Petra Gerster
Christian Nürnberger
Stark für das Leben
Wege aus dem Erziehungsnotstand
Edel eBooks
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München
Covergestaltung: Agentur bürosüd°, München
Konvertierung: Jouve/Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-95530-365-5
Immer wenn Malfoy auftritt, wird es kalt. Streit liegt in der Luft, die Stimmung verdüstert sich, es riecht nach Kampf. Malfoy ist zwar erst elf Jahre alt, aber schon ein aggressiver Schnösel. Er hat gelernt, mit großer Bugwelle aufzutreten.
Seine Arroganz und sein kalter Machtwille speisen sich nicht aus Leistung, sondern aus dem Hochmut, den ihm seine Eltern einimpften: «Du bist etwas Besonderes, dir ist alles erlaubt, weil deine Familie zu den besten des Landes gehört.» Aus diesem Bewusstsein wächst sein Ego, und das bleibt nicht ohne Folgen.
So sehen wir Malfoy an seinem ersten Schultag mit erhobenem Kopf durch Schloss Hogwarts schreiten, das Internat, in dem er jetzt leben wird. Alle anderen Mitschüler sind ein wenig verunsichert, eingeschüchtert, wie man sich eben so fühlt, wenn man jäh in eine neue Situation geworfen wird und unter lauter Fremden ist.
Auch die Neuankömmlinge Harry, Ron und Hermine stehen ein wenig befangen herum, als Malfoy auf sie zukommt, begleitet von Crabbe und Goyle, zwei dicklichen Fieslingen, die sich aufführen wie seine Leibwächter. Malfoy wirft einen abschätzigen Blick auf den rothaarigen Ron, spottet über dessen ärmliche Kleidung und stellt gleich klar, wer hier der Chef ist. Er will einen Keil treiben zwischen Harry und Ron, die sich eben erst angefreundet haben. Hermine beachtet er gar nicht.
«Du wirst bald feststellen, dass einige Zauberer-Familien besser sind als andere», sagt Malfoy zu Harry Potter, «du wirst dich doch nicht etwa mit der falschen Sorte abgeben?» Während er Harry seine Hand entgegenstreckt, fügt er hinzu: «Ich könnte dir behilflich sein.»
Für einen Augenblick hält man den Atem an. Wie wird Harry reagieren? Wird er einschlagen? Wird er Ron verraten?
Ängstliche Kinder würden einschlagen, denn dieser Malfoy, das erkennen sie sofort, ist stark. Ihn als Freund zu haben bedeutet Schutz und Dazugehören. Seine Hand auszuschlagen, das heißt Ärger und Ausgeschlossensein.
Harry riskiert den Ärger, schlägt aus und sagt kühl: «Danke, ich entscheide selbst, wer zur falschen Sorte gehört.» Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen Harry, Ron und Hermine, einer Bande, die gegen Malfoys «falsche Sorte» kämpft.
Eine eher beiläufige Szene aus dem Kinofilm über Harry Potter (im Buch spielt sie nicht auf dem Schloss, sondern im Zug), und doch fragten wir uns in diesem Augenblick unwillkürlich: Wie würden unsere Kinder sich verhalten? Können sie schon, wie Harry Potter, erkennen, dass Malfoy zwar stark erscheint, aber zur «falschen Sorte» gehört? Hätten sie den Mumm, seine Hand auszuschlagen?
Woher nimmt Harry Potter diese Stärke? Was brauchen Kinder, um die «richtige» von der «falschen Sorte» unterscheiden zu können und so stark zu werden, dass sie sich der Malfoys dieser Welt zu erwehren wissen?
Natürlich, wir reden hier nicht von realen Kindern, sondern von Märchenfiguren. Dieser Potter hat es einerseits schwerer als die meisten unserer Kinder, weil er ein Waisenknabe ist, dessen Pflegefamilie ihn unterdrückt. Gleichzeitig hat er es leichter, denn ihn schützt ein starker Zauber. Schon als Baby war er stark genug, einem Fluch zu widerstehen, der seine Eltern getötet hat. Und er wird noch immer bedroht. Aber jetzt hält Albus Dumbledore, der große Zauberer und Leiter der Schule von Hogwarts, seine schützende Hand über ihn, und zahlreiche Freunde aus der Zauberergemeinschaft achten sorgfältig darauf, dass Harry kein Leid geschieht.
Harry Potter hat es trotz seines harten Schicksals als Waisenkind märchenhaft gut. So wie ihn würden auch wir «Muggels», die wir leider nicht zaubern können, gerne unsere Kinder schützen. So einen Harry wünschen auch wir uns als Sohn. Doch haben schon viele Eltern mit ansehen müssen, wie stattdessen ein Malfoy heranwuchs.
Ist so etwas Schicksal? Liegt es an der Macht der Gene oder an der Erziehung? Haben wir Muggels wirklich keine Möglichkeiten, unsere Kinder gegen die Gefährdungen des Lebens zu immunisieren, als ob ein geheimer Zauber sie schützte?
Wir Eltern möchten, dass unsere Kinder mit traumwandlerischer Sicherheit durchs Leben gehen, und wissen doch: Dies gelingt kaum je einem Menschen, uns selber auch nicht. So kommt es darauf an, dass unsere Kinder, wenn sie irgendwann fast unvermeidlich auf die Nase fallen, die Kraft haben werden, wieder aufzustehen, sich nicht entmutigen zu lassen und ihren Weg erfolgreich weiterzugehen.
Können wir unseren Kindern diese Kraft geben? Was macht unsere Kinder stark für das Leben?
Es war irgendein Tag im September des Jahres 2002, das Datum haben wir schon wieder vergessen, aber das damit verbundene Ereignis nicht: Unser neunjähriger Sohn Moritz hatte seinen ersten richtigen Aufsatz in der Schule geschrieben, ganz ohne unsere Hilfe, und an diesem Tag kam er mit dem benoteten Aufsatz nach Hause.
Nun könnte man denken: Der Vater ein Schreiberling, die Mutter eine schreibende Moderatorin, da werden die beiden doch wohl ein bisschen Sprachgefühl an ihre Kinder vererbt haben.
Das hatten wir zunächst auch geglaubt. Bei unserer Tochter Livia schien alles nach Plan zu laufen. Für sie war Deutsch nie ein Problem, und wir hielten das für selbstverständlich.
Bis unser Sohn in die Schule kam. Das Einzige, was er einigermaßen gut konnte, war lesen, doch dieses Talent beschränkte sich aufs Videospielen mit «SuperMario». Um dort vorwärts zu kommen, war es nötig, ab und zu die Tipps auf hübschen Täfelchen zu lesen, die im Verlauf des Spiels immer wieder auf dem Bildschirm auftauchten. Also war es ungeheuer wichtig, lesen zu lernen – das blieb aber der einzige positive Effekt von «SuperMario».
Außer den Täfelchen wollte er nichts lesen, schon gar keine Bücher. Geschichten hörte er sich zwar gerne an, aber nacherzählen wollte er sie nicht, nicht mündlich, erst recht nicht schriftlich. Fernsehen wollte er stattdessen. Seine Rechtschreibung war anfangs miserabel und bessert sich seitdem nur langsam. Seiner Hausaufgaben entledigt er sich innerhalb von zehn Minuten, und so sehen sie auch aus. Dass er in der Schule nichts auf die Reihe kriegte, haben wir schon in unserem ersten Buch beschrieben. Es wurde besser, nachdem wir die Videospielkonsole auf den Speicher verbannten. Aber Moritz blieb unser Sorgenkind, entwickelte sich nicht so problemlos wie seine Schwester.
Wir vermuteten, er leide unter den Folgen eines frühkindlichen Traumas. Als er noch keine zwei Jahre alt war, hatte seine Mutter sich einem lebensgefährlichen chirurgischen Eingriff unterziehen müssen. So verschwand sie von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben. In den drei Monaten, die sie im Krankenhaus verbrachte, wurde Moritz in der Verwandtschaft herumgereicht, bekam seine Mutter erst nach Wochen nur einige Male im Krankenhaus zu sehen. Und da erkannte er sie nicht wieder. Sie lag in einem Gipsbett, konnte sich nicht rühren, war von der Operation gezeichnet.
Dann kam die Mutter nach Hause, aber verhielt sich nicht so, wie eine Mutter sich normalerweise verhält – wenn zum Beispiel ein Baby die Ärmchen ausstreckt, um aus seinem Bett gehoben zu werden. Moritz’ Mutter durfte ihr Kind nicht heben.
Ein paar Wochen später war sie wieder weg, musste in die Rehaklinik. Als sie zurückkehrte, lehnte Moritz seine Mutter ab, wollte nicht mehr zu ihr, war ganz auf den Vater fixiert, mindestens ein Jahr lang.
In der Folgezeit wirkte Moritz im Vergleich zu Gleichaltrigen in seiner Entwicklung zurückgeblieben. Er fing erst spät an zu sprechen, machte bis kurz vor der Einschulung noch viele Grammatikfehler.
Was sollten wir tun? Wir kümmerten uns sehr um ihn. Wir versuchten, so gut wir konnten, herauszufinden, was ihn wohl gerade interessieren könnte, und wollten dieses Interesse nach Kräften fördern.
So erzählten wir ihm von Dinosauriern, als er sich für Dinos interessierte, lasen ihm aus Dinosaurierbüchern vor, ließen ihn Dinosaurierfilme sehen, zeigten ihm das Dino-Skelett im Frankfurter Senckenberg-Museum. Das gleiche Programm wurde abgespult, als er sich für Ritter interessierte, dann für Reptilien, Fische, Schlangen, Frösche, Kaulquappen. Wir pflanzten Schilf im Gartenteich, setzten Goldfische hinein, Wasserschnecken, Süßwassermuscheln, Kaulquappen und beobachteten das Leben in diesem kleinen Teich.
Einerseits wollten wir für unser Kind eine anregende Umgebung schaffen, andererseits war es strikte Notwehr – eine gezielte Ablenkung von seinen «wahren» Bedürfnissen, welche sich in heftigem Verlangen nach Gameboys, Pokémons und Videospielen äußerten. So haben wir auch Haustiere angeschafft, um unsere Kinder vom Pokémon-Plunder abzulenken. Einen Hund hatten wir schon vor den Kindern. Als dieser starb, holten wir uns einen neuen, und dazu auch gleich zwei Katzen. Und jede Menge Hunde-und Katzenbücher.
Die wurden aber von unseren Kindern ignoriert. Wahrscheinlich dachten sie: Wozu Bücher über Hunde und Katzen lesen, wenn diese Viecher bei uns auf dem Teppich herumfläzen?
Tochter Livia las wenigstens andere Bücher. Moritz las gar nichts. Wir versuchten, ihn mit all unseren Überredungskünsten zum Lesen zu bewegen. Ohne Erfolg. Sagen, Märchen, biblische Geschichten, Abenteuergeschichten interessierten ihn nur, wenn wir sie ihm vorlasen. Selber lesen kam nicht in Frage.
Wollte er sich damit Zuwendung erzwingen? Fürchtete er, das Gutenachtritual werde ein Ende haben, wenn er selber läse?
Wir wissen es nicht, aber die Rettung kam durch Harry Potter. Als er den Film im Kino gesehen hatte, war er so beeindruckt, dass er das Gesehene noch einmal selber nachlesen wollte. Er las in wenigen Tagen den kompletten ersten Band. Danach den zweiten, den dritten und den vierten.
Und er versuchte plötzlich, so intelligent zu gucken wie Harry. Und mit seinem Freund Lukas, der äußerlich Ron ähnelt, schloss er Blutsbrüderschaft. Mädchen begegnet Moritz mit etwas mehr Respekt und Interesse, seit er gesehen und gelesen hat, dass es für einen Jungen durchaus nützlich sein kann, eine Freundin wie Hermine zu haben.
Seit über einem Jahr wartet Moritz nun auf den fünften Band. Zwischenzeitlich etwas anderes zu lesen kam aber nicht in Frage. Das wäre ja Verrat an Harry. Und außerdem ist es doch immer noch schön, abends im Bett vorgelesen zu bekommen. Die Gänsehautbücher sind derzeit die Favoriten.
Schon relativ früh merkten wir, dass ihn Dinos nicht nur begeisterten, weil es halt Mode war, sondern weil er ein fast wissenschaftliches Interesse entwickelte – nach der Dino-Phase dann für Reptilien, Insekten und allerlei Gewürm. Er konnte stundenlang im Garten Spinnen, Käfern, Maden, Raupen und Würmern bei der Arbeit zusehen. Immer wieder mussten wir ihn im Zoo zu Schlangen, Leguanen, Krokodilen, Skorpionen und Spinnen führen. Und zu den Fischen. Also kauften wir ihm Bücher über Fische, Reptilien und Insekten. Oh Wunder: Diese Bücher las er. Er schlug sie immer wieder auf. Las regelmäßig einzelne Dinge nach, hatte Fragen und versuchte, in den Büchern Antworten zu finden. Auf Reisen, im Urlaub mussten Zoos, Aquarien, Terrarien und naturkundliche Museen besucht werden.
Dann wollte Moritz unbedingt angeln. Eine Angel wurde angeschafft. Das störte zwar die tierliebe Mutter, aber darauf konnte keine Rücksicht genommen werden. Angelbücher, Angelzeitschriften: Moritz las alles gründlich. Wir gingen mit ihm angeln. Fingen nichts, aber das störte ihn überhaupt nicht, der Weg war das Ziel. Nur Livia hielt nichts davon. «Fische interessieren mich nicht», sagte sie kategorisch schon im Alter von fünf Jahren, «und Angeln schon gar nicht, das ist tiermörderisch und bescheuert», merkte sie fünf Jahre später an.
Im vergangenen Jahr entdeckte Moritz plötzlich seine Leidenschaft für Pflanzen. Er bekam sein Beet im Garten. Er hegte es und pflegte es, fuhr die Ernte ein, die aus fünf einzelnen Bohnen, sehr kurzen Karotten und verwurmten Rettichen bestand, und verkaufte alles teuer an seine Eltern. Sein kaufmännisches Gewinnstreben ist noch größer als seine gärtnerische Begabung.
Livia säte anfangs auch mit Begeisterung, aber dann überließ sie ihr Beet den Schnecken und der sengenden Sonne. Sie hört lieber Musik und hat darum keine Zeit fürs Gießen und für die Schädlingsbekämpfung. Die verschiedenen Interessen müssen also fein austariert werden. Das Leben in solch einer Familie ist eine beständige Übung in Toleranz – eine Übung, die auch den Eltern abverlangt wird.
Wie vermutlich alle Jungen interessierte sich auch Moritz besonders für tote Tiere und deren Verwesung, zumal unsere Katzen für eine kontinuierliche Belieferung mit Mäusen, Siebenschläfern und manchmal auch Ratten und Vögeln sorgen. Diese Leichen wurden von Moritz und seinen Freunden mit dem Messer aufgeschlitzt und untersucht. Wir duldeten es.
Andere Tiere wurden eingegraben und drei Wochen später wieder ausgegraben, abgewaschen, fotografiert, wieder eingegraben und wieder ausgegraben. Wir duldeten auch das. Vielleicht dient das ja der Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Tod.
Dann hatten sie die Idee, die Beute unserer Katzen in Marmeladengläsern luftdicht zu verschließen und den Verwesungsprozess zu beobachten. Wir bestanden nur darauf, die Gläser im Garten zu deponieren statt im Kinderzimmer. Gelegentlich wurden die Gläser auch wieder geöffnet, nicht selten auf dem Küchentisch, und unsere Proteste gegen den bestialischen Gestank wurden von Moritz und seinen Freunden toleriert. Unsere Erziehung zur Toleranz trug also Früchte.
Daraus entstand übrigens auch noch ein erzieherisch unbeabsichtigter, aber für die Familie enorm wichtiger Nebenvorteil: Da sich Moritz vor nichts ekelt, macht es ihm überhaupt nichts aus, das Katzenklo zu reinigen. So wurde er unser Mann fürs Katzenklo.
Und jetzt sollte er also einen Aufsatz verfassen. Moritz und seine Klassenkameraden mussten ein «Watuzi» beschreiben. Die Lehrerin hatte sich von einem Gedicht Peter Maiwalds über das «Watuzi» anregen lassen und gab diese Anregung weiter an ihre Schüler. Sie sollten sich die näheren Einzelheiten dieses geheimnisvollen Phantasiewesens ausdenken.
Das fiel bei Moritz auf fruchtbaren Boden.
Während andere Kinder oft nur das Äußere dieses Wesens beschrieben, hatte Moritz auch genaue Vorstellungen darüber, wie sich so ein Watuzi ernährt, sich fortpflanzt, welche Krankheiten es bekommen kann, wie es sich seinen Artgenossen gegenüber verhält – er schrieb wirklich «Artgenossen» – und dass es im Sommer in die Sommerfrische und im Winter «in die Winterstarre geht».
Der Aufsatz war ein voller Erfolg. Das Ergebnis: Eine Eins mit Sternchen. Und zwei stolze Eltern. Unsere Mühe war nicht umsonst.
Natürlich hatte Moritz auch Glück. Wenn seine Lehrerin nicht diese schöne Geschichte über das «Watuzi» gelesen und nicht gleich ein Aufsatzthema daraus abgeleitet hätte, wenn sie nicht von dem Wunsch beseelt gewesen wäre, ihren Schülern den Spaß am Schreiben zu vermitteln, ihre Phantasie anzustacheln, wenn sie stattdessen darauf bestanden hätte, einen Aufsatz über den letzten Ausflug schreiben oder eine mäßig interessante Geschichte nacherzählen zu lassen – dann hätte unser Moritz bestimmt kein Extralob nach Hause gebracht.
Es muss also viel zusammenkommen, bis so ein Einser mit Sternchen entsteht. Es muss neun Jahre lang schwer geschuftet werden. Gene für Deutsch oder Mathematik mag es ja geben, aber diese allein bewirken gar nichts. Der Ertrag der Schufterei steht in krassem Missverhältnis zum Aufwand, aber immerhin: Es gibt einen Ertrag, und sei er auch so karg wie Moritz’ erste Gartenernte. Die Mühe ist nicht umsonst. Erziehung ist eine sinnvolle Tätigkeit, wenngleich eine, die offenbar niemals aufhört.
Da es mit Deutsch, auch mit Rechnen, bei unserem Sohn jetzt zu klappen scheint, können wir uns anderen Defiziten zuwenden. In seinem nur rudimentär vorhandenen Charme beispielsweise steckt noch viel Entwicklungspotential. Und die pubertierende Livia schichtet gerade ihre Interessen um. Ihr Bedürfnis nach Schule und guten Noten erlebt zur Zeit einen dramatischen Schwund. Coole Jungs, coole Klamotten und heiße Partys zählen umso mehr.
Nach zwölf Jahren Leben mit Livia und neun mit Moritz glauben wir, eines behaupten zu können: Jene politischen und administrativen Maßnahmen, über die jetzt nach der PISA-Studie bei uns diskutiert wird, und all die ministeriellen Beschlüsse, die nun als Konsequenz aus dem PISA-Desaster noch zu erwarten sind – sie kratzen nur an der Oberfläche dessen, was Erziehung eigentlich bedeutet. Erziehung ist komplexer und schwieriger, als es sich auf Kultusministerkonferenzen und Symposien zur Leseförderung darstellt. Erziehung ist eine Aufgabe, die uns alle mehr fordert, als uns lieb ist.
Es fing damit an, dass sich die Wirtschaft über ihren Nachwuchs beklagte. Berufsanfänger, die frisch von der Uni kämen, seien nicht zu gebrauchen, schimpfte die Industrie.
Die Uni wies jede Schuld von sich und zeigte mit dem Finger aufs Gymnasium. Dieses ist schuld, sagte die Uni, es schickt uns massenhaft Abiturienten, die gar nicht studierfähig sind.
Das Gymnasium verwies auf die Grundschule. Die Grundschule zeigte auf den Kindergarten, der Kindergarten auf die Eltern. Und auf deren Schultern lastet jetzt das ganze Gewicht einer Misere namens PISA.
Für uns persönlich kündigte sich die Misere etwa vor drei Jahren an. Damals versuchten Politiker, Wirtschaftsfunktionäre und etliche Medien den Eindruck zu erwecken, das größte bildungspädagogische Problem unseres Landes seien fehlende Internet-Anschlüsse an den Schulen und die mangelnde «Kompetenz» unserer Schüler, Businesspläne zu erstellen. Zufällig fiel das mit dem Wechsel unserer Tochter von der Grundschule aufs Gymnasium zusammen.
Vom ersten Tag an fiel der Deutschunterricht aus. Sport auch. Von unseren Bekannten und Verwandten aus anderen Bundesländern hörten wir das Gleiche: Unterrichtsausfall ist der Alltag an deutschen Schulen. Wir fragten uns: Kann es sein, dass die Politiker, Funktionäre und Bildungsexperten in einer anderen Welt leben als Schüler, Lehrer und Eltern?
Als Journalisten fingen wir an zu recherchieren. Die Recherche ergab, was wir unter dem Begriff Erziehungsnotstand zusammenfassten: Eltern, die nicht mehr erziehen, weil sie es nicht können, nicht wollen oder sich überfordert fühlen; Kindergärten und Krippen, in denen Kinder zwar betreut, aber eigentlich kaum gefördert werden; Schulen, in denen sich ausgebrannte, von ihren Aufsichtsbehörden gegängelte, entmutigte Lehrer und lustlose, schlecht erzogene Schüler gegenseitig anöden; Schulmauern, von deren Wänden der Putz bröckelt; Schulbücher, die teilweise zwanzig Jahre alt sind und weder vom Euro noch vom Fall der Mauer künden.
Die Lehrer erzählten uns von armuts- und wohlstandsverwahrlosten Kindern, von Schulklassen mit fünfzig Prozent Ausländerkindern, die kein Wort Deutsch sprechen, von den Problemen der Scheidungskinder und den Sorgen Alleinerziehender. Sie stöhnten über sprachgestörte und verhaltensauffällige Kinder, das «Zappelphilipp-Syndrom» ADS, die Schwierigkeiten der Jungen, eine männliche Identität auszubilden. Sie berichteten von Mobbing im Klassenzimmer und Aggressionen auf dem Schulhof, von Gewalt und Erpressung auf dem Schulweg, von Drogen, vom Konsumterror, von wachsender Kriminalität bei Kindern und Jugendlichen und von Kindern, die vor Fernsehgeräten, Videospielkonsolen und Computermonitoren vereinsamen und verstummen.
Aber unsere Politiker und Wirtschaftslobbyisten beklagten den fehlenden Internet-Anschluss.
Uns erschien der Widerspruch zwischen der öffentlich geführten Bildungsdebatte und der Erziehungsrealität in Familie, Kindergarten und Schule so groß, dass wir beschlossen, das Ergebnis unserer Recherchen als Buch zu veröffentlichen. Die Ergebnisse der PISA-Studie waren damals noch nicht bekannt, aber wir hatten von ihr gehört und riskierten in unserem Buch die Prognose: Sie wird kaum schmeichelhaft für unser Bildungssystem ausfallen. Es kam bekanntlich noch schlimmer.
Dank PISA erhielten wir, was wir wollten: eine öffentliche Debatte über Bildung und Erziehung in Deutschland. Und dazu einen Waschkorb voll zustimmender Post. Während Deutschland über PISA diskutierte, gingen wir auf Lesereise. PISA füllte uns die Säle und Buchhandlungen. In rund vierzig Städten zwischen Kampen auf Sylt und Konstanz am Bodensee lasen wir vor einer großen Zahl von Zuhörern und diskutierten mit Eltern und Lehrern.
Der Tenor unzähliger Briefe und Wortmeldungen in unseren Lesungen war stets der gleiche: Bleibt dran an dem Thema, denn sonst wird sich nichts ändern. Doch wir wollten es eigentlich mit dem ersten Buch bewenden lassen.
Zumal wir bei deutschen Kultusministern ein neues Phänomen beobachteten: Hyperaktivität. Nach fast zwanzigjähriger Lethargie im deutschen Bildungswesen schien dies ein Zeichen der Hoffnung. Keinesfalls wollen wir die Politiker daran hindern, mehr Lehrer einzustellen, deren Ausbildung und Ansehen zu verbessern, Ganztagsschulen anzubieten, Schulgebäude zu renovieren, so weit es die gähnend leeren Kassen erlauben. Auch das Nachdenken der Lehrer über einen besseren Unterricht wollen wir nicht stören.
Doch bis jetzt wurde nur debattiert. «Der Pisa-Schock vom Frühjahr ist überstanden, und passiert ist: nichts», kritisierte Jeanne Rubner in der Süddeutschen Zeitung. Der «Wind des Wechsels» sei abgeflaut, verflogen auch die Packen-wir’s-an-Stimmung. Zunehmend gehe es statt um Inhalte nur noch um den Kompetenzstreit zwischen Bund und Ländern.1
Tatsächlich dreht sich die Debatte nach PISA schon wieder fast nur um Wettbewerbsfähigkeit, Schlüsselqualifikationen, marktgängige Kompetenzen, «Humankapital». Kurz: um Bildung als Fähigkeit, die Japaner und Koreaner ökonomisch zu schlagen. Schon wieder stehen nicht zuerst unsere Kinder und deren Wohl im Mittelpunkt, sondern das Wohl der Wirtschaft. Die Probleme werden auf Schulprobleme reduziert, und der Eindruck entsteht, unser Bildungssystem müsse nur ein bisschen renoviert und repariert werden, dann stünden wir beim nächsten PISA-Test schon viel besser da.
Pädagogik sei nicht dann schon erfolgreich, wenn sie sich damit begnüge, die jungen Menschen mit Lösungen wie mit einem Reiseproviant auszustatten, sagt der große alte Mann der deutschen Pädagogik, Hartmut von Hentig. Vielmehr sollte sie die Kinder «zum ‹Reisen› ermutigen, sie befähigen, die Chancen und Gefahren zu erkennen, die auf sie warten, ihnen Maßstäbe geben und Zuversicht in die eigenen Möglichkeiten – und einen Überblick über die verfügbaren Mittel»2.
Darüber, wie wir es schaffen, die Heranwachsenden zum Reisen zu befähigen, wird zu wenig geredet. Zu viel über den Proviant, zu viel über Administratives, über Lehrpläne, Lehrstoff und Leistungskontrollen. Und fast gar nicht über die Rolle der Familie.
Schließlich fragt kaum jemand nach den «Reisenden», unseren Kindern. Es scheint für die Bildungspolitiker und Bildungsforscher von untergeordnetem Interesse zu sein, wie es eigentlich unseren Kindern geht, wie sie aufwachsen, wie es in ihrem Inneren aussieht, wie es um ihre Seele bestellt ist. Wir scheuen uns nicht, dieses altmodische Wort «Seele» zu gebrauchen, weil uns die neumodischen Wörter – «Ressourcenausstattung», «Kerncurricula», «Qualitätsmanagement in Betreuungseinrichtungen» und so weiter – zum Hals heraushängen.
Deshalb schreiben wir nun ein zweites Buch. Sosehr wir uns freuen, dass durch PISA wieder über Erziehung und Bildung debattiert wird, und so sehr wir begrüßen, dass Kultusminister und Schulbehörden jetzt Rechenschaft ablegen müssen für das, was unsere Schulen leisten oder nicht leisten – wir fürchten die falschen Konsequenzen. Seit PISA schwappt eine Testwelle über uns, Kulturbürokraten nennen das «Evaluation» und «Qualitätssicherung». Aus ihren Mündern quellen Wörter wie «Zentralabitur», «Erweiterung des Pflichtfachkanons», «Einführung von Abschlussprüfungen auch für die so genannten Restschulen», «Zeugnisnoten von der ersten Klasse an». Mit anderen Worten: «Die erstrebte bessere Qualität wird durch einen Test gemessen, der an Messbarem entwickelt ist.»3 Gelernt wird also nur noch, was messbar ist. Gepaukt wird, was die Tests verlangen.
Hartmut von Hentig hat schon vor Jahren kritisiert, dieses Testsystem arbeite mit der Fiktion eines «Durchschnittskindes», das zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte Leistung erbringen muss: «Es trainiert die Lehrer in dieser falschen Einstellung. Alle auch gegebenen guten Gründe für eine Evaluation der Schule werden an dieser Selbsttäuschung zunichte. Die Humboldt’sche Vorstellung von Bildung hat man gestrichen.»4
Das können wir nicht wollen. Unsere Kinder brauchen eine erstklassige Bildung und nicht mit Gewalt den ersten Platz in den PISA-Charts. Denn PISA testet nicht die Bildung, sondern nur einige für eine gute Bildung wichtige Voraussetzungen. PISA ist lediglich ein Symptom für etwas anderes, um das es uns – wie schon in unserem ersten Buch – eigentlich und immer noch geht: was wir unseren Kindern antun, wenn wir sie weiter so gedankenlos aufwachsen lassen wie in den letzten zwanzig Jahren.
Zuerst das Kind, dann die Wirtschaft, nicht umgekehrt, das ist unsere Forderung an Politiker, Experten und Funktionäre. Zuerst die Familie stärken, besonders die Kinder, die Lehrer und die Institution Schule. Zuerst eine gute Erziehung und emotionale Stabilität für jedes Kind in der Familie, im Kindergarten und in der Schule, dann eine umfassende Allgemeinbildung, die zuvörderst dem Einzelnen nützt und manchem Arbeitgeber als Luxus erscheint.
Erst danach folgt alles Weitere, das auch der Gesellschaft und der Wirtschaft zum Vorteil gereicht. Im Übrigen ist für beide nichts von größerem Nutzen als stabile Persönlichkeiten mit fundierter Allgemeinbildung und guter Erziehung. Wettbewerbsfähigkeit ist eben das unvermeidliche Nebenprodukt einer guten Bildung und Erziehung.
Nicht wenige Briefeschreiber und so manche Diskutantin auf unseren Lesungen sagten uns: Ihr habt den Erziehungsnotstand beschrieben, jetzt zeigt gefälligst auch, wie wir aus diesem Schlamassel wieder herauskommen.
Den allein selig machenden Weg aus dem Erziehungsnotstand können zwei pädagogische Laien nicht weisen. Wir können uns nur an der Diskussion beteiligen und unseren Standpunkt einbringen, und der lautet zunächst: Wir dürfen die Debatte nicht auf die Frage verengen, welche Tests am genauesten welche Kompetenzen nachweisen. Wir müssen sie auf komplexere Zusammenhänge richten.
Darum schreiben wir keinen Erziehungsratgeber, sondern ein Buch, das die Leserinnen und Leser zum Mitdenken einladen, zu eigenen Gedanken anregen und ihnen helfen will, ihre eigenen Wege aus dem Erziehungsnotstand zu finden.
Wir bestreiten nicht den Sinn einer Diskussion über Zentralabitur, Lehrpläne und Leistungskontrollen. Aber das sind zweitrangige Themen. Schon wichtiger ist die Diskussion über eine Reform der Lehrerausbildung, die Verbesserung des Unterrichts und die Gewährung von mehr Autonomie für jede einzelne Schule. Aber auch diese Diskussion blendet aus, dass Schule allenfalls Erziehungsreparatur betreiben kann.
Sowohl die Ergebnisse der PISA-Studie als auch die moderne Hirnforschung legen uns aber nahe, dass wir den Jahren vor der Einschulung unsere besondere Aufmerksamkeit widmen sollten. Die frühkindliche Bildung, und besonders die Sprachentwicklung, beeinflusst in großem Maß den späteren Erfolg in der Schule. Außerdem erinnern neuere Studien an etwas, was wir eigentlich immer schon wussten, aber offenbar vergessen haben: Emotionales Wohlbefinden der Kinder ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Lernerfolg. Die Qualität des Familienlebens entscheidet in hohem Maße über das Schicksal der Kinder. Daraus folgt, dass der Familie eine Schlüsselrolle bei der Bildung der Kinder zufällt. Davon handelt der zweite Abschnitt dieses Buches.
In vielen Familien erhalten Kinder nicht, was sie brauchen. Hohe Scheidungsraten, Patchworkfamilien, die Nöte Alleinerziehender, die beruflich bedingte ganztätige Abwesenheit beider Eltern, Arbeitslosigkeit, finanzielle Probleme, Forderungen der Wirtschaft nach mehr Mobilität und Flexibilität, ein überbordender Medienkonsum der Kinder und sogar der Geburtenrückgang beeinträchtigen heute in vielfältiger Weise das Familienleben und die Erziehung der Kinder.
Daraus ergibt sich die Forderung an den Staat, vorbeugend und kompensierend einzugreifen, mehr pädagogisches und psychologisches Personal zu beschäftigen und besser zu qualifizieren, Kinderbetreuungseinrichtungen zu schaffen, Elternschulen zu gründen, Familien finanziell zu entlasten und ihnen helfend und beratend zur Seite zu stehen. Darüber reflektiert der dritte Teil.
In einem weltanschaulich neutralen Staat und in einer pluralistischen Gesellschaft, in der prinzipiell alle Wertvorstellungen kritisierbar sind und dadurch auch relativiert werden, sind viele Eltern und Lehrer unsicher, auf welche Ziele hin sie erziehen sollen. Welche Wertvorstellungen und Vorbilder sollen sie vermitteln, ist dies überhaupt sinnvoll? Im vierten Abschnitt legen wir dar, warum wir für eine gründliche Wertevermittlung eintreten, wie dies geschehen kann und auf welche Werte es uns ankommt.
Wir wollen Eltern in der Überzeugung stärken, dass sie die erste Instanz für ihre Kinder sind und bleiben. Es werden nämlich viele Jahre vergehen, bis sich unsere Kultusminister darauf geeinigt haben, wie die Schule und der Unterricht zu verbessern seien. Es wird ein paar Jahre dauern, bis die Universitäten herausgefunden haben, was sie an der Lehrerausbildung ändern müssen, und dann noch einmal mindestens sechs Jahre, bis die ersten neu ausgebildeten Lehrer in die Schulen kommen.
Es werden viele Jahre vergehen, bis der Staat das nötige Geld aufbringt, um zu reparieren und neu aufzubauen, was in den letzten zwanzig Jahren kaputtgespart wurde. Und es wird in der Politik, der Wirtschaft und Gesellschaft noch viel geschehen müssen, bis Familien und Kinder wieder ein Klima vorfinden werden, in dem sie wirklich gut gedeihen können.
Kinder haben wir aber jetzt. Die können nicht warten, bis wir das ideale Bildungssystem ausgetüftelt und finanziert haben. Erzogen werden muss heute, Unterricht ist jeden Tag.
Darum suchen wir nach Antworten auf die entscheidenden Fragen: Wie können Eltern ihren Kindern trotz aller Widrigkeiten zu einem guten Start ins Leben verhelfen? Was ist das eigentlich: eine «gute Erziehung»?
Wir streiten nicht nur für Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und Frühförderung, dafür schon auch, uns treibt nicht allein die Frage, was Väter und Mütter jetzt tun können, das selbstverständlich auch. Darüber hinaus aber geht es uns um die Kultur, in der Erziehung stattfindet, und letztlich um die Frage: Woran glauben wir überhaupt?
Noch eine Bemerkung zum Text: Da wir beide pädagogische Laien sind, also weder eigene wissenschaftliche Studien noch Forschungsergebnisse aus Schulen oder Kindergärten vorlegen können, haben wir für dieses Buch die Erfahrungen mit unseren eigenen Kindern einfließen lassen und nicht zuletzt unsere eigene Bildungsbiographie. Weil wir zwei Menschen von unterschiedlicher Herkunft, mit ganz persönlichen Erlebnissen und Einsichten sind, haben wir uns beim Schreiben des Öfteren getrennt, sind vom «wir» zum «ich» gewechselt. In diesen Fällen verzichten wir darauf, jeweils den Autor zu benennen, denn wer schreibt, erschließt sich dem Leser sehr schnell aus dem Zusammenhang.
Als die Wirtschaft sich über unqualifizierte Studienabgänger beschwert hatte und der schwarze Peter von der Universität über das Gymnasium, die Grundschule und den Kindergarten an die Eltern weitergereicht worden war, blieb diese Karte dort nicht sehr lange liegen. Die Lesekompetenten unter den Eltern zeigten auf ein Buch und sagten: Wir können gar nicht schuld sein, denn Erziehung ist sowieso sinnlos.
Das weltweit beachtete Buch trägt tatsächlich den Titel «Ist Erziehung sinnlos?», und die amerikanische Autorin Judith Rich Harris beantwortet die Frage eindeutig mit Ja. Der erzieherische Einfluss der Eltern sei wesentlich kleiner als gedacht, interpretiert sie ihre eigenen Forschungen. Viel prägender seien Freundeskreise und das soziale Milieu, den Rest gäben die Gene vor. Der nüchterne Schluss lautet: «Wir sind als Eltern austauschbar wie Fabrikarbeiter.»1
Niemand ist also schuld am PISA-Desaster, allenfalls die Peer-groups unserer Kinder und das soziale Milieu, und vielleicht nicht einmal das?
Möglicherweise ist alles nur Zufall, sagt Steven Pinker, Professor für Psychologie am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Was wir als «Umwelt» bezeichnen – also das Ergebnis aller erzieherischen Einflüsse –, habe wahrscheinlich gar nichts mit der Umwelt zu tun, sondern sei das Resultat zufälliger Ereignisse bei der Entwicklung des Gehirns.
Tatsächlich ist wissenschaftlich belegt, dass sich Zellen selbst dann unterschiedlich entwickeln, wenn sie exakt dasselbe Erbgut besitzen. Sogar Klone würden sich auf lange Sicht uneinheitlich ausprägen, aber eben nicht aufgrund von Umwelteinflüssen, sondern durch einen genetisch gesteuerten Zufallsgenerator.2 Daher, so folgert Pinker, sei «ein weiterer Teil unserer Persönlichkeit und unserer Intelligenz biologisch (wenn auch nicht genetisch) bedingt und damit selbst den besten Absichten der Eltern und der Gesellschaft entzogen».3
Erziehung ist also vergebens?
Der bisherige Verlauf der Weltgeschichte spricht durchaus dafür. Schon ein kurzer Blick auf diese Geschichte erzwingt die nüchterne Erkenntnis, dass alle bisherigen Bemühungen um die «Erziehung des Menschengeschlechts» zu keinerlei Trost oder Hoffnungen berechtigen. Trotzdem ersinnen Philosophen, Theologen, Pädagogen und Psychologen seit Jahrhunderten alle denkbaren Theorien, die erklären, wie man den störrischen, schwer verbesserlichen Menschen durch Erziehung dorthin bringt, wohin er von Natur aus offensichtlich nicht will. Funktioniert hat bisher noch keine dieser Theorien.
Und wer sich mit der Fülle der pädagogischen Ratgeber abmüht, wird am Ende von den tausendundein einander widersprechenden Empfehlungen so verwirrt sein, dass er zu keiner erzieherischen Handlung mehr fähig ist.
Jeder Vater und jede Mutter mit mindestens drei Kindern lernt aus Erfahrung: Eine bestimmte erzieherische Maßnahme führt beim ersten Kind genau zum Ziel, beim zweiten erreicht sie das Gegenteil und beim dritten etwas völlig anderes, was weder beabsichtigt noch vorherzusehen war. Lernfähige Erzieher schließen daraus: «Jedem das Gleiche» funktioniert in der Erziehung nicht. Also probiert man’s mit dem Grundsatz «Jedem das Seine». Mit dem Ergebnis, dass die individuell auf das erste Kind zugeschnittene Maßnahme tatsächlich ihren Zweck erfüllt, die im zweiten Fall maßgeschneiderte Lösung dagegen nur halb funktioniert, und beim dritten Kind klappt überhaupt nichts.
Auf Erziehungsratgeber angewendet heißt das: Von sechs gegebenen Ratschlägen für ein einziges Kind passt, wenn man Glück hat, einer, aber welcher das ist, weiß man vorher nicht, und er hat auch nur Erfolg, wenn man ihn am richtigen Ort zur richtigen Zeit anwendet.
Bleibt, wenn man aus allen Ratgebern und Erziehungstheorien sämtliche Widersprüche eliminiert, noch etwas übrig, was allen gemeinsam ist? Gibt es so etwas wie gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse, einen pädagogischen Konsens, der Bestand hat? Ja doch, den gibt es, die Frage ist nur, wie weit er trägt.
Konsens ist zum Beispiel der Glaube, geordnete Verhältnisse, Ruhe, Rhythmus, Beständigkeit, zuverlässige Eltern – die Amerikaner nennen es «mothering» – seien wichtige Voraussetzung einer guten Erziehung. Chaos, Unruhe, Hektik stehen der gesunden Entwicklung eines Kindes im Wege, glauben wir, glauben alle Ratgeber. Wahrscheinlich trifft das für die meisten Kinder zu, aber einigen anderen scheint genau dies zu einer außergewöhnlichen Persönlichkeit verholfen zu haben. Und anscheinend ist Chaos in der Kindheit hilfreich für eine spätere Schauspielerkarriere.
Wie zum Beispiel beim Schaustellerkind André Eisermann. Aufgewachsen auf Rummelplätzen, zwischen Schaubuden und Panoptiken, kannte er kein geregeltes Lernen und Leben. Er ging mal da und mal dort zur Schule, und manchmal auch gar nicht, erzählt Eisermann in seiner Autobiographie «1. Reihe Mitte. Ein Schaustellerleben». Aber er wurde ein hervorragender Schauspieler. Für die Titelrolle in «Kaspar Hauser» erhielt er Auszeichnungen auf der ganzen Welt.
Ein anderer großer Schauspieler, Gottfried John, sagt von sich: «So etwas wie Erziehung oder eine vernünftige Schulbildung habe ich nie genossen.» In seinen «Bekenntnissen eines Unerzogenen» berichtet der Schauspieler, seine Mutter habe immer beteuert: «Ich bin keine Mutter, ich weiß nicht, wie das geht und was richtig ist oder falsch. Entscheide du!» Das habe ihn oft überfordert, «aber ich kannte ja nichts anderes, insofern habe ich nicht darunter gelitten.»
John hat seinen Vater nie getroffen, wurde unehelich geboren, weshalb sich seine Mutter, gelernte Fremdsprachenkorrespondentin, gläubige Katholikin, als «gefallenes Mädchen» betrachtete. Sie gab von einem Tag auf den anderen ihr bürgerliches Leben auf und führte mit ihrem Kind ein Nomadenleben. Sie ließ sich treiben, trampte von Stadt zu Stadt, nahm jeden Tag als ein Abenteuer.
Der Junge wurde zum Staatsmündel erklärt und in Heime gesteckt, aus denen er regelmäßig wieder ausbrach. Wenn sie so herumzogen, immer auf der Flucht vor dem Fürsorgeamt, wussten sie oft nicht, wovon sie am nächsten Tag leben sollten. Aber es ging irgendwie, der Junge verhungerte nicht, wurde Schauspieler, arbeitete mit Hans Neuenfels, drehte mit Rainer Werner Fassbinder neun Filme, agierte als fieser Gegenspieler von James Bond, gab den Kommissar Beckmann im Fernsehen und den Cäsar in «Asterix & Obelix».
Was er von seiner Mutter bekommen hatte? Liebe statt Ordnung, und wenn man einem Kind nicht beides geben kann, dann ist Liebe der Ordnung auf jeden Fall vorzuziehen. Als sich Gottfried John einmal besonders hässlich fühlte, sagte ihm seine Mutter: «Du bist etwas ganz Besonderes, Goddi. Vielleicht bist du nicht schön, aber dafür bist du interessant. Und wenn du lachst, dann geht die Sonne auf.»
Vielleicht kann solche Liebe über das ganze Chaos hinwegtragen, in das jemand hineingeboren wird. Es gab sicher noch mehr solcher trostreichen Sätze in Gottfried Johns Leben, und wahrscheinlich sind es diese Sätze, die scheinbar gesicherte pädagogische Erkenntnisse ins Wanken bringen.
So ein Gemeinplatz ist beispielsweise der Glaube, eine rundum glückliche Kindheit und ein liebevolles Elternhaus bringe liebevolle Menschen und ausgeglichene, lebenstüchtige, charakterstarke Persönlichkeiten hervor. Dagegen lehrt die Beschäftigung mit Lebensläufen prominenter und nichtprominenter Zeitgenossen, dass sich viele von ihnen trotz traumatischer Kindheitserlebnisse zu ausgeglichenen und empathiefähigen Menschen entwickeln konnten, während so manches liebevoll erzogene Kind trotz hoher Begabung und optimaler Familienverhältnisse später im Erwachsenenalter zu einer unzufriedenen, neurotischen Nervensäge mutierte.
Konsens ist, dass geprügelte Kinder später selber zu Gewalt neigen. Wenn man die Kindheit prügelnder Väter untersuche, stelle man fest, dass 90 Prozent früher selber verprügelt wurden, sagen die Statistiker. Sie können aber nicht erklären, warum Menschen zu Schlägern werden, die als Kind nie geschlagen wurden, und warum viele verprügelte Kinder später keineswegs selber prügeln.
Die Statistik ist also offenbar immer nur ein Argument von begrenzter Reichweite für oder gegen die Erziehung, denn die Zusammenhänge zwischen elterlichen Erziehungsmethoden und Erziehungsergebnissen sind selten so eindeutig, wie wir es gerne hätten. «Möglicherweise kann man mit Erziehung den Kindern nur Glück und Sicherheit geben. Alles andere ist ihre Sache. Wenn sie scheitern, scheitern sie», sagt Cathrin Kahlweit, Redakteurin der Süddeutschen Zeitung und Mutter dreier Kinder.
Es scheint uns daher mit unseren Theorien und Mutmaßungen über eine gute Erziehung nicht besser zu gehen als den Aktienanalysten, deren Treiben der Wirtschaftswissenschaftler Burton Malkiel auf die Formel brachte: «Ein blinder, nacktarschiger Affe könnte Dartpfeile auf die Finanzseiten einer Zeitung werfen und so ein Depot zusammenstellen, das ebenso erfolgreich wäre wie eines, das von Experten sorgsam zusammengestellt worden ist.»
Vollends in die Resignation treiben uns seit etlichen Jahren die Genforscher, Biochemiker, Gehirnforscher und Informatiker, die pausenlos melden, schon wieder ein neues Gen, ein Hormon, einen Gehirnbotenstoff oder sonst einen biochemischen Mechanismus entdeckt zu haben, der nun endgültig erkläre, warum wir so sein müssen, wie wir sind.
Menschliche Instinkte und Verhaltensweisen hätten sich in der steinzeitlichen Urhorde entwickelt und in der kurzen Geschichte der Zivilisation noch nicht genügend Zeit gehabt, um uns nackte Affen an die Lebensbedingungen von heute anzupassen, erklären die Soziobiologen. Und mit Vorliebe erzählen sie uns von Orang-Utans, die gern mal einzelgängerische Weibchen vergewaltigen, womit uns die Vermutung nahe gelegt wird, es scheine auch Vergewaltigergene zu geben. Von Glücks-, Raucher- und Verbrechergenen lesen wir ebenfalls regelmäßig in der Zeitung, und auch für Alzheimer, Brustkrebs und Fettsucht und natürlich für die Intelligenz sind neuerdings die Gene zuständig.
Unkoordiniert und wohl auch ungewollt malen Wissenschaftler aller Disziplinen ein Bild des Menschen, das uns als in der Steinzeit programmierte, von Zufällen und Hormonen gesteuerte biochemische Maschinen erscheinen lässt. Und die eine erstaunliche Intelligenz dabei entwickeln, sich über sich selbst zu täuschen und sich der Illusion eines freien Willens und dem Aberglauben an ein personales Ich hinzugeben.
Für Erziehung scheint in diesem Gemälde kein Platz zu sein, allenfalls für Dressur, und diese würde vermutlich sogar für das reibungslose Funktionieren unserer Gesellschaft genügen. Wozu also Erziehung?
Wir nennen es «Amoklauf», wenn ein 19-jähriger Schüler schwer bewaffnet seine Schule stürmt und acht Lehrerinnen, vier Lehrer, eine Sekretärin, einen Schüler, eine Schülerin und einen Polizisten niederstreckt – wie am 26. April 2002 in Erfurt geschehen. Wir empfinden es wie ein Naturereignis, beklagen die Opfer und bewältigen unser Entsetzen mit Hilfe anschwellender Zeitungsartikel, Talkshows und Sondersendungen im Fernsehen, bis wir ihrer überdrüssig sind und andere, neue Ereignisse unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. Nach einigen Wochen ist der Schauder vorbei.
Für Günter Lamprecht ist nichts vorbei. Der Schauspieler und dessen Frau Claudia Amm waren am 1. November 1999 Opfer eines anderen Amoklaufs geworden. Ein 16-Jähriger hatte in Bad Reichenhall vier Menschen und sich selbst erschossen. In das Schussfeld des Amokschützen geriet auch das Ehepaar Lamprecht-Amm. An den Verletzungen, die es dabei erlitten hat, laboriert das Paar noch heute. Auch psychisch haben die beiden zu kämpfen.
Günter Lamprecht und Claudia Amm finden nicht, «dass sie einfach froh sein sollen, überlebt zu haben».12