, Faraone SV, Kiely K, Guite J, Mick E, Reed ED, Kraus I, Jellinek M, Perrin J (1995) Clinical correlates of enuresis and ADHD and non-ADHD children. J Child Psychol Psychiatry 36:865–877

Crimmins CR, Rathburn SR, Husman DA (2003) Mangement of urinary incontinence and nocturnal enuresis in attention-deficit hyperactivity disorder. J Urol 170:1347–1350

Freitag CM, Röhling D, Seifen S, Pukrop R, von Gontard A (2006) Neurophysiology of nocturnal enuresis: evoked potentials and prepulse inhibition of the startle reflex. Dev Med Child Neurol 48:278–84

von Gontard A, Lehmkuhl G (1996) CNS/behavior side effects of desmopressin. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 35:129–130

von Gontard A, Plück J, Berner W, Lehmkuhl G (1999) Clinical behavioral problems in day and night wetting children. Pediatr Nephrol 13:662–667

von Gontard A, Schaumburg H, Hollmann E, Eiberg H, Rittig S (2001) The genetics of enuresis – a review. J Urol 166:2438–2443

von Gontard A, Neveus T (2006) Management of Disorders of Bladder and Bowel Control in Childhood. Mac Keith Press, London

Houts AC, Berman JS, Abramson H (1994) Effectiveness of psychological and pharmacological treatments for nocturnal enuresis. J Consult Clin Psychol 62:737–745

Lehmkuhl G, Döpfner M (2003) Aufmerksamkeits/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). In: Herpertz-Dahlmann B, Resch F, Schulte-Markwort M, Warnke A (Hrsg) Lehrbuch der Entwicklungspsychiatrie. Schattauer Verlag, Stuttgart. 524–540

Ornitz EM, Russell AT, Hanna G, Gabikian P, Gehricke J-G, Song D, Guthrie D (1999) Prepulse inhibition of startle and the neurobiology of primary nocturnal enuresis. Biol Psychiatry 45:1455–1466

Robson WL, Jackson HP, Blackhurst D, Leung AK (1997) Enuresis in children with attentiondeficit hyperactivity disorder. South Med J 90:503–505

Schachar R, Tannock R (2002) Syndromes of hyperactivity and attention deficit. In: Rutter M, Taylor E (Hrsg) Child and adolescent psychiatry (4. ed.). Blackwell Science, Oxford

5 Tic-Störungen und ADHS

Veit Roessner, Andreas Becker, Tobias Banaschewski und Aribert Rothenberger

Einleitung

5.1 Basisinformationen zu Tic-Störungen

5.2 Tic-Störungen als Differentialdiagnose zu ADHS

5.3 Tic-Störungen als Komorbidität von ADHS

5.3.1 Neurobiologie

5.3.2 Neuropsychologie

5.3.3 Psychopathologie

5.3.4 Psychosoziale Beeinträchtigung

5.3.5 Diagnostik

5.3.6 Therapie

Psychoedukation

Krankheitsbewältigung

Nicht-medikamentöse Interventionen

Medikamentöse Interventionen

Fazit

Literatur

Einleitung

Das folgende Kapitel soll den Leser in kompakter Form über den aktuellen Stand der Wissenschaft zur Komorbidität von Tic-Störungen (TS) und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) informieren. Es konzentriert sich hierbei auf empirische Daten und klinische Erfahrungen.

5.1 Basisinformationen zu Tic-Störungen

Tic-Störungen (TS) werden entsprechend ICD-10 (Dilling et al. 2000) in vorübergehende Tic-Störung (ICD10: F95.0), chronisch motorische oder vokale Tic-Störung (ICD10: F95.1) und kombinierte vokale und multiple motorische Tics (Tourette-Syndrom, auch Gilles-de-la-Tourette-Syndrom; ICD10: F95.2) und seltenere Formen eingeteilt. Für alle drei Formen der TS sind Tics das alleinige Leitsymptom. Es handelt sich dabei um plötzliche, unwillkürliche Bewegungen und/oder Lautäußerungen, die typischerweise schnell und abrupt einschießen, kurz (weniger als eine Sekunde) andauern und sich oft in kurzen Serien stereotyp wiederholen, aber keinen Rhythmus entwickeln. Obwohl sie nicht zweckgerichtet sind und subjektiv als bedeutungslos erlebt werden, können sie in Willkürhandlungen eingebaut sowie in der Regel für unterschiedliche Zeitspannen unterdrückt werden. Definitionsgemäß muss das Vorliegen einer anderen, Tics verursachenden Erkrankung ausgeschlossen sein.

Während vorübergehende TS kaum zu Beeinträchtigungen führen und vor Ablauf eines Jahres spontan remittieren, zeigen chronische TS einen oft längerfristigen Verlauf mit unregelmäßig variierender Symptomausprägung hinsichtlich Komplexität, Art, Intensität und Häufigkeit. Diese Schwankungen erstrecken sich oft über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Wochen und treten meist ohne erkenntlichen Grund auf. Situativ können die Tics unter emotionaler Beteiligung (z. B. Angst, Ärger, Freude), Stress und Ermüdung zunehmen, wohingegen sie oft bei konzentrativer Beschäftigung, Ablenkung, Entspannung und im Liegen sowie unter Cannabis- oder Alkoholeinfluss nachlassen; sie interferieren kaum mit intendierten Bewegungen und kommen seltener, in der Stärke abgemildert und weniger komplex in allen Schlafstadien vor (Rothenberger et al. 2007). Mit zunehmendem Alter, aber nicht Erkrankungsdauer, berichten mehr und mehr Betroffene über den Tics vorausgehende sensomotorische Vorgefühle, die meist regional umschrieben auftreten und mit Ausführen des Tics reduziert werden. Bei willentlicher Unterdrückung der Tics stellt sich bei vielen entsprechend ein lokales, aber nicht selten auch generalisiertes Gefühl der inneren Unruhe und Spannung ein.

5.2 Tic-Störungen als Differentialdiagnose zu ADHS

Die bei typischen bzw. schweren Symptomen leicht zu treffende Unterscheidung zwischen Vorliegen einer TS oder einer ADHS kann bei leicht bis mittelschwer ausgeprägten TS doch problematisch sein. Denn Tics sind in der Schule manchmal nicht ausreichend ausgeprägt, um aufzufallen bzw. werden vom Betroffenen in der Schule unterdrückt, was kognitive Ressourcen bindet und so zu Aufmerksamkeitsproblemen führen kann. Auch können Serien von leichten bzw. durch Unterdrückung modifizierten Tics als allgemeine motorische Unruhe fehlinterpretiert werden. So sind diese Verhaltensauffälligkeiten und die unzureichende Mitarbeit nicht im Sinne einer ADHS zu werten, sondern ihnen liegt eine TS zugrunde.

5.3 Tic-Störungen als Komorbidität von ADHS

Aber auch das zeitgleiche Vorliegen von TS und ADHS ist regelmäßig zu beobachten und kann gerade bei leicht bis mittelschwer ausgeprägten Tics zu diagnostischen Schwierigkeiten führen. Während in zahlreichen Studien zu TS das Vorliegen einer begleitenden ADHS bei etwa 50 % berichtet wurde, geht man davon aus, dass ungefähr 20 % der Kinder mit einer ADHS zusätzlich Tics zeigen (Kadesjo und Gillberg 2000; Spencer et al. 2001). Eine voll ausgeprägte ADHS ist oft um das siebte Lebensjahr zu beobachten, wohingegen der Gipfel bei TS später im Alter von etwa 10–12 Jahren liegt (s. Abb. 5.1). Folglich gehen ADHS-Symptome ersten Tics meist um etwa drei Jahre voraus. Kein Unterschied besteht hinsichtlich des Altersgipfels beim Auftreten erster Symptome einer ADHS mit und ohne Tics (Spencer 1999; Biederman et al. 1999). In der Mehrzahl der Fälle nehmen Tics im Laufe des Erwachsenwerdens deutlich ab, während die Symptome einer ADHS vielfach fortbestehen. Während bei TS Neuerkrankungen im Erwachsenenalter berichtet werden und teilweise mit früheren Zwangssymptomen assoziiert sind (Eapen 2002), ist das Neuauftreten von Tics + ADHS im Erwachsenenalter nicht beobachtet worden.

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Abb. 5.1: Zeitlicher Verlauf von TS, ADHS und Zwangsstörung (nach Leckman 2002)

5.3.1 Neurobiologie

Weder bei TS noch bei ADHS wurde bisher ein alleinverantwortliches, störungsspezifisches Gen gefunden. Pauls und Leckman (1986) konnten zeigen, dass TS und ADHS unabhängig voneinander bei Verwandten von Betroffenen, die eine der beiden Erkrankungen aufwiesen, vorkommen und zogen daraus den Schluss, dass eine komorbide ADHS bei Patienten mit TS lediglich häufiger zum Kontakt mit professionellen Stellen geführt habe. In einer weiteren familiengenetischen Studie wurde vermutet, dass bei den Tics vorausgehenden ADHS-Symptomen kein genetischer Zusammenhang besteht, während bei einer den Tics nachfolgenden ADHS ein solcher Zusammenhang zu bestehen scheint (Pauls et al. 1993). Als Erklärungsmodell wurde angenommen, dass genetisch determinierte Störungen im Dopamin- und Serotonin-Stoffwechsel für beide Störungen und bei bestimmter Konstellation auch für das gemeinsame Auftreten verantwortlich sein könnten (Comings und Comings 1984; Comings und Comings 1987).

Auf dem Gebiet der bildgebenden Verfahren wurden bis auf wenige Ausnahmen (Castellanos et al. 1996; Ernst et al. 1999; Peterson et al. 2000; s. a. unten bei PAN-DAS) keine Befunde explizit zu Patienten mit beiden Störungen (TS + ADHS) publiziert. Insgesamt zeigte sich, dass die Befunde noch keine klare Aussage zur Störungsspezifität zulassen.

In Untersuchungen zu strukturellen Veränderungen (s. Tab. 5.1) bei Kindern mit TS war im Vergleich zu Gesunden das Volumen des frontalen Cortex erhöht und das des Corpus callosum vermindert, wohingegen sich bei Erwachsenen mit TS genau das Gegenteil zeigte (Peterson et al. 2001; Gerard und Peterson 2003; Plessen et al. 2004). In den meisten Studien zu Kindern und Jugendlichen mit ADHS fanden sich neben einem reduzierten Gesamtvolumen des Gehirns (Castellanos et al. 2002; Mostofsky et al. 2002) Auffälligkeiten hinsichtlich der Frontallappen: kleineres Volumen im orbitofrontalen Cortex (Hesslinger et al. 2002) und in prämotorischen und präfrontalen Regionen (Mostofsky et al. 2002). Kates et al. (2002) verglichen direkt 13 Jungen mit ADHS, 13 Jungen mit TS und 13 gesunde Kontrollen. Bei den Jungen mit ADHS fanden sie im Vergleich zu den Gesunden im linken präfrontalen Cortex eine deutliche Volumenminderung der grauen und weißen Substanz und im Vergleich zu den Jungen mit TS ein deutlich vermindertes Gesamtvolumen des präfrontalen Cortex.

Tab. 5.1: Morphologische Befunde bei Kindern und Jugendlichen mit TS und/oder ADHS

TS

TS + ADHS

ADHS

Frontallappen

?

⇓ (⇓)

Basalganglien

?

Corpus callosum

?

⇓ (Rostrum)

⇓ = verringertes Volumen
⇑ = vermehrtes Volumen

Daneben wurden sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen Veränderungen des Nucleus caudatus mit der Pathophysiologie der ADHS sowie der TS in Zusammenhang gebracht. Es wurde von vermindertem Volumen (ADHS bei Kindern (Castellanos et al. 2002), TS (Peterson et al. 2003; Bloch et al. 2005)) ebenso wie von Abweichung von der natürlichen Asymmetrie berichtet (ADHS (Hynd et al. 1993; Mataro et al. 1997), TS (Moriarty et al. 1997)). Eine Veränderung im Laufe der Entwicklung konnte bei ADHS mit der Normalisierung des ehemals unterdurchschnittlichen Volumens des Nucleus caudatus in der späten Jugendzeit nachgewiesen werden (Castellanos et al. 2002). Bei einem 17-jährigen männlichen Jugendlichen mit TS, Zwangsstörung, ADHS und Stottern fanden sich im MRT umschriebene, symmetrische Läsionen beidseits im Globus pallidus (Demirkol et al. 1999). Das Putamen war vornehmlich bei Erwachsenen mit TS (Peterson et al. 2000; Peterson et al. 2003) und bei Kindern mit ADHS (Overmeyer et al. 2001) kleiner als bei den gesunden Kontrollen.

Castellanos et al. (1996) fanden beim Vergleich von Jungen mit TS + ADHS und Jungen, die nur eine ADHS aufwiesen, sowie gesunden Kontrollen als einziges signifikantes Ergebnis Unterschiede im Globus pallidus, wo sich eine Umkehr der natürlichen rechts > links Asymmetrie fand.

Die Befunde funktioneller bildgebender Verfahren sowohl zu TS als auch ADHS sind ebenfalls heterogen. Als aktuelles Fazit kann man festhalten, dass eine Verminderung der untersuchten Stoffwechselvorgänge bei TS hauptsächlich in den Basalganglien (Adams et al. 2004) und bei ADHS im dorsalen anterioren und lateralen präfrontalen Cortex sowie dem Striatum und Cerebellum (Bush et al. 2005) nachgewiesen wurde.

Nur eine Studie untersuchte speziell Patienten mit komorbider TS + ADHS. Diese Untersuchung mit 18F-DOPA verglich elf Patienten mit TS bzw. TS + ADHS und zehn gesunde Kontrollen (Ernst et al. 1999). Die 18F-DOPA Aufnahme war bei den Patienten im linken Nucleus caudatus um 25 % höher und zeigte ebenfalls eine Erhöhung (nur Trend) im rechten Mittelhirn (53 % höher). Bei der Unterscheidung TS + ADHS gegen reine TS ohne ADHS zeigte sich eine reduzierte Aufnahme im linken Nucleus caudatus bei gleicher Aufnahme im rechten Mittelhirn.

Bei einem Teil der Betroffenen mit TS, Zwangsstörungen und ADHS scheinen immunologische Mechanismen von Bedeutung zu sein. Der zunehmend diskutierte ursächliche Einfluss von Infektionen mit β- hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A bei Tics und Zwängen, aber auch ADHS, bleibt allerdings weiterhin umstritten. Pathogenetisch dürften Antikörper gegen bakterielle Zellmembranen, die mit neuronalen Membranen im Gehirn (Basalganglien) im Sinne einer Autoimmunreaktion kreuzreagieren verantwortlich sein. Manche Formen der TS, Zwangsstörung und der ADHS mit genau definierten Kriterien könnten demnach gemeinsam mit der Chorea minor den Pediatric Autoimmune Neuropsychiatric Disorders Associated with Streptococcal Infection (PANDAS) zugerechnet werden. Dies könnte hinsichtlich des Einsatzes immunmodulierender Therapien von Interesse sein. Besonders zum ADHS sind diesbezüglich noch wenige Studienergebnisse veröffentlicht worden. Ergebnisse zu Patienten mit beiden Störungen führten zu der Schlussfolgerung, dass evtl. ein begleitendes ADHS und nicht primär die TS mit den beobachteten immunologischen Mechanismen inklusive strukturellen Veränderungen der Basalganglien in Verbindung gebracht werden können (Peterson et al. 2000). Diese Veränderungen wurden als entzündungsbedingte Schwellung interpretiert. Zu beachten ist aber, dass bislang noch keinerlei Fragen zur Kausalität definitiv beantwortet werden konnten. Neueste Ergebnisse zeigen keinen Zusammenhang zwischen PANDAS, TS und antineuralen Antikörpern (Singer et al. 2005).

Bei neurophysiologischen Verfahren, wie der transkraniellen Magnetstimulation (TMS), waren bei Patienten mit reiner TS im Vergleich zu gesunden Kindern eine verkürzte corticale „silent period“ und damit ein Hinweis auf defizitäre inhibitorische Prozesse – wahrscheinlich auf Ebene der Basalganglien – zu beobachten. Eine verminderte intracorticale Inhibition und damit ein Hinweis auf defizitäre inhibitorische Prozesse eher im Bereich des Motorcortex zeigten sich bei Kindern mit ADHS. In der komorbiden Gruppe waren beide neurophysiologischen Veränderungen im Sinne eines additiven Effektes hinsichtlich eines Inhibitionsdefizites im motorischen System aufzeigbar (Moll et al. 2001). Ähnliches fand sich bei schlafmedizinischen Untersuchungen. Da sowohl bei TS als auch ADHS vermehrt Veränderungen des Schlafes beobachtet werden, nimmt man an, dass jeweils neuronale Äquivalente beider Störungen an der gestörten Regulation des Schlafes beteiligt sind. So zeigte sich auch bei Vorliegen beider Störungen ein unabhängiges Auftreten der jeweils spezifischen Veränderungen, was ein additives Modell unterstützt (Kirov et al. 2007).

Die elektrophysiologische Untersuchung des Einflusses sowohl von Tics als auch von ADHS Symptomen auf die langsamen corticalen Wellen bei kognitiven Leistungen erschien vielversprechend, da die Frontalhirnfunktion eng mit der Eigensteuerung von Verhalten zusammenhängt. Befunde zu Amplitude, Topographie und Korrelationskriterien der frühen und späten Komponenten langsamer negativer Potentiale verdeutlichten aber, dass es sich je nach Anforderungsgrad der bearbeiteten Aufgaben um ein additives (geringere Anforderung) bzw. interaktives (höhere Anforderung) Zusammenwirken handelt (Yordanova et al. 1996, 1997).

Ergebnisse zur Okulomotorik bei TS und ADHS lassen schließen, dass Tics mit einem verzögerten Beginn der motorischen Antwort verbunden sind, während Beeinträchtigungen der Inhibition und erhöhte Variabilität der motorischen Antwort mit dem Vorliegen einer ADHS assoziiert sind (Mostofsky et al. 2001).

Aufgrund von neurochemischen Analysen in Liquor, Urin und Blut sowie den Ergebnissen von Postmortem-Studien und nuklearmedizinischer Bildgebung wurden Störungen in den cortico-striato-thalamocorticalen Regelkreisen mit den Neurotransmittern Dopamin, Glutamin, GABA, Serotonin, Cholin, Noradrenalin und Opioiden in Zusammenhang gebracht. Neuere Untersuchungen beschäftigen sich auch mit Normabweichungen in den intrazellulären sog. „second messenger“-Systemen. Bei TS findet sich die stärkste Evidenz für eine überwiegend dopaminerge Dysregulation – ein Modell, das auch durch die Wirksamkeit der D2-Rezeptor-Antagonisten untermauert wird (Singer 2005). Diesbezüglich werden folgende Hypothesen diskutiert: hypersensitive postsynaptische Dopaminrezeptoren, dopaminerge Hyperinnervation, Störungen der präsynaptisch gesteuerten Autoregulation sowie erhöhte intrasynaptische Dopaminfreisetzung.

Bei der ADHS ging man aufgrund der raschen und positiven Wirkung der Stimulanzien von Defiziten im noradrenergen und/oder dopaminergen Stoffwechsel aus. Allerdings existieren Befunde, die sowohl eine hypodopaminerge als auch eine hyperdopaminerge Stoffwechsellage abbilden. Um beides in einem Modell zu integrieren, vermutet man eine Unterscheidung in einen tonischen Pool, i. S. einer chronischen Akkumulation von Dopamin im synaptischen Spalt und daraus resultierender Stimulation der Autorezeptoren, im Gegensatz zu einem phasischen Pool i. S. einer akuten und starken Erhöhung des Dopamins im synaptischen Spalt bei neuronaler Erregung. Bei ADHS wird eine Reduktion des tonischen Pools mit der Folge einer reduzierten Aktivierung präsynaptischer Autorezeptoren angenommen, was zu einer überschießenden Reaktion bei Aktivierung des phasischen Pools führt. Die Ergebnisse der Studien zur Klärung der Beteiligung des Noradrenalins zeigen ebenfalls immer deutlicher, dass eine monokausale Sichtweise viel zu kurz greift und auch die komplexen Wechselwirkungen (z. B. zeitlich, örtlich) zwischen den Neurotransmittersystemen inkl. Dopamin und Noradrenalin eine eminente Rolle bei der ADHS zu spielen scheinen (Pliszka 2005). Wie sich die neurochemische Situation bei Vorliegen von ADHS + TS darstellt, ist derzeit unklar.

Eine Synthese der Hinweise aus neurochemischen, bildgebenden und immunologischen Studien bei Patienten sowohl mit Tics als auch mit ADHS stellt das Erklärungsmodell mit symptomspezifischen Abweichungen in den anatomisch und funktionell immer genauer abgrenzbaren, fünf Einheiten der cortico-striato-thalamocorticalen Regelkreise dar (Mink 2005):

Störungen der jeweiligen Regelkreise können spezifische, gestörte Verhaltensmuster zugeordnet werden. Als Auslöser für einfache motorische Bewegungsmuster, wie sie bei einfachen Tics vorkommen, wird eine abnorme Aktivierung des Motorcortex angenommen, unter Beteiligung entsprechender Regelkreise, in die Basalganglien und Thalamus involviert sind. Bei abnormer Aktivierung des prämotorischen, supplementär-motorischen und cingulär-motorischen Areals wird das Auftreten komplizierterer Bewegungsmuster erwartet, die zu komplexen Tics führen. Abnorme Aktivierung des orbitofrontalen Cortex würde in Entladungsmustern resultieren, die sich als Zwangshandlungen äußern. Aktivierung dieser Regionen wird zudem mit den sensomotorischen Vorgefühlen bei Tics in Zusammenhang gebracht. Während die Aktivierung motorischer Areale für spezifische oder unspezifische Sensationen verantwortlich gemacht wird, gilt dies bei Zwangsgedanken für orbitofrontale Regionen. Die ungehemmte Erregung in dorsolateralen präfrontalen Arealen wird mit Störungen der Aufmerksamkeit in Verbindung gebracht.

Es muss aber betont werden, dass es sich um ein hypothetisches Modell handelt, das hauptsächlich auf histopathologischen und tierexperimentellen Studien beruht. Durch die Fortschritte der vor allem funktionellen bildgebenden Verfahren könnte aber bald eine genauere Überprüfung des Modells beim Menschen möglich sein.

5.3.2 Neuropsychologie

Während Betroffene mit ADHS im Durchschnitt einen niedrigeren IQ im Vergleich zur Durchschnittspopulation aufweisen (Frazier et al. 2004), findet sich bei TS ohne komorbide Störung kein Unterschied zu Gesunden (Schultz et al. 1999; Como 2005).

Die bestehenden Defizite in fronto-striatalen Regelkreisen sowohl bei TS als auch bei ADHS können durch Tests der sog. exekutiven Funktionen (EF) abgebildet werden. Das uneinheitliche Bild zu Defiziten der EF bei TS wird darauf zurückgeführt, dass viele der beobachteten Auffälligkeiten eher auf eine begleitende ADHS als auf die TS selbst zurückzuführen sind (Schultz et al. 1999; Como 2005). Zusammengefasst scheinen sich bei Tic-Patienten ohne komorbide Störung bei Testung durch einfachere Aufgaben keine Defizite der exekutiven Funktionen (z. B. planvolles zielorientiertes Verhalten, kognitive Flexibilität und kognitive Impulskontrolle) zu finden (Channon et al. 2003).

Bei der ADHS zeigten sich hingegen bzgl. der exekutiven Funktionen in einer Metaanalyse die stärksten und konsistentesten Defizite bei der Inhibition von Antworten (response suppression), bei Vigilanz/Aufmerksamkeit (vigilance), im Arbeitsgedächtnis sowie bei planerischem Denken (Willcutt et al. 2005). Ferner wurden Defizite im zeitlichen Ablauf der Informationsverarbeitung (temporal information processing) nachgewiesen (Nigg 2005).

Hinsichtlich der Neuropsychologie bei komorbiden Patienten (TS + ADHS) bestätigen eigene Untersuchungen (Stroop, MFFT, WCST) die von anderen Autoren bereits geäußerte Vermutung eines additiven Modells, d. h. bei der Komorbidität von TS und ADHS summieren sich die bei der reinen Störung (TS oder ADHS) gefundenen Defizite, wobei die Effekte durch ADHS hinsichtlich der Beeinträchtigung ausschlaggebend sind (Roessner et al. 2007).

5.3.3 Psychopathologie