Und nachts fluten sie die Straßen
© 2013 Louisoder Verlagsgesellschaft mbH
Müllerstraße 27, 80469 München
© 2008 Buchbäcker Verlagsgesellschaft mbH
unter dem Titel „Der Fall von Paris“
Alle Rechte vorbehalten
www.louisoder-verlag.de
Lektorat: Fridolin Schley
Covergestaltung: Zero München
ISBN 978-3-944153-18-6
Sie mochte den Hundertjährigen nicht. Es war etwas an ihm, das ihr Unbehagen, ja Angst einflößte. Das war albern, zugegeben. Denn Kannengießer tat ja nichts, was ihre starke Abneigung rechtfertigte. Im Gegenteil. Er war nicht einmal einer von diesen Schwätzern, von denen es hier in der Klinik so viele gab. Nein, er redete kaum. Lag morgens, wenn sie hereinkam, schweigsam in seinem Bett und blickte mit alten, aber wachen Augen an die Zimmerdecke. Oder saß bereits rasiert und auf sie wartend in seinem Sessel. Rasiert. Mit hundert. Er war der Älteste hier, und es war, als hätte der Tod ihn vergessen.
Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und strich sich einige widerspenstige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Vor ihr die Schreibunterlage, das Telefon, Krankenberichte.
Einen kurzen Augenblick verharrte sie reglos. Was für eine Visite, dachte sie. Dann zog sie mit einer jähen Handbewegung die oberste Schublade ihres Schreibtisches auf. Kramte, suchte, ach ja, da war noch ein Briefchen Paracetamol. Gleich würde sich das leichte Klopfen in ihrer linken Hirnhälfte in eine handfeste Migräne verwandeln. Sie stand auf, ging zum Waschbecken, füllte ein Glas mit Wasser und spülte drei Pillen hinunter. Dann betrachtete sie sich im Spiegel, der über dem Waschbecken angebracht war: Dr. Sylvie Claudel. Zweiundvierzig Jahre alt. Verheiratet. Zwei Kinder. Keine Perspektiven. Todmüde.
Resigniert wandte sie den Blick ab und sah sich in ihrem Arbeitszimmer um. Nicht deprimierender als andere Arbeitszimmer, dachte sie. Nur dass sie seit fünf Uhr früh auf den Beinen war und versucht hatte, zu helfen, wo zu helfen war, Leben zu bewahren, wo es noch etwas zu bewahren gab. Seit wie vielen Jahren? Immer Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht? Und das würde so weitergehen bis zur Rente? Bis zum Ende? Ja, bis zum Ende. Dr. Sylvie Claudel, für immer Psychiaterin in einer Pariser Vorstadtklinik, stadtnah und ruhig gelegen. Vor dem Haus gab es ausreichend Parkmöglichkeiten, etwas dahinter lag ein schöner, weitläufiger Park mit altem Baumbestand und Vögeln, deren Gezwitscher nur bei Ostwind vom Lärm der auf den nahen Flughafen Charles de Gaulle anfliegenden Jets übertönt wurde.
Viel zu lange hatte sie heute für ihre Visite gebraucht. Dieses alte Schlitzohr. Heute war es ihm gelungen. Denn normalerweise hielt sie sich nie länger als notwendig bei diesem unheimlichen Insassen auf. Wie der in seinem Sessel saß, der unheimliche alte Nöck. Verschrumpelt, zäh, lauernd. Überhaupt nicht bedürftig, in keinster Weise gebrechlich. Eher kalt wie ein Fossil. Mit kaltem, versteinertem Herzen. Ohne es sich einzugestehen, fürchtete sie sich vor dem Greis. Vor dessen unfassbarem, ja unmenschlich hohem Alter. Hundert. Das war doch regelrecht aufdringlich, ja eigentlich obszön. Musste man Hundert werden? Mein Gott, wozu das denn? Sie mied ihn, so gut es eben ging. Und heute dies: Er hatte sie mit seiner Geschichte in Bann gezogen. Erschreckt zuerst. Dann mit seinen Worten, brutal kraftvoll kamen sie aus einem fast schon mumifizierten Körper, und wider ihren Willen faszinierend. Ich erkannte ihn sofort. Das hatte er plötzlich gesagt. Und in dem Augenblick war ihr klar gewesen: Hier komme ich nicht mehr weg. Jetzt kommt der Schluss, die letzte große Beichte, der Abgesang. Und kein Entkommen.
Ich erkannte ihn sofort. Er trat von rechts vor die große, mit dieser albernen Gardine mehr verhängten als geschmückten Glasfront unseres Hotels, Les belles Hirondelles, ein Stern, Rue Racine No. 3. So trat er wieder in mein Leben.
Ich weiß es noch genau. Es war Freitag, Freitag, der 3. Mai 1968, denn freitags gab es, wie es sich für gute Christen gehörte, immer Fisch, und ich war ganz früh schon in den Markthallen gewesen, hatte einen wundervollen Zander gekauft, dazu noch ein paar Schollen, einen Lachs und etliche Meeresfrüchte. Es ist mir noch nie schwer gefallen, sehr früh aufzustehen. Ich war immer schon ein Morgenmensch, dafür muss ich allerdings regelmäßig zwischen acht und zehn Uhr abends zu Bett.
Als ich ihn sah und sofort erkannte, lagen die Einkäufe vom Fischmarkt längst im Kühlschrank, es war gegen neun. Ich stand wie immer um diese Zeit an meinem Platz hinter der Rezeption, den Duft des Meeres noch in der Nase, den man vom Fischmarkt immer für einige Zeit mit nach Hause nimmt, und sortierte die Post. Michelle, meine Frau, versorgte, ebenfalls wie immer um diese Zeit, die Gäste im Frühstücksraum. Der befand sich im ersten Stock unseres Hotels, gleich neben dem kleinen, für meinen Geschmack zu schäbig eingerichteten Fernsehzimmer. Aber es saß ohnehin nie jemand vor dem Apparat, obwohl er von früh bis spät lief, wenn auch ohne Ton. Die Leute, die in den Sechzigern nach Paris kamen, hatten offenbar noch Besseres zu tun, als sich im Fernsehzimmer eines drittklassigen Hotels vor die Mattscheibe zu setzen. Ob das heute immer noch so ist, weiß ich nicht. Das wissen Sie sicher besser, Frau Doktor.
Aber über die gewundene, enge Treppe mit dem roten, schon immer zu abgetretenen Läufer konnte ich das Klappern des Geschirrs und das Schweigen der wenigen Gäste hören, die wir in jenem Mai hatten, Sie wissen ja, der Mai der Studentenrevolution. Waren Sie damals eigentlich mit von der Partie? Haben Sie auch auf den Straßen des Quartier Latin Steine gegen die Polizei geworfen? Nein. Sie sind ja viel zu jung dafür. Da waren sie im Kindergarten, nicht wahr, im Kindergarten. Man muss ja auch nicht immer dort sein, wo Geschichte gemacht wird. Das meint, glaube ich, immer nur die Generation, die in geordneten Verhältnissen lebt. Wohlhabend. Abgesichert. Ich für meinen Teil, das kann ich Ihnen sagen, habe mich mein Leben lang nach Langeweile gesehnt. Und sie kurze Zeit ja auch gehabt und genossen, wissen Sie, zwischen 45 und dem Tag, von dem ich eben begonnen habe zu erzählen. Ja. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Der Fernseher, der den ganzen Tag über lief. Hat mich aber nicht weiter gestört. War eben so. Jedenfalls erkannte ich ihn, als er an der Glasfront unseres … richtig … richtig … Er war es. Ja.
Ich könnte Ihnen nicht sagen, was es war. Der Gang? Die Haltung des Kopfes? Die Proportionen von Schulterpartie zu Hals und Schädel? Spielt auch keine Rolle. Manche Menschen, vor allem Menschen, denen man im Leben lieber nie begegnet wäre, brennen sich ins Gedächtnis ein. Und die trifft man dann ein zweites Mal. Und weiß sofort: Das ist er. Oder sie. Ich erkannte ihn auf der Stelle und ohne den geringsten Zweifel, auch nach fast drei Jahrzehnten.
Ein richtiger Nazi, ein waschechter Boche, hatte ich damals schon gedacht, damals, als ich ihm zum ersten Mal begegnete. Es muss Frühjahr gewesen sein, denn als ich ihn sah, fror es mich. Und das, obwohl die Sonne bereits wieder wärmte und ich sogar schon den einen oder anderen freien Abend in den Tuilerien oder im Jardin du Luxembourg hatte verbringen können, von früheren, von Vorkriegs-Genüssen träumend, von einem Glas Rotwein, einer guten Zigarette, einer zärtlichen Umarmung. Obwohl es uns bei der Polizei noch vergleichsweise gut ging mit unseren kleinen Privilegien.
Es muss 1943 gewesen sein. Oder 1942? Nein, 1943, meine ich, denn wir alle hatten uns schon ganz schön an die Deutschen in der Stadt gewöhnt.
Oder war es ganz anders? Traf mich tatsächlich ein eisiger Blitz? Ach Gott, Kindchen, ich meine, Frau Doktor, das Alter ist nicht schön. Nichts stimmt mehr, auf nichts ist mehr Verlass, am allerwenigsten auf die eigene Erinnerung. Aber was haben wir denn sonst, außer unseren Erinnerungen? Sind wir denn überhaupt etwas anderes als Erinnerungen? Und wenn die nun Lügen sind? Aber vielleicht ist das ja auch egal.
Ich sah ihn das erste Mal nur von Weitem, in Begleitung irgendwelcher Polit-Größen jener Tage, darunter mein Chef bei der Pariser Polizei, ein richtiges Arschloch. Aber nun gut, im Nachhinein betrachtet war er auch nicht schlimmer als viele andere, obwohl er maßgeblich daran beteiligt war, dass man mir den Prozess wegen Kollaboration machte. Stellen Sie sich das mal vor. Er, ein Erzkollaborateur, hat jemandem wie mir den Prozess gemacht, einem einfachen aber aufrechten Kriminaler, der nie mehr mit den Nazis hier in Paris zu schaffen hatte als unbedingt nötig und der einen von ihnen sogar als Mörder im Visier hatte. Unglaublich, nicht wahr? Aber so ist das Leben, Madame.
Ein Nazi, hatte ich also gedacht. Aber wirklich ein ganz mieser. Sie glauben, da gab es keine Abstufungen? Haben Sie eine Ahnung.
Es war, meine ich, auf den Fluren unseres Dezernats. Ein Nazi – das dachte ich auch, als er plötzlich wieder vor mir stand. Mai 1968. Und ehrlich gesagt, ich denke es heute noch. Aber dennoch. Es war etwas an ihm, was nicht alle Nazis in der Stadt, nicht alle Deutschen an sich hatten, und dieses Etwas machte, dass es mich fror. Glaube ich zumindest.
Jedenfalls sagte ich das dann auch meinen damaligen Kollegen, den Beamten von der Pariser Mordkommission. Wissen Sie, ich war ja nicht immer alt, und bevor ich alt wurde, war ich Hotelier in einem kleinen, leicht schäbigen Hotel mitten in der Stadt, in ihrem Herzen, nahe dem Quartier Latin, und zuvor war ich bei der Pariser Polizei gewesen. Bei der Kriminalpolizei, um genau zu sein, noch genauer: Mordkommission.
Klingt komisch, nicht wahr? Und oft hätte ich mich, auch in jenen Tagen, in denen ich jung war und im Grunde optimistisch, totlachen können, obwohl ich nie im Leben dazu wirklich Grund gehabt hatte. Ich war zwischen 1936 und 1945 bei der Mordkommision. Wir sollten Morde aufklären. Wirklich. Das war zum Totlachen. In ganz Europa brachten sich die Menschen gegenseitig in Massen um, in Auschwitz und Treblinka und Majdanek wurden die Menschen maschinell vernichtet, wer die falsche Nationalität, Religion oder Nase hatte, konnte auf offener Straße erschossen werden, selbst in Paris, obwohl sich die Deutschen hier ja immer bemühten, kultiviert zu erscheinen, aber dennoch, erschossen und noch an Ort und Stelle verscharrt. Und ich war Kriminaler bei der Pariser Polizei. Zum Brüllen, nicht wahr?
Wo war ich stehengeblieben? Wissen Sie, wenn man als alter Mensch einmal anfängt, in den Erinnerungen zu kramen, dann kommt so viel, und alles kommt fast gleichzeitig, und dann passt am Ende nichts mehr richtig zusammen, die Ereignisse, die Jahrzehnte, die Jahre purzeln durcheinander. Man verheddert sich in seiner eigenen Biografie wie ein alter Narr. Und das bin ich ja auch. Ein alter Narr.
Er hatte sich übrigens sehr verändert in den Jahren, die seit der Befreiung von Paris vergangen waren. Er war nicht mehr der angsteinflößende, stramme, blonde und blauäugige Bilderbuch-Nazi, der er damals gewesen war. Er war jetzt ein Mann mittleren Alters. Dennoch wusste ich sofort: Das ist er.
Er war wohl entweder den Boulevard Saint-Michel hinaufgegangen und von dort aus links in die Rue Racine eingebogen. Oder in die Rue de l’Odéon. Dann muss er die Rue de l’École-de-Médecine gewählt haben, die an ihrem östlichen Ende sowohl auf den Boul’ Miche’ als auch auf die Rue Racine stößt. Wenn er nicht überhaupt mit dem Taxi vom Gare de l’Est oder vielleicht sogar vom Flughafen kam, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob an jenem Maitag die öffentlichen Verkehrsmittel überhaupt noch fuhren, Flüge abgefertigt wurden und so weiter. Tage später jedenfalls, da bin ich mir ganz sicher, standen alle Räder still, war das ganze Land im Ausnahmezustand.
Was meinen Sie? Es tut nichts zur Sache, ob ein Mensch von links unten oder von rechts oben die Straße daher- und auf ein Haus zukommt, auf ein Auto oder auf einen anderen Menschen? Nun, im Altersheim vielleicht. Da mag es egal sein, so wie es egal ist, ob Sie mir mit der linken oder mit der rechten Hand die Morphiumspritze in die linke oder rechte Pobacke stechen. Nein, schon gut, war ein Scherz, nehmen Sie’s mir nicht übel, ich bin mir bewusst, dass wir in den Altenheimen Frankreichs keine Euthanasie pflegen, noch nicht zumindest, und nicht an den ganz Alten, die sterben schnell und billig. Obwohl ich mir hier ja sowieso alles Nötige leisten kann, nicht wahr? Jeden nur erdenklichen lebensverlängernden Firlefanz. Dank der hervorragenden Versorgung hier. Und Dank der großzügigen Zuwendungen meines lieben, erfolgreichen Sohnes. Ich selbst war ja leider nie erfolgreich, zumindest nicht in materieller Hinsicht, als Vater hingegen, nun, mein Sohn ist ja ganz gut gelungen, gute Stellung, nette Frau, zwei süße Kinder, aber ich schweife ab, also, hier mag es egal sein, was einer wie ich tut. Hier läuft alles normal und geordnet. Und draußen läuft auch vieles normal und geordnet. Es passiert ja erstaunlich wenig, draußen, auf den Straßen, obwohl die Zeitungen voll sind mit Schreckensmeldungen.
Wenn aber etwas nicht in Ordnung ist, wenn etwas geschieht, was nicht geschehen dürfte, ein Verbrechen, und Sie sind Polizist, Kriminalbeamter beispielsweise, und Sie müssen einen Mord aufklären, dann können solche Unterschiede plötzlich große Bedeutung gewinnen.
Selbst nach über zwanzig, dreißig Jahren konnte ich es noch immer nicht verhindern, dass ich beobachtete, sondierte, scheinbar unwichtige Details beachtete und natürlich auf Widersprüche durchsuchte. Die kleinste Nebensächlichkeit konnte entscheidend, der belangloseste Hinweis zu einem wichtigen Indiz werden. Und auch heute noch, als alter Mann, überkommt mich manchmal dieser Wahn, diese alte Berufskrankheit. Und dann merke ich mir tagelang, wie oft der Zimmernachbar sich nachts geräuspert hat, wie viele Äpfel bei Madame Duroy morgens, am Nachmittag und abends im Korb liegen, Sie wissen ja, ihr Neffe bringt ihr hin und wieder welche von dieser köstlichen alten Sorte aus dem eigenen Garten mit. Eine Sorte, hat er mir mal erzählt, die es in den Geschäften längst nicht mehr zu kaufen gibt. In einer Zeit wie der unsrigen verschwinden ja nicht nur die Waren, sondern die Geschäfte gleich mit, stellen Sie sich vor, ein Paris ohne die Markthallen, ich kann’s nicht glauben. Und das notiere ich mir dann, sehen Sie, Frau Doktor, hier, mein Notizbuch. Lauter Blödsinn steht da drin. Nichts Wichtiges.
Aber bei diesem Morgenthaler fand ich auf Anhieb nichts, also im ersten Augenblick. Keine Widersprüche. Ich erkannte so etwas bei meinen Gästen nämlich immer sofort. Nein, er erschien mir ganz normal. Er trat einfach in unser Hotel und damit wieder in mein Leben. Klingt ganz einfach, ganz banal, nicht wahr? Aber für mich begann die Hölle.
Für einen kurzen Augenblick dachte ich, vielleicht ist das die Gelegenheit, die ich 1944 nicht bekommen habe. Die einmalige Chance, ihn doch noch zu erwischen. Ihn zu überführen. Und damit Wiedergutmachung zu erlangen. Nicht vor den ehemaligen Kollegen. Nicht vor der Geschichte. Oder dem Jüngsten Gericht. Nein, vor mir. Ganz allein vor mir selbst. Die Chance, den Ruch des Versagens loszuwerden, oder: ihn wenigstens zu töten.
Ja, mein Gott, was schauen Sie mich so an, ich war noch kein Greis damals. Und ich hatte Dinge erlebt, schreckliche Dinge, die Sie sich nicht einmal in Ihren schlimmsten Alpträumen vorzustellen wagen. Sie mit Ihrer Sorbonne-Diplom-Reihenhausin-Soundso-Sicherheit. Ich habe Menschen sterben sehen, was … ja, ich weiß, Sie auch, natürlich. Aber wenn Madame Duroy eines Tages selig dahinschlummert oder ich, ein Methusalem, dann, glauben Sie mir, ist das etwas ganz anderes als wenn junge, lebenshungrige Menschen, Frauen mit Kindern, junge Familienväter oder sogar Kinder, die noch nicht einmal richtig zu leben begonnen haben, plötzlich mir nichts dir nichts von irgendeinem abgeknallt … jaja, und so weiter und so fort, ich schweife ab, ganz richtig.
Also. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Diese Gelegenheit. Von Gott gesandt. Eigens für mich. Denn ich hatte sie ja in der Hand, meine Beweise. Seit dreißig Jahren bewahrte ich sie auf. Und ich bewahre sie immer noch auf. Damals jedenfalls dachte ich, dass vielleicht jetzt der Augenblick gekommen war. Gleichzeitig hoffte ich, der Kelch würde an mir vorübergehen. Ich wollte mich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen. Die Toten waren ohnehin tot und ich war kein Polizist mehr und er wahrscheinlich auch kein Nazi mehr, sie hatten sich doch alle zu wunderbaren Demokraten gemausert, die Damen und Herren Deutschen, nicht wahr. In diesem kurzen Augenblick hoffte ich, er möge hereinkommen zu mir, seinem Rächer und Vollstrecker, und gleichzeitig wünschte ich mir, er möge an mir vorüberziehen, der Kelch. Aber er zog natürlich nicht an mir vorüber.
Als die Tür dann aufging, kam mir meine alte Dienstpistole in den Sinn. Seltsamerweise hatten sie bei meiner Entlassung aus dem Polizeidienst vergessen, sie mir abzunehmen. Oder war das der dezente Hinweis gewesen, sie noch ein letztes Mal zu benutzen? Wollten die im Ernst, dass ich mir auch noch das Leben nahm und so einen kleinen Schandfleck, einen kleinen Mückenschiss von der großen weißen, mit Mückenschissen übersäten Weste der französischen Geschichte tilgte?
Sie lag jedenfalls gut geölt in der Schublade meines Nachtkästchens. Nicht unten an der Rezeption, unter dem Tresen. Das wäre mir zu gefährlich gewesen. Ich hätte sie bei einem Überfall, wie sie zwar Ende der Sechziger noch sehr selten waren, aber immerhin vorkamen, benutzen und einen dieser dummen Jungen erschießen können. Nein, nein. Sie lag im Nachttisch. Ungeladen, versteht sich. Aber im Medikamentenschrank im Bad, ganz hinten, hinter Pflastern und den alten Tabletten gegen die Kinderkrankheiten meines Sohnes. Er war immer recht kränklich. Kaum zu glauben, was das heute für ein prächtiger Bursche geworden ist, wirklich. Kaum zu glauben. Und wir warfen das Zeug einfach nicht weg, warum bloß? Jedenfalls bewahrte ich dort in einer unauffälligen Packung Kopfschmerztabletten sechs Kugeln auf. Sechs Kugeln, ratsch, geladen, schussbereit.
Von der Pistole wussten übrigens alle. Sie war kein Geheimnis. Sogar mein Sohn wusste, dass ich die Waffe im Haus hatte, und er fand das ganz normal. Und weil er es normal fand, interessierte er sich nicht sonderlich für sie. Nur einmal, mit dreizehn oder vierzehn, ich weiß es nicht mehr genau, da war er sehr schweigsam am Mittagstisch oder beim Abendbrot.
„Papa, liegt die Pistole immer dort, wo sie jetzt liegt?“ Ganz beiläufig sagte ich damals, praktisch zwischen zwei Bissen Salami und einem Schluck Bier, dass das so sei, ja. Seine Mutter fragte ihn dann, ob er noch etwas von dem Schinken wolle oder schon seinen Nachtisch, ein selbst gemachtes Karamell-Dessert, so, wie er es ganz besonders liebte, und wir sahen uns nicht an, seine Mutter und ich. Aber er wollte keinen Nachtisch, sondern erklärte uns, dass er heute früh zu Bett wolle, ausschlafen, morgen eine Klassenarbeit oder so, nun gut. Wir sprachen nie wieder von der Pistole, keiner von uns, aber noch zur selben Stunde versteckte ich die Patronen, die bis zu diesem Zeitpunkt zwar nicht gerade neben der Pistole gelegen hatten, aber in derselben Schublade meines Nachtkästchens.
Der Kelch ging also nicht an mir vorüber. Die Tür zu unserem Les belles Hirondelles öffnete sich. Die kleine Glocke an unserer Eingangstür erklang. Er trat ein und kam, ohne sich nach links oder rechts umzuschauen, geradewegs auf mich zu. Nicht schnell, nicht langsam. Ganz normal.
„Bonjour“, sagte er und lächelte. In Kriminalromanen würde es jetzt heißen: „Nur sein Mund lächelte, während seine stahlblauen Augen ihn kalt fixierten“, oder so. Aber so war es natürlich nicht. Alles war ganz normal, wie gesagt. Er lächelte sogar freundlich, wie man eben lächelt, wenn man fremdes Terrain betritt, einem fremden Menschen gegenübersteht und etwas von ihm will.
Und ich konnte mich noch so anstrengen, nach Zeichen suchen, nach kleinen Unsicherheiten seinerseits. Aber da war nichts.
Und ich? Rutschte mir das Herz in die Hose, als ich dem Menschen wieder gegenüberstand, der einstmals Herr über Leben und Tod gewesen war? Das ist schwierig zu beantworten. Ich dachte an meine Waffe. Aber Angst? Nein. Angst hatte ich keine, hatte ich ja damals, im Krieg, auch schon nicht gehabt.
Ich bin wahrscheinlich ein schlechter Polizist gewesen, obwohl manche noch lange das Gegenteil beteuert haben und obwohl ich nach meiner unehrenhaften Entlassung aus dem Polizeidienst kaum einen meiner Kollegen je wiedergetroffen habe, mit einigen Ausnahmen. Vielleicht war ich ja doch lange genug bei der Kripo gewesen, um ein Gespür dafür entwickelt zu haben, wann jemand log oder sich verstellte. Das war schließlich überlebenswichtig. Wenn die damaligen Kriminellen mir auch nicht so schießwütig vorkommen wollen wie die Gangster von heute, die Jugendbanden, die unsere Stadt so unsicher machen, wie ich höre. Aber vielleicht meine ich das auch nur, vielleicht ist das auch so was, so eine Eintrübung. So eine altersbedingte Fehlleistung. Sagt man „Fehlleistung“, Frau Doktor, wenn man etwas nicht mehr so ganz kapiert? Dement wird? Verblödet?
Aber ich komme nicht zum Punkt. So was bleibt, wollte ich sagen, das Gespür für die Wahrheit, besser gesagt, für die Lüge. Mein Sohn beispielsweise ist daran verzweifelt, als er noch klein war. Jede noch so raffinierte Finte, mit der er seine kleinen Kindervergehen leugnen wollte, durchschaute ich augenblicklich. Wobei das, zugegeben, bei einem Kind keine große Kunst ist. Wahrscheinlich können das alle Eltern, die sich einigermaßen um ihre Kinder kümmern. Aber noch heute entlarve ich ihn, wenn er mich hier besuchen kommt … Wie, er war noch nie hier? Ach was, das ist ja völliger Blödsinn, natürlich war er hier, schon oft. Sie haben ihn nur noch nie getroffen. Das ist alles. Also, wenn er mir was vorflunkern möchte, von wegen nein, Papa, bei mir ist alles in Ordnung, nein, keine Geldsorgen, ja, Claire – das ist seine Frau –, also Claire geht es ausgezeichnet und ja, sicher wir lieben uns noch immer und wir schlafen sogar noch miteinander, wenn du es ganz genau wissen willst – natürlich will ich es ganz genau wissen, aber selbstverständlich frage ich nicht, sondern sage, so ein Blödsinn, was geht mich euer Intimleben an, was interessieren mich eure Schweinereien, aber ich durchschaue ihn. Ich sehe ganz genau, wie es um ihn steht. Geld hat er ja. Eine Geliebte auch manchmal, und eine Frau mit Migräne. Früher jedenfalls, als die beiden noch jünger waren, hatte sie oft welche. Sie auch? Oh Pardon!
Ach, und bei den Hotelgästen, natürlich, es gelang mir auch bei unseren Hotelgästen. Schon am ersten Blick, was sag’ ich, schon an der Silhouette, die sich durch das Glas unserer Hausfront abzeichnete, erkannte ich, mit wem ich es zu tun hatte. Da waren natürlich die vielen Normalen, wie man so schön fahrlässig sagt. Aber natürlich gibt es die. achzig Prozent unserer Gäste waren solche Normalen. Touristen. Meist junge Pärchen aus Deutschland, Holland, Italien. Manchmal verirrten sich auch Amerikaner, die sich etwas Besseres unter dem wohlklingenden Namen Les belles Hirondelles vorgestellt hatten und jetzt bei der Anmeldung, am kommenden Morgen im Frühstücksraum nur mühsam ihre Enttäuschung verbargen. Die zwanzig Prozent anderen hatten es dafür zum Teil aber in sich. Zum Beispiel die Ehebrecher. Wenig Gepäck. Überaufmerksam zu ihrer Dame, ein kleines bisschen zu herrisch mir gegenüber. Dabei dieser Tick Nervosität. Zahlten im Voraus mit einer deutlichen Tendenz zu stattlichem bis übertriebenem Trinkgeld. Von wegen der Diskretion, müssen Sie wissen. Mir war es recht. Wäre aber auch ohne Bakschisch verschwiegen gewesen. Was interessierte mich denn das Techtelmechtel anderer Leute. Sofern sie nicht allzu sehr übertrieben. Zu Laut wurden: viel Spaß.
Dann die Selbstmörder. Leider sehr oft so richtig sympathische junge Leute. Meist Männer so zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Typ verkannter Poet. Verschmähter Liebhaber. Pleite. Nur ein einziges Mal war es eine junge Frau, ein wirklich hässliches kleines Ding, ein Mauerblümchen, wie es im Buche steht. Tat mir wirklich leid, das Ding. Aber auch die Selbstmörder zahlen im Voraus. Daran erkennt man sie. Dadurch unterscheiden sie sich von den Normalen. Und an einem Stück Alibi-Gepäck. Eine kleine Tasche, ein schlaffer Rucksack, irgend so was. Und an ihrer reizenden, lebendigen, leicht überdrehten Freundlichkeit.
Was ich dann tat? Nun, das hing ganz davon ab. Die Liebespaare, die Ehebrecher, die waren mir natürlich völlig egal. Wozu sollte ich mich um solche Angelegenheiten kümmern? Das musste jeder mit sich selbst ausmachen und die Gesetze diesbezüglich waren mir auch egal. Nur bei offensichtlicher Prostitution wurde ich deutlich. Nicht, dass ich etwas gegen Prostituierte habe. Im Gegenteil. Als Polizist hatte ich genug mit diesen Frauen zu tun und es waren oft nicht die schlechtesten. Und sind nicht eigentlich sie die wahren Heldinnen der Liebe? Aber nun gut, ich habe meine Gründe, so zu denken, lassen wir das für den Augenblick.
Nur in unserem Hotel konnte ich sie nicht dulden. Das ging nicht. Zum einen wegen Michelle. Sie war da nicht so generös wie ich. Klar. Aber es ging vor allem nicht wegen des Geschäfts. Die Leute, wissen Sie. Nicht die in unserer Straße. Nein, in der Rue Racine kannte man das Leben. Die Sechziger, mein Gott. Haben Sie eine Ahnung, wie das war in den Sechzigern? Na, ehrlich gesagt, ich auch nicht mehr. Und es ist ja auch komisch. Die Panzer auf den Champs-Élysées vergisst man nicht, nein, das war natürlich in den Vierzigern, schon klar. Ich rede jetzt allgemein von Erinnerungen, entschuldigen Sie, oder die Demonstrationen gegen Algerien, die Studentenrevolte, meine Güte. Aber wie das ist, sich Tag für Tag in einer kalten Wohnung mit kaltem Wasser zu waschen, Kohle aus dem Keller zu holen, den Geruch von Öl in der kleinen Heizung, den Geschmack echten Camemberts, das vergisst man. Das wirklich Unschöne und das wirklich Schöne, das einem so ganz und gar unter die Haut gefahren ist, das verschwindet. Und schon ist man alt, und das sogenannte Gedächtnis besteht nur noch aus Zeitungsschnipseln und Fernsehbildern, die man für die eigenen Erinnerungen hält. Was da vom eigenen Leben bleibt, können Sie sich denken. Zum Fernsehen hatte ich allerdings mein Lebtag noch nie Zeit. Und Lust auch nicht.
Also. Huren, das ging nicht. Außer sie blieben über Nacht. Und seien wir doch mal ehrlich! Was unterscheidet eine Hure von einem sogenannten anständigen Mädchen, wenn sie morgens neben dem Kerl aufwacht, seinen schlechten Atem erträgt, seine schlechte Laune, die er zwangsläufig an ihr auslässt, und zwanzig Francs, nein, was sage ich alter Trottel, ich bin ja gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit, natürlich zwanzig Euro, von ihm annimmt, anstatt sich von ihm, was seine Freundin täte, zum Eis einladen zu lassen. Was man eben so macht, wenn man jünger ist als siebzig, nun ja. Für mich ist das ja längst alles vorbei. Gott sei Dank.
Die Ordnung verlangte, dass die Dame auch über Nacht blieb und mit am Frühstückstisch saß, wie zerstört auch immer, denn für unser Aussehen können wir nichts, und immer noch wird man wegen offensichtlicher Hässlichkeit in den meisten Hotels nicht abgewiesen. Das können Sie aber vorher schlecht überprüfen. Sie können nicht sagen, bien, Monsieur, Ihre Begleitung ist zugegebenermaßen hübsch, wenn auch mit verdächtig professionellem Lidschlag, aber Sie können mit ihr hier bleiben, sofern die Kleine heute Nacht nicht abhaut. Das geht nicht, das sehen Sie selbst ein.
Denn so etwas zu dulden, sprach sich herum. Es war egal, was das für Mädchen, für Frauen waren, die abends mit unseren männlichen Gästen vor mir am Tresen standen. Solange sie mit ihnen morgens am Frühstückstisch saßen. Anständig gekleidet. Dezent geschminkt. Eben nicht von der Straße.
Ein echtes Problem allerdings waren die Selbstmörder. Mein Gott. Wir hatten eine Zeit, da verzweifelten wir beinahe. Jede Woche ein Kandidat. Und in der Phase war auch alles dabei. Die Jungen sowieso, aber auch ältere, sechzig, siebzig und älter. Die dann eher melancholisch, schweigsam, entschlossen. Meist, wie schon gesagt, euphorisch. Kandidat nannten wir sie.
„Wir haben wieder einen Kandidaten, Chéri, der junge Mann auf der 204“, so etwa. Dann hieß es beobachten. Mehr konnten wir nicht tun. Und horchen. Lief das Wasser überlang? Das waren dann die Pulsadern. Das unberührte Frühstück? Schlaftabletten. Fallgeräusche? Der umgestoßene Stuhl von einem, der sich zu erhängen versuchte. Schlaftabletten und Hängen konnten wir manchmal noch retten. Klopfen, nochmals klopfen und dann rein ins Zimmer mit dem Drittschlüssel. Pulsadern waren aussichtslos. Selbst wenn die noch mit uns reden konnten, kam jede Hilfe zu spät. Da gab es Dramen, kann ich Ihnen sagen. Was tun Sie, wenn es sich so einer unterwegs anders überlegt hat? Und Sie, von Sekunde zu Sekunde schwächer werdend, anfleht, doch bitte, bitte etwas zu tun? Nun ja. Wanne und warmes Wasser ist wenigstens rücksichtsvoll. Da muss man nur den Stöpsel ziehen und gründlich nachwischen. Schlaftabletten und Strick machen da schon mal eine ziemliche Sauerei. Die kotzen ja auch mal, wenn sie die falsche Dosis erwischt haben. Und die Baumelnden, na ja.
Es war jedenfalls eine schlimme Zeit. Warum wir? Warum unser Hotel? Die Polizei begann bereits, misstrauisch zu werden. Klar, ich, ein Ex-Flic. Und dann diese Serie. Stellen Sie sich das mal vor. Aber wir waren machtlos. Wir konnten uns ja nicht aussuchen, wer bei uns absteigen wollte und aus welchem Grund. Das war, bevor Morgenthaler bei uns auftauchte. Kurz bevor er kam, hörte es auf. Merkwürdig, nicht?