Was sind pädagogische Grundbegriffe? Mit diesem Terminus werden Begriffe bezeichnet, die in allen pädagogischen Disziplinen – z.B. der Schul- und Heilpädagogik, der außerschulischen Jugendarbeit oder der Erwachsenenbildung, der elterlichen Erziehung oder der Sozialpädagogik – von Bedeutung sind. So bezeichnet der Begriff Erziehung die mehr oder minder bewusste und gezielte Einflussnahme der älteren Generation auf die jüngere mit der Absicht, sie für die aktive Teilhabe an einer bestimmten Kultur und Gesellschaft zu befähigen. Diese pädagogische Aktivität kann sich gleichermaßen, wenn auch in jeweils spezifischer Ausprägung, in der Familien-, Vorschul- und Schulerziehung, in Erziehungsheimen oder in Bildungsveranstaltungen der Gewerkschaften und Kirchen ereignen. Auch die gezielte Bemühung um eine Veränderung der eigenen Person kann mit diesem Begriff bezeichnet werden – es geht dann um Prozesse der sogenannten Selbsterziehung. Man spricht darüber hinaus auch von den geheimen Erziehern und meint damit beispielsweise den unbemerkten prägenden Einfluss der modernen Massenmedien auf Heranwachsende – der allerdings auch mit dem Begriff Sozialisation bezeichnet wird. Hier wie in anderen Fällen sind die pädagogischen Grundbegriffe nicht immer trennscharf voneinander abzugrenzen. Das in vielen klassischen Erziehungstheorien bis in die 1920er Jahre hinein favorisierte und wie eine pädagogische Enklave beschriebene Erzieher-Zögling-Verhältnis ist nicht nur durch eine theoretische Ausblendung der so wichtigen gesellschaftlichen Einflüsse auf Heranwachsende gekennzeichnet, sondern enthält schon im Begriff „Zögling“ ein Konstrukt, dem gerade – und zwar auch schon in klassischen Theorien – durch den Bildungsbegriff widersprochen wird.
Der Begriff Bildung ist weiter gefasst als der Erziehungsbegriff, da er Vorgänge der körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung (zumeist im Sinne einer Höherentwicklung oder Vervollkommnung) bezeichnet, unabhängig davon, ob es hierbei um Resultate der Eigenaktivität, der äußeren Einflussnahme oder um biografische Konstellationen geht, mit denen sich ein Individuum produktiv und lernend auseinander setzt. Der Bildungsbegriff wird allerdings, wie manche Kritiker aus der Erziehungswissenschaft meinen, so inflationär gebraucht (mit Worten wie Bildungsprivileg, Bildungsphilister, Bildungspolitik, Bildungstechnologie, Scheinbildung, bildungsferne Schichten, Bildungsgebaren), dass er kaum noch zur präzisen Bezeichnung pädagogischer Sachverhalte herangezogen werden kann. In der Erziehungswissenschaft dürfte aber dennoch die Position vorherrschen, dass es sich bei diesem Terminus gerade wegen seines Facettenreichtums um einen grundlegenden, vielleicht um den elementaren Begriff der Pädagogik handelt, gleichviel, ob es um die Theorie oder Praxis dieser Disziplin geht.1 Ihm wird daher in diesem Buch eine prominente Position eingeräumt. Ich möchte versuchen, seinen Bedeutungsgehalt an zahlreichen Beispielen herauszuarbeiten. Dieser vielen exemplarischen Geschichten, biografischen Berichte, Praxisbeispiele und Alltagsbeobachtungen wegen spreche ich von Lehrstücken: Es geht um Beispiele, die man selber – vielleicht in ganz andere Richtungen, als sie hier aufgezeigt werden – auslegen kann.2 Ich möchte zeigen, dass Bildung ein empirisches wie begriffliches Phänomen ist, das die eigentliche Substanz pädagogischer Theorie und Praxis ist und daher auch dem Erziehungswie dem Sozialisationsbegriff erst die orientierende Grundlage verschafft.
Dem umfangreichen ersten Kapitel, das in den Bildungsbegriff einführt, werden zwei Kapitel folgen, in denen auch elementare Erziehungsfragen eine wesentliche Rolle spielen. Mein eigentliches Anliegen ist dabei jedoch, die Möglichkeit einer Aufklärung dieser erziehungstheoretischen Problemstellungen durch den Bildungsbegriff zu exemplifizieren. Ich möchte auch zeigen, dass es bei dem sogenannten Bildungsbegriff nicht eigentlich um einen Begriff geht, sondern um die Benennung eines komplexen kognitiven wie emotionalen, ethischen und auch leiblichen Orientierungsmusters, das aus Erzählungen, Episoden, biografischen Berichten, historischen Definitionen und bildungstheoretischen Reflexionen rekonstruierbar ist. Es bewahrt einen in der Geschichte entwickelten Kern von Bildungsmaximen (wie den Gedanken einer Gestaltwerdung der eigenen Ideen und Ideale, der „inneren Formierung“ bzw. Charakterbildung, der Toleranz und Konzilianz gegen andere Ansichten und Kulturen), ist aber ebenso in stetiger Entwicklung begriffen: Der „Bildungsbegriff“ ist zukunftsoffen und dynamisch, aber nicht beliebig auslegbar.
Dieses Buch soll jedoch keinen umfassenden Einblick in die bildungstheoretische Diskussion geben, sondern exemplarisch in Gestalt anschaulicher „Lehrstücke“ zeigen, wie man den Bildungsbegriff erziehungswissenschaftlich aufklären und für die pädagogische Praxis fruchtbar machen kann – sie stellt gleichsam Instrumentarien der Reflexion, Analyse und pädagogisch en Praxis vor, die als Muster auch für eine Auseinandersetzung mit anderen wegleitenden Grundbegriffen dienen können.3
Die erwähnte Kontroverse um den Sinn oder Unsinn des Bildungsbegriffs lenkt unsere Aufmerksamkeit jedoch auch darauf, dass mit diesem Begriff eine elementare Problemstellung verbunden ist: Welchen Sinn hat der Bildungsbegriff für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs und für die pädagogische Praxis? Wenn man ihn schon verwenden möchte: muss das dann nicht in einer modernisierten und präziseren Form geschehen? Ich gehe davon aus, dass mit jedem grundlegenden Begriff der Pädagogik – wie Bildung, Didaktik, Begabung, Sozialisation, Lernen – auch elementare Problemstellungen verbunden sind, deren Lösung entscheidend für eine aufgeklärte, erfolgreiche und wissenschaftlich fundierte Praxis ist. In der Regel artikulieren sich solche Problemstellungen in der Form wissenschaftlicher Kontroversen oder praktischer Orientierungsprobleme. So entsteht und vergeht z.B. immer wieder ein Streit darüber, ob „Begabungen“ bzw. bestimmte Fähigkeiten angeboren oder erlernt sind.4 Von sogenannten Verhaltensgenetikern wird häufig die Vererbungsthese betont – meist in Gestalt von Prozentschätzungen des Erb- und Umweltanteils etwa beim Zustandekommen bestimmter Intelligenzleistungen. Popularisierte Darstellungen können dann wie ein Titelbild des Focus-Magazins aussehen, auf dem die Gesichtsportraits von Vater und Sohn zu sehen sind – kommentiert mit der Titelzeile „Ganz der Papa. Intelligenz, Charakter, Talente. Neue Erkenntnisse über die Vererbung“.5 In Pädagogenkreisen wird dagegen eher die Gegenthese des „Begabens“ durch Erziehung favorisiert. Wie artikuliert sich eine solche Problemstellung in der pädagogischen Praxis?
Ein Beispiel: Der Mathematiklehrer eines Gymnasiums hat in seiner Klasse einige sehr fähige Schülerinnen und Schüler, andere haben auch bei gutem Willen große Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Aber was heißen in diesem Zusammenhang Begriffe wie Fähigkeit oder Leistungsschwäche? Der Lehrer gibt sich Mühe, den letztgenannten Klassenmitgliedern im Unterricht zu helfen, er ermutigt Mitschüler, sie zu unterstützen, gibt selber zusätzliche Hilfen vor oder nach der Stunde – bei einigen mit, bei anderen ohne bemerkbaren Erfolg. „Offensichtlich haben einige Schülerinnen und Schüler für die Mathematik keine Begabung“, resümiert er schließlich seine vergeblichen Bemühungen. Er spricht mit einer Kollegin, die das Fach Musik unterrichtet, über die „Problemschüler“. Die Lehrerin kommentiert: „Wenn diese Kinder auch mathematisch unbegabt sein mögen, so bringen doch mindestens zwei der Genannten im Orchesterspiel Höchstleistungen – diese haben also offenbar eine hervorragende musikalische Begabung. So ist es eben: Der eine ist für dieses, der andere für jenes begabt.“
Aber sind es wirklich angeborene oder konstitutionelle „Begabungen“, die Schülerinnen und Schüler gleichsam als Grundausstattung mit in die Schule bringen – oder scheitern einige an einer für sie unzureichenden Unterrichtsdidaktik des Lehrers? Versteht es die Musiklehrerin besser, diese Menschen durch ihren Unterrichtsstil, ihr vielleicht sympathisches Auftreten, ihre Begeisterungsfähigkeit zu motivieren?
Werden die „schwächeren“ wie auch die besonders „leistungsstarken“ Schüler nicht zu früh als „begabt“ oder „unbegabt“ eingestuft? Gibt es überhaupt so etwas wie „angeborene Begabungen“ – oder wird man eher durch seine Umwelt, durch Eltern, durch Gleichaltrige, durch bestimmte Lehrer, „begabt“? Hat z.B. der Sonderschullehrer Jürg Jegge in seinem Buch „Dummheit ist lernbar“ nicht gezeigt, dass scheinbar unbegabte Schüler oft erst nach jahrelangen Bemühungen plötzlich Leistungen zeigen, die man zuvor nicht für möglich hielt?6 Und zeigen die Biografien berühmter und wissenschaftlich wie künstlerisch produktiver Persönlichkeiten nicht häufig genug, dass ihre Leistungen in der Schule eher mangelhaft waren (wie das unter anderem Gerhard Prause in seinem Buch „Genies in der Schule“ dokumentierte)?7
Andererseits: Übernimmt sich der Mathematiklehrer nicht, wenn er immerfort weiter nach Wegen sucht, leistungsschwache Schüler vielleicht doch noch fördern zu können, nicht zuletzt auch angesichts eines vorgegebenen Stoffkanons, der in einer bestimmten Zeit und von 25 bis 30 Schülern angeeignet werden muss? Legt er mit einem derartig anspruchsvollen pädagogischen Ethos nicht die ersten Grundsteine für seine Frühpensionierung, die bekanntlich unter Lehrern relativ häufig in Anspruch genommen werden muss? Ist es unter Umständen auch dieses Schulsystem mit seinen vorgeplanten Lernschritten, das langsamere Lerner und „Spätentwickler“ an der Entfaltung ihrer Fähigkeitspotentiale hindert?
Man wird ohne Schwierigkeiten erkennen können, dass Problemkonstellationen dieser Art nicht nur für Schulen, sondern auch für viele andere pädagogische Arbeitsfelder von Bedeutung sind, so beispielsweise in der beruflichen Bildung, in der Heilpädagogik, in der Erwachsenenbildung, in der Erziehungsberatung, in der außerschulischen Jugendbildung oder in der Vorschulerziehung. Zwar werden sich Begabungsfragen in diesen unterschiedlichen pädagogischen Zusammenhängen auch unterschiedlich stellen: In der Familienberatung mag man z.B. fragen, ob Leistungsrückstände einer Schülerin auf einer mangelnden Begabung oder z.B. auf ungünstigen Familienkonstellationen beruhen, die eine Aktualisierung vorhandener Leistungsmöglichkeiten blockieren. Oder man wird in einer heilpädagogischen Schule überlegen, ob die Unfähigkeit eines Kindes, sich die Namen von Pflanzen zu merken, auf die spezifische Behinderung dieses Kindes, auf unpassende Methoden, es mit solchen Namen bekannt zu machen, oder auf eine grundsätzliche und vielleicht hirnorganisch bedingte kognitive Schwäche zurückzuführen ist. Je nach Antwort wird man zu unterschiedlichen praktischen Handlungen bzw. Erziehungsmaßnahmen im Umgang mit diesem Kind kommen. Trotz solcher je spezifischen Ausformungen der Problemstellung Begabung und Begaben stellt sich aber die grundlegende Frage, wie es zu Leistungen oder Leistungsmängeln kommt und wie man auf pädagogisch sinnvolle Weise damit umgehen kann, gleichermaßen in diesen verschiedenen Arbeitszusammenhängen.
Als pädagogische Problemstellungen werden hier also grundlegende und für unser praktisches Handeln folgenreiche, häufig kontroverse Positionen der Erziehungswissenschaft und -praxis bezeichnet, die in verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von Bedeutung sind. Nicht immer findet man zufriedenstellende Lösungen für diese Problemstellungen. Es ist jedoch viel gewonnen für eine reflektierte eigene Berufspraxis, wenn man sich derartige oft unbewusste, aber das eigene Handeln steuernde Positionen verdeutlicht. Auch ist es von Nutzen, beispielsweise im Hinblick auf das Begabungsproblem, Forschungen zur Kenntnis zu nehmen, die bisher dazu vorliegen. In der Geschichte der Pädagogik sind zu einzelnen Problemstellungen auch Lösungsvorschläge oder Handlungsmaximen erarbeitet worden, wie man praktisch damit umgehen kann – auch diese sollen hier exemplarisch zur Sprache kommen. Im Zentrum der Lehrstücke 2 und 3 soll jedoch die Frage stehen, ob und wie das zuvor erarbeitete Orientierungsmuster Bildung auch im Hinblick auf diese spezifischen Problemstellungen aufklärend sein kann. Gerade der Blick auf die Geschichte der Dominanz bestimmter pädagogischer Positionen, die unter Ausklammerung des gesamten denkbaren Spektrums von Handlungsalternativen, also in Gestalt einer Suspendierung des Problembewusstseins wirksam werden, zeigt sehr eindrücklich, wie verhängnisvoll sich eine unreflektierte pädagogische Praxis in dieser Hinsicht auswirken kann. Ein Beispiel ist die „Führerpädagogik“ der Nationalsozialisten und ihr ebenfalls problematischer, glücklicherweise weniger in der Praxis als in den Köpfen ihrer Theoretiker residierende Gegenpart der „Antipädagogik“, der in den 1980er Jahren heftig diskutiert wurde. Diese Antipoden bilden Extreme einer Problemstellung, die im Kapitel über „Führen oder wachsen lassen“ behandelt werden: Darf bzw. soll das Kind in hohem Umfang dirigiert, gesteuert, gelenkt, geführt, geleitet werden – oder soll man seiner Eigentätigkeit möglichst früh und dann zunehmend weiten Raum lassen? Und wie ist mit fortschreitendem Alter des Kindes der Übergang von pädagogischer Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung denkbar? Gerade die vielen Beispiele aus der pädagogischen Erörterung dieses Problems wie auch aus der pädagogischen Praxis werden deutlich machen, dass es für diese Problemstellung keine Patentlösungen gibt, schon gar keine für alle Erziehungskonstellationen gültigen Rezepte. Aber sie schärfen – so hoffe ich – das Bewusstsein für verschiedene pädagogische Optionen, stellen ein Repertoire von Reflexionsmöglichkeiten bereit, wie man im Einzelfall zwischen den Extremen einer strikten und das Kind unterdrückenden Führung und einer radikal freilassenden, das Kind aber unter Umständen nicht mehr fördernden „Begleitung“ den richtigen Mittelweg finden kann.
Das zweite Lehrstück „Die subjektiven Interessen und die objektiven Bildungsanforderungen“ bezieht sich auf den denkbaren und faktisch häufig vorfindbaren Konflikt zwischen Erzieherintentionen mit den Eigeninteressen der Heranwachsenden. In welchem Ausmaß muss man beispielsweise in der Schule auf der „Objektivität“ des Stoffs bestehen, in welchem Ausmaß muss oder kann man der subjektiven Sicht und Interessenlage des Schülers Raum geben? Verschiedene Beispiele machen diesen Konflikt exemplarisch deutlich. Ein ausführlich geschildertes Lehrgangsmodell aus der außerschulischen Jugendbildung, es handelt sich um die Herstellung einer erzählenden Bildserie mit Schülern aus Hauptschulen, wird dann eine Lösungsmöglichkeit für diesen Konflikt aufzeigen. Das Beispiel macht zugleich aufmerksam auf die Rolle pädagogischer Phantasie bei der Interpretation jugendlicher Lebensäußerungen und auf zunächst verborgene Bildungsimpulse Heranwachsender, die in der Erziehungswissenschaft mit dem Begriff der „Bildsamkeit“ bezeichnet werden, deren Charakteristik wiederum im ersten Kapitel ausführlich diskutiert wird. Angestrebt wird mit diesen Lehrstücken also eine Hilfe, für Problemstellungen der beschriebenen Art wachsam zu werden, die in der eigenen Berufspraxis oft kaschiert wirksam sind. Auch eine Einübung geistiger Techniken, mit solchen Problemstellungen z.B. in der Erziehung eigener Kinder oder in der jeweiligen beruflichen Praxis produktiv umzugehen, ist als Zweck dieses Buch zu nennen. Meine Hinweise und Interpretationen sind dabei als Anregungen gedacht, das eigene Nachdenken über die vorgetragenen Beispiele und Positionen in vielleicht auch ganz andere Richtungen voranzutreiben.
Eine weitere Zielsetzung besteht darin, die besonderen Denkformen zu verdeutlichen, die pädagogische Kontroversen um solche Grundbegriffe und Problemstellungen kennzeichnen, im Unterschied zu soziologischen, psychologischen oder philosophischen Theorien, die in der Pädagogik ebenfalls eine große Rolle spielen. Mit solchen Absichten richtet sich dieses Buch insbesondere an Studierende der Pädagogik, denen es auch als eine problemorientierte Einführung in pädagogisches Wahrnehmen und Denken dienen kann.
1 Ehrenspeck, Y.: Philosophische Bildungsforschung. In: Tippelt, R./Schmidt, B. (Hrsg.): Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden 22009, S. 155–170.
2 Zum Begriff der „Lehrstücke“ in der Pädagogik auch Berg, H.-Chr./Schulze, Th. (Hrsg.): Lehrkunstwerkstatt. Neuwied 1997; Dies. (Hrsg.): Lehr kunstwerkstatt II: Berner Lehrstücke. Neuwied 1998. Der Begriff wird hier jedoch etwas anders als in den genannten Büchern gebraucht, in denen es um Musterbeispiele der Lehrkunst in Schulen geht – ich habe dagegen lehrende Beispiele aus Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis überhaupt im Sinn, die eher ein Bewusstsein von Bildungsprozessen fördern als ein praktisch „einsetzbares“ methodisches Instrumentarium bereitstellen sollen.
3 Diese Eingrenzung erscheint nicht zuletzt auch deshalb sinnvoll, weil es gegenwärtig zahlreiche Einführungen in pädagogische Grundbegriffe gibt. Als Beispiele seien hier genannt: Gudjons, H.: Pädagogisches Grundwissen. Bad Heilbrunn 92006; Kron, F.W.: Grundwissen Pädagogik. München 51996; Lenzen, D./Rost, F. (Hrsg.): Pädagogische Grundbegriffe. 2 Bände, Reinbek 1989; Giesecke, H.: Einführung in die Pädagogik. Weinheim 1990; Koller, H.-Chr.: Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart 32008; Benner, D./Oelkers, J. (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim/Basel 2004; Coelen, Th./Otto, H.-U. (Hrsg.): Grundbegriffe Ganztagsbildung. Wiesbaden 2008; Hansmann, O./Marotzki, (Hrsg.): Diskurs Bildungstheorie. Band 1: Weinheim 1988, Band 2: Weinheim 1989; Pleines, J.-E. (Hrsg.): Bildungstheorien. Freiburg 1978.
4 Das Problem ist ausführlich behandelt in: Rittelmeyer, Chr.: Pädagogische Anthropologie des Leibes. Biologische Voraussetzungen der Erziehung und Bildung. Weinheim 2002, Kapitel 5.
5 Focus vom 12. Januar 1998.
6 Jegge, J.: Dummheit ist lernbar. Reinbek 1983; ein lehrreiches Beispiel ist auf S. 35–38 des Buchs zu finden.
7 Prause, G.: Genies in der Schule. Berlin 2007.
„Bildung“ ist ein spezifisch deutscher Begriff, der seiner Vieldeutigkeit wegen nur schwer in andere Sprachen übersetzbar ist. In einigen fremdsprachigen Publikationen wird daher der deutsche Ausdruck übernommen.8 Er ist zugleich ein zentraler Begriff der deutschen Sprache, was auf seine kulturelle Bedeutung aufmerksam macht – er taucht in zahlreichen Wortverbindungen auf. Einige Beispiele: Bildungstheorie/Bildungstrieb/Bildungswerk/Bildungsmittel/Bildungsnot/Bildungskatastrophe/Bildungsphilister/Bildungsbürger/Halbbildung/Vorbildung/Bildungsgehabe/Schulbildung/Bildungsstätte/Bildungswesen/Bildsamkeit/Bildungsfähigkeit/Bildungslücke/Jugend-, Alten-, Seelen-, Geistes-, Körper-, Männer- und Frauenbildung/innere und äußere Bildung/Verbildung/Interkulturelle Bildung/Weiterbildung/Elitäre Bildung/Bildungsferne Schichten/Bildungsprivileg/Charakterbildung/Bildungsprozess/Bildungsresultat/Bildungsstufen/Bildungsroman/Ein-, Aus-, Um- und Scheinbildung.
Was bedeutet hier jeweils „Bildung“ – oder auch: Was sollte dieser Begriff von seiner Geschichte her bedeuten? Ist die „Bildung“ in der Berufsbildung gleichzusetzen mit jener der Charakterbildung? Die naturwissenschaftliche mit der geisteswissenschaftlichen Bildung? Gibt der zweifellos inflationäre Gebrauch des Bildungsbegriffs jenen Recht, die auf ihn lieber verzichten und stattdessen Begriffe wie Sozialisation, Lernen oder Erziehung verwenden würden?9 Haben Vertreter der empirischen Bildungsforschung Recht mit dem Vorwurf, der unpräzise Bildungsbegriff sei empirischer Prüfung nicht zugänglich – also nicht wissenschaftlich aufzuklären?
Ist man mit seiner Auflösung in forschungszugängliche Begriffe wie Qualifikation, Grundkompetenz, entwicklungsgemäßer Kenntnisstand, manuelle Fertigkeit, Kommunikationsfähigkeit, emotionale Kompetenz usw. nicht besser bedient? Oder ist das Gegenargument nachvollziehbar, dass sich der Bildungsbegriff notwendig einer eindeutigen Definition entzieht – und zwar zum Vorteil der Bildung und ihrer Institutionen? Stimmt es, dass „die Aufschlüsselung der Bildung in empirisch fassbare Komponenten“ zeigt, „dass sich mit Bildung eng verknüpfte Phänomene wie Verantwortung, Freiheit, Liebe, die sich in ihren qualitativen Elementen der Operationalisierung entziehen, nicht durch empirische Verfahren einfangen lassen“?10 Und weiter: Führen Begriffsverschiebungen in bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Verlautbarungen zu unter Umständen problematischen Zeitgeist-Akklamationen an technokratisch und ökonomisch ausgerichtete Ausbildungsmaximen („Wissen“ wird zur „Information“, „Können“ zur „Kompetenz“, „Fähigkeit“ zu „Humankapital“, „Soziales Feingefühl“ zu „Sozialkapital“ usw.)? Verlangt die sogenannte „Wissensgesellschaft“ ein neues Bildungsverständnis?11 Benötigen wir eine Aktualisierung und Modernisierung des Bildungsbegriffs?12 Sollte „Bildung“ in verschiedenen pädagogischen Handlungsfeldern – wie z.B. der Ganztagsschule, der Sozialpädagogik oder der beruflichen Schulung – nicht unterschiedlich definiert werden?13 Würde das jedoch nicht zu einer Parzellierung der Pädagogik in unverbundene Segmente führen, die neben anderen Autoren Dietrich Benner mit seiner Bildungstheorie zu überwinden trachtete?14 Wird Erziehung (und damit Bildung) heute tatsächlich zunehmend durch Sozialisation ersetzt, d.h., werden Kinder heute sehr viel stärker als in der Vergangenheit durch Massenmedien, Gleichaltrigen-Gruppen und andere außerpädagogische Instanzen geprägt?15 Beobachten wir in unseren Schulen eine Abkehr von der anspruchsvollen Bildung zugunsten einer „Fast-Food-Bildung“ – und betrifft das Wort „Bildung“ in beiden Fällen den gleichen Sachverhalt?16 Kommen in Wortverbindungen wie Halbbildung, Bildungsbürgertum oder Bildungsgebaren nicht problematische oder sogar schädliche Seiten dessen zum Ausdruck, was in Deutschland mit diesem Begriff gemeint ist? Ist der Bildungsbegriff vielleicht sogar ein „deutsches Syndrom“, ein verhängnisvolles Deutungsmuster, das im 19. Jahrhundert den Blick für die soziale Wirklichkeit verdeckte, indem es gesellschaftliche Probleme (wie die Ausbeutung von Menschen im Rahmen der Industrialisierung) „vergeistigte“?17 Ist der mit einem „traditionell humanistischen Menschenbild“ verbundene Bildungsbegriff überholt, weil dieses Menschenbild angesichts moderner Bio- und Nanotechnologien „ausgedient“ hat?18 Stimmt das anklagende Urteil des Althistorikers Manfred Fuhrmann, dass Bildung und Kultur Begriffe sind, die gegenwärtig zerredet, missbraucht, geschunden werden – und denen es gut täte, „wenn sie eine Weile geschont würden“?19 Fragt der Germanist und Goethe-Kenner Albrecht Schöne mit guten Gründen danach, was mit den großen Werken unserer Dichtung und überhaupt mit schriftlichen Zeugnissen aus alter Zeit geschieht, „wenn das Fundament der Bildung zusammenbricht und niemand sie mehr versteht?“ Ist dies Zeichen „eines wachsenden Verfalls von Kultur“?20 Präsentiert der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers eine einleuchtende Diagnose mit der Behauptung, man könne in der neuen bildungspolitischen Ära nach den PISA-Vergleichsstudien auf den Anspruch verzichten, in der Schule Bildung zu vermitteln: Die Schule sei keine Bildungs-, sondern eine Lehranstalt zur Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten?21 Aber: Was ist hier wie in allen anderen Fällen mit dem Wort Bildung gemeint? Was ist das: Bildung?
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann schrieb in einer lesenswerten Schrift zur Geschichte des Bildungsbegriffs:
„Der Begriff Bildung ruft auch heute noch bei jedem eine Reihe unbestimmter Assoziationen hervor. Wenn wir uns Rechenschaft ablegen über deren Bedeutungsumfang, stoßen wir auf die Opposition von Bildung und Ausbildung. Während Ausbildungen als Vielheit bestehen, lässt sich ‚Bildung‘ nicht in den Plural setzen. Der Begriff Bildung ruft Einheits-, Universalitäts- und Totalitätsideale auf und tritt mit dieser Aura als Ergänzung und Korrektiv neben das gezielte Erwerben von Spezialwissen und Sachkompetenz. Die Bildungsidee stellt den Kontrapost dar zur Tendenz wachsender Spezialisierung und Fragmentierung des Wissens. Sie erinnert daran, dass es nicht nur darauf ankommt, was man kann, was man weiß, sondern auch darauf, wer man ist. Wer über der Fachausbildung diese Dimension der Menschenbildung vernachlässigt oder ganz vergisst, galt früher als Banause, später als Fachidiot. Im Laufe des 18. Jahrhunderts etablierte sich ‚Bildung‘ als unübersetzbares Wort für eine im Kern deutsche Erfindung und Institution. Damit war der Anfang einer Geschichte markiert, die wir hier in groben Zügen nachzeichnen wollen. Der Bildungsbegriff changiert zwischen utopischem Ideal und politischem Programm. Ihn als rein deskriptiven Begriff einer Sozialgeschichte einzusetzen heißt, die Innenbeleuchtung des Phänomens, die im Begriff selbst wirksame Energetik zu unterschätzen.“22
Auch Aleida Assmann, die Bildung mit dem kulturellen Gedächtnis gleichsetzt, kommt am Ende ihrer Untersuchung zu einer skeptischen Betrachtung des Bildungsbegriffs: Mit der „Ausdifferenzierung kultureller Wertsphären“ sei es schwieriger geworden, noch so etwas wie einen orientierenden Bildungskanon zu proklamieren. Zwar lasse die „Performativität des Bildungsdiskurses“ die Frage nach den Ursprüngen des Bildungsbegriffs zu, nicht aber die nach seinem Entwicklungsweg oder gar seinem möglichen Ende.23 Diese Idee, dass in einer komplexer werdenden Welt auch ein neuartiges Bildungsverständnis erforderlich wird, hat seit vielen Jahren auch in der Pädagogik viel Resonanz gefunden. So kann z.B. gefragt werden, ob man für Bildungserfahrungen aufschlussreiche biografische Analysen so ohne weiteres in Gestalt eines Tableaus von Phänomenen zusammenstellen kann oder aber genauer untersuchen müsste, ob sich darin historische Konstellationen artikulieren, die auch bildungstheoretisch unterschiedlich zu interpretieren sind. Das betrifft unter anderem die Erfahrungen, die sich aus der komplexer werdenden Struktur moderner Gesellschaften ergeben: Hinterlassen diese ihre Spuren nicht auch in neueren individuellen Biografien?24 Dennoch möchte ich zeigen, dass eine genaue Phänomenologie der Bildung deren Polyvalenz, ihre Zukunftsoffenheit, aber auch ihre „Energetik“ oder ihre „Performativität“, d.h. ihr auch in „hochkomplexen Gesellschaften“ wirksames Potential für schöpferische sinngebende Lebensorientierungen demonstriert.
Wenn wir diese dem facettenreichen Bildungsbegriff innewohnende Energetik, d.h. seine für die individuelle Entwicklungsorientierung produktive Kraft verstehen und damit eine begründete Position in der erwähnten kontroversen Diskussion des Bildungsbegriffs einnehmen wollen, so bieten sich mindestens vier Wege der Erkenntnisgewinnung an: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Bildungsbegriffs, die Analyse der Botschaften, die in sogenannten Bildungsromanen zu finden sind, die Auswertung biografischer Berichte über wichtige Bildungserfahrungen bzw. -erlebnisse und eine exemplarische Analyse verschiedener – expliziter oder impliziter – symptomatischer Definitionen dieses Begriffs. Diese vier Zugänge werden nun genauer besprochen, wobei der Beitrag von Bildungsromanen, die man ja eigentlich in ihrer Ganzheit lesen müsste, nicht unmittelbar zur Aufklärung des Bildungsbegriffs herangezogen werden kann. Immerhin ist es hier möglich und sinnvoll, auf den wichtigen Beitrag dieses literarischen Genres zur Begriffsgeschichte von Bildung aufmerksam zu machen und in Gestalt einiger Zitate auf Bildungsaspekte hinzuweisen, die in solchen Romanen zur Sprache kommen. Besonderes Gewicht werde ich auf die Darstellung verschiedener Beispiele aus der biografischen Literatur legen, da man hier einen sehr lebensnahen Einblick in die vielfältigen Entstehungs- und Äußerungsformen der Bildung gewinnen kann. Häufig geht es dabei um Schlüsselerfahrungen, in deren Zusammenhang der eigene Bildungstrieb und das eigene Bildungspotential erfahren werden. Dieser Blick in Lebensgeschichten und -episoden kann helfen, bildungstheoretische Überlegungen zu beleben, Reflexionen also zu bereichern, die ihrerseits wieder eine Ordnung des impressionistisch ausgebreiteten Materials ermöglichen.
Es scheint mir allerdings sinnvoll zu sein, diese vier Zugänge oder Rekonstruktionsgenres nicht streng getrennt zu behandeln, da gerade die Beleuchtung bestimmter elementarer Attribute des Bildungsbegriffs erst durch die Betrachtung aus allen vier Denkrichtungen ihre aufklärende Kraft gewinnt. So werde ich z.B. im Zusammenhang mit Nietzsches Kritik am schulisch herbeigeführten Verlust der Erlebnisfähigkeit dieses wichtige Motiv anhand biogra fischer und bildungstheoretischer Beispiele auch aus unserer Gegenwart vertiefen. Die Aufklärung des Bildungsbegriffs durch Beispiele seiner historischen Entwicklung (erster Zugang) wird hier also ergänzt durch „Ausflüge“ in den biografischen Teil (dritter Zugang) und in gegenwärtige bildungstheoretische oder schulpolitische Diskussionen (vierter Zugang). Analog scheint es mir sinnvoll zu sein, im Abschnitt über eine Bildungserzählung (zweiter Zugang), in der es um die „Brechung“ der Individualität eines Schülers geht, diesen für die moderne Pädagogik zentralen Begriff etwas genauer zu betrachten, und zwar am Beispiel biografischer Berichte über „Ich-Erlebnisse“ (dritter Zugang) und durch Hinweise auf die gegenwärtige kritische Diskussion dieses Begriffs (vierter Zugang). Erst diese Einbettung jener Romanschilderung in den Individualitätsdiskurs dürfte die Brisanz jener erzählten Episode deutlich machen.
Die große Anzahl an Beispielen, der eher unsystematische, assoziative Darstellungsstil, das neugierige Umhergehen im Garten der Beispiele und die Willkür der daran anknüpfenden Gedanken bringen für Leserinnen und Leser allerdings die Gefahr mit sich, Ermüdungserscheinungen zu entwickeln. Es wird jedoch deutlich werden, dass gerade die Vielfalt von Bildungsaspekten, die mit diesem Verfahren sichtbar wird, wesentlich für die Phänomenologie der Bildung ist – denn es geht eigentlich nicht um einen „Begriff“ im traditionellen Sinn des Wortes, sondern um eine Bedeutungslandschaft, um ein semantisches Tableau. Ob man dasselbe nur punktuell, nur in einzelnen Passagen und Beispielen, ob man es in einem Zug oder temporär aufgesplittert kennen lernen mö chte, ist eine Angelegenheit der individuellen Leseökonomie. Ich vermute jedenfalls, dass dieser beispielreiche Durchgang durch verschiedene Umschreibungen, Erfahrungsberichte, Definitionen und literarische Fiktionen allmählich ein inneres Bi ld dessen entstehen lässt, was der Begriff Bildung meint. Ebenso dürfte deutlich werden, dass dieses innere Bild die Konstitutionsbedingungen einer aufgeklärten und humanen Pädagogik veranschaulicht – dass es ein „Energiezentrum“ im Sinne der zitierten Aussage Aleida Assmanns für jede pädagogische Praxis sein kann.
Zur Geschichte des Bildungsbegriffs gibt es inzwischen eine reichhaltige Fachliteratur.25 Sie zeigt uns, dass dieser Begriff zwar auf das Hochmittelalter (und die althochdeutsche Sprache) zurückgeht, im Verlauf seiner Geschichte aber auch durch Elemente bereichert wurde, deren Herkunft man bis in die griechische und römische Antike zurückverfolgen kann. Einige dieser historischen Motive seien hier skizziert (vgl. Abbildung 1):
Abb. 1: Einige Begriffe und Theorien aus der europäischen Geschichte, die in den modernen Bildungsbegriff eingegangen sind
Der – unter anderem von Platon verwendete – altgriechische Begriff euplastos (und seine grammatischen Varianten) wird üblicherweise mit dem Wort bildsam bzw. bildsamer Mensch ins Deutsche übersetzt, meint aber ursprünglich die Veränderbarkeit nicht zuletzt auch des körperlichen Ausdrucks seelisch-geistiger Eigenschaften durch erzieherische Einflüsse.26 Das Kind ist aus dieser Perspektive gleichsam plastizierbar, also durch Erziehung formbar wie eine künstlerische Skulptur.27 Diese Ausdrucksform der Bildung nicht zuletzt auch im körperlichen Habitus – in der Art des Gehens, Sprechens, der Gesten und Gebärden – dürfte bis heute eine wesentliche Facette des Bildungsbegriffs sein (daher wird dieser Begriff auch auf geformte Objekte angewendet – wie im Wort Gebirgsbildung). Dass der Begriff bildsam allerdings aus der heutigen bildungstheoretischen Perspektive eher ein Bildungspotential als eine erzieherisch herbeigeführte und im äußeren Verhalten manifestierte Veränderung bezeichnet, wird später noch genauer herauszuarbeiten sein. Hier sei nur noch darauf verwiesen, dass der plastische Aspekt von Bildung eine besondere Wiederbelebung und Ausformung in der deutschen Klassik erhielt – sowohl in der Bildungstheorie Johann Gottfried Herders als auch in den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. So war beispielsweise Goethes Forschungsbemühung im Hinblick auf Pflanzen und Tiere darauf gerichtet, ihrem Charakter als Lebewesen in einer neuen Form der „anschauenden Urteilskraft“ gerecht zu werden. Es mussten „bewegliche Begriffe“ sein, die diesem Phänomen des Lebens adäquat sein sollten, man musste also beispielsweise die Blattmetamorphose einer Blütenpflanze oder die onto- wie phylogenetische Veränderung der Schädelbildung von Tieren in einem inneren, plastischen und bewegten Bild nach vollziehen: Die Begriffe „Bildung“ oder „Umbildung“ erlebten hier eine regelrechte Konjunktur.28
Goethe hat, in einem kleinen Aufsatz aus dem Jahr 1807 mit dem Titel „Die Absicht eingeleitet“, die Aufgabe einer solchen organischen Morphologie wie folgt beschrieben:
„Der Deutsche hat für den Komplex des Daseins eines wirklichen Wesens das Wort Gestalt. Er abstrahiert bei diesem Ausdruck von dem Beweglichen, er nimmt an, dass ein Zusammengehöriges festgestellt, abgeschlossen und in seinem Charakter fixiert sei.
Betrachten wir aber alle Gestalten, besonders die organischen, so finden wir, dass nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes vorkommt, sondern dass vielmehr alles in einer steten Bewegung schwanke. Daher unsere Sprache das Wort Bildung sowohl von dem Hervorgebrachten als von dem Hervorgebrachtwerden gehörig genug zu brauchen pflegt.
Wollen wir also eine Morphologie einleiten, so dürfen wir nicht von Gestalt sprechen, sondern, wenn wir das Wort brauchen, uns allenfalls nur die Idee, den Begriff oder ein in der Erfahrung nur für den Augenblick Festgehaltenes denken.“
Goethe betont hier also die Doppelbedeutung von Bildung als Resultat eines Entwicklungsprozesses (jemand ist ein „gebildeter“ Mensch) und als Prozess (alles Organische ist in fortwährender Bildung und Umbildung begriffen – das gilt auch für die menschliche Bildung, die niemals zur „festen Gestalt“ wird, sondern immer ein „stetig Bewegtes“ ist). Bildung als Zustand „festzustellen“, bedeutet also immer das Herausgreifen eines Momentes aus der bewegten Bildungsgeschichte, seine „Verfestigung“ zur Gestalt. In Goethes lebendiger Anschauung beispielsweise der morphologischen Veränderungen („Umbildungen“) der Pflanze im Prozess ihres Wachstums, die eine Pflanze als Lebewesen erst erfahrbar macht, kommt die plastische Ausdrucksform von Bildung zum Tragen. Ähnliche Aussagen findet man auch in verschiedenen Werken Herders, wo das „Zum Bilde werden“ des Menschen hervorgehoben wird. Herder bezeichnet von dieser bewegten Bildungsvorstellung her auch die Vorstellung eines Erziehens als „Hinziehen zu einem Ziel“ als mechanische Auffassung der Erziehung, die den wirklichen Lebensphänomenen nicht gerecht wird. Es ist diese plastische Auffassung beispielsweise des sich bildenden Menschen, die von Herder – neben anderen Attributen der Bildung – hervorgehoben wird.29 So schreibt er z.B. in seiner Kalligone über die bildende Wirkung klassischer griechischer Skulpturen, die Menschen oder Götter darstellen und die wir, diese Ausdrucksformen innerlich nachvollziehend, auch in ihrem geistigen Gehalt verstehen:
„Jede menschliche Gestalt spricht zu uns, weil wir selbst mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich in dieser Form offenbaret. Wie wolltet ihr einem Kind ein zorniges oder freundliches Gesicht begreiflich machen, d.i. ihm den Zorn oder die Freundlichkeit durch Unterricht beibringen, wenn es den Naturausdruck dieser Effekten sym- oder antipathetisch nicht in sich fühlte? Nicht anders fühlen wir den Gemütscharakter jedes echt gebildeten Werkes der Kunst, den Geist, der es bewohnet; schnell und sanft geht er in uns über.“30
Unzweifelhaft war und ist der Bildungsbegriff sehr eng mit dem Kulturbegriff verbunden. „Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung … Bildung sollte sein, was dem freien, im eigenen Bewusstsein gründenden, aber in der Gesellschaft fortwirk enden und seine Triebe sublimierenden Individuum rein als dessen eigener Geist zukäme.“ So formulierte der Philosoph Theodor W. Adorno diesen Sachverhalt: Nicht in der unreflektierten Übernahme von Sitten und Gebräuchen der eigenen Kultur, sondern in deren individueller Aneignung besteht dieser Auffassung zufolge Bildung.31 „Kultiviertes Benehmen“ ist immer noch ein sprachlicher Topos für den „gebildeten Menschen“. Franz Rauhut hat in seiner lesenswerten Studie zur Geschichte des Kulturbegriffs gezeigt, dass eine wesentliche Wurzel in Ciceros Begriff der cultura animi, der „Seelenkultur“ zu suchen ist. Das lateinische cultura meint ursprünglich den Ackerbau. Wie ein ertragreicher Acker jedoch – so argumentierte Cicero – nur durch die Kultivierung des Bodens und der Pflanzen möglich wird, so gelte es auch, die ursprünglich „rohe“ Seelenlandschaft Heranwachsender durch Erziehung zu kultivieren.32 Freilich ist der Kulturbegriff nicht gleichzusetzen mit dem Bildungsbegriff – es gab z.B. immer auch fremde Kulturen, die von bestimmten Gruppierungen (wie der altgriechischen oder altrömischen Gesellschaft) als „barbarisch“ eingestuft wurden; das Muster ist bis heute akut, in einer moderaten Gestalt (westliche Modernität versus islamische Traditionalität) etwa in Samuel Huntingtons berühmtem Buch „Clash of Civilizations“, das bezeichnenderweise im Deutschen den Titel „Kampf der Kulturen“ erhielt.33 Ein Zeitungstitel wie „Früher war Kultur eine Kraft der Versöhnung. Heute ist sie zum Kampfbegriff verkommen“ ist daher in historischer Hinsicht sicher irreführend.34 In der neueren Kritik am Bildungsbegriff wird häufig der Gedanke von „Interkulturalität“ ins Feld geführt – diese, d.h. die Bereitschaft, sich auf fremde Kulturhabitus einzulassen, sei dem klassischen Bildungsbegriff nicht inhärent, der daher als „unmodern“ gelten könne. Aber es ist gerade die Zeit des Bildungstheoretikers Wilhelm von Humboldt, in der ein lebhaftes, keineswegs kolonial gestimmtes Interesse für die altindische, altpersische, aber auch islamische Kultur entsteht – also ein Muster der Entbarbarisierung des Kulturbegriffs.35 In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung hat Wolf Dieter Otto, Direktor des Instituts für Internationale Kommunikation und auswärtige Kulturarbeit in Bayreuth, allen Ernstes „den in Deutschland verbreiteten Bildungsbegriff“ für mangelnde interkulturelle Dialogfähigkeit und Toleranz verantwortlich gemacht; er attestierte ihm eine „nationalistisch konturierte Tradition“ und den Charakter einer beschränkten „muttersprachlichen Kulturpädagogik“.36 Unkenntnis auf diesem Gebiet kann man wohl kaum eindrücklicher unter Beweis stellen, war es doch gerade die – auch philologische – Neugier etwa im Hinblick auf die altindische oder arabische Kultur, die über Goethe, die Gebrüder Humboldt und andere in den Bildungsbegriff Eingang gefunden hat; eine der schönsten, jüngst (1996) wieder entdeckten Koranübersetzungen ist Friedrich Rückert zu verdanken.37 Dem interkulturellen Dialog von solchen Traditionen her Tiefe zu geben, wäre Aufgabe gerade einer Allgemeinbildung, die im Sinne Humboldts auch eine Angelegenheit der inneren Kultur ist: „Wenn wir aber in unserer Sprache Bildung sagen, so meinen wir damit etwas zugleich Höheres und mehr Innerliches, nämlich die Sinnesart, die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindung und den Charakter ergießt.“38
Eine ganz andere Wurzel und vermutlich zugleich den Ursprung des deutschen Wortes Bildung finden wir in der mittelalterlichen Mystik insbesondere Meister Eckeharts.39 Die Vorstellung, der Mensch sei ein Ab bild Gottes, ist eng mit diesem frühen Bildungsbegriff verbunden – die Seele „entbildet“ (entbildert) sich von allem Diesseitigen und wird damit offen für die „Inbildung“ Gottes, also für die „Einbildung“ des Göttlichen in die eigene geistig-seelische Konfiguration. Indem der Mensch das Göttliche gleichsam in sich gebiert, bildet er das Göttliche in Gott zurück. „Daz ist ein gereht (gerechter) mensche, der in die gerehtikeit ingebildet und übergebildet ist. Der gerehte lebet in gote unde got in ime, wan got wirt geborn in dem gerehten unde der gerehte in gote.“40 Diese Vorstellung, dass Bildung darin besteht, Abbild von etwas zu werden, die eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen also zum äußeren Ausdruck eines Ideals oder einer Idee zu machen, ist ebenfalls bis heute in säkularisierten Spuren auffindbar.41 Um das an einem Beispiel deutlich zu machen: Ein Philosoph hatte vor Studenten beeindruckend über Vernunftprinzipien der Gerechtigkeit gesprochen. In der anschließenden Diskussion stellte ein Teilnehmer kritische Fragen – der Referent stufte die dabei geäußerten Thesen verärgert und herablassend als Relikte des 19. Jahrhunderts ein. Gelächter, aber auch Beklemmung und Betroffenheit im Publikum folgten. Der Fachmann in Fragen der Ethik hatte nicht nur den Fragesteller bloßgestellt, sondern damit auch sein mangelndes Takt- und Gerechtigkeitsgefühl demonstriert – und zwar bis in die herablassende Gestik hinein. Körperhabitus und proklamiertes Gerechtigkeits-Ideal waren nicht kongruent – und gerade das wurde als peinlich, als auch im äußeren Habitus „ungebildetes“ Verhalten erlebt.
In der europäischen Aufklärungszeit kommt dann zunehmend auch die Entwicklung eines moralischen Sinns, des Gewissens und der eigenaktiven Sozialisierung des Trieblebens, kurzum die selbsttätig initiierte Formung des Charakters nach Maßstäben der Kultur in den Bildungsdiskurs. „Innere Form“, „innere Bildung“ (inward form) und eine ausgewogene Architektur des menschlichen Seelenlebens waren wichtige Leitbegriffe, die insbesondere von Antony Ashley Shaftesbury vorgetragen wurden. Platons plastischer Gedanke wird von Shaftesbury auf das Innere des Menschen, auf die „Formation“ (inner formation) des Charakters bezogen, der wie eine Skulptur zu bilden sei; diese innere Gestalt muss aber auch nach Shaftesburys Meinung äußeren Ausdruck finden.42 Hier wird ebenfalls eine bis heute bedeutsame Facette des Bildungsbegriffs entwickelt: die Formung des Charakters, die in Erscheinung tretenden Gestaltungskräfte etwa im sozialen Umgang, in der Charakterbildung, in der geistigen Tätigkeit – das Gegenteil des schwammigen, diffusen, flottierenden, orientierungslosen Verhaltens oder Denkens, der Charakterlosigkeit und Stillosigkeit im sozialen Verhalten.43
Als interessantes Lehrbeispiel für eine solche Formkraft ist immer wieder die durchgeformte, stilsichere und ausdrucksstarke Sprache genannt worden.44 Friedrich Nietzsche hat nicht nur in seinen Schriften die Bildung der Sprache als wichtiges Bildungsziel genannt, sondern – wie einige Beispiele später zeigen werden – auch selber ein Beispiel der durchgestalteten lebendigen Sprachkultur gegeben. Hat man einerseits in diesem Philosophen ein Individuum vor Augen, für das die kritische Analyse seines sozialen Umfeldes keine akademische Allüre, sondern Leidenschaft und tiefstes seelisch-geistiges, ja wohl sogar körperlich manifest werdendes Engagement war, so bahnt sich diese Passion dennoch nicht in gestaltlosen Ausbrüchen und Angriffen Bahn. Die mit Nietzsche zeitweise befreundete Schriftstellerin Lou Andreas Salomé schrieb in ihrem Lebensrückblick:
„Denn stieß er nicht an eben jene Aufgerührtheit von Seelen, die innerlich durchlebten, was Verstandeserkenntnisse ihnen gaben oder nahmen, und die ihre Freuden und Leiden inmitten des sachlichsten Geist-Erlebens hatten? Und war nicht Nietzsches eigenstes Genietum eben die Gewalt der Ausdrucksfähigkeit dafür? Umfassten in ihm Dichter- und Erkenntniskraft einander nicht so fruchtbar, weil seelische Kämpfe und Notlagen ihn dazu trieben, sein Äußerstes zu leisten? Indessen kennzeichnet sich darin … zugleich der Gegensatz, den er zu unseren Freunden von damals bildete. Denn wie verschieden die einzelnen zu den ihnen wesentlichen Fragen standen – in einem Punkte gehörten sie zusammen: in der Wertung ihrer Sachlichkeit – in dem Bestreben, ihre eigenen Aufgerührtheiten vom erkennenden Willen zu scheiden, sie vom wissenschaftlich zu Leistenden nach Möglichkeit getrennt zu halten, sie zu erledigen als ihre Privatsache. Für Nietzsche, anstatt dessen, wurde sein Zuständliches, seine Tiefe der Not zum Schmelzofen, worin sich der Erkenntniswille erst zur Form glühte; diese Formwerdung in solcher Glut ist das Gesamtwerk Nietzsches …“45
„Darin besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dass er den Stoff durch die Form vertilgt“, heißt es im Hinblick auf die ästhetische Tätigkeit in Friedrich Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (1795)46, womit die geistige Formung der sinnlichen Eindrücke, Emotionen und Affekte (der sogenannte „Stoff“ bei Schiller), also die Kultivierung, jedoch keineswegs die Unterdrückung der Sinnlichkeit gemeint ist. Um dies am Beispiel der geformten oder ungezügelten Sprache deutlich zu machen: Mir ist eine Gruppe von politisch engagierten Studenten in Erinnerung, von denen ein junger Mann während einer studentischen Vollversammlung zu Beginn des sogenannten Ersten Golfkrieges im Jahr 1980 erregt ins Publikum rief: „Leute, ihr müsst doch echt sehen, was da unten für’n unheimlicher kapitalistischer Scheiß abgeht!“ Bei allem Respekt für die kritische Haltung zu diesem Krieg: Seine formlose sprachliche Darstellung war reine ungezügelte Expression, keine Hilfe, das Phänomen sachlich zu erfassen, ihm eine erkennbare Gestalt zu geben. Das zu leisten, bedarf es der von Shaftesbury genannten „inward form“, der Fähigkeit unter anderem, seine Gedanken in einer Erkenntnis ermöglichenden Weise zu formulieren. Diese mangelnde sprachliche Formkraft hat einer der wichtigsten „Klassiker“ der Bildungstheorie, Johann Gottfried Herder, an der Sprache seiner Zeitgenossen kritisiert. Er attestierte insbesondere den Deutschen seiner Zeit eine verhältnismäßig unterentwickelte Redekultur. Ihr sei nicht selten Zorn, Grobheit, Verweis statt „Politesse“ und „Urbanität“ zu Eigen; man antworte beispielsweise „schief, quer und weiß nicht, ob man den Mund öffnen soll“ – oder man erzähle „wie ein Trunkener, das Vorderste zu hinterst, das Hinterste voran, in ellenlangen Einschiebseln und Paranthesen, so dass man nie zum Zweck kommt, und nirgend den Ausgang findet“; man „überlässt sich im Scherz groben Zoten, beleidigenden Ausdrücken, und dem unsinnigen Aberwitz von Wortspiel und Lächerlichkeiten, über die niemand lacht … Es gibt kein beschwerlicheres Geschöpf der menschlichen Gesellschaft als ein Mensch von dummen Reden, und kein erbärmlicheres Glied unter den menschlichen Gliedern als eine vorlaufende, stolpernde, stotternde, grobe oder unzeitig spitzig und feingeschliffene, dumme Zunge“.47 Daher gehöre es zu den vordringlichen Aufgaben der Erziehung, das Sprach- und Gesprächsvermögen Heranwachsender zu schulen sowie ihre entsprechenden Umgangsformen zu kultivieren.48
Allerdings garantiert eine schöne, in ihrer Satzkonstruktion durchkomponierte und wohlgeformte Sprache noch keine Bildung. Gerade in Nietzsches Werk kann man zahlreiche einfältige bis dumme Bemerkungen beispielsweise über Frauen finden. Daher mussten seine weiblichen zeitgenössischen Anhängerinnen, die von seiner Sprache und seiner unkonventionellen, befreiend wirkenden PhilosophieZarathustraBildungserlebnis