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Petra Gerster
Christian Nürnberger

Der Erziehungsnotstand


Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten





Edel eBooks

MARIO ODER ICH!

Das Unheil kam nicht auf leisen Sohlen. Der Vater trug es frohgemut in einer schwarzen Kiste nach Hause. Er schwört: Das hatte rein berufliche Gründe.

Die schwarze Kiste heißt «Nintendo» und gehört zur Gattung der Videospielkonsolen. Eines der beliebtesten Spiele ist «SuperMario». Das steckte nun in der schwarzen Box.

Weil er als Journalist viel über Technik schreiben musste, wollte der Vater die Computer- und Videospiele endlich selbst einmal ausprobieren. Er ahnte nicht, dass es beim Testen kaum bleiben würde.

Noch weniger Ahnung hatte die Mutter. Doch mit der Zeit fiel ihr auf: Die Kinder waren immer häufiger verschwunden. Oft waren sie stundenlang nicht mehr zu sehen. Der Vater auch nicht. Wo steckten sie? Im Keller. Draußen konnte schönstes Wetter sein, aber die Kinder hockten im dunklen Keller und spielten SuperMario. Ebenso der Vater, dieser Kindskopf.

Eine Weile lang nahm sie das nachdenklich hin. Bis der Tag kam, an dem sie müde und gestresst von der Redaktion heimkehrte, sich auf das Abendessen und die Familie freute, in der Wohnung aber niemanden vorfand, auch keinen gedeckten Tisch.

Da ging sie in den Keller. Ein geradezu idyllisches Bild: Die Familie saß so vertieft vor dem Monitor, dass niemand ihr Kommen bemerkt hatte. Sie sagte «Guten Abend». Keine Reaktion.

Da wurde die Mutter laut und sprach den Satz: «Dieses Spiel kommt aus dem Haus.» Darauf der Vater: «Dieses Spiel bleibt hier.»

Und so gab ein Wort das andere:

Sie: Dieses Spiel macht das Familienleben kaputt. Ich komme nach Hause und werde ignoriert, weil die Kinder wie gebannt vor diesem Kasten hocken, und der Vater hockt dabei, statt sich ums Abendessen zu kümmern oder endlich seinen Artikel zu Ende zu bringen. Was verplempert ihr eigentlich eure Zeit mit diesem Quark?!

Er: Wieso «Quark»? Das ist ja das Tolle daran, dass hier mal Eltern und Kinder zusammen spielen und man sich als Erwachsener nicht wie bei anderen Kinderspielen tödlich langweilt. Außerdem herrscht zwischen Erwachsenen und Kindern Chancengleichheit. Ich kann und weiß auch nicht mehr als die Kinder, muss mich genauso anstrengen wie sie, und das macht ihnen und mir Spaß.

Sie: Sag’ mir bitte einen einzigen vernünftigen Grund, warum sich unsere Kinder mit so einem Mist abgeben sollen?

Er: Wie kannst du behaupten, Mario sei Mist? Du hast es doch noch nie selbst gespielt. Das ist kein Mist, sondern einfach ein neues Spielzeug, das nur, weil es technisch ist, in unserem technophoben Land von vornherein unter Verdacht steht, die Jugend zu verderben. Ich kann dir mindestens zehn Gründe nennen, weshalb Kinder sich «mit so etwas abgeben» sollen.

Sie: Ich höre.

Er: Bei Mario gibt es zum Beispiel am Ende nicht wie sonst einen Sieger und mehrere Verlierer; hier kommt es nur auf Findigkeit, ja sogar auf Phantasie an. Der Spieler muss Probleme lösen und braucht dazu Ideen. Der Lohn der Anstrengung liegt nicht in irgendeinem Sieg – den gibt es am Schluss zwar auch, nämlich als Sieg über ein Ungeheuer –, sondern in den gelösten Problemen. Außerdem ist SuperMario auch ein Märchen, und was hast du gegen Märchen?

Sie: Mario soll ein Märchen sein? Diese wie von einer Tarantel gestochen herumrennende Comic-Figur vergleichst du tatsächlich mit einem Märchen?

Er: Mario ist zwar Klempner von Beruf, aber in Wahrheit natürlich der klassische Prinz. Er erfährt, dass seine Freundin, die Prinzessin Toadstool, von einem Ungeheuer gefangen gehalten wird. Also versucht er, sie zu befreien. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg, auf dem gefährliche Abenteuer zu bestehen sind, und zwar mit Geschick, hoher Konzentration und Intelligenz. Zum Schluss aber muss das Ungeheuer natürlich besiegt werden. Also, wenn das kein Märchen ist ...

Sie: Na gut, Mario mag ein Märchen sein, aber ein ziemlich primitives. In guten Märchen begegnen dem Kind Persönlichkeiten, die ein Innenleben und einen Charakter besitzen, die gutmütig, tapfer, hinterlistig oder schlau sind. Mario dagegen ist ein Maschinchen in Menschengestalt, das keinerlei Regung zeigt, und alle anderen Figuren dieses Videospiels sind ebenfalls Maschinchen, die auf programmierte Weise reagieren. Dieser Mario redet ja kein Wort, kann gar nicht reden, sondern nur handeln, und das Handeln beschränkt sich auf Rennen, Schwimmen, Treten und Springen. Gefühle zeigt Mario nicht.

Er: Aber die spielenden Kinder reden und zeigen Gefühle. Sie beraten über Lösungsstrategien und sie hoffen, bangen, freuen sich und ärgern sich. Mario ist ein Jump-and-Run-Spiel, ein Kampf. Beim Kämpfen stört Gerede nur. Im übrigen: Auch das Verhaltensrepertoire klassischer Märchenfiguren ist begrenzt.

Sie: Aber diese begrenzten Figuren sind Menschen, Tiere, Geister, Zauberer, Ungeheuer, Helden und Feiglinge – ein ganzes Universum menschlicher Leidenschaften, während diese jämmerlichen Videospielfiguren nichts weiter sind als verschiedene Varianten von Kampfmaschinchen. Ich glaube kaum, dass das die Form von Märchen ist, die Kinder brauchen, um etwas über die Welt zu lernen.

Er: ... Mario nimmt doch unseren Kindern die Märchen nicht weg, sondern gibt ihnen etwas dazu, was kein normales Märchen zu bieten hat und was der Hauptgrund für die Faszination von Videospielen ist: Das Kind kann in das Märchen eingreifen und bestimmen, was der Held tut. Ob Mario zum Ziel kommt, hängt davon ab, wie geschickt das Kind ist.

Sie: Ich würde mich ja gar nicht so aufregen, wenn Mario nicht diesen Suchtcharakter hätte. Die Kinder können überhaupt nicht mehr aufhören und nichts anders mehr tun und sich für nichts anderes mehr interessieren. Das kann einfach nicht gut sein.

Er: Wenn sich Kinder stundenlang mit einem einzigen Spiel beschäftigen und dabei sich selbst, die Zeit und ihre Umwelt vergessen, kann das Spiel nicht schlecht sein. Davon abgesehen spricht aus dir eine typisch deutsche Vorstellung von Pädagogik. Wenn Kinder stundenlang hölzerne Klötzchen aneinanderlegen, gilt das im anthroposophisch angemuckerten Deutschland als pädagogisch wertvoll. Spielen sie Mario, geht das Abendland unter.

Sie: Kein Kind legt stundenlang Klötzchen, sondern nur eine bestimmte Zeit, danach macht es wieder etwas anderes, und das erscheint mir gesünder und normaler als dieses obsessive Videospielen, bei dem die ganze Aktivität im Drücken von ein paar Knöpfen besteht. Du kannst doch nicht bestreiten, dass es für unsere Kinder gesünder wäre, sich draußen auszutoben, statt passiv und mit krummem Rücken vor der Glotze zu hocken.

Er: Du sitzt doch auch stundenlang herum und liest. Deine ganze Aktivität besteht im Umblättern von Seiten. Auch das ist Suchtverhalten.

Sie: Absurder Vergleich! Erstens gehört das Lesen zu meinem Job, zweitens müssen meine Knochen nicht mehr wachsen, und drittens weißt du selbst, dass sich beim Lesen die Aktivität im Kopf abspielt.

Er: Genau wie bei Mario.

Sie: Jetzt hör mal. Ich komme nach Hause, freue mich auf die Kinder, und die ignorieren mich einfach, sagen nicht mal Guten Abend, und der Einzige, der mich noch begrüßt, ist der Hund. Das mache ich nicht mehr mit. Mario oder ich!

Er: Jetzt mach’s nicht dramatischer, als es ist. Die Lösung kann nicht sein, den Kindern das Spiel wieder wegzunehmen. Sie müssen eben lernen, das Spiel in den Griff zu kriegen. Das Spiel darf nicht die Kinder beherrschen, sondern die Kinder müssen lernen, das Spiel zu beherrschen. Und die Zeit, die sie damit verbringen, zu begrenzen und allmählich zu verringern.

Sie: O. k., ich gebe euch vier Wochen.

Vier Wochen reichten nicht. Aber ungefähr acht Wochen später normalisierte sich das Leben wieder. Die Faszination von SuperMario ließ langsam, aber stetig nach.

Die Kinder hockten immer seltener vor der Konsole und spielten immer häufiger wieder draußen, in der Wohnung und auf dem Dachspeicher, und auch der Vater fand wieder zu seiner normalen Arbeit zurück. Wir lernten daraus: Man soll zwar in der Erziehung nicht alles gleichgültig hinnehmen – man soll aber auch nichts überdramatisieren. «Das verwächst sich», sagten unsere Großmütter immer, wenn unsere Mütter dieses und jenes an uns auszusetzen hatten.

Ein weises Wort – auf das Eltern sich viel häufiger verlassen sollten. Statt alles gleich therapieren zu wollen, sollte man öfter einfach darauf warten, dass etwas von selbst vergeht.

Jedoch: Manches, was sich scheinbar schon verwachsen hatte, kehrt plötzlich wieder, wie das nächste Kapitel zeigt.

NACHSPIEL

Einige Zeit nach diesem Ehekrach – wir waren inzwischen in eine andere Stadt gezogen – bekamen wir von der Lehrerin unseres damals siebenjährigen Sohnes gesteckt, dass dieser seine eigenen Angelegenheiten nicht mehr auf die Reihe kriegte. Er lieferte unvollständige Hausaufgaben ab, er wusste nicht, wo sein Mathematik-Übungsheft geblieben war, ein bestimmtes Lehrbuch schien sich über Nacht in Luft aufgelöst zu haben.

Wenn er von der Schule nach Hause kam, hatte er entweder irgendein Heft oder Buch vergessen, oder seine Jacke oder seinen Anorak oder alles zusammen. Im Diktat machte er in drei Sätzen vier Fehler, es haperte im Rechnen, und an jedem zweiten Tag wusste er nicht mehr, was er aufhatte.

Wir hatten seit längerem etwas besorgt beobachtet, wie der Bub vom Fernseher zur Videospielkonsole wanderte, von dort zum Computer, und von diesem wieder zum Fernseher. Zwar spielt unser Sohn zweimal in der Woche im Verein Fußball und geht täglich mit dem Hund spazieren, klettert gelegentlich auf Bäume, aber das ist auch schon alles, was er sich an körperlicher Bewegung zumutet. Er ist nur schwer zu überreden, mit seinen Freunden draußen zu spielen oder mit dem Spielzeug irgendetwas anzufangen, das in seinem Kinderzimmer überreichlich vorhanden ist. Am liebsten würde er Tag und Nacht vor irgendwelchen Monitoren sitzen.

Da war sie wieder, die überwunden geglaubte Spielsucht.

Als wir deshalb ein ernstes Wort mit ihm reden, zeigt er sich zwar einsichtig, aber schon am nächsten Tag kommt er wieder ohne jenes Heft nach Hause, das er für seine Hausaufgaben braucht. Damit ist der Ofen aus. Wir aktivieren die Kindersicherung im Fernseher, bauen die Videospielkonsole ab und sperren unsere drei Computer mit einem Passwort.

Unser Bub schaut traurig zu, ohne Murren. Und siehe da: Er holt ein Spielbrett aus dem Regal und spielt mit seinem Freund Mensch-ärgere-dich-nicht. Anschließend gehen sie in ein nahe liegendes Wäldchen und bauen ein Baumhaus. Und wir üben verstärkt Schreiben und Rechnen.

Elternglück.

Die folgenden Nachmittage verbringt der Sohn überwiegend bei seinen Freunden. Wir schöpfen Verdacht, finden heraus: Jetzt hockt er bei seinem Freund vor der Glotze, der Videokonsole und dem PC.

Wir sprechen mit den Eltern darüber. Die haben mit ihrem Sohn – es sind anscheinend immer nur die Söhne, selten oder nie die Töchter – das gleiche Problem. Wir vereinbaren: Kein Fernsehen mehr, Videospiele raus, PC mit Passwort gesichert.

Das nützt natürlich gar nichts, denn nun gehen beide zu einem dritten Freund. Wir sprechen mit den Eltern dieses Freundes, die kennen das Problem auch, willigen erfreut ein in den Vorschlag, die Kisten zu sperren, aber nun gehen die drei zum vierten Freund.

Ein viertes Mal intervenieren wir noch, beim fünften Mal geben wir es auf, nicht nur aus Resignation, sondern auch, weil sich durch die Sperre in den anderen vier Familien das Gedaddel von selbst verringert, denn die Gelegenheit, bei den verbliebenen Freunden zu daddeln oder vor dem Fernseher zu hängen, besteht höchstens noch zweimal pro Woche.

Nach einiger Zeit bessern sich auch die Leistungen unseres Sohnes im Diktat und im Rechnen. Er vergisst sein Heft oder seinen Anorak nur noch jeden zweiten Tag, und inzwischen kommen auch schon mal Tage, an denen er alles auf die Reihe kriegt. Nicht immer, aber, ganz langsam, immer öfter.

Wir haben später das strenge Verbot wieder etwas gelockert und dabei gemerkt: Wenn wir nicht ständig aufpassen, verfällt er wieder in den alten Trott. Unser Sohn bekommt den Umgang mit Fernsehen, Video- und Computerspielen allein noch nicht in den Griff. Wir müssen das weiterhin reglementieren, und wir sind uns inzwischen auch sicher: Zwischen der Spielsucht und seinen Leistungen in der Schule besteht ein Zusammenhang. Er ist erfolgreicher, und auch besser organisiert, wenn er weniger Zeit vor den Monitoren verbringt.

Inzwischen haben wir die Videospielkonsole völlig verschwinden lassen. Wir hätten gern, dass er die schwarze Box ganz vergisst, aber das wird nicht gelingen, denn sie steht weiter bei einigen seiner Freunde herum. Viel Zeit, dort mit Fernsehen oder Videospielen seine Zeit zu vertrödeln, hat er jetzt aber nicht mehr. Wir achten darauf, dass er sich sinnvoll beschäftigt. Sport, Klavier, Malkurs, die Hausaufgaben, Spiele mit den Nachbarskindern, bei denen keine Konsole steht – das füllt ihn jetzt weitgehend aus. Ein gelegentliches Videospiel bei Freunden – das wird ihm nicht schaden.

Dass Kinder zu häufig und zu lange vor Monitoren herumhängen, ist nicht erst seit heute ein Problem. Aber es hat sich verschärft, seit es das Privatfernsehen gibt und Video- und Computerspiele in die Kinderzimmer eindringen. Und es wird sich noch einmal verschärfen, wenn Settop-Boxen, digitales Fernsehen und das Internet zum Universalmedium verschmelzen.

Nicht nur unseren eigenen Kindern schadet überlanges Sitzen vor den Monitoren, sondern auch den Kindern von Millionen anderer Eltern. Darum sind Fernsehen, Video- und Computerspiele kein Privatproblem der Familie Nürnberger-Gerster, sondern eine öffentliche Angelegenheit, über die öffentlich debattiert werden muss. Und darum sind nicht nur die Eltern in der Pflicht, über das Konsumverhalten ihrer Kinder zu wachen. Auch Medienkonzerne wie Bertelsmann oder Kirch stehen in der Verantwortung, ebenso die Fernsehsender, die Werbeagenturen, die Produzenten von Spielfilmen, Software und Videospielen und die Hersteller der zugehörigen Hardware.

Wenn diese Medienproduzenten ihrer Aufgabe nicht gerecht werden, weil sie sich hauptsächlich oder ausschließlich ihren Aktionären verpflichtet fühlen, dann sind die Politiker aufgerufen, gemeinsam mit den Eltern die Medienprodukte wieder unter Kontrolle zu bekommen. Auch das muss Thema unserer Familien- und Bildungspolitik werden.

Gegenwärtig gibt es darüber keine öffentliche Debatte. Stattdessen arbeitet die Lobby der Medienproduzenten in aller Stille daran, sich der letzten noch bestehenden Fesseln zu entledigen, wie wir später noch sehen werden. Nicht mehr, sondern weniger Kontrolle durch den Staat und öffentliche Einrichtungen ist ihr Ziel.

Wenn sich diesem Bestreben niemand widersetzt, dann werden die Eltern demnächst ganz allein dastehen und erleben, dass sie damit überfordert sind. Welche Eltern wären denn in der Lage, sich über das tägliche Angebot von 40 Fernsehsendern zu informieren? Zu kontrollieren, welche Angebote ihre Kinder im Internet abrufen, und den Überblick über Hunderte von Video-und Computerspielen zu behalten?

Natürlich ist der Wunsch nach staatlicher Kontrolle und Zensur immer ein Problem in einer Gesellschaft, die der Informationsfreiheit Verfassungsrang einräumt. Aber dieser hohe Rang verpflichtet nicht nur den Staat, sondern verlangt auch von den Informationsanbietern ein großes Verantwortungsbewusstsein. Und der Ruf nach Zensur und staatlicher Kontrolle wird umso lauter, je weniger sich die Informationsanbieter um ihre Inhalte und deren Wirkung insbesondere auf Kinder und Jugendliche kümmern. Die Lage verschärft sich durch jene schwer kontrollierbaren pornographischen und rechtsradikalen Inhalte, die massenhaft übers Internet verbreitet werden.

Manche Eltern sehen nur noch die Möglichkeit, sämtliche Fernseher aus dem Haus zu verbannen, Video- und Computerspiele gar nicht erst hereinzulassen und Computer, wenn überhaupt, nur offline zu betreiben. Tun sie damit ihren Kindern einen Gefallen? Das bezweifeln wir. Man kann die Medien zwar aus seinem Haus verbannen, aber nicht aus der Realität. Die Medien gehören zu unserem Leben, und es kommt darauf an, sie zu beherrschen.

Genau das müssen unsere Kinder mühsam lernen. Aber wir wehren uns dagegen, dass damit die Familien allein gelassen werden und alle anderen sich jeglicher Verantwortung entziehen. Hier auf freiwillige Selbstkontrolle der Medienproduzenten zu setzen oder gar allein auf den Markt, halten wir für einen gefährlichen Irrtum.

Wir wehren uns auch dagegen, Erziehung ausschließlich als Privatsache der Eltern und Angelegenheit der Schulen zu betrachten. Erziehung ist wie Bildung keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Sie geht alle an, und darum ist eine öffentliche Debatte über Erziehung dringend nötig.

WARUM WIR DIESES BUCH SCHREIBEN

Ungefähr zu jener Zeit, als wir versuchten, unseren Sohn vom Videospiel abzubringen, hörten wir wieder die Fanfare. Sie schrillt immer öfter. Ihr Ton ist uns gut vertraut, ihre Melodie eher schlicht, der Pegel aber immer am Anschlag. Gestoßen wird die Fanfare von den Herren der Wirtschaft und ihren Vertretern.

An jenem Tag im Sommer 2000, als die Fanfare wieder ertönte, war zufällig Dieter Hundt dran, der Arbeitgeberpräsident. Seine Forderung lautete: «Lehrer in die Wirtschaft.» Und: «Wirtschaft als Lehrfach an der Schule.» Die Arbeitgeber sind unzufrieden mit dem Personal, das die Schulen an die Unternehmen liefern. Seit Jahren klagen sie: zu viel Theorie, zu wenig Praxis, zu viel Zeit an der Schule und an der Uni verbracht, schlecht vorbereitet auf das Berufsleben, unselbständig, unmotiviert und so weiter und so weiter.

Wir haben nichts gegen Wirtschaft als Lehrfach an der Schule. Aber an diesem Tag ist uns die hundtsche Trompete besonders stark auf die Nerven gegangen, weil uns scheint, dass die Fanfaren der Standortkrieger seit etlichen Jahren alles übertönen, was in unserem Land sonst noch so gesagt und gespielt wird.

Der Versuch der Wirtschaft, Einfluss auf Schule und Hochschule zu nehmen, ist legitim. Und heute, ein Jahr später, sind wir Herrn Hundt sogar dankbar dafür, denn er hat mit seinen lautstark vorgetragenen Forderungen eine längst überfällige Debatte über unser Bildungssystem angestoßen. Aber es ist bezeichnend, dass diese Debatte erst in Gang kam, nachdem die Wirtschaft auf unsere Bildungsmisere aufmerksam gemacht hatte.

Lange zuvor schon hatten Schüler, Lehrer und Eltern gegen Unterrichtsausfall, Lehrermangel und schlechte Bildung und Ausbildung demonstriert und jahrelang auf die Reformbedürftigkeit unseres Bildungswesens hingewiesen. Ohne jegliches Echo. Mindestens zwanzig Jahre lang haben sich Politiker und die Öffentlichkeit nicht dafür interessiert, was eigentlich in den Schulen los ist. Erst als Herr Hundt trompetete, nahmen auch die Medien wahr, dass unser Bildungssystem marode ist.

Das lässt uns – bei aller Freude über die endlich begonnene Debatte – fürchten, dass die Politiker bei der Gestaltung notwendiger Reformen vor allem auf die Wirtschaft hören und sich von deren Interessen leiten lassen. Eltern, Lehrer und Schüler haben aber ebenfalls ein legitimes Interesse an der Gestaltung unseres Bildungssystems.

Von denen hören wir jedoch nichts. Entweder, weil ihre leisen Stimmen im Trommelfeuer der Wettbewerbs-Kreuzzügler untergehen, oder weil sie verstummt sind und es aufgegeben haben, gegen den Lärm der Standortkommandanten etwas auszurichten.

Deshalb schreiben wir dieses Buch. Wir wollen das Feld nicht den Arbeitgebern und deren Lobbyisten überlassen. Darum mischen wir uns ein – nicht als Erziehungswissenschaftler oder Bildungsforscher, sondern als «Laien», als Eltern, die sich um die Zukunft ihrer Kinder sorgen und fast täglich mit den Stärken und Schwächen, den Fehlern und Versäumnissen unseres Bildungssystems konfrontiert werden.

Dabei geht es uns nicht um die Frage, ob «daß» künftig «dass» geschrieben wird oder «aufwendig» mit ä. Ob die Schule zwölf oder dreizehn Jahre dauern soll, welche Fächer mehr Wochenstunden bekommen sollen, ob wir ein europäisches Abitur brauchen und ob die Richtlinien der Kultusministerkonferenz mit Weisheit getränkt sind oder eher mit Bürokratenverstand. Das sind Fragen, die uns keine schlaflosen Nächte bereiten. Was uns dagegen Sorgen macht, sind beängstigende Berichte aus unseren Kindergärten und Schulen – Meldungen über sprachgestörte Kinder, ausgebrannte Lehrer, verhaltensauffällige Schüler, disziplinlose Schulklassen und gewalttätige Jugendliche.

Und noch mehr sorgt uns, dass die Öffentlichkeit, die Verbandsfunktionäre der Wirtschaft und die Politiker nicht über diese Phänomene sprechen, sondern lieber die fehlenden Internetanschlüsse der Schulen beklagen. Es ist absurd, wenn einige besonders eifrige Ideologen und Pädagogen sich darüber streiten, ob man Kinder schon mit drei oder erst mit fünf Jahren an den Computer setzen sollte. Das «Surfen» genannte Herumgeklicke in einem Internetbrowser zu einer neuen «Kulturtechnik» hochzustilisieren, halten wir für gewagt. Die Angst vor Computer-Analphabetentum erscheint uns übertrieben – weil wir an unseren eigenen Kindern sehen, dass sie den Umgang mit dem Computer, wie das Radfahren, fast allein und wie von selbst erlernen.

Wir verstehen, dass alle im elektronischen Kommerz engagierten Unternehmer voller Ungeduld den Tag herbeisehnen, an dem endlich jeder Deutsche in der Lage ist, seine Bestellungen via Internet zu tätigen. Wir bitten aber auch um Verständnis, dass wir den Drang unserer Kinder ins Internet eher bremsen als beschleunigen. Nicht nur, weil wir fürchten, dass die Kleinen unsere Kreditkarte zu sehr belasten, sondern auch aus anderen Gründen, die jeder versteht, der das Internet kennt, und auf die wir im Kapitel «Schulen ans Netz?» noch zu sprechen kommen.

Mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und fehlende Internetanschlüsse der Schulen scheinen für manche das wichtigste Bildungs- und Erziehungsproblem überhaupt zu sein – und die Bundesbildungsministerin sieht das offenbar genauso. Kaum hatte Herr Hundt sich geäußert, überraschte Frau Bulmahn uns mit dem Plan, jeden Schüler mit einem Laptop zu beglücken.

Wir sehen ein: Wirtschaft, Computer, Internet, die digitale Technik, das sind Realitäten, an denen niemand vorbeikommt, schon gar nicht die Schule. Wir befinden uns mitten in einem historischen Umbruch, dessen Basis Computer, Internet und Gentechnik sind. Das muss sich in der Schule und in unserem gesamten Bildungssystem niederschlagen.

Lehrer und Schüler werden sich künftig auseinander setzen müssen mit Begriffen wie New Economy, Globalisierung, digitaler Kapitalismus, Biotechnologie, Nanotechnologie, Wettbewerb, Markt und auch mit der Rolle demokratischer Nationalstaaten in einer globalen Wirtschaft.

Wir akzeptieren aber nicht, dass dieser Umbruch zu einem Problem der PC-Ausstattung unserer Schulen verkürzt und in der öffentlichen Diskussion der Eindruck erweckt wird, man müsse nur endlich alle Schulen ans Netz hängen und jedem Schüler seinen Laptop geben, und alles sei gut.

Wahrscheinlich werden sich unter dem Zauber der Laptops und dem Glanz des Internets die hässlichen Betonklötze, in die wir unsere Schüler zwängen, von selbst verschönern. Uns als Eltern zweier Schulkinder wäre zwar lieber, wenn die Kultusminister endlich mehr Lehrer einstellten und in den Schulen nicht dauernd der Unterricht ausfiele. Und für viele berufstätige Eltern wäre es eine große Hilfe, wenn ihre Kinder nachmittags an den Schulen betreut werden könnten. Aber vielleicht verkleinert ja der Zauberlaptop die Klassen von selbst und bringt aus dem Nichts zahlreiche bestens ausgebildete und motivierte Lehrer hervor, die sich auch noch am Nachmittag begeistert um ihre Schüler kümmern. Möglicherweise vergessen die Schüler aus lauter Begeisterung über ihre neuen Laptops das Dealen mit Drogen auf dem Schulhof.

Die Wirtschaft fordert – die Politik reagiert

Die PC-Ausstattung einer Schule ist wohl kaum das Kriterium für deren Qualität. Computer sind ein Nebenproblem. Wir fürchten, dass für die Lösung dieses Nebenproblems so viele Milliarden verpulvert werden, dass für den Kampf gegen den eigentlichen Notstand – Lehrermangel, Raumnot an den Schulen, veraltete Lehr- und Unterrichtsmethoden, Reformstau im Bildungssystem, Vernachlässigung der Erziehung aus Zeitmangel, aggressive, überforderte, verwöhnte, verwahrloste Kinder – keine Mark mehr übrig bleibt.

Es muss klar gesagt werden: Wir haben keinen Internet-Notstand, sondern einen Erziehungsnotstand.

Auf diesen Notstand hinzuweisen scheint uns auch deshalb geboten, weil ein schon lange zu beobachtender Trend nun auch unsere Schulen erreicht hat: der Trend zum Primat der Ökonomie. Unter diesem Primat wird das, was wir einmal unsere Heimat genannt haben, seit etlichen Jahren zum Industriestandort planiert, an dem alles unterbleibt, was sich erst nach langer Zeit oder gar nicht rechnet.

Unter diesem Primat verkümmert Politik zur möglichst schnellen und reibungslosen Anpassung an echte oder vermeintliche Erfordernisse des internationalen Wettbewerbs. Die Marketingstrategen der jeweils regierenden Politiker verkaufen uns die Vollstreckung angeblicher Sachzwänge und den Verzicht auf einen eigenen Gestaltungswillen als «Modernisierung». Unter dem Primat der Ökonomie verkommen unsere Universitäten zu bloßen Zulieferbetrieben der Wirtschaft. Der Zweck solcher Hoch- und Fachhochschulen erschöpft sich in der Lieferung von Personalnachwuchs, «Human Resources» – also Menschenmaterial für die Schlacht um Marktanteile, Technologietransfer und Know-how.

Wenn wir in Deutschland den Mangel an Experten für Informationstechnik «schneller beseitigen können als anderswo», dann «sind wir plötzlich ein rohstoffreiches Land», sagt Thomas Heilmann, den Direktor der Werbeagentur Scholz & Friends. Und der Rohstoff, der «ist da drin», sekundiert der Mathematik-Professor Josef Nietzsch, der mit dem Zeigefinger an seiner Schläfe bohrt.1

Rohstoffe, Know-how, Technologien, Computer, Internet, IT-Experten – das sind die Begriffe, die unsere Debatten dominieren. Von Bildungszielen ist nicht mehr die Rede, es sei denn, man lässt «Wettbewerbsfähigkeit» als Bildungsziel gelten. Es wäre dann das einzige, das wir noch haben, und unser Bildungssystem wäre konsequenterweise eine Einrichtung, in die man vorne einen Schüler hineinschiebt und hinten einen Siemens-Ingenieur herauszieht.

So ein Bildungssystem wollen wir nicht.

Um Miss Verständnissen vorzubeugen: Uns scheint die Klage der Wirtschaft über die Praxisferne unserer Hochschulen nicht durchweg unberechtigt. Selbstverständlich können die durch Computer und Internet ausgelösten Entwicklungen nicht spurlos an unserem Bildungssystem vorbeiziehen. Und wir verkennen nicht die Nöte einer Wirtschaft, die einem globalen Wettbewerb von beispielloser Härte ausgesetzt ist.

Aber uns ärgert, dass Bildung in den letzten zwei Jahrzehnten kaum ein Thema war und jetzt nur deshalb zum Thema wird, weil der Industrie die Programmierer und Netzwerkspezialisten fehlen und den Bildungsministern die Lehrer, die sie zwei Jahrzehnte lang nicht eingestellt haben. Uns ärgert, dass die politische Willensbildung in unserem Land generell nach diesem Muster abzulaufen scheint – die Politik reagiert erst, wenn es die Wirtschaft fordert oder erlaubt.

Nach dem gleichen Prinzip ändern sich jetzt auch die Ausländer- und die Familienpolitik. Ein Viertel Jahrhundert lang haben Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefordert. Vergeblich. Und seit einem Vierteljahrhundert ist bekannt, dass die Deutschen wegen des Geburtenrückgangs auszusterben drohen. Konsequenzen hatte das nicht.

Erst jetzt, da der Wirtschaft die qualifizierten Frauen fehlen und sie zu erahnen beginnt, wie eine alternde, schrumpfende Bevölkerung die Bilanzen zu verhageln droht, fordern auch konservative Politiker und Funktionäre Ganztagsschulen, mehr Geld für die Familien und den problemlosen Wechsel zwischen Familie und Beruf.

Ohne den Segen der Wirtschaft scheint also in unserem Land nichts mehr zu gehen, und schon gar nichts gegen sie. Für ein demokratisches Land, in dem nicht die Wirtschaft, sondern das Volk der Souverän ist, ist das ein untragbarer Zustand. Wir möchten, dass im Ganzen, wie in seinen Teilen, der Politik wieder der Vorrang vor der Ökonomie gebührt.

Wir halten nichts davon, klassische Bildungsziele zugunsten von bloßer Wettbewerbsfähigkeit und technisch-wirtschaftlicher Tüchtigkeit über Bord zu werfen. Wir wollen, dass unsere Schulen und Universitäten wieder dem Zweck dienen, für den sie ursprünglich einmal erfunden worden sind: Bildung und Erziehung. Das ist mehr als bloßes Fitmachen für künftige Jobs, das ist mehr als bloße Vermittlung von Wissen, Kenntnissen und Fertigkeiten, und es ist mehr als die bloße Anpassung der Kinder und Jugendlichen an die Vorgaben des Arbeitsmarkts.

Noch behaupten ja unsere Wirtschaftsfunktionäre und die ihnen zugeneigten Leitartikler und Politiker, wenn sie mal besonders feierlich werden, ein paar höhere Ziele zu kennen als nur Wettbewerbsfähigkeit. Noch beschwören unsere Eliten die Wertegesellschaft, in der wir angeblich leben. Das mag von vielen bloß noch geheuchelt sein, aber selbst der, der heuchelt, der also öffentlich die Norm lobt, und heimlich dagegen verstößt, erkennt damit immerhin die Gültigkeit der Norm noch an. Wenn die Norm «Wertegesellschaft» also gültig ist, dann können nicht die Normen einer Wertpapiergesellschaft zu Bildungszielen erhoben werden.

Darum meinen wir: Nicht nur Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker sollten die Schule und ihre Schüler vor dem Zugriff der Wirtschaft schützen, sondern die Wirtschaft selbst sollte in ihrem eigenen Interesse mehr Zurückhaltung üben und der Schule den Freiraum überlassen, den sie braucht. Gut erzogene und umfassend gebildete Menschen sind garantiert wettbewerbsfähiger als Ungezogene und Halbgebildete.

In immer kürzer werdenden Abständen beklagen sich die Lehrer über ihre unmotivierten, uninteressierten, schlecht erzogenen, faulen Schüler, schimpfen Eltern über unmotivierte, uninteressierte, häufig krankfeiernde Lehrer. Professoren stöhnen über studierunfähige Studenten, Politiker warnen vor wachsender Jugendkriminalität, Neonazismus, Gewalt an den Schulen und unter Jugendlichen, und Wirtschaftsfunktionäre mokieren sich über die schlecht ausgebildeten Berufsanfänger und das stetig sinkende Niveau unserer Schulen und Hochschulen.

Wenn sie alle einsähen, dass der Grund ihrer Klagen nicht nur in den Eltern oder Schülern oder Lehrern und auch nicht allein in der Bildungspolitik zu suchen ist, sondern auch in unserer Konkurrenz-Gesellschaft und in unseren Trash-Medien, die alles tun, die Köpfe unserer Kinder und Jugendlichen mit ihrem medialen Junkfood zu verstopfen – wenn das von allen Beteiligten eingesehen würde und Konsequenzen hätte, dann wäre schon einiges in Bewegung gekommen. Dazu möchten wir mit diesem Buch beitragen.

Das Erziehungsvakuum

Es gibt aber noch einen wichtigen Grund, warum wir dieses Buch schreiben: Viele Kinder werden heute nicht mehr erzogen. Viele Eltern sind unfähig, nicht willens oder – wegen Berufstätigkeit – nicht in der Lage, ihre Kinder zu erziehen. Und eine wachsende Zahl von Eltern scheint ihre Gleichgültigkeit und Nicht-Erziehung mit Liberalität und Toleranz zu verwechseln. Die an Geld-, Zeit- und Lehrermangel leidenden Schulen sind überfordert in dem Bemühen, das Versäumte auszubügeln, oder bemühen sich erst gar nicht darum.

Und alle zusammen sind verunsichert. Wie soll man Kinder erziehen, wenn es anscheinend keine verbindlichen, allgemein anerkannten Werte, Normen und Vorbilder gibt? Wie soll man sich in den tausend Konflikten, in die man als Erzieher gerät, verhalten? Auf welche Ziele hin soll man erziehen? Soll man überhaupt noch erziehen wollen, ist es uns denn erlaubt, unsere Kinder nach unseren Vorstellungen zu formen? Oder ist Erziehung sowieso sinnlos?

Auf jede dieser Fragen hören wir Dutzende von einander widersprechenden Antworten. Wir haben also nichts Gesichertes, nichts, worauf wir uns verlassen könnten. Darum beschränken viele Lehrer wie Eltern ihre erzieherischen Bemühungen auf ein Minimum oder stellen sie gleich ganz ein.

Wenn es aber schon mit der Erziehung nicht mehr klappt, dann klappt es mit der Bildung erst recht nicht mehr, denn lehren und unterrichten kann man nur Menschen, die zuvor erzogen worden sind.

Lernen in größeren Gruppen funktioniert nur, wenn die einzelnen Gruppenmitglieder die Mindeststandards des menschlichen Zusammenlebens beherrschen. Bildung setzt Erziehung voraus. Unsere Bildungsmisere ist eine Folge unseres Erziehungsnotstands. Wer eine bessere Bildung will, muss daher zuerst die Erziehung verbessern.

Weil wir in Erziehungsfragen unsicher geworden sind, entsteht ein Erziehungsvakuum, in das wie von selbst alles Mögliche eindringt, nur nichts Gutes. Allein schon aus diesem Grund – weil dieses Vakuum gefüllt werden muss und weil es sich von selbst mit allerlei Unrat füllt, wenn wir es nicht verhindern – haben wir gar keine andere Wahl, als zu erziehen.

Wie aber ist Erziehung möglich in einem Klima des permanenten Wertewandels und Werteverfalls und in einer Gesellschaft, deren letzte verbindliche Wahrheit lautet, dass es letzte verbindliche Wahrheiten nicht gibt? Über diese Frage, die wichtiger ist als alles, was auf Kultusministerkonferenzen verhandelt wird, müssen wir diskutieren. Dazu wollen wir einen Anstoß geben.

Seit vier, fünf Jahren werden Lernprogramme entwickelt, PC-gestützte Unterrichtsmodelle erprobt, Schulen und Universitäten vernetzt und Schulen für Computerkids gebaut. Es wird Zeit, dass man in dieser Experimentierwut mal einen Augenblick innehält und ein erstes Resümee zieht. Wir möchten dazu eigene Erfahrungen mit unseren Kindern und ein paar Fragen und Anregungen aus Elternsicht beisteuern.

Soll, kann die Schule Werte vermitteln? Ja, sie sollte, meinen wir, wissen aber nicht, ob sie es auch kann, denn dafür müsste die Gesellschaft hinter ihr stehen, ihr sagen, woran sie glaubt, und sie müsste der Schule und den Schülern die Werte glaubwürdig vorleben.

Aber weiß denn unsere Gesellschaft noch, woran sie glaubt? Glaubt sie überhaupt noch an irgendetwas? Auf solche Fragen Antworten zu finden – das ist für uns ein weiterer Grund, dieses Buch zu schreiben.

KRISENHERD FAMILIE