Ukraine im Visier
Russlands Nachbar als Zielscheibe
geostrategischer Interessen
Bibliographische Informationen der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Ronald Thoden | Sabine Schiffer (Hg.)
Ukraine im Visier
Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen
ISBN 978-3-9816963-0-1
Copyright © 2014 Selbrund Verlag
Verlag Selbrund GmbH
Bockenheimer Landstr. 17/19
60325 Frankfurt am Main
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Lektorat: Ulrich Gohlke, Kerstin Reimers-Schoengen, Christine Reith
Gestaltung & Satz: Markus Weiß | typogo, Berlin
Druckerei: DBM Druckhaus Berlin-Mitte GmbH
eBook-Herstellung und Auslieferung:
HEROLD Auslieferung Service GmbH
www.herold-va.de
Inhaltsverzeichnis
Eckart Spoo: Vorwort
Reinhard Lauterbach: Gegen Polen, Juden und Russen
Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus
Hannes Hofbauer: „Orange Revolution“
Kurswechsel Richtung Atlantik (2004–2005)
Thomas Immanuel Steinberg: Reiches Land – arme Menschen
Landwirtschaft, Rohstoffe und Industrie
Hannes Hofbauer: Die Krise hinter dem Krieg
Von Armut, sozialen Gegensätzen und vermeintlichen Auswegen
Jürgen Wagner: Der lange Arm der EU
Assoziationsabkommen und Expansionspolitik
Kurt Gritsch: Die Folgen der NATO-Entwicklung
Der Ukraine-Konflikt als Konsequenz der NATO-Wandlung vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis
Jochen Scholz: Worum es geht
Die Ukraine-Krise und die geopolitische Konstante auf dem eurasischen Kontinent
Matthias Rude: Die gekaufte Revolution
Einflussname von Geheimdiensten, NGOs und Stiftungen
Thomas Eipeldauer: Euromaidan
Vom Sozialprotest zur Hegemonie der äußersten Rechten
Sebastian Range: Blutige Wende
Scharfschützen-Einsatz auf dem Maidan
Susann Witt-Stahl: Daily Terror des Faschismus
Die neue Regierung der Ukraine strebt nach einer Gesellschaft ohne (linke) Opposition
Thomas Eipeldauer: Im Griff der Oligarchen
Kontinuität nach dem Euromaidan
Sebastian Range: Rückkehr zu Russland?
Über die absehbare Sezession der Krim
Kai Ehlers: Und immer noch die Ukraine
Spielball auf dem Weg zu einer multipolaren Welt
Christoph Jehle: Da stimmt etwas nicht
Der Absturz des Fluges MH17 über der Ostukraine bleibt voller Rätsel
Peter Vonnahme: MH17 – der Glaubwürdigkeits-GAU
Zwischen Vasallenpolitik und willfährigen Medien
Volker Bräutigam: Herrschaft beginnt bei der Sprache
Über den Missbrauch des Begriffs OSZE-Militärbeobachter in den Nachrichtensendungen von ARD-aktuell
Sabine Schiffer: Einspruch unerwünscht
Kritische Stimmen in der Ukraine-Berichterstattung
David Goeßmann: Berichterstattung mit Schlagseite
Halbwahrheiten, Doppelstandards und Schweigen
Anhang
Quellenverzeichnis der Beiträge
Fakten zur „Bedrohung“
Eckart Spoo
Vorwort
Die Bild-Zeitung aus dem Springer-Konzern, das auflagenstärkste deutsche Tageblatt, fragt per Schlagzeile: „Wann stoppt die Welt endlich Putin?“ Der Spiegel, das größte deutsche Nachrichtenmagazin, betitelt seine nächste Ausgabe mit „Stoppt Putin jetzt!“ und erklärt den russischen Präsidenten zum „Paria der Weltgemeinschaft“. Andere Blätter nennen ihn „gefährlicher Schurke“ oder „Raubtier“. Die Frankfurter Rundschau bescheinigt ihm „Unverfrorenheit“ und „Skrupellosigkeit“ – dieser Mann könne „kein Partner mehr sein“. Das Publikum versteht: Wir befinden uns in äußerster Gefahr. Mit Putin ist nicht mehr zu reden, er muss beseitigt werden. Regime change. Was sonst?
Aber was hat sich Putin eigentlich zuschulden kommen lassen? Weswegen diese Panikmache? Etwa deswegen, weil der im Februar 2014 weggeputschte ukrainische Präsident Janukowitsch vor einer wirtschaftlichen und auch militärischen Assoziierung seines Landes an die Europäische Union zurückgeschreckt war, wofür er verständliche Gründe hatte?
Oder weil die Bevölkerung der Krim per Parlamentsbeschluss und Volksentscheid mit großer Mehrheit die Rückkehr ihrer autonomen Republik von der Ukraine nach Russland wünschte und weil das russische Parlament diesen Antrag annahm? War das alles Putins Werk?
Oder weil die überwiegend Russisch sprechende Bevölkerung der ukrainischen Ostregionen auf die Ankündigung der Kiewer Putschisten, Russisch nicht mehr als Amtssprache zu dulden, mit einem Referendum antwortete, das eine starke Mehrheit für einen Autonomiestatus erbrachte? Alles von Putin ferngesteuert?
Oder weil die dortigen Aktivisten, ebenso wie zuvor die Kiewer Februar-Putschisten, Amtsgebäude besetzten, um ihrer Forderung Geltung zu verschaffen? War Putin auch dafür verantwortlich und auch – wie der von den Putschisten eingesetzte Ministerpräsident Jazenjuk behauptete – für den Brandanschlag auf das Gewerkschaftshaus in Odessa, in dem mehr als 40 gegen die Putschregierung Demonstrierende verbrannten oder erstickten?
Oder muss Putin und mit ihm ganz Russland etwa deswegen geächtet werden, weil er den in der westlichen und der mittleren Ukraine neu gewählten Präsidenten Poroschenko, der Truppen und Milizen mit Panzern und Kampfflugzeugen in die Ostukraine kommandiert hatte, sowie die Repräsentanten der sich gegen die Invasion wehrenden Autonomiebewegung immer wieder zu Verhandlungen aufforderte, worauf Poroschenko mit schroffer Ablehnung und Sprüchen wie „Wir kämpfen darum, unser Land von Schmutz und Parasiten zu befreien“ reagierte?
Als dann über der Ostukraine ein Passagierflugzeug mit fast 300 Insassen abstürzte, suggerierten deutsche Medien unisono mit USamerikanischen wiederum, Putin sei schuld. Beweise? Wozu? Wenn doch alle Medienkonzerne und die von Vertretern der regierenden Parteien dominierten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten unisono an dieser tagtäglichen Desinformation mitwirken – wer wagt dann noch zu zweifeln?
Dass unverhohlene Faschisten zu dem Putsch in Kiew entscheidend beigetragen haben und mit Schlüsselpositionen in der Regierung belohnt wurden, blieb dem Publikum verborgen. So konnten notwendige Diskussionen darüber gar nicht aufkommen – nicht über die Unterstützung Berlins für die Putschisten, nicht über den Zweck und die Verwendung der offiziell bekannt gegebenen fünf Milliarden Dollar aus Washington, nicht über die geopolitischen und ökonomischen Interessen hinter den immer blutigeren, immer zerstörerischeren Auseinandersetzungen in der Ukraine. Und da das Publikum auch über die Opfer fast nichts erfährt, nimmt es das Verbrechen dieses Krieges mitten in Europa bisher reglos hin.
„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, lautet eine alte Spießbürger-Regel. Aber spätestens, seitdem sich EU- und NATO-Staaten, auch Deutschland, auf möglichst schmerzhafte Sanktionen zur „Bestrafung“ Russlands für Putins angebliche Missetaten geeinigt haben, wird das weltpolitische Klima immer heißer. Zur Abkühlung brauchen wir dringend verlässliche Informationen. Die Autoren dieses Buches liefern sie.
Eckart Spoo
geb. 1936, Studium in Berlin, Zürich, Hamburg und Frankfurt/Main, bis 1997 Redakteur der Frankfurter Rundschau, seither Mitherausgeber Zeitschrift Ossietzky, 1970–1986 Bundesvorsitzender der Deutschen Journalisten-Union, langjähriges Mitglied des Deutschen Presserates und als Vorstandsmitglied der Internationalen Journalisten-Förderation Herausgeber bzw. Mitherausgeber einiger Bücher über den Journalismus und dessen Verantwortung für Demokratie und Frieden, u.a. „Die Tabus der bundesdeutschen Presse“, „Anspruch auf Wahrheit“, „Unheimlich zu Diensten –Medienmißbrauch durch Geheimdienste“, „Feindbilder – oder: Wie man Kriege vorbereitet“.
Reinhard Lauterbach
Gegen Polen, Juden und Russen
Die Geschichte des ukrainischen Nationalismus
Als im Herbst 1918 die österreichisch-ungarische Monarchie an ihrer Niederlage im Ersten Weltkrieg auseinanderbrach, brachten sich um ihr „Kronland Galizien-Lodomerien“ zwei Bewerber um die Nachfolge in Stellung: Polen und Ukraine. Das Land – der Nordabhang des Karpatenbogens von der böhmisch-mährischen Pforte im Westen bis nach Kolomija und Stanislau (heute Iwano-Frankiwsk) im Osten – war mit 78 000 km2 etwas größer als das heutige Bundesland Bayern und hatte mit gut acht Millionen Einwohnern rund 40 % mehr Einwohner als das damalige Königreich Bayern1. Es war bei der ersten Teilung Polens 1772 Österreich zugeschlagen worden.
Beide Seiten hatten bewaffnete Formationen, die auf Seiten der österreichischen Armee gekämpft hatten. Sie lieferten sich im Winter 1918/19 einen kurzen, aber heftigen Krieg um die Kontrolle über Lemberg (Lwiw), den Polen gewann. Es hatte nicht nur die stärkeren Bataillone, sondern auch die besseren politischen Karten. Denn während die berühmten 14 Friedensbedingungen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson vom Januar 1918 für Polen explizit einen eigenen Staat, „der alle Gebiete einzubegreifen hätte, die von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnt sind“2, mit eigenem Zugang zum Meer forderten, hieß es zu den übrigen Völkern der K.-u.-k.-Monarchie wesentlich lapidarer und unklarer, ihnen solle „die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden“3.
Doch nicht einmal autonome Entwicklung gewährte die 1918 gegründete Zweite Polnische Republik ihren ukrainischen Einwohnern, nach der Volkszählung von 1931 mit 3,2 Millionen oder 10 % der Bevölkerung4 die größte Minderheit des neuen Staates. Nicht einmal der Status quo der österreichischen Zeit blieb erhalten: Die Zahl der ukrainischsprachigen Grundschulen ging von 2400 auf 500 im Jahre 1937 zurück5, die versprochene ukrainischsprachige Universität in Lemberg wurde nie gegründet.
Widerstand von ukrainischer Seite konnte da nicht ausbleiben. 1920 trafen sich in Prag Veteranen der diversen erst kurz zurückliegenden Bürgerkriege auf ukrainischem Boden. Unter dem Vorsitz von Jevgen Konowalec (1891–1938), einem ehemaligen Offizier der K.-u.-k.-Armee, gründeten sie die „Ukrainische Militärorganisation“ (Ukrainska Vijskova Orhanizacija, kurz: UVO). Die Gruppe setzte sich den bewaffneten Kampf sowohl gegen Polen als auch gegen die Sowjetunion zum Ziel, konnte diese Pläne aber nur in Polen in die Praxis umsetzen. Sie verübte Anschläge auf Vertreter des polnischen Staates, sabotierte Eisenbahn- und Telegrafenlinien und zündete polnischen Bauern das Korn auf den Feldern an. Gern wurden zur Geldbeschaffung Postämter überfallen. Anschlagsziele waren aber auch ukrainische und polnische Politiker und Aktivisten, die sich für eine Aussöhnung der beiden Nationalitäten einsetzten.
Eine zweite Finanzquelle fand die UVO schnell in Deutschland, das schon im Ersten Weltkrieg begonnen hatte, die Karte des ukrainischen Nationalismus zu spielen. Deutschland war auch Rückzugsraum ukrainischer Militanter, die angesichts polizeilicher Repressionen Polen verließen, und die „Abwehr“ verhalf der UVO zu militärischen Schulungen in Deutschland. Die Zusammenarbeit hatte ihre Konjunkturen, wurde aber nie ganz abgebrochen6. Ihr lag eine als gemeinsam wahrgenommene Interessenlage zugrunde. Sowohl die ukrainischen Nationalisten als auch die Weimarer Republik sahen sich als Opfer der politischen Nachkriegsordnung, wie sie im Versailler Friedensvertrag von 1919 und seinen Nachfolgeverträgen festgelegt worden war. In ihr war von der Ukraine zwar nicht eigentlich die Rede gewesen, aber der gemeinsame Gegner Polen verdankte seine Wiederbegründung genau diesem System7. Das reichte als Grundlage einer politischen und nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit.
Die Terrorkampagne der UVO in Südostpolen lief sich innerhalb eines Jahres tot. Keines der politischen Ziele wurde erreicht, dafür waren zahlreiche Aktivisten verhaftet. Die Militärverschwörer von der UVO standen vor zwei Aufgaben: erstens eine Art politischer Massenorganisation zu schaffen, zweitens dieser ein inhaltliches Profil zu geben, zu definieren, wie der angestrebte ukrainische Staat denn eigentlich aussehen solle. Die erste Aufgabe wurde mit dem „Ukrainischen Nationalen Jugendverband“ (SUNM) gelöst, der unter der ukrainischen Jugend der höheren Schulen in den galizischen Städten rasch Anhänger gewann; insbesondere in diesem Milieu – junge Leute aus meist „kleinen“ Verhältnissen, Angehörige einer Minderheit, die kulturell und wirtschaftlich benachteiligt war – radikalisierte sich der Nationalismus rasch unter Anlehnung an zwei Quellen: den italienischen Faschismus und die Anwendung des italienischen Beispiels auf die Situation der Ukrainer in den Theorien des Publizisten Dimitro Donzow (1883 –1973). Die Historikerin Franziska Bruder formulierte das Verhältnis der ukrainischen Nationalisten zum Faschismus so: „Im Prinzip nannten sich die ukrainischen Nationalisten nur deshalb nicht Faschisten, weil sie die ‚Originalität‘ des ukrainischen Nationalismus betonen wollten.“8
Einer der jungen Leute, die diese Ideologien begierig einsogen, war der 1909 geborene Stepan Bandera, wie viele seiner Gesinnungsgenossen Sohn eines griechisch-katholischen Geistlichen.
Aus diesem Milieu mit seiner kulturellen Konstellation aus Nationalismus, Verschwörerromantik und Religiosität entstanden programmatische Texte wie die „Zehn Gebote des ukrainischen Nationalisten“, die ein anderer dieser Priestersöhne, Stepan Lenkawski, verfasst hatte:
1. |
Du sollst den ukrainischen Staat erkämpfen oder im Kampf für ihn sterben. |
2. |
Du sollst niemandem erlauben, Ruhm oder Ehre Deiner Nation zu beflecken… |
7. |
Du sollst nicht zögern, schwerste Verbrechen zu begehen, wenn die Sache es erfordert. |
8. |
Du sollst den Feinden Deiner Nation mit Hass und Heimtücke begegnen. … |
10. |
Du sollst Kraft, Ruhm, Reichtum und Gebiet des ukrainischen Staats mehren, auch wenn dafür Ausländer unterdrückt werden müssen.9 |
1929 vereinten sich die vom deutschen oder tschechischen Exil aus operierende UVO mit dem in Galizien die Schuljugend rekrutierenden Jugendverband SUNM und einigen kleineren Gruppen zur „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN). 24 der 30 Teilnehmer des „Gründungstreffens“ waren der polnischen Seite namentlich bekannt10, die sechs Unbekannten hielt man für deutsche Militärs11.
Die OUN verstand es in den dreißiger Jahren, die Hegemonie unter den ukrainischen Oberschülern und Studenten in Galizien zu erringen; da praktisch alle ukrainischen Studenten in Lemberg ihr Studium zumindest begannen und dort meist in einem einzigen ukrainischen Studentenheim wohnten, war die soziale Kontrolle des Milieus durch die Führung der Organisation einfach12. Schnell nahm die OUN die terroristischen Aktivitäten wieder auf. 1934 ermordete ein Kommando, an dem Stepan Bandera beteiligt war, den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki.
Das Attentat auf Pieracki war wie die meisten Anschläge der OUN dilettantisch geplant; so wurden die Täter rasch gefasst und zu hohen Haftstrafen verurteilt. Bandera erhielt lebenslänglich, erwarb aber große Popularität in den eigenen Reihen, weil er sich vor Gericht weigerte, auch nur ein Wort Polnisch zu sprechen. Die Haftstrafe endete nach etwas über fünf Jahren, als im September 1939 die polnischen Gefängniswärter angesichts der herannahenden Deutschen die Häftlinge laufen ließen. Bandera begab sich zunächst zu Fuß nach Lemberg, wo er aber nur von der polnischen Polizei zerschlagene Reste der OUN und überdies die sowjetische Besatzungsmacht vorfand. So zog er sich ins von Deutschland besetzte Krakau zurück.
Mit dem Angriff auf Polen hatte die „ukrainische Option“ für Hitlerdeutschland wieder an Aktualität gewonnen. Bei einer Besprechung in Hitlers Sonderzug wurde am 12. September 1939 beschlossen, die Kontakte zu aktivieren, die einige Jahre lang – auch wegen der Ausschaltung der führenden OUN-Funktionäre nach dem Anschlag von 1934 – nur auf Sparflamme hatten gepflegt werden können. 1940 begann die Wehrmacht, aus polnischen Kriegsgefangenen ukrainischer Nationalität und OUN-Aktivisten zwei Bataillone Hilfstruppen aufzustellen. Sie bekamen die Decknamen „Nachtigall“ und „Roland“ und waren einer Spezialkräfteeinheit für Diversion hinter den feindlichen Linien zugeordnet. Bandera hatte Anfang 1940 die OUN gespalten und sich den militanten Mehrheitsflügel untergeordnet, der sich fortan OUN-B nannte. Die Minderheit blieb bei dem bisherigen Vorsitzenden Andrej Melnik und firmierte als OUN-M.
Als die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion angriff, sahen Bandera und seine Genossen ihre Stunde gekommen. Die beiden ukrainischen Bataillone stießen auf Lemberg vor und erreichten die Stadt noch vor den ersten deutschen Einheiten. Sofort machten sie sich daran, Juden und Kommunisten zu „liquidieren“. Am Abend des 30. Juni 1941 kam es zu einer gespenstischen Parallelaktion: Im Rathaus von Lemberg proklamierten OUN-Funktionäre einen „unabhängigen ukrainischen Staat“, der „in engster Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Großdeutschland“ an einer „neuen europäischen Ordnung“ bauen wollte. Parallel hierzu organisierten die Basis der OUN und die beiden ukrainischen Bataillone ein Pogrom, dem mehrere tausend jüdische und polnische Lemberger sowie Kommunisten zum Opfer fielen13.
Die Beteiligung der Ukrainer an der Ermordung von Juden und Kommunisten war aus Sicht der Deutschen ganz in Ordnung; schließlich waren „Selbstreinigungsaktionen“ der örtlichen Bevölkerung Teil der Besatzungsstrategie14. Weniger gefiel in Berlin die Staatsproklamation. So fiel die OUN-B nach zwei Jahren der Zusammenarbeit in Berlin wieder in Ungnade. Bandera wurde vorgeladen und aufgefordert, die Proklamation zurückzunehmen. Als er sich weigerte, wurde er zunächst unter Hausarrest gestellt und anschließend ab dem Herbst 1941 für drei Jahre im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Auch mehrere tausend OUN-B-Aktivisten in der besetzten Ukraine wurden zumindest vorübergehend festgenommen; damit war die Phase der direkten Zusammenarbeit zwischen Banderas Leuten und den Deutschen zunächst beendet. Der 1940 von Bandera ausgebootete OUN-Flügel von Andrej Melnik dagegen war an der versuchten Staatsgründung nicht beteiligt gewesen und blieb von der Besatzungsmacht unbehelligt. Die Melnik-Anhänger traten massenhaft in den Dienst der von den Deutschen eingesetzten ukrainischen Hilfspolizei15 und ab 1943 in die von der SS aufgestellte Freiwilligendivision „Galizien“ ein. Auch wenn damit die in der tagespolitischen Auseinandersetzung vorgenommene Gleichsetzung von Bandera-Leuten und SS-Freiwilligen im strengen Sinne falsch ist: Unter dem Strich nahmen sich beide Flügel der OUN in ihrem Kollaborationswillen und ihrer Bereitschaft, sich an Verbrechen gegen vorgestellte Feinde der Ukraine zu beteiligen, wenig. Sie begingen sie zu verschiedenen Zeiten und unabhängig voneinander, aber auf einer gemeinsamen ideologischen Grundlage16.
Als sich 1942 das Kriegsglück gegen Deutschland wendete, desertierten die meisten der ukrainischen Hilfspolizisten mit ihren Waffen in die Wälder17. Für die ukrainisch-nationalistischen Partisanen – inzwischen hatte die OUN-B eine „Ukrainische Aufstandsarmee“ (UPA) gegründet – stellt der Historiker Andreas Kappeler die Prioritäten so dar: „Gegner Nummer 1 waren die kommunistischen Partisanen und später die Rote Armee. Gegner Nummer 2 die hier ansässigen Polen… Erst in dritter Linie kämpfte die UPA auch gegen deutsche Behörden, Polizeikräfte und Truppen.“18 Die erste Probe ihres „Könnens“ gab die UPA im Sommer 1943 mit der ethnischen Säuberung der Bezirke Galizien und Wolhynien von der polnischen Zivilbevölkerung. Polnische Gehöfte und Dörfer wurden umstellt und niedergebrannt, die Bewohner auf teilweise bestialische Weise mit Sensen und Äxten umgebracht. Die Zahl der polnischen Opfer wird auf mindestens 50 000 bis 100 000 geschätzt19. Politisches Ziel dieser Kampagne war es, den Traum von der „Ukraine der Ukrainer“ nach der Vernichtung der Juden auch gegenüber den Polen wahrzumachen: Sie sollten fliehen, sofern sie nicht vor Ort getötet werden konnten.
Wehrmachtssoldaten besichtigen die Folgen des Lemberger Pogroms und schießen Erinnerungsfotos. Quelle: Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes http://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/massenmorde-in-lembergjuni-juli-1941
Die Festnahme Banderas und anderer Führer der OUN-B durch die Deutschen wird auf ukrainischer Seite gern angeführt, um die zeitlich vorher und nachher liegende Tatsache der Kollaboration der OUN zu leugnen. Verschwiegen wird dabei, dass Bandera in Sachsenhausen unter privilegierten Bedingungen gemeinsam mit anderen eventuell noch brauchbaren Politikern des deutsch besetzten Europas „zur weiteren Verwendung“ festgehalten wurde. Er bekam Besuch von seiner Ehefrau und von politischen Weggefährten; Ende September 1944 wurde er freigelassen, weil Galizien nun wieder von der Sowjetarmee besetzt war und seine Untergrundkämpfer damit Nazideutschland nicht mehr gefährlich werden konnten. Nur eine Woche nach seiner Freilassung empfing ihn ein SS-Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt, um über eine eventuelle neuerliche Zusammenarbeit zu beraten20. Das Protokoll der Verhandlung zeugt von Argwohn auf beiden Seiten; der Deutsche, der es anfertigte, kennzeichnete Bandera abschließend als „zähen, fanatischen Slawen…, im Augenblick für uns unerhört wertvoll, später gefährlich.“21
Bandera hatte nach wie vor einflussreiche Förderer im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, das sich seit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion dafür ausgesprochen hatte, unter den nichtrussischen Nationalitäten der UdSSR Verbündete für Deutschland zu gewinnen. Der wichtigste war ein junger Professor der „Auslandskunde“ namens Gerhard von Mende (1904–1963). Der Schreibtischtäter und Mitwisser des Holocaust (er nahm an mehreren Folgetreffen der Wannseekonferenz teil22) verschaffte Bandera Reisepapiere nach Westen, als Anfang 1945 die Situation in Berlin bedrohlich wurde. Bandera gelangte schließlich 1946 nach Bayern, wo sich in und um München ein Zentrum der ukrainischen Nationalisten im Exil herausbildete. Sein Förderer Gerhard von Mende war unterdessen in der britischen Besatzungszone gelandet, wo er sein Wissen über antikommunistische Bewegungen in Osteuropa mit dem Londoner Geheimdienst teilte. Er war es vermutlich, der Bandera an den MI6 vermittelte, mit dem er nach Aussage von Dokumenten des US-Geheimdienstes ab 1948 oder 1949 etliche Jahre zusammenarbeitete23. Die Zusammenarbeit soll 1954 geendet haben, als Bandera so viel Geld verlangte, dass die Briten ausstiegen.
An dieser Stelle kam Bandera sein alter Förderer Gerhard von Mende ein zweites Mal zu Hilfe. Er war inzwischen – wegen seiner notorischen Nazivergangenheit nur freiberuflicher – Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz und betrieb in Düsseldorf ein „Büro für heimatlose Ausländer“, das sich de facto mit der Koordination und nachrichtendienstlichen Abschöpfung der nichtrussischen Emigrantenmilieus aus der Sowjetunion beschäftigte. Von Mende intervenierte nicht nur regelmäßig, wenn Bandera wegen der Benutzung falscher Ausweise oder des Verdachts anderer Straftaten wie Menschenraub, Falschmünzerei und Erpressung mit der bayerischen Polizei in Konflikt kam, und sorgte jedes Mal dafür, dass diese Ermittlungen eingestellt wurden. Er vermittelte auch den Kontakt zum neugegründeten Bundesnachrichtendienst, der Bandera trotz amerikanischer Warnungen als Quelle übernahm und über seine Organisation Agenten in die Ukraine zu schleusen suchte. Was Bandera dem BND erzählte, ist nicht in offenen Akten einsehbar; nach US-Ansicht waren seine Agentennetze vom KGB infiltriert und „tot“24. Tot war bald darauf auch Bandera. Er wurde am 15. Oktober 1959 in München von dem KGB-Agenten Bogdan Staschinski mit zerstäubtem Blausäuregas umgebracht. Hätte sich nicht Staschinski zwei Jahre später nach Westberlin abgesetzt und ausgepackt, wäre die Tat wahrscheinlich nie aufgeklärt worden.
Auch wenn die US-Geheimdienste ihre britischen und deutschen Kollegen von einer Zusammenarbeit mit Bandera abzuhalten suchten, verschmähten sie nicht die Zusammenarbeit mit seinen langjährigen Weggefährten. CIC und später die CIA stützten ihre eigene Arbeit mit ukrainischen Nationalisten auf zwei Funktionäre, die bei der Staatsproklamation von 1941 – anders als Bandera – persönlich dabei gewesen waren: den ehemaligen Feldprediger des Bataillons „Nachtigall“, Ivan Hrynioch, und Mikola Lebed. Beide waren 1948 von Bandera bei einer weiteren Spaltung der OUN ausgeschlossen worden25. Die Zusammenarbeit mit Lebed dauerte, so Breitman/Goda, „den ganzen Kalten Krieg über“.
In der Ukraine selbst wurden die Nationalisten ab 1944 mit hohem militärischen und politischen Aufwand bekämpft. Der Großteil der UPA war zwar bis zum Frühjahr 1946 zerschlagen26; kleinere Partisaneneinheiten der UPA hielten sich in entlegenen Teilen der Karpaten bis in die fünfziger Jahre. Der allerletzte UPA-Partisan offenbarte sich 1991, als die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärt hatte.
Dagegen scheiterten die sowjetischen Behörden daran, die nationalistische Sozialisation der Bewohner der Westukraine zu brechen. Auch wenn sie wegen der Repressionen nicht mehr offen zutage getreten sein mag, manifestierte sich die nationalistische Grundhaltung der Westukrainer im Alltag noch lange nach der militärischen Niederschlagung des Untergrundes.
Wenn zum Schluss eine persönliche Erinnerung gestattet ist: Der Autor machte Ende der 1970er Jahre als Student in Kiew die Bekanntschaft eines „Filmemachers“, der ihm beim zweiten oder dritten Schnaps sagte, Deutschland und die Ukraine müssten zusammen gegen die „Moskowiter“ vorgehen; Hitler habe den Fehler gemacht, nicht genug Russen umzubringen.
Reinhard Lauterbach
geb. 1955 in Essen, Historiker und Slawist. Nach langjähriger Tätigkeit im öffentlichrechtlichen Rundfunk jetzt freier Osteuropakorrespondent, u.a. für die Tageszeitung junge Welt. Lebt in Polen.