Uwe Woitzig
Hofgang im Handstand
Mein Weg in die Freiheit
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Erweitertes Impressum
INHALTSANGABE
VORWORT
REANIMATION
BEWUSSTHEIT
DIE ANDERE SEITE DES KNASTES
DAS LEBEN IST SCHÖN
RECHT UND GERECHTIGKEIT
LIEBE IST EINE BLUME DER FREIHEIT
ANHANG
Impressum neobooks
Uwe Woitzig
Hofgang im Handstand
Mein Weg in die Freiheit
Vierte Auflage 2014
Erschienen bei: Legolas Publishing.
Alle Rechte sind vorbehalten.
Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, bedürfen der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung des Verlages, des Rechteinhabers oder des Autors.
Weitere Werke des Autors:
www.uwe-woitzig.de
Fünf Jahre Haft wegen Betrugs in dreistelliger Millionenhöhe - da muss doch eine Welt zusammenbrechen. Vor allem, wenn man sich bisher in der Welt der Wallstreet und des internationalen Jetsets bewegte. Doch nicht für Uwe Woitzig! Als er die Abhängigkeiten und Zwänge seines vorherigen Lebens mit seiner Situation in der Haft vergleicht, erkennt er seine Chance: Er beginnt das Gefängnis als seinen persönlichen Ashram zu betrachten, in dem er in Wirklichkeit mehr Freiheit genießt als in der Scheinwelt des großen Geldes. Er begreift, dass wahre Freiheit immer innere Freiheit ist. Zu dieser Erkenntnis gelangt er nach vielen Abenteuern und Begegnungen, die zu einer völligen Veränderung seines bisherigen Lebenskonstruktes führen.
Das Buch schildert die persönliche Entwicklung des Autors, eines studierten Juristen, Inhabers einer Privatbank und Börsenkaufmanns, der in den konträren Welten der Wallstreet und des internationalen Jetsets einerseits sowie des Gefängnisses andererseits gelebt hat, in dem er eine fünfjährige Haftstrafe wegen Betrugs absitzt.
In schonungsloser Offenheit schildert er aus der Sicht des Insiders die Machenschaften der Finanzwelt und die Verhaltensmuster der Schönen und Reichen, unter denen er sich fast zehn Jahre lang auf der ganzen Welt bewegte. Doch Uwe Woitzig begreift, dass ihn die Jagd nach Geld und das Leben im Luxus wesentlich stärker in Unfreiheit gehalten haben als die Gefängnismauern.
Völlig überraschend trifft er im Knast außergewöhnliche Männer, die ihm die Türen zu seiner vergrabenen Spiritualität öffnen.
Er beginnt zu meditieren und findet Zugang zum Buddhismus und zu schamanistischen Techniken. Als sich schließlich die Gefängnistore für ihn öffnen, hat er gelernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen.
Das Leben hält für jeden von uns eine Reihe von Schicksalsschlägen bereit. Dieses Buch will zeigen, wie man Schicksalsschläge als Chance nutzen kann, als eine Chance, das freie fröhliche Kind, das in uns allen ist, wieder zum Leben zu erwecken. Zwei elementare Katastrophen sind es, die den Menschen seit jeher schicksalhaft heimgesucht haben: Krankheit und Krieg. Beide haben den Menschen immer wieder dazu veranlasst, notwendige Fragen zu stellen, nach dem Lebenssinn, nach der Bedeutung der Freiheit, nach dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Es gibt noch eine dritte elementare Katastrophe: das Gefängnis. »Ein Leben ohne Knast ist wie ein Schiff ohne Mast«, las ich mal auf einer Zellenwand. Das ist eine tiefsinnige Heiterkeit. Ein Schiff ohne Mast kann keine Segel hochziehen und liegt deshalb im Hafen fest. Erst der Mast erlaubt den Aufbruch in die Weiten des Ozeans.
Ins Gefängnis zu kommen ist wie ein kleiner Tod. Der Inhaftierte wird jäh aus seiner gewohnten Umgebung gerissen, sämtliche sozialen Bindungen werden gekappt, die regelmäßige Kommunikation mit seinen Bezugspersonen auf ein Minimum reduziert und überwacht. Er darf nur eine Stunde pro Monat Besuch haben und nur gelegentlich unter Aufsicht telefonieren. Er hat keinen Zugang zum Internet und seine Post wird gelesen, sodass ein Brief innerhalb Deutschlands wegen der überlasteten Postkontrolle bis zu drei Wochen unterwegs sein kann. Der Gefangene wird in eine ungefähr acht Quadratmeter große Zelle gesperrt. Wenn er Glück hat und das Gefängnis nicht hoffnungslos überfüllt ist, bekommt er eine Einzelzelle. Ansonsten muss er die acht Quadratmeter mit einem ihm wildfremden Menschen teilen, der vielleicht rülpst, furzt, laut halluziniert (weil er auf Drogenentzug ist) oder sonstige üble Eigenschaften besitzt. Das gesamte Privatleben des Gefangenen wird auf diese winzige Fläche reduziert, sein gewohnter Lebensrhythmus zerstört. Er muss sich einem rigiden Tagesablauf anpassen, der mit dem Wecken um sechs Uhr beginnt, damit die dreiundzwanzig Stunden, die ein Untersuchungshäftling in seiner Zelle eingesperrt ist, auch ja voll ausgekostet werden. Jede seiner Bewegungen außerhalb dieses Raumes wird kontrolliert und gesteuert, er darf im wahrsten Sinne des Wortes keinen eigenen Schritt mehr machen, ohne dass ihn ein Beamter begleitet und überwacht.
Doch kann man diese Gefängnissituation nicht in gewisser Weise auch im Alltag des Durchschnittsmenschen wiederfinden? Der Knast ist ein exaktes Spiegelbild der Gesellschaft, alle Schichten sind vertreten. Wie in der sogenannten Freiheit gibt es da wenig Berührungen der Schichten untereinander. Schon bald hat jeder seinen »Kreis« von Männern gefunden, in die nur »passende« Neuzugänge aufgenommen werden. Betrüger, Steuerhinterzieher und sonstige »white collar criminals« spielen in einer ganz anderen Liga als Dealer, Zuhälter und Bankräuber. Es gibt aber durchaus »Grenzüberschreitungen«. Letztendlich zählt nur die Persönlichkeit. Ist jemand authentisch, hat er nie ein Problem. Wichtig ist, dass man sich gegenseitig respektiert und jeden sein Ding machen lässt.
Da ich nie was mit Drogen zu tun hatte, geriet ich auch nie in den Strudel der Abhängigkeiten, Unterdrückungen und Gewalt, den es zweifellos gibt. Aber den gibt es in jeder Drogenszene, draußen auch, mit der ich ebenfalls nie etwas zu tun hatte.
In Haft war ich zweieinhalb Jahre, weil ich als einer der wenigen in Bayern die sogenannte Halbstrafe bekommen habe, unter anderem wegen der »Schadenswiedergutmachung«. Davon sechzehn Monate im offenen Vollzug und Freigang. Also effektiv eingesperrt hinter Mauern war ich die vierzehn Monate bis zur Verhandlung.
Wir leben in einer Zeit der untergehenden Egomanen und zusammenbrechenden Strukturen. Erdbeben, Tsunamis und sonstige Umweltkatastrophen gehören inzwischen zum medialen Alltag. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus steht jetzt auch der Kapitalismus vor dem Kollaps. Die Lebensentwürfe aller sind betroffen und müssen täglich überprüft und den sich verändernden Lebensumständen angepasst werden. Nix ist mehr fix, die einzige Sicherheit ist die Unsicherheit. In Afrika werden gerade reihenweise Diktatoren gestürzt, ermordet oder verhaftet und ins Gefängnis geworfen. Ob zu Recht sei dahingestellt, auf jeden Fall sind es unglaubliche Abstürze, die diese machtgewohnten Männer erleben, die teilweise jahrzehntelang ihr Land beherrschten und deren Wille Befehl war. Aus eigener Erfahrung weiß ich genau, was in einem Menschen vorgeht, wenn er von der einen Sekunde zur anderen alles verliert, was er sich materiell und geistig angeeignet und aufgebaut hat. Wenn sein Lebenskonstrukt zusammenbricht und er sämtliche Prägungen, Ideale und Ziele seines Lebens plötzlich infrage stellen muss und er verzweifelt, ratlos und verwirrt wie einst Sokrates erkennen muss, dass er jetzt weiß, dass er nichts weiß.
Eine Verhaftung ist ein massiver Eingriff in das Leben aller dadurch Betroffenen, deren gewohntes Leben völlig auf den Kopf gestellt wird. Aber sie ist auch eine Riesenchance, wenn man es im Sinne des freudschen Über-Ichs versteht, das sich selbst bestraft, um ein schuldhaftes Verhalten zu kompensieren und wieder eine ausgeglichene Lebensbilanz zu haben. Und um sich eine Chance für einen radikalen Kurswechsel zu schaffen.
Ich habe dieses Buch aus der Sicht eines Mannes geschrieben, der vorher jahrelang nur auf der Sonnenseite des Lebens zwischen den Schönen, Mächtigen und Reichen dieser Welt unterwegs war und der eines Tages im Knast landete. Mein Anliegen war es, zu beschreiben, wie ich zu verkraften lernte, dass mir mein aufgeblasenes Ego und mein Leben in der Talmi-Welt des internationalen Jetsets um die Ohren geflogen war, und wie ich ähnlich wie der Graf von Monte Christo schließlich die ungeahnte große Chance ergriffen habe, die ein Leben im Knast bietet: meinen persönlichen »Schatz«, meinen Weg zur inneren Freiheit zu finden.
Unter einer Regierung, die jemanden ungerechterweise einkerkert, kann der wahre Ort für einen aufrechten Mann auch ein Gefängnis sein, sagte Henry D. Thoreau, ein amerikanischer Philosoph und Mystiker des 19. Jahrhunderts. Das kann auch für jemanden gelten, der berechtigterweise hinter Gittern sitzt.
Im Internet habe ich folgenden humoristischen Vergleich von Büroarbeit und Gefängnis gefunden:
1. Gefängnis: Du verbringst die meiste Zeit in einer zwei mal vier Meter großen Zelle.
Büro: Du verbringst die meiste Zeit an einem Platz von zwei mal zwei Meter.
2. Gefängnis: Du bekommst drei Mahlzeiten umsonst pro Tag.
Büro: Du bekommst nur eine kurze Pause für eine einzige Mahlzeit und musst auch noch für sie bezahlen.
3. Gefängnis: Bei gutem Betragen bekommst du Urlaub.
Büro: Für gutes Betragen wirst du mit mehr Arbeit bestraft.
4. Gefängnis: Der Wächter schließt und öffnet alle Türen für dich.
Büro: Du musst eine ID-Karte tragen und alle Türen selbst öffnen.
5. Gefängnis: Du kannst fernsehen und Spiele spielen.
Büro: Du wirst sofort gekündigt, wenn du fernsiehst oder Spiele spielst.
6. Gefängnis: Du hast eine eigene Toilette.
Büro: Du musst die Toilette mit vielen teilen.
7. Gefängnis: Freunde und Verwandte dürfen dich besuchen.
Büro: Du darfst nicht einmal mit deiner Familie reden.
8. Gefängnis: Es ist alles durch Steuergelder bezahlt und du brauchst nicht einmal für Unterkunft und Essen zu arbeiten.
Büro: Du musst für die Spesen selbst aufkommen und dann zieht man dir vom Lohn noch Steuern ab, mit denen man für die Gefangenen aufkommt.
9. Gefängnis: Dort hast du Wachpersonal.
Büro: Hier nennt man sie »Manager«.
Die große Frage ist, wie gehe ich mit dieser Situation um, und wie schaffe ich es, meine Freiheit zu erlangen und zu erhalten? Die Antwort lautet: durch eine Veränderung der Sichtweise.
Der gesamte Sinn eines Ereignisablaufs hängt von dem Erklärungsprinzip ab, das ihm der Beobachter sozusagen überstülpt. Eine Laborratte erklärt einer anderen Ratte das Verhalten des Versuchsleiters: »Ich habe diesen Mann so trainiert, dass er mir jedes Mal Futter gibt, wenn ich diesen kleinen Hebel drücke.«
Dasselbe Ereignis hat für die Ratte eine vollkommen andere Gesetzmäßigkeit und Kausalität als für den Versuchsleiter. Genauso sollte ein Mensch denken, der sich in seinem virtuellen oder echten Gefängnis befindet und keinen Ausweg mehr sieht. Ein real Inhaftierter könnte sich bewusst machen, dass der Knast nicht die Gesellschaft vor ihm, sondern ihn vor der Gesellschaft schützt.
Schwieriger ist es bei denen, die unbewusst im Hamsterrad und in ihren selbst erzeugten Abhängigkeiten leben. Sie sehen keine Notwendigkeit, etwas zu verändern, solange der Kühlschrank voll ist, das Auto aufgetankt und der Fernseher flimmert. Die ab und zu auftretende Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben wird durch die Anschaffung eines neuen Spielzeugs kompensiert, und damit herrscht wieder trügerische Ruhe, weil der bekannte Trott weitergeht. Bis das Schicksal sich meldet und die ganze liebgewonnene Ordnung über den Haufen wirft. Irgendwann passiert es.
Das Leben ist kein Wunschkonzert und kein Freizeitpark. Es ist nicht starr, sondern fließend. »Alles ist im Fluss«, sagt der griechische Philosoph Heraklit. Unsere sogenannte Wirklichkeit verändert sich, unentwegt, sie bleibt niemals die gleiche, nicht eine Stunde lang. Sie ist lediglich das Ergebnis unserer individuellen Prägung durch Umwelt und Erziehung, die in der Regel auf einer diktatorischen Moral beruht. Der Glaube, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, ist eine gefährliche Selbsttäuschung. Vielmehr gibt es zahllose Wirklichkeitsauffassungen, die sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis von subjektiver Einschätzung sind und nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten. Wir alle, in unserem virtuellen wie im realen Gefängnis, erleben unsere eigene Wirklichkeit und entwickeln unsere eigenen Methoden, mit der ständigen Fremdbestimmung umzugehen. Die einfacher Gestrickten arrangieren sich durch kleine Witzchen und ständigem unterwürfigem Lächeln mit ihren Vorgesetzten oder den sie bewachenden Beamten. Die Klugen sehen in den Managern die Leute, die ihnen Verantwortung abnehmen und ihnen zu ihrem Lohn verhelfen, ebenso wie sie im Knast die »Wachtl«, wie sie karikierend despektierlich im bayrischen Jargon heißen, als ihr Servicepersonal ansehen und distanziert, aber höflich mit ihnen umgehen. Die Weisen aber sehen sowohl ihre Vorgesetzten als auch die Justizbeamten als bloße »Werkzeuge des Schicksals«. Sie sind »Knopfdrücker«, dazu da, um den virtuellen oder realen Gefangenen an seinen empfindlichsten Stellen zu treffen und sein Ego zu dämpfen und zu zertrümmern. Auf der physischen Ebene gibt es im üblichen, durchschnittlichen Alltag wie im Knast als Umwelt nur einen eintönigen Tagesablauf, wobei es in letzterem noch weitere Einschränkungen des Lebens durch routiniert agierendes Wachpersonal, Gitter und weiße Mauern gibt. Tabula rasa, wenn man so will. Dies führt zu einer Orientierungslosigkeit, die manche mit der Zeit resignieren lässt. Sie werden zu Knastleichen, die wie Zombies herumschleichen, sehr leise sprechen, gespenstisch bleich sind und nie an die frische Luft gehen.
Einige fangen an, ununterbrochen ihren Körper zu beobachten. Sie empfinden schon den kleinsten Pickel als lebensgefährliche Bedrohung und gehen pausenlos mit irgendwelchen Beschwerden zum Gefängnisarzt, der ihr wichtigster und einziger Vertrauter ist. Nicht wenige bringen sich in ihrer Zelle um. Die Selbstmordrate im Knast wird verschwiegen, aber sie ist nicht unerheblich. Andere fangen an, ihre Körper zu trainieren und alle möglichen Sportarten zu treiben, um ihr angeschlagenes Ego mithilfe ihres befriedigten Narzissmus wieder zu stabilisieren. Wieder andere beschaffen sich Drogen und fliehen vor der Realität mithilfe von Rauschmitteln aller Art.
All diese Verhaltensstrukturen lassen sich eins zu eins auf das Leben in der sogenannten Freiheit übertragen.
Alle so agierenden und vor der Realität fliehenden Menschen übersehen und verpassen eine Riesenchance. Wer sie hingegen nutzt, hat die Gelegenheit, die weißen Flächen seiner Existenz mit einer Energie, die aus dem wahren Selbst kommt, neu zu beschreiben. Sich ein ganz neues, originäres Weltbild zu schaffen. Innen wie außen.
Jedes Gefängnis bietet einem darin Lebenden die Möglichkeit der Entwicklung zu einem psychisch stabilen Menschen mit Selbstvertrauen, der Bereitschaft, Entscheidungen zu treffen, der Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, der Lust an der Herausforderung und am Erfolg. Ein Nelson Mandela hat auf diese Weise seine Gefängniszeit genutzt, weil er etwas besaß, das man »Resilienz« nennt. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Werkstoffphysik und bezeichnet dort die Eigenschaft eines elastischen Materials, wie etwa Gummi, nach einer Phase großer Spannung wieder unversehrt in die alte Form »zurückzuspringen«.
Auch der im Alltag verhaftete Mensch besitzt diese psychische Widerstandsfähigkeit. Er kann jederzeit, in jeder Phase seines Lebens, die spirituellen und magischen Fähigkeiten, die in jedem von uns existieren, zum Leben erwecken und so die Türen seines inneren Gefängnisses öffnen. Wie ein Phönix aus der Asche, gestärkt an Körper, Seele und Geist, selbst-bewusst – das heißt, sich seines Selbst bewusst – wieder aufstehen aus den Trümmern eines dahindämmernden Lebens, um – ein Bild wieder aufgreifend – den Mast zu setzen, den Anker zu lichten und den alten Hafen mit den durch die Familie, Schulen und Universitäten erzeugten Programmierungen und den angenommenen roboterhaften Verhaltensautomatismen zu verlassen.
Um von nun an authentisch, das heißt natürlich und gelöst, zu leben. Und dadurch nicht nur die Früchte der bedingungslosen Liebe zu pflücken, sondern auch das Glück des inneren Gleichmuts und der individuellen Freiheit erfahren zu können. Die in diesem Buch erzählte Geschichte möchte dazu ermutigen, den ersten Schritt dieser Reise in die Freiheit zu wagen.
VOM STAATSEMPFANG ZUM HOFGANG
Wie man damit umgeht, wenn das Ego in einem See versenkt wird
Die wahre Lebenskunst lässt sich in einem Satz zusammenfassen: »Nimm alles, was dir widerfährt, dankbar an.« Aus dieser Haltung wächst dir eine Kraft zu, die deinem Leben eine positive Qualität gibt. Alle Ereignisse, mögen sie auch auf den ersten Blick widrig erscheinen, zeigen über kurz oder lang positive Auswirkungen.
Ich saß auf der harten Holzbank in einer ehemals weiß gestrichenen Wartezelle der JVA Stadelheim, deren schmutzige Wände mit Obszönitäten vollgekritzelt waren. Der quadratische Raum hatte kein Fenster und wurde von einer durch einen Gitterkäfig geschützten Neonröhre in ein grelles Licht getaucht. Auf meinem Schoß hielt ich meine mir soeben ausgehändigte Habe, die aus einem Plastikkorb mit Decken, Bettzeug, Knastkleidung, Geschirr, Besteck und einer Anstaltsordnung bestand, und betrachtete mit leerem Blick die anderen Neuankömmlinge in Bayerns größter Justizvollzugsanstalt, die wie ich heute hier eingeliefert worden waren. Ich fühlte mich, als sei ich von einem unendlichen Strudel durch ein dunkles Loch gezogen worden, und dachte zurück an die Geschehnisse der letzten Wochen.
Aristoteles Onassis pflegte zu sagen, dass »ein wirklich erfolgreicher Mann immer einen braunen Teint, immer einen leeren Schreibtisch und immer Zeit hat«. Diese Kriterien erfüllt jeder Penner dieser Welt, aber natürlich meinte der gute Ari die großen Lenker und Gestalter aus Wirtschaft und Politik. Ich gehörte zwar nicht zu den Rockefellers, Rothschilds und Onassis dieser Welt, doch immerhin hatte ich es mit meinen fünfunddreißig Jahren zum geschäftsführenden Gesellschafter eines Brokerhauses gebracht, das etwa zweihundert Millionen D-Mark verwaltete und Büros in New York, Chicago, Monte Carlo, München und Athen besaß. Ich steuerte als Mehrheitsgesellschafter die Geschicke einer feinen bayerischen Privatbank mit einer Bilanzsumme von sechshundert Millionen D-Mark und lenkte als Mitgesellschafter einen vom Sohn des bayerischen Ministerpräsidenten gegründeten Privatfernsehsender.
Außerdem hatten einflussreiche Freunde mich zum Vizepräsidenten der European Heritage Foundation gemacht, einer Tochter der überaus mächtigen American Heritage Foundation, die direkten Einfluss auf die Wahl des US- Präsidenten nimmt. Gesellschaftlich und finanziell bewegte ich mich daher in den oberen Ligen dieser Welt. Meine politischen Verbindungen reichten bis in die höchsten Parteikreise und ich besaß exzellente internationale Geschäftsbeziehungen. Zu meinen Geschäftspartnern gehörten prominente Künstler, Politiker, Akademiker, Wirtschaftstycoone und griechische Reeder. Dank der freundschaftlichen Beziehungen zu Letzteren saß ich an einem lauen Sommerabend auf einer der Steinbänke im Amphitheater am Fuß der Akropolis. Anlässlich des Staatsbesuches von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Athen hatte mich mein griechischer Partner unserer gemeinsamen Firma in Monte Carlo, Anastase Sarantakos, einer der reichsten Männer Griechenlands, zu dem Staatsempfang des hohen Gastes mitgenommen, über dessen Niveau ich mich nur wundern konnte.
Das Programm des Empfangs begann mit einer Aufführung der Wuppertaler Choreographin Pina Bausch. Bei dem Anblick der in weiße Sackkleider gehüllten knochigen Tänzerinnen, die sich zu atonaler Musik spastisch bewegten, schauderte es mich. Als hätte er meine Gedanken gelesen, raunte mir der rechts neben mir sitzende Anastase ins Ohr: »Mein Gott, Uwe, wo haben sie denn in eurem Land mit den schönsten Frauen der Welt diese schrecklichen Gestalten gefunden?«
»Unser Staat hat wie viele seiner Bürger fürchterliche Angst, man könne ihm Reichtum, Überfluss und Verschwendung vorwerfen. Nur beim Bestrafen und im Krieg ist er sehr großzügig«, pflichtete ich ihm bei. Ich hatte keine Ahnung, welche prophetischen Worte ich gerade gesprochen hatte.
Meine links von mir sitzende Frau Viktoria, die meine Worte gehört hatte, zwinkerte mir zu und lächelte mich an. Verheiratet war ich selbstverständlich auch, und zwar – wie die Münchner Abendzeitung später schreiben würde – mit »der bildschönen Tochter einer der angesehensten Unternehmerfamilien Bayerns, die ihm (damit war ich gemeint) mit der Hochzeit den Ritterschlag zum Eintritt in die Gesellschaft erteilt hatte.« Diese Prinzessin des Großbürgertums also saß neben mir in einem schwarz-weiß getupften Seidenkleid, das ihren kurvenreichen Körper mit den makellosen Brüsten sinnlich umschmeichelte. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Leise flüsterte sie mir ins Ohr: »Ich finde das auch peinlich, dass sich Deutschland in diesem Land der Kultur und Sinnesfreude so verklemmt und pseudomodern präsentiert.«
Nach der Aufführung spazierten wir weiter den Hügel hinab zu dem kleinen Kolosseum unterhalb der Akropolis, in dessen rundem Innenhof mit seinen Arkaden zur Sättigung der Staatsgäste ein original bayerisches Buffet aufgebaut worden war. Als sie das erblickten, schauten mich meine griechischen Geschäftsfreunde feixend an. Sie waren alle Hunderte von Millionen schwere Reeder oder Eigentümer von international tätigen Konzernen. Außerdem Stammgäste in den feinsten Gourmettempeln der Welt und Chefs von einigen der besten Köche dieses Planeten, die sie privat bekochten. Sie kannten meine ebenso erlesenen Essgewohnheiten.
»Darf ich dir einen Teller zusammenstellen, Uwe?«, fragte mich ein Reeder mit vierundzwanzig Tankern, einer eigenen Flugzeugflotte bestehend aus einer umgebauten Boeing 737, einem Learjet und einem Hubschrauber sowie einem riesigen Geschäftshaus in der Mitte von Athen in seinem perfektem Deutsch spöttisch.
»Am besten etwas von diesem vorzüglichen fetten Schweinebraten und dazu ein paar saftige Schweinswürste mit Speckkraut?«
Natürlich wusste er, dass ich Vegetarier war.
»Wie immer folge ich dem Beispiel des großen Gourmets und werde nur das nehmen, was du selbst zu essen gedenkst«, antwortete ich lächelnd.
»Dann wirst du hungern müssen, bis wir hier wegkommen«, flüsterte er mir zu, denn in diesem Augenblick traten der deutsche Außenminister und der Innenminister in Begleitung des griechischen Ministerpräsidenten zu uns. Ich wurde ihnen vorgestellt und wir fingen an, uns über meine geschäftlichen Aktivitäten in Griechenland und in der Welt zu unterhalten.
Nichts existiert wirklich, sondern alles ist im Fluss und verändert sich. Es gibt keinen Stillstand, weil ständig alles neu geboren wird, sich im Wachstum oder Vergehen befindet. In dem Augenblick, wo etwas seinen Höhepunkt erreicht hat, beginnt der Verfall. Nach dem Gesetz des »wie im Großen, so im Kleinen« analog zum Universum, das auf dem Zenit seiner Ausdehnung anfängt, sich wieder zusammenzuziehen. Selbstverständlich galt diese Wahrheit auch für mich. Aber ich ahnte noch nicht, dass dieser Staatsempfang der Höhepunkt meines Geschäftslebens gewesen war und gleichzeitig der Beginn des Zusammenbruchs meiner geschäftlich und bürgerlich normierten Existenz begonnen hatte.
Ungefähr zwei Wochen nach dem Staatsempfang flog ich mit Anastase und unseren beiden monegassischen Direktoren nach Chicago, um dort mit einem der größten und angesehensten Brokerhäuser einen Kooperationsvertrag zu unterzeichnen, der uns nicht nur zu ihrem »European Representative Partner« machte, sondern in dem sich mein griechischer Kompagnon auch verpflichtete, innerhalb eines Jahres mindestens hundert Millionen Dollar bei uns zu investieren.
Die Verhandlungen über den gut vorbereiteten Vertragsinhalt verliefen schnell und unkompliziert und nach wenigen Stunden waren wir uns einig. Dann gab es eine erfreuliche Überraschung: Wegen der Bedeutung des Vertrages auch für ihre Firma hatte das Brokerhaus für den Abend eine Vierzig-Meter-Yacht gechartert, auf der wir den Vertrag feierlich unterzeichnen würden, um dann bei Sonnenuntergang auf dem Lake Michigan zu kreuzen. Als ich nach dem Meeting in mein Hotelzimmer im exklusiven Union League Club zurückkam, rief ich meinen Partner in München an, um ihm von dem Erfolg zu berichten.
»Das ist toll«, erwiderte er leise, »aber du kannst es vergessen. Ich habe heute Mittag einen Wechsel über zwei Millionen unterzeichnet und meine Firmenanteile verpfändet. Unsere drei größten Kunden sind ins Büro gekommen und haben mich massiv unter Druck gesetzt. Entweder der Wechsel oder Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Ich wusste nicht mehr ein noch aus, also habe ich unterschrieben. Der Laden gehört uns nicht mehr …«
Ich sagte nichts und legte auf. Ich wusste, das war das Ende.
Zwei Stunden später unterzeichneten wir auf der Yacht den Vertrag. Anschließend genossen wir Köstlichkeiten von einem reichhaltigen Buffet im Kreise des Vorstands und der schönsten weiblichen Angestellten des Brokerhauses. Alle waren bester Stimmung, es wurde gelacht, geflirtet und getrunken, und wir gratulierten uns immer wieder gegenseitig zu dem Vertrag, der uns allen ein sagenhaftes Einkommen garantierte. Ich ließ mir nichts anmerken, war charmant und geistreich wie immer und spielte perfekt meine Rolle als strahlender Inhaber eines internationalen Finanzhauses, der gerade den Deal seines Lebens gemacht hatte. Doch als der tiefblaue Himmel über dem See sich zum Sonnenuntergang in ein prächtiges Farbenfeuerwerk verwandelte, nahm ich mir ein Glas Champagner und stellte mich alleine an den Bug der Yacht. Die Sonne versank blutrot hinter der Skyline von Chicago, das luxuriöse Boot schaukelte leise auf den Wellen, Musik und die fröhlichen Stimmen der anderen Passagiere drangen an mein Ohr. Ich leerte in kleinen Schlucken genießerisch mein Glas und dachte lächelnd:
»Was für ein wundervoller Abgang!«
Statt Verzweiflung und Trauer fühlte ich Erleichterung. Schon längst war mir bewusst geworden, dass ich zwar äußeren Wohlstand und gesellschaftliches Ansehen erlangt hatte, doch im selben Maße sich innere Armut und Leere entwickelt hatte. An einem Samstagnachmittag, an dem ich im Basement meines Grünwalder Achthundert-Quadratmeter-Hauses schwimmen wollte, stellte ich fest, dass in meinem Swimmingpool die Gegenstromanlage defekt war. Ich kroch in den Servicetunnel des Pools und wechselte die Sicherung aus. Zusammengekauert in dem Gang kniend und an dem Sicherungskasten herumfummelnd begriff ich. Durch eine Blechwand von den Wassermassen des Pools getrennt, wurde mir bewusst, dass auch meine Sicherungen durchgebrannt waren. Die Jagd nach Geld und Ansehen war die Barriere, die mich von meinen Emotionen trennte und mich innerlich erstarren ließ. Auch meine Gegenstromanlage war ausgefallen.
An Vorzeichen hatte es nicht gefehlt. Eines Nachts wachte ich schweißgebadet durch einen merkwürdigen Traum auf. Mit vielen anderen Menschen hatte ich mich in einemTeerloch befunden. Wir waren alle von Kopf bis Fuß mit dem klebrigen Zeug bedeckt, unfähig, schnell von einem Platz zum anderen zu wechseln, weil die schwarze Masse so zäh und dickflüssig war und unsere Bewegungsfreiheit auf ein Minimum reduzierte. Dieser Traum symbolisierte den inneren Zustand, den ich nach den ersten fünfunddreißig Jahren meines Lebens erreicht hatte.
Versonnen hielt ich das kunstvoll geschliffene Champagnerglas gegen die untergehende Sonne und beobachtete fasziniert, wie sich in seiner Oberfläche das Sonnenlicht in die Farben des Spektrums brach und sich ein Feuerwerk des bunten Lichts entfaltete. Auch du müsstest geschliffen werden, damit das in dir vorhandene Feuerwerk endlich gezündet werden kann.
„Aber wie sollte das geschehen?“, fragte ich mich verzweifelt und seufzte leise. Einem plötzlichen Impuls folgend warf ich das Kristallglas in hohem Bogen in die Fluten des Lake Michigan.
Am nächsten Tag flogen wir zurück nach Europa. Weil Anastase und meine beiden Angestellten über Nizza nach Monte Carlo reisten und ich direkt nach München flog, verabschiedeten wir uns am Flughafen O’Hare mit herzlichen Umarmungen. Nur ich wusste, dass wir uns vermutlich nie wieder sehen würden. Trotzdem fühlte ich beim Abschied statt Trauer eine große Erleichterung. Als sei ein ungeheurer Ballast von mir genommen worden. Ich freute mich auf den Flug in der ersten Klasse der Boeing 747 der Lufthansa wie nie zuvor.
Während mir die Stewardess einen eisgekühlten Begrüßungschampagner servierte, ließ sich eine braungebrannte Blondine in den freien Sitz neben mir fallen und nickte mir kurz zu. Nach dem Start des Flugzeugs wurde das Menü mit erlesenem Kaviar eröffnet. Dazu reichte mir die servil lächelnde Stewardess fein zerschnittenes Eigelb und gewürfeltes Eiweiß, klein gehackte Zwiebeln und Crème fraîche. Ich spülte alles mit einem eiskalten Wodka hinunter und beugte mich zu meiner Nachbarin hinüber.
»Sind Sie Mitglied im High-Miles-Club?«
Sie schaute mich verdutzt an und fragte irritiert zurück:
»Nein, was ist das?«
Ich grinste dreist und dachte: Entweder bekommst du jetzt eine geknallt oder es wird ein aufregender Flug.
»In den High-Miles-Club wird man aufgenommen, wenn man über den Wolken Sex gehabt hat.«
Sie lachte schallend. Während uns der Rest des Abendessens serviert wurde, überlegten wir, wie wir am geschicktesten das nötige Aufnahmeritual vollziehen könnten. Schließlich warteten wir ungeduldig darauf, dass endlich das Licht in der Kabine zum Schlafen abgedunkelt wurde. Als es soweit war, ließen wir uns zwei Wolldecken geben und brachten unsere Sitze in Liegeposition. Ich stieg zu ihr hinüber, legte mich neben sie und wir breiteten die Decken über uns. In dieser Nacht wurde meine Nachbarin über dem Atlantik gleich mehrfach in den High-Miles-Club aufgenommen und von mir beim Frühstück zum Premium-Mitglied ernannt.
Nach der Landung in München am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns mit zärtlichen Küssen. Ich lief lächelnd zum Parkhaus und stieg in meinen dunkelblauen Mercedes 500 SEC. Der Wagen startete mit dem leisen Brummen der vielen PS unter der Haube. Ich fuhr direkt zu unserem Bogenhausener Bürohaus. Als ich das Radio einschaltete, schallte mir der Hit von Boney M. »I’m born again, I feel free« entgegen. Ich sang aus vollem Halse mit.
***
Alles im Universum schwingt wie das Pendel von Pol zu Pol. Im Zyklus eines Lebens bilden sich diese Schwingungen des Pendels durch Geburt, Leben, Zerfall und Tod ab. Auch die Gezeiten und die Jahreszeiten sind Beispiele für dieses Gesetz. Die beiden Pole auf unserer geistigen Ebene sind das wahre Selbst und das Ego. Solange wir uns des Prinzips der Polarität und des Rhythmus nicht bewusst sind, schwingt das Pendel völlig unbeeinflusst und frei zwischen dem Höheren und dem Niederen hin und her. Das spiegelt sich bei den unbewussten Menschen im ständigen Wechsel zwischen Depression und Euphorie wider. Ein Meister aber macht sich von der Bewegung des Pendels frei. Er befindet sich am oberen Ende, der Aufhängung des Pendels, und schaut gelassen zu, wie sich das untere Ende zwischen Krise und Glück hin und her bewegt. Als bewusster Beobachter fragt er sich lediglich, was ihn diese Situation lehren wird. Sein wahres Selbst bleibt dabei teilnahmslos und hält sich vollkommen zurück, um nicht durch zu viel Anteilnahme die anstehende neue Erkenntnis zu verwässern. Denn wie jeder Naturwissenschaftler weiß, beeinflusst der Beobachter das Experiment durch seine Anwesenheit.
In unserem Office angekommen, begab ich mich sofort zu meinem Partner. Wir besprachen ohne Umschweife die Modalitäten unserer bevorstehenden Flucht. Es war vollkommen klar, dass wir den Bettel hinschmeißen würden. In einer Firma zu arbeiten, die uns nicht mehr gehörte, dazu verspürten wir beide keinerlei Lust. Den Nachmittag verbrachten wir damit, so viel Geld wie möglich von unseren Brokerkonten in den USA auf unsere Banken nach München zu transferieren.
Wir wollten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: zum einen uns die Taschen füllen, um uns für unsere fast zehnjährige Maloche zu belohnen, und zum anderen der undankbaren, gierigen und blasierten Münchner Schickeria, die fast komplett zu unseren Kunden gehörte, einen gehörigen Tritt in den Arsch versetzen, indem wir ihre Kohle stahlen. Denn diese Leute hatten es wahrlich nicht besser verdient. Ich dachte zum Beispiel an jenen Kunden, der nach Erhalt seines Jahreskontoauszugs ganz entsetzt um einen dringenden Termin mit mir gebeten hatte.
»Uwe, das ist eine Katastrophe, wir haben sechs Prozent verloren«, hatte er kreidebleich gestammelt. Ich war fassungslos, denn sein Kontoauszug wies einen Ertrag von sechsundzwanzig Prozent aus.
»Wieso das denn?«, fragte ich ihn völlig verwirrt.
»Ganz einfach, im letzten Jahr haben wir zweiunddreißig Prozent Profit gemacht, diesmal nur sechsundzwanzig, deshalb habe ich sechs Prozent verloren, ist doch klar, oder?«
So viel dreiste Dummheit gehörte einfach bestraft. Außerdem dachten wir biblisch.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ihr nehmt uns die Firma, wir nehmen euch euer Geld! Als die Transfers veranlasst waren, beschlossen wir, dass wir so viel Geld gar nicht brauchen würden, um irgendwo auf der Welt ein neues Leben anzufangen. Ein gutes Polster für einen Neustart, mehr wollten wir nicht. Wir hatten schließlich bereits erlebt, dass uns das viele Geld, über das wir beliebig verfügen konnten, träge, boshaft, misstrauisch und unlustig hatte werden lassen. Das wollten wir ändern. Aber nicht nur deshalb suchten wir aus unserer Kundenliste alle bedürftigen und nicht so betuchten Anleger heraus und überwiesen ihnen ihre Einlagen plus einer angemessenen Verzinsung. Wir wollten auch ein bisschen Robin Hood spielen.
Am Abend konfrontierte ich meine völlig ahnungslose Frau, die zur Feier meiner Rückkehr aus Chicago ein festliches Abendessen auf der Terrasse unseres Grünwalder Hauses hergerichtet hatte, mit der Tatsache, dass ich alles stehen und liegen und mein Firmenimperium zusammenbrechen lassen würde. Sie schaute mich fassungslos an. Dann fragte sie mich, ob ihr sehr vermögender Vater mir nicht helfen könne. Aber zum einen verbot mir das mein Stolz und zum anderen wollte und konnte ich wegen des Verlustes der Geschäftsanteile nicht mehr weitermachen. Außerdem genoss ich viel zu sehr das beglückende Gefühl aus dem Hamsterrad entkommen zu sein. Ich sah daher meine Frau an und schüttelte den Kopf. Daraufhin rief Viktoria ihre Cousine an und bat sie, zu uns zu kommen. Erika kam und Viktoria erzählte ihr alles.
»Natürlich gehst du mit ihm, das ist doch wohl selbstverständlich«, sagte Erika spontan. Viktoria nickte, aber ich bemerkte ein leichtes Zögern. Ich umarmte die beiden. Wir vereinbarten, dass Viktoria am nächsten Tag unsere Sachen packen sollte, während ich alles Geld von den Konten abheben und in eine Louis-Vuitton-Reisetasche stopfen würde. Aber als ich am nächsten Abend mit der gut gefüllten Tasche nach Hause kam, saß Viktoria sturzbetrunken im Wohnzimmer, umgeben von offenen, leeren Koffern.
»Ich habe die beiden Flaschen Château Lafite aus deinem Geburtsjahr aus dem Weinkeller geholt und ausgetrunken. Die kriegen sie nicht!«, lallte sie und fiel in einen tiefen Schlaf. Daraufhin packte ich die ganze Nacht selbst.
Am Morgen verstaute ich unser Gepäck in meinem Range Rover und wir fuhren zum Flughafen. Ich parkte das Auto im Parkhaus und lud die Koffer aus. Dann schloss ich ab, tätschelte den Wagen und warf sämtliche Schlüssel – von meinem Haus, meinen Autos, meinen Wohnungen und meinen Büros – in einen Gully. Da ich keine Ahnung hatte, wohin die Reise gehen sollte, wollte ich unser Ziel dem Zufall überlassen, indem wir dreimal hintereinander die erste Maschine auf der Anzeigentafel des jeweiligen Flughafens nehmen würden.
Die erste Maschine an diesem Morgen flog nach Zürich. Dort nahmen wir ebenfalls den ersten Flieger und landeten in London. Von da ging es nach Edinburgh weiter, wo wir uns von einem Taxi zu einem Landhotel am Stadtrand fahren ließen, das uns der Fahrer empfohlen hatte.
Während in München die Bombe hochging und unsere Angestellten und Kunden die Staatsanwaltschaft und Polizei einschalteten, schlief ich erschöpft in den Armen meiner Frau ein. Als ich gegen Mittag des nächsten Tages wach wurde, war das Erste, was ich sah, Viktorias tränengefüllte Augen. Sie sah mich mit dem Blick eines verwundeten Tieres an und mir wurde klar, dass ich sie zurück zu ihren Eltern schicken musste. Die ganze Geschichte ging sie in Wirklichkeit nichts an. Es war unverantwortlich, sie bei mir zu haben und in Gefahr zu bringen. Trotzdem war ich tief enttäuscht, dass sie sofort bereitwillig zustimmte, als ich ihr den Vorschlag machte, sie solle nach München zurückkehren.
»Kommt die Not zur Tür herein, fliegt die Liebe zum Fenster raus«, dachte ich verbittert. Wie war das mit »in guten und in schlechten Tagen« ?
Unseren letzten gemeinsamen Tag in Edinburgh verbrachten wir wie in Trance. Wir liefen in der Princess Street wie Marionetten steif nebeneinander her, ohne uns anzusehen oder zu berühren. Planlos von Restaurant zu Restaurant und Geschäft zu Geschäft schlendernd, ohne die Schönheit Edinburghs und die Menschen der Stadt wahrzunehmen. Wir wussten nicht, was wir uns sagen sollten und schwiegen verbittert. Nur einmal, als ich mir einen Burberry-Trenchcoat kaufen wollte, fuhr Viktoria mich an:
»Hast du immer noch nicht genug von dem teuren Scheiß? Den brauchst du jetzt wirklich nicht mehr!«
Ich nahm das kommentarlos hin und verzichtete auf den Kauf des Mantels.
Müde und erschöpft gingen wir früh ins Bett. Wieder schlief ich tief und fest. So viel zu dem Spruch: »Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.«
Auch ein durchdrehender Verstand, der den ganzen Tag auf Hochtouren läuft, hindert einen nicht an einem gesunden Tiefschlaf. Viktoria hatte dafür nicht das geringste Verständnis. Ihre Nerven lagen blank und sie konnte die ganze Nacht kein Auge zumachen. Am nächsten Morgen weckte sie mich durch heftiges Rütteln an meiner Schulter. Als erstes blickte ich in ihre vom vielen Weinen geröteten Augen, die mich wütend anblitzten.
»Du schläfst wie ein Murmeltier. Das scheint dir ja alles nicht das Geringste auszumachen«, schrie sie mich an. Im Gegensatz zu mir hatte sie keine Sekunde geschlafen, weil ihr das ganze Ausmaß der durch unsere Flucht ausgelösten Konsequenzen klar geworden war.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und zog sie sanft zu mir. Wir umarmten uns wie Ertrinkende in einem reißenden Strom und liebten uns mit Tränen in den Augen. Wir wussten, dass es für lange Zeit das letzte Mal war. Danach stiegen wir aus dem Bett, zogen uns an und fuhren mit dem Taxi zum Bahnhof Waverley. Von dort ging ein Zug nach London. Wir hatten beim Abendesen besprochen, dass Viktoria von dort nach Paris weiter fahren und im „Hotel Ritz“ einchecken sollte. Vom Hotel aus würde sie ihre Mutter anrufen und sich von ihr abholen lassen. Das war der Plan, den ich ihr vorgeschlagen hatte. Mir war im Laufe des vergangenen Tages klar geworden, dass sie nicht bei mir bleiben konnte – und wollte.
Die Abfahrt des Zuges war um sieben Uhr morgens. Es war kühl und der Bahnsteig lag in dichtem Nebel. Wir klammerten uns steif und frierend aneinander. Wieder wussten wir nicht, was wir uns sagen sollten.
»Wie in Casablanca, findest du nicht?«, brach Viktoria irgendwann das Schweigen und lächelte mich zaghaft an. Ich sah sie mit aufgerissenen Augen an. Eine Eiseskälte breitete sich in mir aus. Ich zitterte am ganzen Körper. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich nur auf mich gestellt sein. Ohne ein Dach über dem Kopf zu haben und das in einem mir unbekannten Land. Das einzig Positive war der Inhalt der Reisetasche, die ich mit auf den Bahnsteig genommen und zwischen meinen Beinen abgestellt hatte. Doch das war ein schwacher Trost. Ich war zwar finanziell ausreichend versorgt, aber vollkommen verzweifelt, weil meine von der Gesellschaft erhaltene Identität gerade zerplatzte, meine Frau mich gerade verließ und nicht mehr wusste, wer ich war. Noch konnte ich nicht akzeptieren, dass Alleinsein die wahre Natur des Menschen ist und hatte Angst davor. Viktoria bemerkte mein Zittern.
»Du frierst ja«, stellte sie teilnahmsvoll fest und drückte mich an sich. Ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und küsste sie sanft.
»Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass wir im Gegensatz zu Bogart und Bergmann eine Zukunft haben. Ich weiß zwar momentan noch nicht welche, aber ich weiß, es wird sich alles klären. Und dann fangen wir irgendwo auf der Welt ganz von vorne an.«
Ich merkte selbst, wie unglaubwürdig das klang. Viktoria natürlich auch. Sie sah mich mit Tränen in den Augen zweifelnd an und schwieg. Auch mir verschlug es endgültig die Sprache. So warteten wir wortlos, aber immer noch eng umschlungen auf den Zug. Die Zeit verstrich quälend langsam. Als der National Express nach London endlich einfuhr, stieg ich mit ein und verstaute Viktorias Gepäck in ihrem Abteil.
»Ein langer Abschied bedeutet, dass man sich lange nicht mehr sieht«, sagte ich leise. Wir küssten uns flüchtig. Schnell verließ ich das Abteil und stieg aus. Ohne mich umzublicken lief ich aus dem Bahnhof. Mit feuchten Augen ließ ich mich von einem Taxi zum Hotel zurückbringen und setzte mich in die geschäftige Halle. Gäste kamen an und checkten ein, Männer warteten zeitungslesend auf ihre Frauen, andere waren in Geschäftsgespräche vertieft. Gepäckdiener schleppten Koffer und Kellner servierten Getränke. Alles schien so normal zu sein wie immer. Nur ich fühlte mich anders.
Als sei ich zwar in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt. Eine ungeheure innere Leere hatte mich erfasst und ließ mich völlig apathisch werden. Ich passte nicht mehr in diese Normalität des Alltags. Über Nacht war mein ganzes bürgerliches Leben beendet worden. Meine Frau hatte mich verlassen und ich war jetzt ein Außenseiter der Gesellschaft, deren Justizorgane mich jagten, um mich abzuurteilen und zu bestrafen. Bilder von amerikanischen Knästen, die ich im Fernsehen und Kino gesehen hatte, tauchten in mir auf. Der Gedanke, dass ich in einem so brutalen Gefängnis landen könnte, gab mir den Rest. Ein gnädiger grauer Schleier legte sich über meinen Verstand. Ich fiel in eine Art Dämmerzustand und nahm meine Umgebung nur noch durch einen dichten Nebel wahr. Die Geräusche der Hotelhalle drangen wie von einem Wattebausch gedämpft an mein Ohr. Alles um mich herum schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen.
Ich hatte keine Ahnung, dass die Egozertrümmerungsmaschine angeworfen worden war, die mein aufgeblähtes Ego zum Platzen bringen und mir den Feinschliff verpassen sollte, den ich mir auf der Yacht in Chicago gewünscht hatte.
Die Hotelhalle wurde mit leiser Musik beschallt. Ich erkannte den Song »What goes up must come down«.
Scheinbar absurde Fragen schossen mir durch mein Kopf: Wie kann ich mir wirklich sicher sein, dass die Welt in der Form existiert, wie ich sie wahrnehme? Wie kann ich wissen, ob mein Bewusstsein real ist und nicht nur ein physikalisches Produkt des Überlebenstriebes einer anpassungsfähigen DNA? Bilde ich mir nur ein zu existieren? Ist alles nur Schein, ein Traum Gottes, den die Hindus »Maya« nennen? Wenn ja, was ändert sich dann mit dem Tod, der ebenfalls nur eine Illusion ist? Angenommen das Universum dehnt sich aus und zieht sich wieder zusammen. Dann dehnt es sich erneut aus und kommt irgendwann wieder an den Punkt, an dem alle Faktoren dieselben sind wie zu Beginn meines jetzigen Lebens. Würde ich dann dieses Leben noch einmal leben? Daraus ergibt sich die Frage nach der tatsächlichen Existenz des Zufalls. Angenommen es gäbe im kleinsten Quantenmaßstab auf jede physikalische Aktion nur eine mögliche Reaktion, so hieße das, dass von dem Moment an, da das Universum in Bewegung geriet, seine Entwicklung bis in alle Ewigkeit vorherbestimmt wäre. Rein theoretisch könnte man den Verlauf jedes einzelnen Lebens ausrechnen, wenn man einen Computer hätte, der alle Faktoren des Universums verarbeiten kann. Wenn dem so wäre, wäre es auch nicht unwahrscheinlich, dass das Universum immer wieder demselben Bewegungsmuster von Ausdehnung und Kontraktion folgt. Das hieße dann, dass mein Leben immer und immer wieder in identischen Bahnen verläuft, bis in alle Ewigkeit. Ist das der gnadenlose Sinn des Lebens? Bis in alle Ewigkeit zu existieren?
Gefangen zu sein wie Bill Murray in dem Film Und ewig grüßt das Murmeltier, in dem er ein und denselben Tag immer wieder erleben muss? Heißt das, dass ich schon unendlich oft verzweifelt in dieser Hotelhalle saß? Ein wahrlich tröstender Gedanke! Mein verwirrter und überforderter Verstand schaltete sich ab. Statt weiter komplizierte Gedankenspiele zu veranstalten, lief vor meinem geistigen Auge ein Film ab, der mir zeigte, was mich letztendlich hierher geführt hatte:
***
Ursächlich für den Zusammenbruch unseres gar nicht so kleinen Imperiums war die »Lücke« gewesen, als die wir intern die Differenz zwischen unserem tatsächlich vorhandenen und in den Kontoauszügen ausgewiesenen Geld bezeichneten. Sie entstand, während ich einen Urlaub auf St. Martin in der Karibik verbrachte.
Mein Partner kam in der Zeit meiner Abwesenheit auf die verhängnisvolle Idee, auf einen steigenden Goldkurs zu spekulieren und kaufte hundert Call-Optionen. Die Margin waren lächerliche fünfundzwanzigtausend US-Dollar. Seine Entscheidung sollte mich Kopf und Kragen kosten, mein Leben bestimmen und mich neun Jahre lang intensiv beschäftigen. Der Goldpreis fiel und er kaufte nach, um zu »averagen«, das heißt, seinen Einstiegskurs zu verbessern. Der Preis fiel weiter, er kaufte erneut. Der Goldkurs befand sich in einem absoluten Downtrend. Weil er die offenen Verluste nicht realisieren wollte, wusste er sich nicht anders zu helfen, als immer wieder nachzukaufen. Bis er auf tausend Optionen saß, die einen offenen Verlust von circa siebenhunderttausend US-Dollar aufwiesen. Das waren bei dem damaligen Dollarkurs etwa 2,5 Millionen D-Mark. Ich kam aus dem Urlaub zurück und er war in seinen gegangen. Ohne mich zu informieren.
Was hätte er mir auch sagen sollen?
Als ich am ersten Morgen nach meiner Rückkehr gut gelaunt ins Büro kam, verband mich meine Chefsekretärin sofort mit unserem Brokerhaus, das schon zigmal angerufen hatte. Die Telefonistin wusste Bescheid und stellte mich sofort zum Chef durch.
»Sie haben einen open loss von siebenhunderttausend US- Dollar auf Ihren Goldoptionen und einen margin call von dreihunderttausend Dollar. Wie wollen Sie das lösen?«, brüllte er mich ohne Begrüßung an.
Ich war fassungslos. Dann ließ ich mir die Situation erklären. Als ich das Ausmaß der Fehlspekulation begriff, rastete ich aus vor Wut. Das einzige Mal in meinem Leben nahm ich den erstbesten Gegenstand und knallte ihn gegen die Wand. Ein feiner bayerischer Löwe aus Nymphenburger Porzellan wurde atomisiert. Das beruhigte mich etwas. Wir verabredeten uns zum Mittagessen, um eine Lösung zu besprechen.
Den Rest des Vormittags versuchte ich vergeblich, meinen Partner zu erreichen, der irgendwo in Afrika unterwegs war. Also fasste ich einen Entschluss. Alle Goldpositionen mussten sofort liquidiert werden. Wir hatten nur noch dreihunderttausend Dollar an Kundengeldern, die konnte ich nicht auch noch riskieren. Mein Partner hatte während meiner Abwesenheit zwei Drittel unserer Einlagen verzockt, die wir mühsam im Laufe von fast drei Jahren eingesammelt hatten. Wenn wir die Verluste bei den Kunden verbuchen würden, war die Firma bankrott. Sie würden auch noch ihr restliches Geld abziehen und wir könnten entweder ganz von vorne anfangen oder zusperren. Genau das sagte ich meinem Partner wutschnaubend, als er mir nach seinem Urlaub gebräunt und gelassen gegenübersaß.
»Du musst dich nicht so aufregen. Wir verbuchen die Verluste einfach nicht auf die Kunden, sondern auf die Firma. Ich verbürge mich für sie. Meine Eltern haben eine Glasfabrik in Niederbayern und ich bin ihr einziger Erbe. Sobald sie mir das Werk überschrieben haben, zahle ich die siebenhunderttausend ein«, sagte er ruhig.
Völlig verblüfft sah ich ihn an. Das war natürlich die Lösung. Nur zu gern glaubte ich ihm seine Geschichte. Aufgeben und Hinschmeißen gehörte sowieso nicht zu meinem Programm.
***