Gespräche mit
Werner Faymann • Sigmar Gabriel • Federica Mogherini
Mit Beiträgen von
Peter Bofinger, Marcel Fratzscher und Jeffrey Owens
sowie einem Vorwort von
Jean-Claude Juncker
www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-218-00977-5
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus
Fotos auf dem Schutzumschlag, v.l.n.r.: Johannes Zinner;
Isopix/picturedesk.com; Maurizio Gambarini/dpa/picturedesk.com
Typografische Gestaltung und Satz: Sophie Gudenus
Gestaltung der Statistiken: Christa Breineder
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Macht der Menschen, Macht der Zukunft
Vorwort von Jean-Claude Juncker
So kann Europa gelingen – ein Ausblick
Werner Faymann: „Wir brauchen einen Schutzschirm gegen Arbeitslosigkeit und für Investitionen“
Der Schock 2008 und die Reaktion der Europäischen Union auf die Krise
Die Europäische Zentralbank als Rettungsanker in der Krise
Marcel Fratzscher: „Europa braucht einen Wachstumsimpuls“
Sigmar Gabriel: „Reden wir nicht über mehr oder weniger Europa, reden wir über ein anderes Europa“
Peter Bofinger: „Das Wichtigste ist jetzt eine gemeinsame europäische Wachstumsinitiative“
Steuertricksern Grenzen setzen: Die EU bekämpft Steuerflucht und Steuerhinterziehung
Jeffrey Owens: „Das Steuersystem steht weltweit unter Druck“
Federica Mogherini: „Die EU braucht den politischen Willen, gemeinsam etwas zu tun“
Ein neues Bild Europas oder: Umschalten vom Krisenmodus auf Weichenstellung für die Zukunft
Spuren in Europa
Ein persönliches Nachwort von Helmut Brandstätter
Anhang: Statistiken
Danksagung
Anmerkungen und Quellen
Wir schreiben – nach dem kurzen, heftigen 20. „Jahrhundert der Extreme“ – das Jahr 2014 eines hoffentlich längeren Säkulums. Zumindest in Europa. Zumindest in der westlichen Welt. Wenn wir denn noch von einer westlichen Welt im Sinne des Abendlandes reden können. Oder reden sollen. Vielleicht eher von einer demokratischen und freien Welt, die jedoch per definitionem geografisch und gesellschaftlich nur offen sein kann. Denn weder die politische Demokratie noch die menschliche Freiheit lassen sich räumlich eingrenzen. Schließlich sind beide tief im Menschen verwurzelt. Ja, die Freiheit macht den Menschen eigentlich aus. Die ganzheitliche, nicht nur die wirtschaftliche Freiheit. Sonst kann sich die Freiheit schnell in ihr Gegenteil verkehren. Insofern behält auch im angehenden 21. Jahrhundert der Wahlspruch der Französischen Revolution „Liberté, Égalité, Fraternité – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ seinen ganzen Wert.
Gerade in einer zunehmend globalisierten, fragmentierten, vernetzten Welt gilt es, auch die Verzahnung dieser Werte im Menschen zu sehen. Und sie dann auch politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich umzusetzen. Wobei Freiheit in erster Linie die Freiheit zur Selbstbestimmung und zur Selbstentfaltung sein muss, Gleichheit in erster Linie die Gleichheit im Staat und vor dem Gesetz bedeutet. Aber auch Gemeinwohl und Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Und Brüderlichkeit schließlich meint nichts anderes als gewollte und gelebte Gemeinschaft über die bloße Gesellschaft hinaus. Bei genauerer Betrachtung sind wir also auch im postmodernen Jahrhundert noch weit von diesen hochgesteckten Idealen entfernt. Politisch entscheidend jedoch ist, dass der eingeschlagene Weg stimmt. Denn wirklich ankommen werden wir politisch nie. Die absolut freie, die absolut gleiche, die absolut brüderliche Welt wird immer unerreichbar bleiben. Das lehrt uns die Tragik der Geschichte. Denn das Absolute liegt oft sehr nahe beim Totalitären oder beim Fundamentalismus. Und somit auch bei Gewalt und Krieg.
Die friedensstiftende Wurzel-Idee Europas geht gerade deshalb vom ganzheitlichen Menschen aus. Von seinen Stärken. Aber auch von seinen Schwächen. Von den Stärken der Nationalstaaten. Aber auch und gerade von ihren Schwächen. Von den Stärken des Supranationalen. Aber auch hier – eindeutig – von seinen Schwächen. Europa und die Europäische Union sind mithin weder Nationalstaat noch absolute Heilslehre. Ja, selbst die Frage, ob die föderale Idee heute noch zeitgemäß ist, muss zumindest aufgeworfen werden. Zukunftsweisend ist vielmehr eine andere, etwas in Vergessenheit geratene politisch-gesellschaftliche Leitidee: die Subsidiarität. Man könnte zuweilen fast den Eindruck gewinnen, dass sie, nachdem sie Einzug in die europäischen Verträge gehalten hat, aus dem wirklichen Leben der Union verschwunden ist. Subsidiarität bedeutet letztlich politisch-gesellschaftliche Hilfestellung zur Freiheit. Und ist somit die andere Seite der Solidaritätsmedaille, die den Menschen und seine Gemeinschaften weder bevormunden noch erschlagen, sondern vielmehr aufbauen soll.
Auch das Europa der großen Dinge, der guten Idee, des richtigen Weges ist aus dem Leben der Menschen verschwunden. Teilweise politisch gewollt, teilweise systemisch ungewollt. Gleichzeitig ist das real existierende Europa der kleinen Dinge, der erdrückenden Bürokratie, des nicht zielführenden Weges zu präsent im Alltag der Menschen. Ohne diesen wirklich nachhaltig zu verbessern. Insofern muss sich Europa wirklich wieder den großen Dingen zuwenden. Und die kleinen Dinge den Nationalstaaten, Regionen und Kommunen überlassen. Anders gesagt: Europa muss wieder mit der Wirklichkeit der Menschen vor Ort verzahnt werden. Nicht nur in Europa übrigens.
Denn Europa hat sich vom Leben der Menschen und von ihrer Wirklichkeit entfernt. Deshalb muss das Europa der Zukunft auch menschlicher sein – oder es wird nicht sein! Menschlicher nach innen im Sinne von freier und gerechter, effizienter und transparenter. Aber auch menschlicher nach außen im Sinne einer sanften Wertemacht statt einer bloßen Wirtschafts- oder Finanzmacht. Überhaupt muss sich Europa von der Vorstellung und mehr noch von der Wirklichkeit einer reinen Wirtschaftsmacht sowie einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft verabschieden. Ohne Wirtschaft ist zwar alles nichts. Gleichzeitig ist der Mensch aber nicht nur Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, Verbraucher oder Produzent. Und die Europäische Union eben nicht nur Wirtschaftsunion, sondern Union der Europäer und Nationen.
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer – ein epochales Ereignis, das weder zu einer „Neuen Weltordnung“ noch zum Triumph des Kapitalismus noch zum „Ende der Geschichte“ geführt hat – steht gerade Europa am Scheideweg seiner letzten historischen Chance. Denn die Zukunft Europas entscheidet sich in den kommenden Jahren. Im Hier und Jetzt. Gemeinsam werden wir diese letzte Chance nutzen. Nicht nur aus dem verzweifelten „Prinzip Hoffnung“ heraus, sondern weil es die Europäer selbst sein werden, die Europa in eine bessere Zukunft hineinführen werden. Und eben nicht mehr die großen Staatsmänner der Vergangenheit, die es so nicht mehr gibt. Dennoch müssen auch im 21. Jahrhundert die Zukunftsimpulse und Zukunftsperspektiven von der Politik ausgehen. Dies ist ihre größte Zukunftsverantwortung. Aber eben nicht mehr von oben herab, sondern von unten her wachsend mit und für die Menschen. Auch das ist ein Stück vergessene Subsidiarität.
Den mühsamen Weg einer besseren, freieren, gleicheren, brüderlicheren Zukunft können wir also nur gemeinsam beschreiten: die Politik mit den Menschen, die Europäische Union mit den Nationalstaaten, die keineswegs eine provisorische Erfindung der Geschichte sind, mit den Regionen, Europa mit Amerika und China, mit Russland, Indien, Brasilien und nicht zuletzt auch mit dem oft vergessenen Afrika. Denn auch wenn die Schuldenkrise längst noch nicht überstanden ist, so bleibt doch die tägliche Hungerkatastrophe die eigentliche große Krise unserer Zeit. Weder Europa noch die Welt werden einen nachhaltigen Frieden finden, solange diese existenziellste aller Zukunftsfragen nicht gelöst ist. Gleiches gilt für den weltethischen Dialog der Kulturen und Religionen, denen hier eine besondere Zukunftsverantwortung zukommt, ansonsten wir zum andauernden Clash der Gewalt verdammt sein werden.
Existenziell für die Europäer ist indes auch die gegenwärtige Arbeitslosigkeit, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit. Ein nicht hinnehmbarer, virtueller 29. Mitgliedsstaat der Hoffnungslosigkeit ist so entstanden. Zukunft sieht anders aus! Doch auch hier kann Politik nur subsidiarisch handeln und bestmögliche Rahmenbedingungen für inklusives Wachstum und neue Investitionen schaffen. Dies wird die erste Priorität der neuen Kommission sein. Aber auch die Nationalstaaten und die Wirtschaft selbst stehen hier in ihrer ureigensten Gemeinwohl-Verantwortung. Nicht nur die Politik muss mithin wieder auf die Menschen zugehen: Auch die Wirtschaft muss wieder menschengerechter werden. Über politische Rahmenbedingungen hinaus müssen Politik und Wirtschaft gemeinsam für einen gesellschaftlichen Klimawandel sorgen, der nicht nur Bruttoinlandsprodukt-, sondern auch breites Arbeitsmarkt-Wachstum produziert. Denn ohne gute Arbeit für alle ist „Wohlstand für alle“ – der Kerngedanke der Sozialen Marktwirtschaft und somit des Europäischen Sozialmodells – trotz aller richtigen Überlegungen über Grundeinkommen schlichtweg unmöglich. Indes: Nachhaltige Arbeitsmarktpolitik ist keine budgetäre Strohfeuerpolitik. Nachhaltiges Wachstum wird nur möglich sein vor dem Hintergrund solider Haushalte und einer stabilen Zukunftswährung: dem Euro.
Doch die bereits angesprochene Krise gründet tiefer: Es ist im Kern nicht nur eine Krise der Wirtschaft, der Finanzen, der Arbeit. Es ist auch eine geistig-moralische Sinnkrise der sogenannten Postmoderne, in welcher der kollektive Schein und das individualistische Haben oft mehr zählen als das menschliche Sein. So erst konnte es zum offensichtlichen Verrat an den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft – dem eigentlichen Krisengrund – kommen. Es ist mithin die Krise einer Welt, in der die Menschen sich nicht mehr zurechtfinden. Auch weil oft kein Platz mehr für sie da ist. Europa wird hier die Menschen und somit die Zukunft nur mit neuen Sinn-Antworten überzeugen und gewinnen können.
Denn die Macht der Zukunft – ob nun staatlich oder nicht – wird nur als Macht der Menschen Bestand haben. Nach innen bedeutet dies eine wesentlich größere politische und auch zivilgesellschaftliche Überzeugungsarbeit. Anders gesagt: Europa muss die Europäer wieder zurückerobern. Mit mehr Arbeit. Mit mehr Verteilungsgerechtigkeit. Aber auch mit mehr Demokratie und Mitbestimmung in Politik und Wirtschaft. Und auch mit mehr Gemeinschafts- und Gemeinwohlangebot in Freiheit und Frieden. Dies ist das kontinentale Zukunftsprogramm der kommenden Jahre. Gleichzeitig ist dies das Fundament für eine dringend erforderliche einheitliche europäische Außenpolitik als Softpower, also als sanfte Zukunftsmacht der anziehenden Ideale. Was im Übrigen keineswegs bedeutet, dass Europa nicht auch militärisch enger zusammenstehen muss. Die Zeit dieses neuen sanften Europas in einer Weltgemeinschaft, die händeringend nach einer neuen, gemeinschaftlichen Weltordnung und Werteordnung sucht, ist keineswegs abgelaufen. Europas neue Zukunft fängt – wie dieses spannende Buch auf eindrucksvolle Weise zeigt – gerade eben erst an. Die Welt wartet nur darauf. Die Europäer auch …
Ich wünsche eine inspirierende Zukunftslektüre und uns allen zielführende Zukunftsdebatten!
Jean-Claude Juncker
Präsident der Europäischen Kommission
Luxemburg und Brüssel, November 2014
* Jean-Claude Juncker ist seit Anfang November 2014 Präsident der Europäischen Kommission. Das Europäische Parlament hat ihn im Juli mit großer Mehrheit zum Kommissionspräsidenten gewählt. Der Christdemokrat war von 1995 bis Ende 2013 Ministerpräsident Luxemburgs. Von 1989 bis 2009 war er Finanzminister. Von 2005 bis 2013 war er zudem Vorsitzender der Euro-Gruppe.
Was tun, um die Wirtschaft und das Wachstum nach vorne zu bringen, steigende Arbeitslosenzahlen und sinkenden Wohlstand zu verhindern? Das ist die große Frage, die viele europäische Politiker rund um die Uhr beschäftigt. Es geht nicht nur um die zwei Ws – um Wirtschaft und Wachstum –, es geht in einer krisenanfälligen Welt auch um eine starke europäische Außen- und Sicherheitspolitik sowie um das Vertrauen der Bürger in das europäische Projekt. Es geht schlicht um eine europäische Agenda, die eine Perspektive bietet.
Europa steht demnach vor drei großen Herausforderungen: erstens die Wirtschaftsentwicklung, die Schaffung neuer und nachhaltiger Arbeitsplätze sowie zukunftsweisende Investitionen. Zweitens braucht es eine Außenvertretung und Diplomatie, die hilft, Krisen und Konflikte in der Nachbarschaft zu lösen und Europa wieder als Akteur zurück auf die globale Bühne zu bringen. Drittens geht es darum, die Vorteile und den Wert der Europäischen Union besser zu erklären oder, wie Marketingstrategen sagen, besser zu verkaufen. Nicht die nationale Karte sticht, sondern der gemeinsame Joker, nicht der Glaube an Nationalisten und Populisten macht Europa im internationalen Wettkampf konkurrenzfähig, sondern das Wissen und die Erfahrung von konkreten Ergebnissen durch das gemeinsame Handeln und Entscheiden in dieser Union.
Wie Europa wirtschaftlich auf die Sprünge kommt und gelingen kann, zeigen die Gespräche mit wichtigen Akteuren: mit Bundeskanzler Werner Faymann, Vizekanzler und Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sowie der Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini. Beiträge von angesehenen Ökonomen runden das Bild ab: Der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher sowie der international bekannte Steuerexperte Jeffrey Owens formulieren ihre Thesen und tragen zur Diskussion bei.
Wie sich die europäische Außenpolitik besser behaupten und durchsetzen kann, skizziert die neue Hohe Beauftragte, die ehemalige italienische Außenministerin Federica Mogherini. Die EU-Diplomatie braucht mehr als nur ein „Facelifting“, sie braucht einen neuen Zuschnitt, einen neuen Stil, ein neues Selbstbewusstsein und mehr Macht.
Geht es um die Konjunktur und wirtschaftliche Perspektiven, zieht sich die Forderung nach mehr Investitionen im öffentlichen und im privaten Sektor wie ein roter Faden durch das Buch. Nur Investitionen können Wachstum fördern und den Arbeitsmarkt stimulieren, ist die einhellige Meinung aller Interviewpartner und Fachbeiträge im Buch.
Werner Faymann verlangt in der Debatte über die Belebung der Wirtschaft und die Reduktion der Arbeitslosigkeit jene Solidarität unter den 28 EU-Regierungschefs, die es am Höhepunkt der Krise für die Rettung der Banken gegeben hat. „Die gleiche Spannung, Überzeugung, Tatkraft, die in dieser Krisensituation geherrscht haben, müsste man jetzt wieder schaffen, um einen Schutzschirm gegen Arbeitslosigkeit und für Zukunftsinvestitionen zu schaffen. Jetzt geht es darum, Menschen zu retten.“ Er bedauert, dass „dieser gemeinsame Wille derzeit nicht spürbar ist. Die Europäische Union zerfällt viel zu rasch in nationale Interessen“, obwohl das Gemeinsame, das Miteinander gerade jetzt in der Wirtschaft gefordert sei. Faymanns Credo ist, dass Europa mehr gemeinsame Entscheidungen und einen größeren Zusammenhalt brauche, denn: „Solidarität nützt allen.“
Faymann sieht in der Stärkung und im Ausbau der Sozialsysteme eine Möglichkeit für Investitionen und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze.
Sigmar Gabriel fragt, in welchen Bereichen Investitionen gebraucht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer sich digitalisierenden globalen Ökonomie zu verbessern. Er gibt gleich selbst die Antwort: „Investitionen in Breitband, in Digitalisierungsstrategien oder in Energieeffizienz, die Wachstum bringen, sind sinnvolle Investitionen. Die braucht Europa mehr denn je.“
Für den deutschen Wirtschaftsminister ist Deregulierung per se noch kein neoliberaler Akt. Das Was und das Wie sind entscheidend. „Ich würde der deutschen Telekom gerne mehr Spielraum geben und sie weniger stark regulieren, dann verdient sie auch das Geld, das sie braucht, um in die digitale Infrastruktur zu investieren.“ Also sinnvolle und vernünftige Rahmenbedingungen für die Unternehmen, die sich Gabriel auch von der EU erwartet. „Auch auf europäischer Ebene regulieren wir viel in dem fatalen Irrtum, die Telekommunikationsunternehmen Europas stünden nur in einem innereuropäischen Wettbewerb. Wir halten sie künstlich klein – vermutlich bis der US-Wettbewerber sie schlucken wird. Mit dem heutigen europäischen Wettbewerbsrecht wäre Airbus vermutlich nie entstanden.“
Der SPD-Vorsitzende regt eine Diskussion darüber an, ob Europa seine Prioritäten richtig setzt. „Ich denke, dass wir beispielsweise mehr Geld aus dem Agrarhaushalt in den Bereich Wissenschaft und Forschung umschichten müssten. Hier besteht ein dramatisches Ungleichgewicht. Wir konservieren in der EU oftmals vorhandene Strukturen und tun viel zu wenig für die Zukunft.“
Ein Anliegen Gabriels ist es auch, die Frage zu thematisieren, wie die Rahmenbedingungen für private Investitionen in die Realwirtschaft verbessert und vielleicht sogar der Abfluss von Kapital in die Finanzindustrie etwas unattraktiver gemacht werden könnten. „Die möglichen Antworten reichen vom Bürokratieabbau bis zur steuerlichen Forschungsförderung. Wir dürfen auch die Unternehmen durch immer mehr Regulierung nicht so drosseln, dass ihre Investitionstätigkeit zum Erliegen kommt.“ Der SPD-Chef sagt auch, dass dies auch „ein Appell an die Kommission ist, zu einem investitionsfreundlicheren Wettbewerbsrecht in Europa zu kommen. Die EU-Kommission redet sonntags gern von Re-Industrialisierung, was ein durchaus richtiges Ziel ist. Aber von Montag bis Samstag wird dann das Gegenteil gemacht, indem neue Bürokratiemonster wie das ‚Made in‘-Labeling erdacht werden oder eine noch nicht einmal richtig in Gang gesetzte scharfe CO2-Regulierung der Automobilindustrie bereits durch eine Debatte über noch schärfere Regulierungen überholt wird.“
Der Direktor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, konstatiert in seinem Beitrag, dass „niedrige Investitionen eine sinkende Leistungsfähigkeit, Produktivität und Innovation von Unternehmen bedeuten“. Das schadet nicht nur ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten, sondern es entzieht den Unternehmen die Grundlage für den langfristigen Erfolg, was die Wirtschaft noch tiefer in die Krise gleiten lässt. „Je länger die europäische Wirtschaftskrise andauert, desto mehr Wohlstand und Wachstumschancen für die Zukunft werden zerstört.“
Einig sind sich Politiker und Ökonomen darin, dass der laute Ruf nach Strukturreformen allein zu wenig ist, um den Teufelskreis der Krise zu durchbrechen. Es sei zwar richtig, dass viele Länder – und nicht nur die Krisenstaaten Südeuropas – Strukturreformen brauchen. Frankreich und Italien etwa haben riesigen Nachholbedarf, analysiert Fratzscher. Doch die Wirtschaftspolitik greift zu kurz, wenn sie ausschließlich auf die Reform der Angebotsseite der Volkswirtschaften ausgerichtet ist. „Eine solche Politik kann nur erfolgreich sein, wenn sie auch zu einer adäquaten Erhöhung der Nachfrage führt.“ In Europa, aber auch in Deutschland, gebe es heute ein deutlich höheres Potenzial auf der Angebotsseite als auf der Nachfrageseite. „Deshalb“, resümiert der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, „muss eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik gleichzeitig die Angebotsseite und die Nachfrageseite stärken. Weder Reformen auf der Angebotsseite alleine noch eine zu starke Fokussierung auf die Nachfrageseite werden zu einer Beendigung der europäischen Krise führen können.“
Ein Grund für die Abschwächung der Wirtschaft ist nach Angaben des Professors an der Humboldt-Universität zu Berlin die fallende Inflationsrate, die in vielen Ländern der Eurozone mittlerweile zu einer Deflation geführt hat, was fallende Preise für Güter und Dienstleistungen bedeutet.
Fratzschers Fazit lautet: „Nur ein entschiedener Wachstumsimpuls kann ein Entkommen aus der Krisenfalle bewerkstelligen, der zu einer massiven Stimulierung sowohl der Angebotsseite als auch der Nachfrageseite der europäischen Wirtschaft führt.“ Er dämpft die Hoffnung, die Europäische Zentralbank könne erneut mit ihren im Herbst 2014 angekündigten Maßnahmen die Märkte und die Wirtschaft Europas schützen und stabilisieren, was sie beispielsweise im Mai 2010 und im Sommer 2012 getan hat, um den Euro stabil zu halten. „Dies wird sie nicht noch einmal tun können. Selbst ein massives Ankaufprogramm von Staatsanleihen und privaten Anleihen, oder was auch als ‚Quantitative Lockerung‘ bezeichnet wird, wird einen solchen Impuls nicht geben können.“
Der entscheidende Schlüssel für neue wirtschaftspolitische Dynamik liegt demnach bei den privaten Investitionen in Europa, lautet Fratzschers Credo. „Mehr Investitionen führen zu mehr Produktivität, Innovation und damit zu höherer Beschäftigung und höherem Einkommen.“ Dieser private Investitionsschub sollte drei Elemente enthalten:
Das erste ist eine Verbesserung von Wettbewerb und eine entschiedene Umsetzung struktureller Reformen: Mehr Wettbewerb und eine höhere Flexibilität von Produkt- und Arbeitsmärkten sind für attraktivere Rahmenbedingungen und Anreize für Unternehmen notwendig.
Das zweite Element der europäischen Investitionsagenda sollte eine expansive Fiskalpolitik sowohl in den Krisenländern als auch in Deutschland oder Österreich sein. „Die Regierungen sollten diese jedoch zum einen für öffentliche Investitionen nutzen, um die Produktivität der Wirtschaft zu verbessern. Zum anderen“, so der Hinweis des Ökonomen, „sollten öffentliche Mittel dafür genutzt werden, Arbeitsplätze für Unternehmen durch eine Senkung von Steuern und Abgaben günstiger zu machen.“ Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte aber unbedingt – im Rahmen seiner Möglichkeiten – eingehalten werden, fordert Fratzscher, um das ohnedies schwache Vertrauen der Unternehmen und Menschen in Europa nicht noch weiter zu verlieren.
Das dritte Element der europäischen Investitionsagenda sollte die Finanzierung privater Investitionen durch einen Investitionsfonds sein. Ziel dieses Investitionsfonds sei es, die Investitionslücke von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung, oder 200 Milliarden Euro jährlich, mittelfristig zu schließen.
Der deutsche Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat einen radikaleren Ansatz, er plädiert für einen Paradigmenwechsel, für ein „massives Umdenken“. „Nur mit Sparen Europa voranzubringen, das wird nicht gelingen. Man muss dem Staat die Möglichkeit einräumen, Investitionen über Kreditaufnahmen auf den Finanzmärkten durchzuführen. Man muss diese Goldene Regel wieder etablieren, sonst wird man es nicht schaffen, genug Auftrieb zu erzeugen, um angemessenes Wachstum in Europa zu generieren.“
Keine Probleme hat Bofinger damit, den Stabilitätspakt der EU flexibler auszulegen und anzuwenden, was ja still und heimlich schon gemacht wird. „Die ganz strikte Austeritätspolitik ist ja schon ad acta gelegt worden.“ Die Vorgaben des Paktes werden in Spanien und Irland großzügig missachtet. Die verbesserte Lage in diesen beiden Ländern zeigt sich darin, dass „sie eben nicht ein oder zwei Prozent Defizit haben, sondern sechs Prozent“. Für Bofinger ist das ein Hoffnungsschimmer, und er wünscht sich eine offene Debatte darüber. „Wenn man Defizite macht, dann könnte man durch einen vernünftigen Diskurs dafür sorgen, die Mittel so einzusetzen, dass sie die besten Effekte für die Zukunft haben.“
Um zusätzliche Jobs zu schaffen, weist der Professor an der Universität Würzburg auf ein bewährtes deutsches Modell hin, über das aber nicht viel gesprochen wird. „In Deutschland haben wir die Arbeitslosigkeit dadurch reduziert, dass die Arbeitszeit je Erwerbstätigem deutlich verkürzt wurde. Vom Jahr 2000 an bis heute hat das Arbeitsvolumen, also die Zahl der Stunden, die gearbeitet wurden und werden, kaum zugenommen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Beschäftigten um mehr als zwei Millionen. Die Arbeitszeit pro Beschäftigtem ist deutlich zurückgegangen.“
Um Europa voranzubringen fordert Vizekanzler Sigmar Gabriel, die Steuerpraktiken in der EU zu durchleuchten. „Wie wäre es denn, wenn wir mal aufhören würden, einen ruinösen Steuersenkungswettbewerb in Europa zu führen? Wie wäre es denn, wenn wir anfangen würden, Mindestbesteuerung einzuführen, damit nicht große Konzerne wie Google oder Amazon Milliarden in Europa verdienen, aber nur ein, zwei Prozent Steuern in Europa zahlen? Jeder Bäckermeister in Berlin zahlt höhere Steuersätze als diese Konzerne.“ Wenn nur 10 oder 20 Prozent dieser Gelder, die Multis am Fiskus vorbeischleusen, durch eine faire Mindestbesteuerung und gemeinsame Bemessungsgrundlagen eingehoben würden, „hätten wir viel Geld für Bildung und Investitionen und könnten sogar für die normalen Arbeitnehmer und den Mittelstand noch die Steuern senken“, schlägt Gabriel vor.
Viele internationale Unternehmen bekommen häufig Förderungen aus EU-Mitteln, was viele empört. „Sie werden in letzter Konsequenz also von anderen Staaten bezahlt, die höhere Steuersätze haben.“
Bundeskanzler Werner Faymann appelliert an seine EU-Kollegen, auch bei Steuern das „solidarische Bewusstsein“ zu stärken und einheitliche Bemessungsgrundlagen zu verlangen. „Gegen Steuerdumping, genauso wie gegen Lohndumping, gegen Schwarzarbeitsmärkte, gegen Steuerbetrüger, gegen Steueroasen kann man nur gemeinsam vorgehen.“ Faymann bleibt seiner Forderung treu und plädiert dafür, den Steuersatz auf große Vermögen über 1 Million Euro gerecht zu besteuern. Österreich hat mit 1,3 Prozent fast die geringsten Vermögenssteuern in der EU (siehe Statistik im Anhang), Deutschland hat 2,3 Prozent Steuern auf Vermögen gemessen an den gesamten Abgaben.
Der international bekannte britische Steuerexperte und Direktor des Global Tax Policy Centers an der Wirtschaftsuniversität Wien, Jeffrey Owens, schreibt in seinem Beitrag, dass Multis jetzt damit rechnen müssen, an neuen Standards des weltweiten Austausches von Steuerinformationen und an der Forderung nach mehr Transparenz nicht vorbeikommen zu können. „Für Multis ist ein Mehr an Transparenz und an Informationen ein erster Schritt, um das Vertrauen der Bürger und Politiker wieder zu gewinnen.“ Owens sagt, dass Regierungen ihre Steuergesetzgebung so ändern werden, dass es immer weniger Möglichkeiten gibt, Gewinne in Länder mit niedrigeren Steuersätzen zu verlagern.
Der Universitätsprofessor und langjährige Berater der OECD prophezeit, dass Regierungen durch globale Entwicklungen – er definiert Megatrends wie Urbanisierung, Klimawandel, Demografie, aber auch Politikverdrossenheit – gezwungen werden, höhere Steuereinnahmen zu generieren. „Dies wird die Schaffung von wachstumsfördernden Steuersystemen erfordern, durch die ein Teil der Steuerlast auf Gewinnen und Erträgen in Richtung Verbrauch und unbewegliches Vermögen verschoben wird. Staaten werden sich gezwungen sehen, Steuersätze weiterhin zu reduzieren und als Ersatz für die daraus resultierenden einnahmenseitigen Verluste die Steuerbasis zu verbreitern.“