„Es ist bedeutsam zu wissen, wie unfrei die Leute hier gelebt haben, um eigentlich erst einschätzen zu können, wie wichtig Freiheit für jemanden ist.“
Kriemhild Frieda Marie Mader
Vom Leben am Rand
der roten Scheibe
Roman
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Copyright © 2015 by editionfredebold
Deutsche Originalausgabe
Copyright © 2014 by Kriemhild Frieda Marie Mader
Covergestaltung: Roland Pecher, Köln
Bildquelle: Sven Riekers, Bremen
Autorenfoto: © Silke Rudolph, Berlin
Programmleitung: Werner Fredebold, Köln
Redaktion, Korrektorat: Maike Wintzen, Köln
Lektorat: Dr. Jochen P. Becker, Wiehl
Satz: D.I.E. Grafikpartner GmbH, Köln
ISBN 978-3-944607-01-6
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Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Alle genannten Orte sind real existent. Die Figuren und deren Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks, oder der Vervielfältigung in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich
der gesetzlichen Mehrwertsteuer
Meinen Eltern, Brunhilde und Siegfried,
in Liebe, Dankbarkeit und Respekt gewidmet.
Kriemhild Frieda Marie Mader, Jahrgang 1959, wuchs in dem kleinen Ort Schlagsdorf in Mecklenburg-Vorpommern, im Grenzstreifen zur BRD, auf. Eine Kindheit und Jugend hinter den Mauern des Sperrgebiets, eine Heimat, die sie selbst mit Freunden und Schulkameraden nicht teilen konnte. Ein fremdbestimmtes Leben kennzeichnete ihren Weg. Dem Traum von einer Musikerkarriere ging sie aufgrund ihres damaligen angepassten und fügsamen Charakters nicht nach und studierte stattdessen Germanistik und Slawistik in Güstrow und Minsk. Sie unterrichtete an einer Schule in Berlin, doch nach der Wende orientierte sie sich neu. Nach der Trennung von ihrem Mann arbeitete sie kurzzeitig wieder als Lehrerin, entschied sich jedoch aufgrund der dauernden Befristungen und der erheblichen Herabstufung des Gehaltes endgültig gegen diesen Beruf.
Aus der “DDR“ vermisst sie einzig die etwas langsamer fließende Zeit. Die Mauer wünscht sie sich nicht zurück, denn deren Fall bedeutet für sie Freiheit im Denken und Handeln. Daher rührt auch ihr inneres Aufbegehren gegen die Einstellung „Da kann man ja doch nichts machen.“
Vom Wunsch getrieben, die alten Familiengeschichten aus der Zeit im Sperrgebiet festzuhalten und sich durch das Schreiben von der Einengung und der Begrenzung zu befreien, beginnt sie ihre Autorenlaufbahn.
Heute ist Frau Mader sowohl beruflich als auch privat angekommen und arbeitet neben ihrer Tätigkeit als Autorin freiberuflich als Layouterin, Trauerrednerin und Sängerin.
Kriemhild Frieda Marie Mader hat gehandelt und verschwiegene und vergessene Handlungen des “DDR“-Regimes in ihrem autobiografisch geprägten Erstlingswerk „Vom Leben am Rand der roten Scheibe“ festgehalten.
Mit ihren beiden Söhnen lebt sie in Berlin, dem Ort, den sie heute als Heimat bezeichnet.
Inhalt
Personenregister
Prolog
Berlin-Friedrichshain, Mittwoch, 8. November 1989, 19.30 Uhr
Kapitel 1
Berlin-Mahlsdorf, Dienstag, 7. November 1989, 7.55 Uhr
Kapitel 2
Schlagsdorf, Dienstag, 16. April 1974
Kapitel 3
Schlagsdorf, Sonntag, 21. April 1974 – Jugendweihe
Kapitel 4
Schlagsdorf, Montag, 4. Februar 1974
Kapitel 5
Schlagsdorf, Sonntag, 21. April 1974, Jugendweihe
Kapitel 6
Berlin-Mahlsdorf, Dienstag, 7. November 1989, 16 Uhr
Kapitel 7
Schlagsdorf, Mittwoch, 17. Juli 1974
Kapitel 8
Schlagsdorf, Samstag, 19. Oktober 1974
Kapitel 9
Schlagsdorf, Donnerstag, 24. Oktober 1974
Kapitel 10
Schlagsdorf, Sonntag, 27. Oktober 1974
Kapitel 11
Schlagsdorf/ Ratzeburg, Montag, 21. September 1964
Kapitel 12
Gadebusch, EOS, Dienstag, 03. Mai 1977
Kapitel 13
Berlin-Mahlsdorf, Freitag, 10. November 1989
Kapitel 14
Schlagsdorf, am Mechower See, Montag, 16. Juli 1990
Kapitel 15
Ratzeburg, Samstag, 21. September 1991
Kapitel 16
Caracas, Samstag, 28. September 1991
Epilog
Danksagung
Sehnsucht
Glossar
Quellen
Personenregister
Ute Rojahn |
Hauptperson |
Im Sperrgebiet |
|
Dietrich Rojahn |
Utes Vater (aus Ostpreußen) |
Sieglinde Rojahn |
Utes Mutter (aus Pommern) |
Volker Rojahn |
Utes Bruder |
Rosina Rojahn |
Utes Großmutter |
Paul Lewitzki |
Cousin von Rosina (aus Ostpreußen) |
Heidrun Lewitzki |
|
(Heidi, Heidewitzka) |
Pauls Tochter, Utes Freundin |
Holger Lewitzki |
Pauls Sohn |
Harry Petermann |
Utes Russischlehrer |
Anni Borowska |
Petermanns Braut (aus Ostpreußen) |
Gerhard Borowska |
Annis Vater |
Gerda Borowska |
Annis Mutter |
Wilhelm Grieger |
Polizist am Schlagbaum |
Roswitha Grieger |
Wilhelms Tochter, Utes Klassenkameradin |
Susanne Brauch |
Utes Klassenkameradin |
Gerd & Ulli Kabuschke |
12jährige Zwillinge |
Jenseits des Sperrgebietes |
|
Gernot Rojahn |
Utes Cousin (Schwerin) |
Lilli Brüning |
Utes Freundin, Klassenkameradin |
|
(Gadebusch) |
Julia |
FDJ-Sekretärin (Berlin) – auf der Flucht |
Kathrin |
Julias Freundin |
Sven Prohaska |
Utes Nachhilfeschüler, Opa im ZK |
Rolf Gerlach |
Utes Freund |
Ernst Hartwig |
|
(E.H., Señor Ernst) |
Fabrikbesitzer in Caracas |
Prolog
Berlin-Friedrichshain, Mittwoch, 8. November 1989,
19.30 Uhr
Der Betonpanzer zeigt Risse. Flüchtig erst. Ein schmaler Sonnenstrahl, unvermittelt, blitzt in das dumpfe Sein. Was wird er schon erhellen? Am Mauerwerk krampft weiter in kümmerlichen Placken der Putz, farblos grau. Die Luft geschwängert vom Ausstoß verbissen arbeitender Maschinen. Der Liter Milch fast schon so durchsichtig wie seine transparente Hülle. Die Butter schwitzt. Und selbst der eine, auf dessen Farbenfreude immer Verlass war, der Rot-, Weiß-, Grün-, der Blumen-, der Rosenkohl, hat sich auf eine Sorte und damit auf wässriges Hellgrün eingedampft. Vom Chinakohl ganz zu schweigen. So würde es weitergehen. Wie sonst? Es ist immer so weitergegangen. Von den Balkonen wie eh und je kämpferische Parolen auf verblassendem Rot. Es braucht nicht mehr lange, da sind die Dinge genauso leer wie die Worte.
Es gibt Farben, die haben sich Ute als unausstehlich eingebrannt. Rot gehört dazu. Und Blau. So wie es von den Dederonhemden strahlt. Da gibt es welche, die wollen diese Art von Farben abwählen. Die wollen am Wahltag nicht nur Zettel falten, sondern eine Kabine benutzen, um ihr Kreuz dahin zu machen, wo es ihnen passt. Haben begriffen, dass sie selbst sehen und hören können. Wie soll das gehen? Ganz einfach! Sie hat es ja selbst gesehen. Die Lehrerin seufzt und beugt sich über das holzhaltige Papier. Fährt mit dem roten Stift über die Zeilen. Aufsätze hat sie zu korrigieren. Das hat sie zu tun. Der Lehrer – die Stütze der Gesellschaft.
„‚Ein verruchter Besen, der nicht hören will!‘ Der Besen hat bestimmt auch eigene Hoffnungen“, so schreibt Christine. Na, da hat sie aber Recht. Und schon wieder schweifen Utes Gedanken ab.
Sie blickt aus dem Fenster. So düster ist der November noch nie gewesen, denkt sie. Immer hat es das gegeben, dass Menschen, junge Leute aus ihrem Umfeld, verschwunden sind. Haben sich einfach verabschiedet oder auch nicht und sind dann weg für ein ganzes Leben. Wie tot. Immer mal wieder einer. Doch dies hier ist der reine Exodus. Wie lange soll ein Mensch das ertragen? Dinge können ja verblassen. Das kann sie aushalten. Schlimmer ist es, wenn die Luft vor Gestank nicht mehr zu atmen ist oder wenn es gar nichts mehr zu atmen gibt. Aber wenn alles Leben um dich herum wegbricht, was dann? Dann kannst du nur mit fallen oder du klammerst dich an irgendwas und weißt genau, auch das wird dich nicht tragen. Und spürst, du selbst bist es, die bricht, dir wegbricht, irgendwie, dir weggebrochen ist, irgendwann früher schon.
Sie steht auf und schaltet den Kasten ein. Schon wieder: Aufgeregt wogende Menschenmassen skandieren „Wir sind das Volk“. Vier Worte, vier Silben. Mit ihnen kann man losziehen. Aber nicht mit dem bleiernen „Generalsekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik“. Da wäre man schon in den Startlöchern außer Puste. Seit dem Sommer strömen die Bürger, die nicht mehr sein Volk sein wollen, über durchlässige Brudergrenzen in den Westen und sind weg. Und die Altherrenriege, die sitzt da, guckt sich das durch ihre dicken Brillengläser an und versteht die Welt nicht mehr. Die, die die Wahrheit erfunden haben. „Herr und Meister, hör uns rufen.“ Ausgemeistert hat es sich! Zauberworte gelten nicht mehr. Haben tief sitzender Entrüstung Platz gemacht. Die ergießt sich respektlos über Straßen und Plätze bis zu den roten Läufern auf den Vortreppen der Macht. Was?, horcht Ute auf. Das Politbüro ist geschlossen zurückgetreten? Sie fasst es nicht. Ade, ihr alten Männer! Viel zu nah wart ihr meinem Leben. Für mehr Nachrichten hat sie jetzt nicht mehr den Nerv. Abrupt steht sie auf und schaltet den Fernseher aus. Von unten schallt der Kneipenlärm zu ihr herauf. Lauter als sonst. Aufgeregter. Nicht boshaft. Die Menschen haben sich eine Menge mitzuteilen. Sie greift sich ihren Parka von der Stuhllehne, nimmt das Portemonnaie aus der Tasche und kontrolliert seinen Inhalt. Bis auf sechzig Pfennig nimmt sie alles raus. Ein Bier. Mehr nicht. Durch ihren lindgrünen Flur geht sie aus der Wohnung ins vernachlässigte Treppenhaus der Mietskaserne, die knarrenden Stufen hinab über den kleinen Hof in die Kneipe vorne.
Sie öffnet die erste, die zweite Tür. Eingehüllt in eine kompakte Wolke beißenden Zigarettenqualms schlägt ihr der Geruch von süßlich herbem Berliner Bier entgegen. Der Dunst steigt ihr in den Hals, reizt ihre Augen. Bevor sie einigermaßen gucken kann, wischt sie sich die Tränen aus dem Augenwinkel. Die gestikulierenden Menschen sieht sie verschwommen. Kein Wunder, bei den paar Funzeln an der Wand. Aber eins sieht sie: Alles ist in Bewegung. Berichtet, kommentiert, streitet, lacht befreiend. Das ist nicht mehr ihre gemütliche Kneipe von vor einem halben Jahr. Hier brodelt Weltgeschichte. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hat, gleitet ihr Blick in Richtung Tresen. Klar, da sitzt, vor einem Glas Bier, Rolf, ihr Malerfreund von gegenüber. „Hast du schon gehört, dass die Altherren zurückgetreten sind?“, empfängt er sie mit Blick auf den kleinen, dudelnden Fernseher. – „Kannst du dir vorstellen, dass meine FDJ-Sekretärin in’n Westen rübergemacht ist?“, kontert sie. – „Oha, und wer bleibt jetzt noch übrig zum Regieren? Wir beide?“
Welcher Aberwitz! Der erfolglose Maler mit seinen schmachtenden Sonnenuntergängen und die unzufriedene Lehrerin. In ihr Gelächter fällt die Wirtin mit ihrem kehligen Organ dröhnend ein.
KAPITEL 1
Berlin-Mahlsdorf, Dienstag, 7. November 1989, 7.55 Uhr
Ute Rojahn hastet die Treppe zu ihrem Klassenraum hinauf. Sie ist spät dran. Was hatten sie sich wieder die Köpfe heiß geredet im Lehrerzimmer. In dieser knappen halben Stunde zwischen Eintreffen der Lehrer im Schulhaus und Unterrichtsbeginn. Diesmal ist es Alfred Weihs gewesen, der an und für sich gemütliche Sportlehrer, der ins Fettnäpfchen getreten ist. Energiegeladen hat er von einer Diskussionsrunde in der Humboldt-Uni erzählt. Da war dem sozialistischen Staat keine Perspektive mehr ausgerechnet worden. Er selbst hatte im Hörsaal gesessen und wacker gestritten, die sich abzeichnende Tendenz sogar noch manifestiert. Denn die Schüler sind nicht mehr zu begeistern. Machen ihre Aufgaben nur noch halbherzig und fahrig. Dies Land steht am Rande des Abgrunds. Das wissen die Eltern, das begreifen die Schüler. Der Sportlehrer hatte jedoch nicht mit der Hartleibigkeit seiner altgedienten Genossen gerechnet. Gleich zwei waren es, die ihm voll in die Parade fuhren. Renate Schlottau, klar, die prinzipientreue Stabi-Lehrerin, und Kalle Holzmann, auch logisch, seines Zeichens Parteisekretär. Die haben den ganzen ihnen zur Verfügung stehenden Kübel an staatstreuem Vokabular aus der Westentasche gezogen und auf Teufel komm raus auf sozialistische Moral gepocht. Die würde Alfred als aufgeklärtem Genossen ja wohl völlig abgehen. Er würde schon sehen, wohin er käme, wenn er solch klassenfeindlichen Strömungen das Wort redete. Im Zweifel gebe es ja noch Parteiausschlussverfahren! Da ist Weihs dann vollends der Kragen geplatzt. Mit hochrotem Kopf wollte er gerade anfangen loszuwettern, da fasste Ute ihn beim Handgelenk. Entnervt, dabei mit einem Zwinkern, richtete sie die Augen himmelwärts. Es war gerade im letzten Moment. Einen Hauch konnte er noch runterfahren. Er hieb mit der Faust auf den Tisch, holte tief Luft. Was würde jetzt kommen, acht Kollegen starrten ihn gespannt an. Fast erstickt presste er es heraus: „Was meinst du, Kalle, wer hier wohl wen ausschließt. Was kann man aber auch mit Augen zu durch den Tag rasen!“
Als er dann, immer noch erregt, aufstehen und den Raum verlassen wollte, erhob sich ein einsames Stimmchen. Das von Friederike Köster war es, Deutsch/Musik, die ganz leise „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“ vor sich hin grummelte. Unversehens wurde daraus ein sechsstimmiger Chor. Das war böse. Die beiden Hardliner verließen wutschnaubend den Raum. „Ihr braucht keine Angst zu haben“, rief Weihs ihnen noch hinterher. „Wir bleiben hier am Ball. Und am Schluss knipsen wir dann brav das Licht aus.“
Schon seit dem Frühjahr, seit der wie immer 99-prozentigen Wahl, hat sich die ehedem gleichförmig robuste Stimmung unter den Lehrern gewandelt. Ute hatte als Wahlhelferin in ihrem Stimmbezirk bereits mehr Nein-Stimmen gezählt als im ganzen Stadtbezirk auf das eine veröffentlichte Prozent gingen. Den anderen Wahlhelfern aus der Schule war es genauso gegangen. Ein Schlag ins Gesicht! Ein Hohn. Zum ersten Mal hatten sie es schwarz auf weiß: die Einheit von Wort und Tat im gelebten Sozialismus.
Seitdem ist es aus mit der Rücksicht auf die 150-Prozentigen. Nur manchmal noch halten die Kollegen sich in ihrer Diskussionswut zurück, wenn hinter der Fassade des Genossen der Mensch zum Vorschein kommt. Wenn den zurechtgestutzten Formeln mehr und mehr der Inhalt entgleitet und das Menschlein wie nackig da steht. Und das passiert immer öfter, seit im Sommer die Bürger in Scharen das Land verlassen, es ausblutet mit jeder Minute. Die Mächtigen hilflos. Nicht einmal mehr fähig, die verlässlichen Standpunkte zum Schuljahresbeginn vorzugeben. Stille, wo sonst die fertigen Losungen die Luft anfüllten. Laut in seinem Zorn dagegen das nicht vereinnahmte Volk. Entlädt die seit Jahren angestaute Wut über ein Dasein wie in einer Eisernen Jungfrau. Dazwischen die Lehrer. Ohnmächtig ausgesetzt dem kaum fassbaren Strudel und durch Drohungen mit chinesischen Verhältnissen gelähmt. Die Reibereien steigern sich von Tag zu Tag. Üben einmal einen Sog auf Ute aus. Ein anderes Mal sind sie ihr über. Es beginnt schon auf dem Weg zur Arbeit. Ganz offen tanzen da auf unbekannten Gesichtern die vorher sorgfältig gehüteten Gedanken. Menschen, die sich nicht kennen, sprechen sich ohne Scheu an, wollen sich bestätigt wissen. Staunen über das, was um sie herum geschieht, und lassen sich im Strudel treiben. Überall brodelt es. Ihr geht das alles zu schnell. Wohin würde das führen? In der Schule kippen die Kräfteverhältnisse um. Die vordem so eindeutigen Standpunkte taugen nicht mehr. Jedermann kann Meinungen übernehmen und aussprechen, wie es ihm beliebt. Sogar eine eigene Meinung darf man haben …
Noch ganz benebelt von der hitzigen Debatte, nimmt sie die letzten Stufen im lärmenden Treppenhaus. Knapp entgeht sie dem Gedränge einer viel zu spät zum Sportunterricht hinabpreschenden Klasse. Ihr schwirrt der Kopf. Als sie noch schlingernd um die Ecke biegt, sieht sie ein Häufchen Elend vor der Fensterwand kauern. Ein halbes Häufchen. Kathrin tauchte nie allein, sondern immer im Doppelpack mit ihrer Freundin Julia auf. Ist die krank?, denkt Ute noch. Da springt das verheulte Mädel auf und rennt auf sie zu. Zwischen Schluchzern presst sie ein einziges Gestammel heraus: „Julia. – Weg, weg sind sie. – Einfach weg. – Die, die seh’n wir nie wieder!“ Die Lehrerin stutzt. Im Bilde ist sie sofort, doch ihre grauen Zellen wehren sich gegen die Nachricht. „Unsere Julia? Das kann doch gar nicht sein. Das gibt’s doch nicht!“ – Die FDJ-Sekretärin der 10b bricht mit der Freiheitsfahne voran die Ketten?, denkt sie und muss einen Gluckser unterdrücken. Sie legt verhalten ihren Arm um die bebende Kathrin und streicht ihr die langen, braunen Haare aus dem tränenfeuchten Gesicht. Schaut durch die Scheiben und versucht, die Gedanken zu ordnen. Erinnert sich. Schon die Elternaktivsitzung letzte Woche war so seltsam gewesen. Die sich überstürzenden Ereignisse im Land hatten auch die über die Jahre zusammengeschweißte kleine Runde überrollt.
Im Haus von Julias Mutter hatten sie sich versammelt. Jetzt, in der Novemberfrühe und hinter hohen Tannen versteckt, kann Ute deren kleines Anwesen gerade mal ansatzweise ausmachen. Dabei ist es keine hundert Meter entfernt. Aufgeräumt war die Stimmung gewesen. Zumindest am Anfang. Dazu trug nicht zuletzt das bürgerliche Ambiente in Brittas Wohnung bei. Bereits die Gemälde an der Wand in ihren ehrwürdigen Rahmen schafften es sofort, Ute in eine andere Welt zu versetzen. Da war der Harlekin in Blau und Rot, der dem Betrachter verwegen seinen Hut entgegenschwenkte. Einen geheimnisvollen Zug hatte der um seinen Mund. Ihm konnte Ute eine artige Verbeugung nie verwehren. Jetzt war sie angekommen. Warf auch einen Blick auf das Segelschiff daneben. Eine ewige Sekunde lang schlingerte das auf Breitseite in schäumender See. Und gegenüber, der Küche zu, über dem üppigen, schwarzen Vertiko der duftige lilafarbene Flieder in einer Schale, umschwirrt von begehrlichen Schmetterlingen vor tiefdunklem Hintergrund. Sie war die Erste an jenem Abend, kam ja schließlich nicht von zu Hause aus Friedrichshain, sondern ist bis neunzehn Uhr in der Schule irgendwelchen Verpflichtungen nachgegangen. Hier ließ sie die Unrast fallen, konnte so sein, wie sie war.
Sie ließ sich auf das bordeauxrot bezogene Biedermeiersofa plumpsen und sog den Raum in sich ein. Die Stühle mit fein gedrechselten Lehnen am dazu passenden großen, ovalen Tisch. Gerade genug Platz für die Sechserrunde. Der hohe Schrank, hinter dessen Butzenscheiben bunte Bleiglasrömer schimmerten. Der ausladende Gummibaum an der Fensterfront, der einen ausgesprochen grünen Daumen verriet. Ja, ganz unverfänglich über Pflanzen hatten sie gefachsimpelt, bevor die anderen mit lautem „Hallo“ eintrafen und ihre unterschwellig permanent vorhandene Wut über ein hilfloses Land nach außen kehrten.
Kathrins Vater, der aufgeklärte, stämmige Klempnermeister Wolfgang, machte früher immer den Anfang, hielt sie mit seinen Anekdoten direkt aus dem politischen Leben auf dem Laufenden. Angeheizt von den ungläubigen Blicken der Frauen steigerte sich dann seine Erzähllust immer mehr. Bei ihm auf Arbeit, im Kraftwerk, wäre ein reibungsloser Ablauf kaum gewährleistet. Die Gewerkschaft würde es den Chefs so richtig geben. Und: Die richtig roten Socken aus seinem Betrieb wären schon lange auf dem Weg in den honigsüßen Westen. Alice, Cordulas durchgestylte, hyperblonde Mutter, hörte ihm dabei mit offenem Munde zu, unfähig herauszufinden, ab wann die Phantasie mit ihm durchging. Jetzt kam diese Phantasie dem Leben draußen nicht mehr hinterher. Alles hatte sich umgekehrt. Hier, in dieser Runde, hatte schon immer das offene Wort geherrscht. Nur war jetzt die Aufregung eine größere, eine, die alle umfasste. Allein die sonst immer aufmüpfig mitstreitende Britta war dieses Mal sonderbar still geblieben. Das hatte Ute irritiert. Etwas Unausgesprochenes lag in der Luft. Die schlanke Mittdreißigerin war ihr ans Herz gewachsen. Sie schwammen vom Humor her auf einer Welle, verstanden sich normalerweise allein mit Blicken. Doch an diesem Abend wollte sich kein entspannter Kontakt einstellen.
Auf dem Heimweg fragte Ute Alice nach ihrem Eindruck. Hilfreich erwies die sich aber nicht, sondern entbehrte an diesem Abend ganz der üblichen Contenance. Sie antwortete mit einem Rosenthaler-Kadarka-Hickser: „Die abhaun? Nee! Det jeht jar nich mit de ville Klimbim, den die zu Hause haben.“ Und bei der nächsten leuchtenden Straßenlaterne: „Ach, ach, un weeßte wat: Die hat ja jerade det neue Vertiko jekooft. Die is doch nich bescheuert un haut ab.“ Und streckte dabei ihren Zeigefinger schief in die Luft. ‚Klimbim’, dachte Ute, ‚eben’.
Zumindest hatte sie an dem Abend noch fünf Minuten für die eigentlichen organisatorischen Fragen rausgeschunden. Ein schwieriges Unterfangen bei dem Lechzen nach Informationen allerseits. An dieser Stelle war die Gastgeberin aber aufgewacht und hatte sich besonders lebhaft in die Entscheidungen eingemischt. Fast zu lebhaft. Komisch. Das war wohl der Abgesang?
Ute konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde ohne sie. Nun steht die Lehrerin auf dem sich in die Klassenzimmer entleerenden Flur und spürt Kathrins Beben an ihrer Schulter. „Und woher weißt du das?“, fragt sie, wo die Antwort schon klar ist. – „Na, ich wollt sie heut früh zur Schule abholen und bei denen is alles verrammelt. Die Fahrräder sind weggeräumt, sogar die Sitzecke vor dem Haus. Das Namensschild ab. – Heut Nachmittag wollten wir auf’n Alex zur Demo. Was soll ich denn nu machen?“ Ja, was kann man da noch machen? Nichts ist mehr, wie es war. Alles befindet sich in Auflösung. Die Sicherheit, die auf ewig gemacht zu sein schien, hängt plötzlich nur noch wie ein erbärmlicher Fetzen im Nirgendwo.
Die stupsnasige Ramona, sonst so neunmalklug, steht in der Tür zum Klassenraum. Wie erstarrt. Sie sieht der Szene auf dem Flur traurig zu. Drinnen sitzen die Jugendlichen, welch ungewohntes Bild zum Stundenbeginn, auf ihren Stühlen. Einige kippeln vor sich hin. Andere haben wie erschöpft den Oberkörper auf die hellgrauen Tische gelegt. Sind wohl schon satt vom Diskutieren. Hinten an der Wand steht, ins Gespräch vertieft, eine Gruppe von sonst ganz leisen Mädchen. Die löst sich auf, als Ute den Deutschraum betritt. Gibt den Blick frei.
Ein „Äh!“ schiebt sich kehlig aus dem Rachen der Lehrerin. „Wer hat denn die vollbracht?“ Gemeint ist die Wandzeitung. Die ist neu und sorgfältig mit Reißzwecken am kurzen Brett befestigt. Einzig erlaubte Minderung des Schallschutzes an der rückwärtigen Wand. Ute sieht nach links auf den Kalender. Eine Spende von Svens Opa. Großformatig und bunt. „7. November“, fischt sie den Dienstag in der zweiten Zeile heraus. Rot ist er. Jahrestag der Oktoberrevolution. „Pünktlich. Wahnsinn!“ Ohne zu ahnen, dass sich dieses Wort in zwei Tagen inflationär aus Millionen Mündern ergießen wird. Das Jubiläum hat Ute glatt vergessen. Wenigstens eine Ablenkung, bevor sie auf Julias Aufbruch zu sprechen kommt. Denkt sie. Sie blättert in ihrem Klassenheft und liest: „Gruppe 3. Wer von euch fünfen hat die gemacht, äh, euch vieren?“ „Ich mit Julia. Am Sonntag noch.“ Kathrin presst es heraus, als wäre sie über sich selbst wütend.
Am meisten wird sie wurmen, dass ihre Freundin sie nicht eingeweiht hat, denkt Ute. Die wollte keine Mitwisser haben. Logisch. Gerade nicht solche, deren Reaktion nicht zu berechnen war. Die hätte sie vielleicht nicht ertragen. Hätte sie gehemmt in dem, was ihre Mutter und sie durchziehen wollten. Indessen hat sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit noch ein letztes Mal genährt. Ein Hauch von Wehmut.
Langsam geht Ute zwischen den Tischreihen nach hinten zur Wandzeitung. Fotos, ja. Aber kein Zeitungstext. Da hatten sie wohl eine Beziehung zu dem, was sie da schrieben. In großen schwarzen Lettern: „Glasnost“, „Perestroika“, „Gorbi“ und „Freundschaft zum Lande Lenins – Herzenssache unseres Volkes“. Die Lehrerin hält sich an den rechten Artikel. Julias Handschrift. Die weitschweifigen Rundungen, das ausgeformte G, der Kringel über dem i. Unter Hunderten würde sie die Schrift der vorwitzigen Göre herausfinden. Laut liest sie vor. Ganz langsam: „72 Jahre UdSSR. Von der Sowjetunion lernen heißt, siegen lernen. Glasnost und Perestroika. Das ist es, was wir vom großen Bruder lernen müssen. Offenheit und was tun, was was bringt. Kein Geschwätz mehr! Sagen, was los ist, und was ändern. Heraus aus dem Mief und dem Stillstand hier! Nur von Gorbatschow lernen, heißt siegen lernen. Wann begreift ihr das endlich?“ Meint sie uns? Den Tränen nahe nun auch die Lehrerin. Am Schluss hat sie nur noch geflüstert. Sie dreht sich um, sieht in die Gesichter der wenigen, die aus ihrer Trägheit erwacht sind. Von Christian, der mäßig interessiert, den Kopf auf die Arme gestützt, durch die trüben Fensterscheiben stiert, nur ein Satz: „Also, mich kann die nich meinen!“ Die Lehrerin bläst die Backen auf: „Nee, das hätte mich jetzt auch gewundert.“ Und nach einem Moment, wo sie ihrer Irritation erfolglos Herr zu werden versucht: „Und sonst? Habt ihr das Gefühl, dass wir hier irgendwann mal Losungen gebetet haben?“, fragte sie.
Konsterniert setzt sich Ute auf den weiß bepuderten Lehrertisch. Ohne Rücksicht auf ihre blauen Jeans. Ein Kloß im Hals von Julias Text und von der staubschwirrenden, überhitzten Luft. Vorsichtshalber erhebt sie sich noch einmal und klappt die Tafel auf. Nein, nicht noch irgendein Überfall durch wie auch immer geartete Aufschreie in weiß auf grün. Zum Glück. „Nun beruhigen Sie sich mal, Frau Rojahn. Die war garantiert durchgeladen durch ihre Mutter. Denn wegen Julia sind sie ja wohl eher nich abgehauen.“ Nein, das wohl nicht. Trotzdem hakt Ute nach und will sich bestätigt wissen: „Haben wir hier irgendwann Losungen gebetet?“ Anke meint: „Sie sind ja nicht die einzige Lehrerin, mit der wir Unterricht haben.“ Ute kriegt ihre Antwort nicht. „Ja, und bei wie vielen, meint ihr, ist das so?“, wagt sie vorsichtig zu formulieren. – „Na so zwei, drei“, „Drei, bestimmt, würde ich sagen.“ Die Jugendlichen handeln aus.
Zum Schluss einigen sie sich auf zwei plus ein halb. Im Hirn der Lehrerin rattert das Rechenbrett: Karl-Heinz Holzmann, Parteisekretär, in Geo. Renate Schlottau in Stabi und Marion Beirow, Mathe, das muss die Halbe sein. Die winkte auch des Öfteren mit dem ganzen Quatsch. Denkt sich Ute, halb erleichtert. Den richtigen Befreiungsschlag gönnen ihr ihre Schüler aber nicht. Nicht heute. Sie hat doch nie eine der Losungen ernst gemeint in den Mund genommen. Das wäre ihr ja völlig abgegangen. Trotzdem: Allein in Vorbereitung auf die Jugendweihe, für die sie sogar an der Schule den Hut auf hat, haben sie die Slogans ja irgendwie umgesetzt: Wir erfüllen das revolutionäre Vermächtnis. Unser sozialistisches Vaterland. Na, und so weiter. Zum ersten waren sie im ehemaligen KZ Sachsenhausen, zum zweiten in der Volkskammer. Tja, da hat man den Jugendlichen vor zwei Jahren zwar erzählt, wie demokratisch die arbeitet und wie toll die Sitzreihen im Palast der Republik in allerlei Richtungen gedreht werden können. Aber sie musste schon aufpassen, dass sich ihre Schüler beim Augenverdrehen nicht vom mitlaufenden Staatsapparat erwischen ließen. Was will man Heranwachsenden über ein Land weismachen, in dem sie selber wohnen und sehen, wie der Hase läuft?
Vor sich in der Mittelreihe sieht sie nun Kathrin in ihrem Elend weiter mit Taschentüchern hantieren. Und spontan verbannt sie die zu Goethes Faust geplante Stunde auf irgendwann später. Die Fragen hier sind mindestens ebenso existenziell.
Sie seufzt und gibt das vergessene „Guten Morgen“ in die Runde, gefolgt vom extra tiefen „Morjn“ der Jugendlichen. Darauf folgt kompaktes Schweigen. Aus einigen Augen Ratlosigkeit, aus anderen Überdruss. So ein Rühr-mich-nicht-an, Ich-mag-nicht-mehr. Ute tippt einfach an: „Alle ausgeschlafen?“ – „Klar, wird ja immer spannender hier“, tönt es von Christian, dem feisten Bäckerssohn, zurück, „wenn hier schon die Führung vons Janze abhaut.“
„Naja, mit Sicherheit können wir wohl noch nicht wissen, was nun wirklich mit Julia ist. Das braucht noch ein paar Tage“, erwiderte Ute.
„Wat jibt’s denn da noch rumzuraten? Is doch klar, dass die nach’n Westen sind“, nimmt sich Christian wieder das Wort. Sitzt auf seinem Stuhl wie Bräsicke, mit den Armen hinter der Lehne.
Und Ramona, die wieder Herrin der Lage ist: „Mensch, Frau Rojahn, die sind ja nich die ersten hier. Bei mir in der Straße sind seit September schon zwei Familien weg. Nich grade die mit Häusern, nee, die, die zur Miete wohnen. Ich meine, da kriegt man doch ’n Auge für. Ich bin extra noch mal mitgegangen, als Kathrin damit ankam.“ Angestrengt sieht die Lehrerin aus dem Fenster. Sie überlegt: Wie kann ich die Klasse kriegen? Wirft eine Frage in den Raum. „Mit dem, was ihr jetzt vermutet: Hättet ihr Julia in dieser Minute an der Strippe und ihr könntet mit ihr sprechen. Was würdet ihr sie fragen?“
Kathrin seufzt traurig. Von Dennis und Jens am Fenster hinter dem Pfeiler kommt unisono ein „Pah!“
„Na los. Jeder drei, vier Sätze oder mehr. Schreibt’s auf!“
„Frau Rojahn, Sie woll’n doch jetz nich ’ne janze Faust-Stunde für so’n Blödsinn verballern! Hin is hin.“ Schon wieder Christian. Dass gerade er Interesse an der Literaturstunde vorgibt, will der Lehrerin zunächst nicht einleuchten, bis er nachschiebt: „Ick hab mir so uff den Vortrag jefreut. Mephisto, nich?“ Sein hämischer Blick schwenkt kaum merklich zu Sven. Klar, er möchte, dass der mit seinem Vortrag baden geht. Leicht hat Sven es nicht in der Klasse. Lebt nicht bei der Mutter, sondern bei seinen Großeltern, der Großvater ein hohes Tier im ZK. Die Leistungen mittelmäßig bis schlecht. Besonders in Russisch. Entnervt hatte der Opa die Lehrerin deshalb gebeten, dem Jungen privat Nachhilfe zu geben. Ließ sie jedes Mal von seinem Fahrer im tiefblauen Peugeot abholen. Und sie schließlich am Ende der Stunde in seine von Westkohle überquellende Brieftasche schauen, während er die zwanzig Ostmark herausfummelte. Die Mitschüler schneiden Sven. Auch wenn er stets Westschokolade am Mann hat, um sie großzügig unter möglichen „Freunden“ zu verteilen. Wahrscheinlich hat er ihnen gegenüber treuherzig vor der Stunde durchblicken lassen, dass er nicht vorbereitet ist.
„Den Vortrag hören wir uns später an“, fährt Ute Rojahn fort. „Schreibt erst mal auf!“
„Ich, ich hab den Vortrag nich“, wirft Sven eilig ein.
„Ach, Sven, du nimmst dir jede Möglichkeit, dich zu verbessern. Was soll ich dir denn für ’ne Note mündlich geben, wenn du nie was sagst?“ Eine Fünf zu erteilen, kommt gar nicht in Frage. Sie hat schon genug zu tun, wenn sie der schlauen Anke, deren Vater im Ministerium für Materialwirtschaft sitzt, auch nur eine Drei erteilt. Dann steht der bei ihr sofort auf der Matte. Da hält sie noch locker gegen. Da hat sie sogar richtig Spaß dran! Aber Sven eine Fünf für Nichts erteilen? Da würde sie Rechtfertigungen ohne Ende abgeben müssen vor Leuten, die meinen, das Recht gepachtet zu haben.
Auf das Julia-Thema will offenbar keiner anspringen. Schade. Dann also „Faust“. „Übrigens, Mephisto war letzte Woche. Zu dem hat Cordula einen ganz erfrischenden Vortrag gehalten. Jetzt sind wir bei Gretchen. Wie war das Thema deines Vortrags, Sven?“
Der räuspert sich: „Die, die Gretchenfrage.“
„Na und? Wie heißt die?“
„Kei-kei-keine Ahnung.“
„Mensch, Sven, du hast nicht eine Zeile gelesen?“ Die Enttäuschung steht der Lehrerin ins Gesicht geschrieben. Sie blickt hoffnungsvoll auf ihre Stützen in Literatur, zu Anke, Cordula, Ramona.
Hinter Anke erscheint zaghaft die Hand von Jakob, dem neunten von elf Kindern einer christlichen Familie. „Ja, Jakob?“ – „Wie hast du’s mit der Religion?“, antwortet der braunhaarige Quirl mit piepsiger Stimme. Klar, der muss es schließlich wissen.
„Und, wie hat er’s mit der Religion?“
„Gar nich! Das is genau so’n Atheist wie all die alten Säcke hier.“ Christian ist wieder in Fahrt.
„Ach nee! Vergleichen wir doch mal. Wen hältst du denn für freier, Gretchen mit ihrer Religion oder Faust mit seinem Teufelspakt? Gretchen oder Faust … oder Julia? Wie frei ist Julia?“ Erschrocken hält sie inne. Aber jetzt ist es raus, nicht mehr einzufangen.
Als das Dröhnen der Stille verklingt, detonieren die Zwischenrufe Richtung Tafel:
„Freier als wir!“
„Was redst du für ’ne Scheiße!“
„Aber jedenfalls ist Julia jetzt freier als Sie!“ „Ätsch!“ – Das tut weh. Ute hat sich zu weit vorgewagt. Weiter, als sie wollte. Aber sie spürt, dass für sie alles Reden von der Einsicht in die Notwendigkeit ein für allemal vorbei ist.
Dankbar nimmt sie wahr, wie die hochgewachsene Anke sich ihren Pony aus der Stirn streicht. Immer das schüchterne Zeichen dafür, dass sie was sagen will. „Welche Frage würden Sie denn Julia stellen?“
Ute beißt sich auf die Lippe, sieht durch die trüben Scheiben auf den Schulhof hinaus: „Ich, ich glaube, ich würde sie nach ihren Hoffnungen fragen. Ja, bestimmt. Vielleicht geht es euch ja anders, aber ich hab gerade jetzt Hoffnung, dass man hier was ändern kann. Bloß, wer soll hier noch was ändern, wenn die engagierten Leute gehen?“
Ramona fällt ihr ins Wort: „Sie meinen: Mit den Langweilern, die hier bleiben, mit denen kann man dann alles machen, oder was?“
Utes „Tja, vielleicht“, bleibt im Raum stehen.
*
Zögernd öffnet Ute das Gartentor. Sie zuckt zusammen, als der Riegel scheppernd hinter ihr einrastet. Bang steigt Erwartung aus ihrem Bauch und schnürt ihr die Kehle zu. Dass das eine oder andere weggeräumt ist, hat ja vielleicht noch nichts zu sagen. Was ist das Wesentliche? Ihre Augen werden starr, wollen sehen und widersetzen sich. Eine ganz einfache Aufgabe wird sie ihnen geben. Düster schiebt Ute das Kinn vor, geht die drei Stufen zur Tür: das Türschild. Tatsächlich. Es fehlt. Sie schließt die Augen. Was für eine Welt! Die Hoffnung macht sich auf in den Westen, in den Adern im Osten dagegen tröpfelt nur noch kraftlose, verdünnte Soße. Wie lange soll das so gehen?
Diesen hastigen Aufbruch kann sie einfach nicht fassen. Ihren Entschluss haben die beiden bis zur Abreise perfekt verborgen. Nun liegt alles offen, für jedermann einsehbar. Der Grund ihres Weggangs hemmungsloser Spekulation ausgeliefert.
Ute fröstelt und zieht die Stirn kraus. Sie schüttelt die Gedanken ab, will nicht mehr darüber nachgrübeln. Britta wird schon ihre Gründe haben. Ute zieht eine Zeitung aus dem Stoß neben dem Grillplatz, breitet sie aus und setzt sich. Straff zieht sie sich den Parka über die Schultern. Sie denkt an die Mittagspause im Lehrerzimmer und sieht das hämische Grinsen der selbstgefälligen Schlottau vor sich: „Na, Ute? Wie hast du denn die Auswahl gelenkt?!“ Die dumme Kuh. Julia ist schon genau die Richtige gewesen. Hat sich fein mit ihr angelegt, mit der kreuzgefährlichen Schlottau. Hat von ihr schriftlich das Grundrecht eingefordert, ernst genommen zu werden, und das Schriftstück von den Mitschülern unterschreiben lassen. Was hatte die Lehrerin geschluckt. Julia hat nie lange überlegt, wem sie sich entgegenstemmte. Unbequem war sie und mit dem Herzen auf dem rechten Fleck. Manchmal verteidigte sie ihr Terrain schon mal mit den bloßen Fäusten. Wenn auch lieber locker mit einem Augenzwinkern. Und das in dieser grauen Welt. Einen speziellen Charme hatte das. Sie würde Julia vermissen.
Unter dem Schuppendach fehlen die beiden Fahrräder. Sie waren dabei, bei den Sturzfahrten über weiche Sandwege, bei den beschaulichen Verschnaufpausen mit Picknick am See, beim wilden Fangenspielen. Diese Klasse, immer wieder unerwartete Kapriolen. Wie Julia, gerade mal in der sechsten, ihr Rad in den Ufersand schmiss und ganz allein auf die Jungs der Siebten losging. Hatten die es doch gewagt, sie „olle Zopfzicke“ zu rufen. Losgestürmt ist sie auf die Schreihälse, ohne Rücksicht auf Verluste, ganz allein. Noch mit der Wut über den letzten Streit mit ihnen im Bauch. Die Ellenbogen ausgefahren, rauf auf die sechs Jungs, die auf so etwas natürlich nicht gefasst waren. Den pummeligen Lars hat sie sich zuerst gegriffen. Der hatte keine Chance, der arme Kerl. Mittlerweile hatten Julias Mitschüler begriffen, dass sie vor den Großen gerettet werden musste. Das Ganze wuchs sich zu einer richtigen Prügelei aus, bevor jemand eingreifen konnte. Prellungen, blaue Augen, ein verrenkter Daumen, jede Menge Pflaster, eine offizielle Untersuchung, Rechtfertigungen, Stellungnahmen. Da hat ein selbstbewusstes, burschikoses Mädel eine ganze Jungshorde aufgemischt. Ute schmunzelt. Vorüber und gegessen. Viele Freunde und Bekannte hat sie schon gehen sehen. Dies hier jedoch trifft sie voll ins Mark. Das Herz der Klasse.
Und was dagegen haben sie hier gelassen? Die Sitzgarnitur. Nur die Kissen entfernt. Gerätschaften. Wahrscheinlich stehen die Fahrräder auch nur unter dem schützenden Dach des Schuppens. Und wenn sie durchs Fenster ins Zimmer lugt, so ist da noch alles wie vor einer Woche. Bilder, Möbel, Pflanzen, alles. Die ganze Wohligkeit eingetauscht gegen eine unbekannte Freiheit. Die ist ihnen mehr wert gewesen. Ab ins kalte Wasser, ins offene Leben. Und hier das Türschild blind. Ute starrt auf das Nachbaranwesen. Eine propere Gegend ist das hier. Gärtchen an Gärtchen mit hübschen Häusern mittendrin. Fast wie auf dem Land. Ein beschauliches Viertel am Rande der Hauptstadt. Bewohnt von Menschen, die es sich leisten können. Und solche Menschen geben von einem Augenblick zum andern alles auf. Gar nicht sonderbar. Aber die Zurückbleibenden sind wie vor den Kopf gestoßen, fassungslos. Zwei Welten. Doch etwas tut sich. Die Stimmung kippt. Menschen brechen auf. Gehen nicht nur fort. Eine atemberaubende Zeit! Es ist auch die Zeit, in der Utes Schüler den Schritt ins Leben tun. Wenn sie doch selbst gestalten, selbst bestimmen könnten. Ob sie eine Perspektive haben? Wer weiß, was der nächste Sommer für sie bringt! Als Ute selber so alt war, da war die Welt für sie fast noch in Ordnung. Zwar hatte sie kaum eine Wahl, aber immerhin einen garantierten Studienplatz. Und damit einen Arbeitsplatz, eingerichtet fürs ganze Leben, ob ihr das passte oder nicht. Da war sie der größten Enge schon entwachsen. Einer Enge, die sich die Hauptstädter nicht vorstellen können. Ja, eng war es wirklich, da, wo sie herkam. Und das Leben verlief in ganz anderem Tempo.