Was wir erleben und erfahren, erkennen und wissen,
ist notwendigerweise aus unseren eigenen Bausteinen gebaut
und lässt sich auch nur aufgrund unserer Bauart erklären.
(von Glasersfeld 1991, S. 35)
Das vorliegende Buch befasst sich mit dem Phänomen des „Herausfordernden Verhaltens“ bei Personen mit demenziellen Veränderungen auf der interaktiven Ebene. Den aktuellen Daten zufolge leiden ca. 1,2 Millionen Menschen an einer demenziellen Erkrankung, diese Zahl wird bis zum Jahre 2050 auf 2 Millionen Betroffenen ansteigen (vgl. Weyerer 2005; Bickel 2006). Herausfordernde Verhaltensweisen sind bei Patienten1 in der stationären Langzeitpflege bis zu schätzungsweise 11–65 %2 zu beobachten; in den USA werden ca. 43–93 % angegeben (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2006, S. 8). Den Pflegeberufen kommt bei der Versorgung dieser Personen eine zentrale Rolle zu, weil sie in der Regel über einen längeren Zeitraum eine hohe Interaktionsintensität zu den Betroffenen haben. Beruflich Pflegende fühlen sich oftmals durch das psychisch stark belastende und schwer zu beeinflussende Verhalten der Patienten hilflos und überfordert.
Die taxonomische und inhaltliche Bestimmung der Qualität der Pflege von Personen mit demenziellen Veränderungen ist zwischenzeitlich einem pflege- und bezugswissenschaftlichen Konsensusverfahren unterzogen und der Stand der Wissenschaft und guten Pflegepraxis in der „Rahmenempfehlung zum Umgang mit herausforderndem Verhalten“ bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe“ durch umfassende Studienergebnisse repräsentativ bestätigt worden (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2006, S. 134). Die Guideline umreißt, mit welchen Pflegekonzepten und unter welchen strukturellen und auch ethischen Bedingungen die Pflege von Personen mit demenziellen Veränderungen mit dem Phänomen gelingen kann. Es ist kritisch anzumerken, dass die Expertise die interaktive Ebene zum adäquaten Umgang mit dem Phänomen nicht explizit kommentiert.
Als ein differenziertes Risikoprofil ist es erforderlich, diese bedeutsame Ebene in die Identifikation von Mängeln bei der Entstehung des Phänomens mit einzubeziehen und besonders psychosoziale Kompetenzen, z. B. Empathie, Selbstreflexionsfähigkeit sowie ausdrucksdialogische Fähigkeiten bei Pflegenden mehr zu betrachten.
Bedingt ist der in der Rahmenempfehlung gemachten Aussage zuzustimmen, dass das Phänomen im Verlauf eines demenziellen Prozesses stark zunimmt (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2006, S. 9). Das Phänomen tritt seltener primär durch den neurologischen Krankheitsprozess auf (vgl. Stechl et al. 2007), vielmehr sollte es auf der Interaktionsebene betrachtet werden, weil mit fortschreitendem kognitivem Abbau die Betroffenen für eine Verständigung mit ihrer Umwelt andere Interaktionsmuster benötigen (vgl. exempl. Höwler 2007a; Höwler 2007c). Je fortgeschrittener die demenzielle Veränderung, umso größer wird der Anspruch an die interaktiven Kompetenzen der Pflegenden (vgl. Kitwood 2000, S. 143).
Diese nicht unerhebliche Betrachtungsweise bleibt in der Rahmenempfehlung außen vor. Weiterhin wird in der Empfehlung die Aussage getroffen, dass das Phänomen für Pflegende als störend und problematisch empfunden wird und sie sich von den Verhaltensweisen der Betroffenen angegriffen fühlen (vgl. ebd., S. 5 f., 8).
Diese Aussage ist zu einseitig gefasst. Das Phänomen auslösende, bedeutsame Wirkungen von Interaktionsprozessen, welche zwischen Interaktionspartner ablaufen können, bleiben dabei unbeachtet (vgl. Brandenburg et al. 2003, S. 131).
Diametral zu dieser Mitteilung steht die folgende, zum Nachdenken anregende Rückmeldung einer interviewten gerontopsychiatrisch weitergebildeten Altenpflegerin: Demenzkranke sind die einfachsten Menschen, die zu handhaben sind (vgl. Int. 5). Dagegen argumentiert eine andere interviewte Pflegeexpertin, die in einer geriatrischen Rehabilitationseinrichtung tätig ist, wie folgt: Häufig ist der, welcher stört, der demenziell erkrankte Patient (vgl. Int. 11). Die Pflegende bekräftigt mit ihrer Einstellung die in der Expertise getroffene Aussage, dass sich Pflegende durch Verhaltensweisen der Betroffenen belastet fühlen.
Die meisten in der Guideline bewerteten nationalen und internationalen Studien, Leitlinien und Reviews stellen die Betrachtungsweise in den Mittelpunkt, herausforderndes Verhalten aus der Sicht der demenziell veränderten alten Menschen zu verstehen. Zu dieser Betrachtungsweise gehören sicherlich auch die Haltung von Pflegenden sowie ihre interaktiven Fähigkeiten, die für eine Verständigungsorientierung mit chronisch verwirrten Menschen bedeutsam sind.
Die in der Guideline einbezogenen bewerteten Studien zeigen keine wesentlichen Effekte auf, dass das Phänomen durch Pflegeinterventionen, z. B. durch eine validierende Gesprächsführung, Erinnerungspflege, Snoezelen etc. reduziert werden kann bzw. dass es gar nicht erst in Erscheinung tritt (vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2006, S. 91; Halek et al. 2006, S. 81). Somit sollte das Phänomen auf der persönlichkeitsbezogenen, mitmenschlichen Ebene, die primär bei den Pflegenden ansetzen sollte, untersucht werden, um den oben aufgezeigten kontroversen Aussagen der Pflegenden näher nachzugehen.
Das Buch basiert auf einer empirischen Untersuchung, deren praxisrelevante Ergebnisse für die Praxis aufbereitet und die Erkenntnisse der Guideline auf der Interaktionsebene erweitert wurden. Die Analyse konzentrierte sich dabei auf alte Menschen mit demenziellen Veränderungen in stationären Pflegeeinrichtungen: Altenpflegeheim, Psychiatrie, Neurologie, Gerontopsychiatrie und geriatrische Rehabilitation, die durch ihre Verhaltensproblematiken langfristig in Krisen und Isolation geraten können.
Um die interaktive Ebene aus der Perspektive von Pflegenden, im Kontext von herausforderndem Verhalten analysieren zu können, standen folgende Forschungsfragen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses:
Diese Fragen sollen in den folgenden Kapiteln beantwortet werden.
Nach den Ergebnissen einer Literaturrecherche, Begriffserklärungen, der Erläuterung von allgemeinen Kontexten zur Entstehung des Phänomens „herausforderndes Verhalten“ wird die Emotionstheorie von Weiner (1986) aufgenommen. Diese Theorie beschreibt eine bestimmte Abfolge von Kognitionen, Emotionen und Handeln, um das soziale Handeln der Pflegenden in kommunikativ schwierigen Situationen zu erklären. Da in der Pflege bisher auf kein Demenzmodell als Begründungsrahmen für demenzspezifisches Handeln zurück gegriffen werden kann, bietet der personzentrierte Ansatz von Kitwood (2000) ein Konzept für Anforderungen, die Pflegende für die Begleitung von Personen mit demenziellen Veränderungen hervor bringen sollten. Die Anteilnahme der Pflegenden in der Interaktion wird dezidiert im 2. Kapitel vorgestellt. Da Kitwood die Demenz als „Behinderung“ definiert (vgl. ebd. 2000, S. 25) und nicht als Krankheit, wird aus dieser bedeutsamen Erkenntnis heraus in diesem Buch der Begriff „demenziell veränderte Person bzw. Patient/Heimbewohner“ verwendet.
Im 3. Kapitel werden ausführlich Praxisbeispiele der Pflegenden zum Erleben und ihre Strategien dargestellt, im 4. Kapitel wird das Modell des „Interaktiven Verhaltens Pflegender“, welches sich aus der Relation zwischen dem Erleben sowie den Strategien der interviewten Pflegenden generieren lässt, vorgestellt. Schlussfolgerungen aus den Praxisberichten werden im 5. Kapitel referiert.
Im Anhang wird mit Hilfe des qualitativen Forschungsdesigns Einblick in die Methodik und Auswertung der Untersuchung gewährt. Im Zentrum der Untersuchung stand persönliches Erleben von Pflegenden. Mit Hilfe von 12 problemzentrierten Interviews, durchgeführt mit (geronto)psychiatrisch weitergebildeten Pflegenden, konnten Daten über das Erleben verschiedener Situationen von herausforderndem Verhalten gewonnen werden. Die Aussagen sollen das Verständnis von herausforderndem Verhalten bei chronisch verwirrten alten Menschen in Pflegeinstitutionen und internale Nöte der Pflegenden aufzeigen. Es wird deutlich, wie Pflegende Konfliktsituationen und Hilflosigkeit erfahren, wie sie damit den Pflegealltag erleben und welche Strategien sie anwenden, um mit dem Phänomen umzugehen, damit sie ein befriedigendes Pflegeoutcome verzeichnen können.
1 Mit dem Begriff „Patient“ wird der „Heimbewohner“ stets mit angesprochen.
2 Die Spannbreite der Zahlenangabe hängt mit der fehlenden gültigen Definition von „Verhaltensstörungen“ zusammen (vgl. Halek 2006).
Die Literatursuche nach relevanten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Erleben Pflegender von herausforderndem Verhalten bei Personen mit demenziellen Veränderungen erfolgte in den Datenbanken Medline, PubMed, Clinahl, Gerolit, Social Services Abstracts, Psyndex, Solis, Carelit sowie Google-Suchmaschine. Das Interesse wurde fokussiert auf qualitative und quantitative Studien, die sich auf den stationären Pflegebereich beziehen. Ziel sollte sein, möglichst verwertbare Aussagen über das Erleben Pflegender zum herausfordernden Verhalten sowie ihre Strategien zum Umgang zu gewinnen.
Mit folgenden Suchbegriffen in Verbindung mit Demenz (dementia) und stationärer (Alten)Pflege (nursing home staff, dementia care, nurses, long term care, older people) ist in den Datenbanken recherchiert worden:
Da die Begriffe Wahrnehmungen und Erleben synonym verwandt werden, wird zwischen diesen Begriffen kein Unterschied gemacht, so dass Erleben auch Wahrnehmung, Haltung und Erfahrung implizieren können.
Einbezogen sind Studien,
Die Suchstrategie ergab in den aufgeführten Datenbanken insgesamt über 150 Artikel als Studienberichte. Der Selektionprozess gliederte sich in drei Prozessschritte (vgl. Khan et al. 2004). Aufgrund der Sichtung der Titel und Abstracts wurden die meisten Studien ausgeschlossen, da sie für die Beantwortung der Forschungsfragen als nicht relevant bewertet worden waren. Im zweiten Prozessschritt konnten ausschließlich quantitative verwertbare Studien ausgewählt werden. Im dritten Prozessschritt wurden die verbliebenen Studien einer vertieften Bewertung der Qualität im Sinne der Fragestellung und der Validität durch die Levels of Evidence (vgl. Antes et al. 2003) unterzogen. Artikel, die den Qualitätskriterien nicht standhielten, wurden nach Bearbeitung vom weiteren Prozess der Literaturstudie ausgeschlossen. Insgesamt fünf Studien haben herausforderndes Verhalten bei Personen mit Demenz und darauffolgende Reaktionen Pflegender zum Inhalt. Die wichtigsten Studienerkenntnisse, im Zusammenhang mit dem Forschungsthema, werden nachfolgend präsentiert.
Die schwedische Studie von Hallberg und Norberg „Nurses experiences of strain and their reactions in the care of severely demented patients“ (1995) hatte zum Ziel, die Wahrnehmung von Pflegeexperten für Personen mit demenziellen Veränderungen bei Pflegehandlungen zu untersuchen, was die Pflegende als schwierige (schwierig in Bezug auf den Umgang) Patientenhandlungen einstufen, und ihre emotionalen Reaktionen, die sie bei der Durchführung der Pflege empfinden. Ein weiteres Ziel war es, die Beziehung von arbeitsverbundener Belastung und Burnout aufzudecken. In der Studie wurden 132 Pflegende mittels eines standardisierten Fragebogens zu den Sichtweisen in Bezug auf Handlungen am demenziell veränderten Patienten, z. B. „agitiert sein“,„unbändig sein“, „ein leeres Leben/Dasein führen“, „friedlich sein“, „abhängig sein“, „nicht ansprechbar/zugänglich und nicht kooperativ sein“, befragt und sollten jeweils eine Bewertung abgeben. Es wurde dabei auf die Maslach Burnout Inventory (MBI) und die Work Related Strain Inventory (WRSI) zurückgegriffen, um die übereinstimmende Aussagekraft/Stichhaltigkeit der Antworten zu testen. Die Auswertung der Studie brachte die Erkenntnis, dass innerhalb der Demenzpflege Pflegehandlungen bei einem agitierten Patienten am schwierigsten angesehen werden. Dieses Ergebnis stützt die Überzeugung, dass sowohl die Sichtweise der Pflegenden im Umgang mit demenziell veränderten Patienten genauso bedeutungsvoll ist als auch die Fähigkeit, eine kooperative Patienten-Pflegende-Beziehung zu entwickeln. Falls diese positive Pflegebeziehung nicht hergestellt wird, reagieren Pflegende im Umgang mit problematischen Pflegesituationen überfordert (vgl. Hallberg et al. 1995, S. 757).
In der Studie zur „Arbeitsbelastung des Pflegepersonals in Mannheimer Alten- und Pflegeheimen vor und nach Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung“ (vgl. Weyerer et al. 2000; Weyerer 2003) wird u. a. die Belastung Pflegender durch die häufige Konfrontation mit chronisch verwirrten aggressiven Personen mittels Fragebogenauswertung aufgenommen. Als ein bedeutsames Ergebnis dieser Studie werden aus Sicht der Pflegenden überdurchschnittlich häufig Probleme mit verwirrten, aggressiven und depressiven Heimbewohnern genannt. In Verbindung mit u. a. Wechselschichtarbeit, Personalmangel und Unterqualifizierung können diese Bedingungen zu einer geringen Arbeitszufriedenheit bei den Pflegenden führen.
Die Studie von Stanley et al. (2000) „Carer’s attributions for challenging behaviour“ verfolgte das Ziel, die Attributionstheorie des Helfens von Weiner (1986) auf die Pflege von Patienten mit herausforderndem Verhalten anzuwenden. Dazu wurden 50 Pflegende mit sechs Fallstudien konfrontiert, die sie bewerten sollten. Durch wiederholte Zweifaktoren-Messungen wurden die Effekte von herausforderndem Verhalten und Abhängigkeit von den Bewertungen der Pflegenden bezüglich der Attributions-Dimensionen und Affekte, z. B. Optimismus und Helfen untersucht. Folgende bedeutsame Erkenntnisse können aus der Studie gezogen werden: Je autonomer die Heimbewohner sind und ihr herausforderndes Verhalten gegen ihr unmittelbares Umfeld richten, desto negativer sind die Attributionen der Pflegenden, z. B. Kontrolle, negativer Affekt und eine geringe Neigung zu helfen. Je mehr selbst gerichtet und abhängig das herausfordernde Verhalten der Betroffenen ist, desto größer sind die Attributionen der Pflegenden, z. B. Stabilität, positiver Affekt und eine stärkere Neigung zu helfen (vgl. ebd. 2000, S. 157 f.).
Das Arbeiten mit mehr kognitiv beeinträchtigten Bewohnern, speziell in der Tagesschicht, ist bei Pflegenden mit einem hohen Grad von Stress verbunden. Das Ziel der Querschnittsanalyse mit dem Thema „Nursing home staff attitudes towards residents with dementia: strain and satisfaction with work“ von Brodaty et al. (2003) ist, die Einstellungen der Pflegenden im Pflegeheim gegenüber Personen mit Demenz sowie ihre Belastungen im Zusammenhang mit der Pflege von chronisch verwirrten Personen zu untersuchen. Aus dieser Studie, einer Befragung von 253 Pflegemitarbeitern aus 12 Pflegeheimen, sollten Pflegende ihre am meisten verbreiteten Wahrnehmungen bei den Betroffenen bewerten. Anhand der am häufigsten wahrgenommenen fünf Attribute: „agitierte Bewohner, die wenig Kontrolle über ihr Verhalten haben und unberechenbar sind“, „ängstlich/verletzlich sind“, „aggressiv/feindlich reagieren“ und „dickköpfig/widerspenstig reagieren“ zeigte sich die Erkenntnis, dass Pflegende am schwierigsten mit „aggressivem/feindlichem“ Verhalten der Betroffenen umgehen können. Die Einstellungen der Pflegemitarbeiter und ihre Belastungen wurden unter Benutzung der „Swedish Strain in Nursing Care Assessment-Skala“, ihre Zufriedenheit mittels der „Swedish Satisfaction with Nursing Care and Work Assessment-Skala“ gemessen. Obwohl 91 % der Mitarbeiter berichtet haben, dass sie im Beruf zufrieden sind, berichten 25 % davon, dass chronisch verwirrte Bewohner ihre Zufriedenheit im Beruf nicht unterstützen. Es waren signifikante Unterschiede zwischen den Heimen feststellbar in den Graden der emotionalen Belastung der Mitarbeiter in Verbindung mit der Pflege von Personen mit Demenz, welche unterschiedliche Grade von Verhaltensbeeinträchtigungen aufwiesen (vgl. Brodaty et al. 2003, S. 584).
Norbergh et al. (2006) untersuchten in der Studie „Nurses attitudes Towards People with Dementia: The semantic differential technique“ die Einflussfaktoren auf die Pflegende-Patienten-Beziehung. Diese Studie hatte zum Ziel, bei lizensierten Pflegenden (ausgebildete Pflegende) eine Struktur in den Einstellungen gegenüber Personen mit Demenz zu identifizieren. Die Stichprobe bestand aus 181 Pflegenden, die in 21 Pflegestationen (11 Pflegeheime) für Menschen mit Demenz (178 Heimbewohner) arbeiten. Die Assessments, die an die Pflegenden verschickt worden sind, erfolgte mit der semantisch-differenzierten Methodik. Die Skala des Assessments hatte 57 bipolare Paare von Adjektiven, welche eine unbekannte Anzahl von Dimensionen von Einstellungen gegenüber einem identifizierten Heimbewohner schätzen. Die Assessments wurden mithilfe von entropiebasierten Messungen, kombiniert mit strukturellen Handlungen analysiert. Dabei offenbarten sich vier Dimensionen, welche im Zusammenhang mit Einstellungen der Pflegenden standen:
Die Ergebnisse der Studie zeigen auf, dass die Einstellungen der Pflegenden von einem positiven Interaktionsbeginn zu einem neutralen Ende abfallen. Pflegende, die mehr positive Einstellungen gegenüber Personen mit Demenz aufweisen, führen häufiger eine personzentrierte Pflege durch. Die neutralen Einstellungen können nach Aussage von Norbergh et al. die Möglichkeiten für gute Pflege von Demenzpatienten gefährden. Es ist bedeutsam, die Gründe für neutrale und negative Einstellungen zu berücksichtigen, wie z. B. Interaktionshürden zwischen Pflegenden und den Betroffenen.
Die Reichweite der Aussagen der gesichteten quantitativen Studien liegen bei Wahrnehmungen, Attributions-Dimensionen und Einstellungen Pflegender gegenüber Personen mit demenziellen Veränderungen, die sich herausfordernd verhalten, sowie Erfahrungen von Pflegenden mit Überforderungssituationen und ihre Reaktionen bei der Pflege von Patienten im fortgeschrittenen Stadium. Die Ergebnisse sind mit Hilfe standardisierter Fragebögen oder Assessments erfasst worden, wodurch jeweils nur bestimmte Ausschnitte fokussiert werden. Keine der zitierten Studien ergibt dezidierte Erkenntnisse zum Erleben Pflegender und ihrer Strategien.
Bei den gesichteten Studien handelt es sich ausschließlich um Projekte aus psychosozialer Perspektive. Die Rolle der Pflege und die Beteiligung der zu Pflegenden am untersuchten Phänomen werden zwar betont, es werden keine Antworten gegeben, wie ein demenziell veränderter Patient, der sich herausfordernd verhält, verständigungsorientiert erreicht werden kann.
Hinsichtlich des aktuellen Forschungsstands bleibt kritisch anzumerken, dass die Untersuchung zum Erleben und Strategien von Pflegenden bisher überwiegend über standardisierte Verfahren erfolgt ist. Standardisierte Verfahren nehmen den befragten Pflegenden die Möglichkeit der eigenen Relevanzsetzung und spiegeln unter Umständen ein verzerrtes und unvollständiges Bild der herausfordernden Pflegesituation wider. Wenn Pflegeforschung ein Interesse an den individuellen Erlebensaspekten von Pflegenden, im Zusammenhang mit herausforderndem Verhalten bei chronisch verwirrten alten Menschen bekundet, sollte sie auch darum bemüht sein, Selbstauskünfte der Pflegenden einzuholen. Dabei muss den befragten Pflegenden die Möglichkeit gegeben werden, die Bedeutsamkeit einzelner Erlebnisse besonders herauszustellen. Auch individuelle Strategien zum Umgang mit dem Verhalten gewinnen hierbei eine Bedeutung; diese können nur von dem Erfahrungshorizont der jeweiligen befragten Pflegenden in einen Sinnzusammenhang gebracht werden.
Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen kann das subjektive Erleben Pflegender und die damit verbundenen Strategien nur als individuelles und prozesshaftes Geschehen verstanden werden, was mit den Mitteln standardisierter Verfahren nicht ausreichend beschrieben werden kann. Eine empirische qualitative Datenlage auf interaktiver Ebene ist aus pflegewissenschaftlicher Perspektive weder im deutschsprachigen noch im englischsprachigen Raum bisher erfasst worden. Die diesem Buch zugrundeliegende Forschungsarbeit berücksichtigte die genannten Kritikpunkte und möchte damit ein umfassenderes Bild der Situation wiedergeben.
Verhaltensmuster von Personen mit demenziellen Veränderungen werden mit einem natur-wissenschaftlich-medizinischen und einem daran angelehnten pflegerischen Fokus als „störend“ bezeichnet (vgl. Schwerdt et al. 2002, S. 189). Der Begriff „herausforderndes Verhalten“ ist in den herkömmlichen Pflegelehrbüchern nicht aufgenommen, vielmehr finden sich andere Umschreibungen, z. B. bei Roper et al. „unangepasste Verhaltensweisen (vgl. ebd. 1993, S. 13). Juchli spricht von „Verhaltensproblemen“ (vgl. ebd. 1994, S. 681), in Pflege HEUTE wird der Begriff „Verhaltensstörung“ genannt (vgl. Menche et al. 2001, S. 517). Verhaltensstörung ist ein weiter, multifaktorieller und dynamischer Begriff.
Störungen des Verhaltens sollten näher beschrieben werden, damit sie eingeordnet werden können. In der neueren gerontologischen Literatur „Die Pflege alter Menschen in speziellen Lebenssituationen“ von Steeman et al. wird der Begriff „Verhaltensauffälligkeiten“ aufgenommen (vgl. ebd. 2004, S. 172 f.). Dieser Begriff ist negativ geprägt. Verhaltensauffällig ist eine Person, die die von ihrer Umgebung geprägte Norm missachtet, sie fällt der sozialen Umwelt dadurch auf. „Nicht-kognitive“ Verhaltensweisen, wie z. B. Depression, Aggression, Unruhe, ordnet Schröder (2000) dem Begriff „Verstörtheit“ zu. Ein demenzieller Prozess äußert sich bei dem Betroffenen im Krankheitserleben und im Verhalten, beide Faktoren bedingen sich gegenseitig. Nach Sauter et al. vermischen sich Persönlichkeitsstörungen mit Verhaltensstörungen und können als Ausdruck psychischer Störungen in bestimmten Erscheinungsformen Syndromcharakter haben, z. B. aggressive Verhaltensstörung (vgl. ebd. 2004, S. 104).
Die internationale Psychogeriatrische Gesellschaft definierte 1995 den wertfreien Begriff der Behavioral and Psychological Symptoms of Dementia (BPSD) „Verhaltenssymptome und psychische Symptome bei Demenz“. Darunter werden Symptome gestörter Wahrnehmung, Gedanken, Stimmungen oder gestörten Verhaltens, die bei Personen mit demenziellen Veränderungen häufig vorkommen, subsumiert. Zur Gruppe dieser Verhaltenssymptome zählen nach Finkel: physische Aggression, Schreien, Agitiertheit (z. B. Umhergehen, Sammeln, Fluchen, Beschatten, sexuelle Hemmungslosigkeit) (vgl. ebd. 1998). Durch Befragung der Personen oder ihrer Angehörigen werden eher psychische Symptome konstatiert, wie z. B. Angst, Halluzinationen, Wahn, depressive Stimmungslage (vgl. Steeman et al. 2004, S. 174).
Das psychiatrische Klassifikationssystem, das diagnostische und statische Manual psychischer Störungen (DSM IV) der Amerikanischen Psychiatric Association (1996), nimmt den Begriff „klinisch auffällige Verhaltensstörungen“ auf. Aus der Perspektive eines Facharztes für Psychiatrie/Gerontopsychiatrie kann diese Klassifizierung bedeutsam sein, um psychopathologische Symptome abzubilden. Aus Sicht der Pflege ist eine Klassifizierung nach der Funktion, die beeinträchtigt ist, z. B. Symptome oder Verhaltensweisen wie motorische Unruhe oder häufiges Schreien, sinnvoller (vgl. Steeman et al. 2004, S. 174).
Im englischen Sprachraum werden die Begriffe difficult, behavioural disturbance, disruptive behaviour, dysfunctional behaviour, disordered behaviour, inappropriate, problematic behaviour und non-cognitive symptoms verwendet, um Verhaltensweisen zu beschreiben, die im pflegerischen Umgang als problematisch gelten. Die Begriffe implizieren einen intrinsischen Ursprung des Verhaltens, d. h. verursacht durch die demenziell veränderte Person selbst. Umgebungseinflüsse als Auslöser werden hierbei weniger in Betracht gezogen (vgl. Moniz-Cook 1998).
Aus dem Bereich der Lernbehinderung kommt der Begriff „herausforderndes Verhalten“ (engl. challenging behaviour). Dieser Begriff wird von Vertretern der sozialpsychologischen Schulen verwendet und ist der Sozialpädagogik entnommen (vgl. Theunissen 2000). Diese Bezeichnung impliziert keine negative Bedeutung oder Zuschreibung, sondern die Ursache des Phänomens resultiert aus einem interpersonellen Kontext, der Veränderungen unterliegt (vgl. Heijkoop 1998; Moniz-Cook 1998). Die Bezeichnung verdeutlicht, dass es an der Interpretation des Interaktionspartners der Person mit demenzieller Veränderung liegt, „ob ein Verhalten als herausfordernd empfunden wird und nicht primär an dem Erkrankten selbst“ (Halek et al. 2006, S. 22).
Das pflegediagnostische Klassifikationssystem nach North American Nursing Diagnosis Association (NANDA) nimmt Bezug auf Verhaltensmerkmale mit den Begriffen „chronische Verwirrtheit“ (vgl. Doenges et al. 2002, S. 850) sowie „Orientierungsstörung“ (vgl. ebd. 2002, S. 554). Die an die medizinische Sicht angelehnten Pflegediagnosen identifizieren beobachtbare Verhaltensauffälligkeiten im Alltag und betonen die medizinische Irreversibilität des progredient fortschreitenden Demenzprozesses (vgl. Schwerdt et al. 2002, S. 189).
Die genannten Klassifikationssysteme haben gemeinsam, dass sie vorwiegend Defizite der Gehirnfunktionen fokussieren. Wingenfeld et al. bringen in einer empirischen Studie den Begriff „Verhaltensauffälligkeiten“ mit dem Begriff „selbst- und fremdgefährdendes Verhalten“ in Zusammenhang. Die Autoren subsumieren darunter ein breites Spektrum von Handlungen, das sich vom unsachgemäßen Umgang mit alltäglichen Gegenständen über die Herstellung von Gefahrensituationen bei ziellosem Umhergehen bis hin zu verschiedenen Formen von Aggression in Anlehnung an die Cohen-Mansfield Agitation Inventory (CMAI) erstreckt (vgl. Wingenfeld et al 2006). Zwischenergebnisse der Studie stellen heraus, dass problematisches Verhalten eine Reaktion der Pflegenden erforderlich macht, da es Gefährdungssituationen auslösen kann (vgl. ebd., S. 5).
Cohen-Mansfield (1999) verwendet den Begriff „Agitiertheit“ synonym für herausforderndes Verhalten. Agitiertheit wird demnach definiert als „unangemessene verbale, sprachliche oder motorische Aktivität, die nicht durch eindeutige Bedürfnisse oder Verwirrung an sich erklärt werden kann“. Die Deutung des Begriffs liegt bei Cohen-Mansfield mehr auf gezeigten aggressiven Verhaltensweisen. Die amerikanische Psychiaterin unterscheidet vier Kategorien:
Agitiertheit wird als eine Form der Kommunikation bei Verlust über die Kontrolle der Situation gedeutet (vgl. ebd. 1996). Der Betroffene, der aggressives Verhalten zeigt, kann den Anschein erwecken, den Kontakt zur Realität, wie Pflegende sie wahrnehmen, verloren zu haben. Er kann emotionale Reaktionen zeigen, die anderen nicht als angemessene Verhaltensweisen in seiner gegenwärtigen Situation erscheinen. Diese Definition geht von der betroffenen Person aus, die das Phänomen zeigt, und blendet Wechselwirkungsprozesse zwischen Interaktionspartner aus.
Formen von passivem Verhalten, z. B. Apathie, sozialer Rückzug, depressives Verhalten, treten bei Personen mit demenziellen Veränderungen täglich auf und werden als resistent gegenüber Interventionen beschrieben. Interventionskonzepte, z. B. Realitätsorientierungstraining oder Basale Stimulation, konzentrieren sich vorrangig auf die Förderung kognitiver Ressourcen und die Verzögerung von Identität (vgl. Wingenfeld 2004, S. 45). Zurückhaltende und ruhige Patienten fordern die Aufmerksamkeit der Pflegenden weniger heraus und werden aus diesem Grund als weniger belastend erlebt. Nach Halek et al. ist der Begriff „Passivität“ nicht einheitlich definiert (vgl. ebd. 2006, S. 42, 44).
Eine eindeutige Zuordnung und Klassifizierung des Phänomens „herausforderndes Verhalten“ mittels (geronto)psychiatrischer Diagnoseinstrumente erscheint aufgrund der begrenzten Anwendbarkeit insbesondere bei Personen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen problematisch (vgl. Mühl 2000, S. 180).
Das Etikett „Verhaltensstörung“ wird unkritisch in der Literatur auf Personen mit demenziellen Veränderungen verwendet. Der Begriff stellt sich pflegewissenschaftlich problematisch dar. Er zeigt an, dass sich eine kognitiv gesunde Person durch eine kognitiv beeinträchtigte Person gestört fühlt, die ihrerseits verstört ist (vgl. Schwerdt et al. 2002, S. 244). Aufgrund einer bedingten Adaptationsfähigkeit und Verhaltensplastizität bei Personen mit demenziellen Veränderungen sollte die Initiative zu einem adäquaten Umgang stets von Personen ohne kognitive Einschränkungen (hier Pflegenden) ausgehen. In diesem Kontext fordern Autoren, andersartiges Verhalten bei Personen mit demenziellen Veränderungen nicht als bloße Verhaltensstörung zu definieren, sondern als „herausforderndes Verhalten“ anzunehmen (vgl. Heinrich 1998; Rückert 2000, S. 263; Halek et al. 2006, S. 22). Bei diesem Begriff wird mehr die Perspektive der nicht „demenziell veränderten Person“ betrachtet und nicht die Perspektive eines an Demenz erkrankten Menschen.
Die aufgeführten Begriffsklärungen illustrieren, dass es für das Phänomen keine eindeutige Definition gibt. Es kommt darauf an, ob das Phänomen aus einem medizinischen, psychologischen oder pflegerischen Blickwinkel betrachtet wird und mit welchen Begriffen welche Wirklichkeit eingefangen werden soll.
Passives Verhalten bei einer demenziell veränderten Person belastet Pflegende nicht so sehr, aus diesem Grund wird dem Verhalten weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Zurzeit gibt es keine objektiven Kriterien zur Erfassung des Phänomens. Jede Fachdisziplin hat aufgrund ihrer Sichtweise und Bezugstheorie ihre eigenen Klassifikationssysteme und Symptomübersichten zusammengestellt. Ebenso stellt sich die Nomenklatur nicht eindeutig dar; verschiedene Termini erschweren somit eine interdisziplinäre Kooperation. Kritisch muss angemerkt werden, dass Klassifikationssysteme immer nur Hilfskonstruktionen sein können, um sich in der Vielfalt von möglichen herausfordernden Verhaltensweisen zurecht zu finden. Die Gefahr einer Einteilung besteht darin, dass Personen mit demenziellen Veränderungen auf ihre Symptome reduziert und dadurch ihre übrigen Verhaltensbotschaften, Bedürfnisse und gesunden Kompetenzen nicht wahrgenommen werden.
Radzey geht davon aus, dass das Auftreten von herausforderndem Verhalten nur zum Teil auf Beeinträchtigungen der kognitiven Fähigkeiten und Lebensaktivitäten zurückzuführen ist und Antworten mehr aus der Dynamik des demenziellen Prozesses zu ziehen sind. Die Autorin vertritt den Standpunkt, dass das Auftreten des Phänomens auf ein Zusammenwirken von neurologisch bedingten, lebensweltlichen und pflegeumgebungsspezifischen Faktoren zurückzuführen ist (vgl. ebd. 2004, S. 104 f.).
Norberg stellt in ihrem Aufsatz „Perspectives of an Institution-Based Research Nurse“ die Frage, ob herausforderndes Verhalten als sinnloses Verhalten oder mehr als legitime Reaktionen auf eine störend empfundene Stress-Situation bewertet werden sollte (vgl. ebd. 1996). Das Phänomen sollte von daher immer auf verschiedenen Ebenen mehrdeutig interpretiert werden. Theunissen (2001) geht davon aus, dass das Phänomen als eine „Überlebensstrategie“ der kognitiv beeinträchtigten Personen zu interpretieren ist.
Herausforderndes Verhalten kann demnach:
Diese Mitteilungsformen werden immer dann sichtbar, wenn das auffällige Verhalten durch Psychopharmakagabe nicht unterdrückt wird (vgl. Pantel et al. 2005; Koczy et al. 2006, S. 28). Sedativa zur Ruhigstellung einzusetzen und alte chronisch verwirrte Menschen bei Selbstgefährdung zu fixieren widerspricht ethisch den pflegerischen therapeutischen Maßnahmen einer validierenden Gesprächsführung und Biographiearbeit. Das Spektrum der Erscheinungsformen von herausforderndem Verhalten kann interindividuell verschieden sein; die Formen richten sich nach der Befindlichkeit und den Reaktionsweisen der Betroffenen (vgl. Schwerdt et al. 2002, S. 267).
Bei der Suche nach den Ursachen und der Bedeutung von herausforderndem Verhalten sind diese auf neurobiologischer, psychosozialer sowie interaktiver Ebene explizit zu betrachten.
Abbildung 1 zeigt dazu eine Übersicht (Quelle: Höwler 2007d).
Die Ursachenanalyse auf neurologischer und psychosozialer Ebene sowie Interventionskonzepte für einen achtsamen Umgang mit demenziell veränderten alten Menschen können an anderer Stelle ausführlich nachgelesen werden (vgl. Höwler 2000a–d).
Abb. 1: Bedingungsgefüge
Zu den bedeutsamsten Ursachen von herausforderndem Verhalten bei demenziell veränderten Personen auf interaktiver Ebene zählen:
Interaktionsprozesse können durch Pflegende und deren Verhalten negativ beeinflusst werden, d. h. sie haben die Möglichkeit, das Person-Sein zu verweigern und können demenziell veränderte Personen davon ausschließen; als eine Reaktion darauf können Betroffene herausfordernd reagieren.
Die beruflich pflegerische Beziehung, besonders zu Patienten mit kognitiver Behinderung, beruht auf einem Ungleichgewicht und wird als asymmetrische Beziehung bezeichnet (vgl. Bundesvereinigung Lebenshilfe 1996; Schwerdt 2005, S. 73). Weil das problembehaftete Verhalten der Betroffenen in der Regel nicht Gegenstand einer fallbezogenen und allgemeinen Reflexions- und Dialogkultur in den Einrichtungen ist, besteht die Gefahr, dass einseitige Interessen, z. B. die der Pflegenden selbst, den Patienten schnellstmöglich zu beruhigen, durchgesetzt werden. Das Ziel der beschützenden Anwendung von Macht ist einzig, die demenziell erkrankte Person zu schützen, weder sie zu bestrafen noch zu beschuldigen oder zu verurteilen. Wenn Pflegende beschützende Machtmethoden einsetzen, richten sie ihre Aufmerksamkeit auf das Leben oder die Rechte, die sie schützen wollen, ohne über eine Person oder ihr Verhalten ein Urteil abzugeben (vgl. Rosenberg 2005, S. 181).
Die beschützende Machtanwendung geht davon aus, dass Patienten, die agitiertes Verhalten zeigen, selbst- oder fremdverletzend handeln können. Zu der Unwissenheit über machtbeschützende Handlungen, die Pflegende ausführen, gehören ein Mangel an Bewusstheit über die Konsequenzen der pflegerischen Maßnahme und die Unwissenheit darüber, wie sie die psychischen und physischen Bedürfnisse der agitiert reagierenden alten Menschen zufrieden stellen können, ohne dass diese sich oder andere dabei verletzen. Im Hinblick auf die komplexen Pflegebedürfnisse der Kranken weisen pflegewissenschaftliche Studien einen Zusammenhang zwischen dem Qualifikationsgrad Pflegender und der Lebensqualität der demenziell veränderten Personen nach. Schlecht ausgebildete Pflegende wenden im Umgang mit den Betroffenen häufiger beschützende Machtmethoden an, weil sie weniger in der Lage sind, auf herausfordernde Verhaltensweisen der Betroffenen mit demenzspezifischen Interaktionen zu reagieren (vgl. Schwerdt et al. 2002a, S. 251 f.).
Die Fixierung (bewegungseinschränkende Maßnahme) gehört zu den umstrittensten physikalischen, restriktiven Interventionen im Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Personen mit demenziellen Veränderungen. Es handelt sich dabei um die Anwendung von Fixiergurten für Rumpf und Extremitäten (z. B. SEGUFIX®-Gurtsystem = körpernahe Fixierungen), die einen willkürlichen Positionswechsel verhindern, z. B. Aufstehen und Gehen, und die nicht selbständig vom Betroffenen entfernt werden können (vgl. Bredthauer 2006). Werden andere Bewegungseinschränkungen, z. B. Bettgitter, mit berücksichtigt, so sind über 80 % der Patienten mit demenziellen Veränderungen in Pflegeinstitutionen betroffen (vgl. Bredthauer 2006). Die empirische Forschung belegt, dass, wenn die Maßnahme erst vormundschaftlich genehmigt ist, diese zumeist längerfristig (Wochen bis Monate) und dauerhaft über viele Stunden (täglich mehr als 12 Stunden) durchgeführt wird (vgl. Bredthauer 2006). Kong stellt kritisch heraus, dass agitiertes Verhalten bei Patienten mit demenziellen Veränderungen verstärkter auftritt, wenn Pflegende zu Fixierungen greifen (vgl. ebd. 2005).
Pflegende, die Psychopharmakagaben befürworten, gehen in der Regel von einer rein nach biomedizinischen Parametern ausgerichteten Pflege aus. Eine vom Arzt rezeptierte Psychopharmakagabe bringt oftmals nicht den erwünschten Effekt der Ruhigstellung eines agitierten demenziell veränderten Menschen. Derzeitig erhalten 61 % der alten Menschen in Altenpflegeheime täglich Psychopharmaka, jedoch weisen nur 24 % eine psychiatrische Diagnose auf (vgl. Garms-Homolova et al. 2004, S. 87). Das Verordnen der Medikamente, in der Regel Neuroleptika (z. B. Melleril®, Eunerpan®, Atosil®), stellt zwar eine ärztliche Aufgabe dar, so kommt den ständig präsenten Pflegenden eine Schlüsselrolle im Erkennen von psychopharmakabedingten Nebenwirkungen (Rigidität, Harnretention, Obstipation, Delirium) zu, die zur psychomotorischen Unruhe und Sturzgefährdung führen können (vgl. Lawlor 1998; Pantel et al. 2005, S. 135).
Von Burnout gezeichnete Pflegende und Pflegende ohne (geronto)psychiatrische Pflegekenntnisse befürworten eher eine Medikation zur Ruhigstellung mit Neuroleptika. Durch die Gabe der Mittel wird die pathologische Regression gefördert. Der Antrieb wird u. a. durch die Medikamentengabe gehemmt. Zahlreiche Psychopharmaka verstärken durch ihre anticholinerge Komponente die bereits bestehenden Gedächtnisstörungen. Sie können zu akuten Verwirrtheitszuständen und ausgeprägten Störungen des vegetativen Systems führen, die wegen mangelnder Mitteilungsfähigkeit der Betroffenen leicht übersehen werden (vgl. Höwler 2007b, S. 374).
Bestimmte Verhaltensmuster der Pflegenden können aggressive Reaktionen bei Patienten provozieren. In der amerikanischen Literatur spricht man von „battered nurse syndrom“. Die Pflegenden zeichnen sich durch ein despektierlichkommandierendes Verhalten aus, sind intolerant und wenden „personale Detraktionen“ an (vgl. Scharfetter 1992; Kitwood 2000, S. 75 f.). Bei den Detraktionen handelt es sich um subtile Formen des Verächtlichmachens und Herabsetzens alter Menschen, die in alltägliche Interaktionen eingebettet sind und negative Gefühle wie z. B. Feindseligkeit, Gereiztheit, Abneigung oder Verachtung offenbaren können.
In einer Beobachtungsstudie konnte aufgedeckt werden, dass der Verlauf und die Gestaltung von personuntergrabenden Interaktionsprozessen, verübt durch Detraktionen, abhängig ist von den inneren und äußeren Haltungen der Pflegenden gegenüber verwirrten alten Menschen (vgl. Höwler 2007a, S. 104 f.). Mit der Ausübung von Detraktionen werden Pflegemaßnahmen durchgesetzt. Besonders für die Kooperation mit chronisch verwirrten Patienten werden Detraktionen von Pflegenden auf hochdestruktive Weise eingesetzt. Verschiedene Handlungen und Wahrnehmungen können das Verhalten der Interaktionspartner wechselseitig beeinflussen. Nicht nur der alte Mensch reagiert auf Handlungen mit einem bestimmten Verhalten, sondern die Pflegende selbst. Wenn eine Person mit demenzieller Veränderung ständig auf subtile Weise Detraktionen erhält, beginnt sie an der Aufrichtigkeit der Pflegenden zu zweifeln und wird misstrauisch, sie reagiert mit Gefühlen von Unsicherheit, Angst, Apathie, Aggressionen und kann sich herausfordernd gegenüber Pflegenden verhalten (vgl. Höwler 2007a, S. 99, 105).
Da die Betroffenen über ein ausgeprägtes Gespür für Stimmungen und Gefühle mit ihren nonverbalen Kommunikationsanteilen sowie für Doppelbotschaften verfügen (vgl. Teising 1996, S. 160), können sich personale Detraktionen mehr oder weniger subtil auf den demenziellen Prozess auswirken. Personale Detraktionen sind nach Kitwood in der Regel nicht Ausdruck böser Absichten, sondern sie geschehen vielmehr aus Hilflosigkeit, Überforderung, geringem demenziellen Wissen sowie mangelnder Reflexion der eigenen Grenzen (vgl. Kitwood 2000, S. 132). Kitwood stellt heraus, dass personale Detraktionen als wohlgemeinte, aber fehlgeleitete Versuche anzusehen sind, um die interaktive Leere im Interaktionsprozess zu füllen (vgl. Kitwood 2000, S. 143).
Nach Pillemer et al. besteht eine eindeutige Wechselwirkung zwischen den Aggressionen eines Patienten mit demenzieller Veränderung und den Aggressionen der Pflegenden (vgl. ebd. 1992, S. 170). Nach Cohen-Mansfield tendiert aggressives Verhalten eher dazu, während der Körperpflege aufzutreten, wenn die Betroffenen sich im intimen Bereich bedrängt fühlen oder die unmittelbare Pflegeumgebung unbehaglich empfunden wird (vgl. ebd. 2000).
In Pflegeinstitutionen ist die interaktive Beziehungsqualität, die zwischen demenziell veränderten Patienten und Pflegenden besteht und durch eine empathische Haltung geprägt ist, sehr bedeutsam. Sie hat einen Einfluss auf die Stärkung des Person-Seins (vgl. Kitwood 2000, S. 171). Personen mit kognitiver Behinderung brauchen die personale Begegnung, wenn ihre kommunikative Kompetenz, physischen und psychischen Bedürfnisse, Emotionen und Wünsche adäquat subjekthaft entschlüsselt und benannt werden sollen (vgl. Peplau 1995). Je mehr ein Patient in einem demenziellen Prozess die Beziehung zu sich selbst als Individuum in einer für ihm fremd gewordenen Realität verliert, desto mehr ist er auf Sicherheit vermittelnde, ihm empathisch begegnende Pflegende angewiesen (vgl. Schwerdt 2002, S. 214). Je bedrohlicher Patienten ihre Situation im Heim- oder Klinikalltag erleben und je weniger kognitive Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen, desto bedeutsamer wird die Nähe einer Primary Nurse (vgl. Manthey 2002), die für sie „Rettungsanker“ ist.
Die Beziehung (vgl. Bauer 2004, S. 121 f.) zwischen Patient und Pflegender, aufbauend auf einem humanistischen Menschenbild, sollte im Sinne von Buber (vgl. ebd. 1997) dialogisch geprägt sein, da nur auf einer Basis von emotionaler Sicherung sowohl Vertrauen, Offenheit, Authentizität, Aufmerksamkeit als auch respektvoll distanzierte Zuwendung entstehen kann (vgl. Rogers 2003, S. 40 f.; Chapman et al. 2004, S. 66).
Die Pflegende, die auf geringe psychosoziale und fachliche Kompetenzen zum Umgang mit demenziell veränderten Menschen zurückgreifen kann, wird sich in einer herausfordernden Situation eher hilflos ausgeliefert fühlen. Sie verspürt gegenüber dem Patienten Gefühle von Frustration, Ärger und Abwehr. Diese Emotionen können bei Folgekontakten zu einer weniger empathischen und fürsorglichen Haltung der Pflegenden führen und kann respektiv herausforderndes Verhalten der Patienten verstärken (vgl. Pantel et al. 2005, S. 147; Roth 2006, S. 11). Aus einer personuntergrabenden Haltung der Pflegenden, durch Detraktionen geprägt, kann abgeleitet werden, dass die demenzielle Veränderung sich auf das Verhalten von Pflegenden auswirken kann. Die eigene Machtlosigkeit ist nur schwer auszuhalten. Durch den hohen Anspruch an Perfektionismus, bei dem die Patienten überbehütete Einschränkungen erfahren, resultiert Chaos. Dieses und der Zerfall von Ordnung sowie besonders fehlendes pflegerisches Wissen über einen personzentrierten Umgang lösen bei Pflegenden Angst und Abwehr aus, die wiederum Reaktionen nach sich ziehen und sich negativ auf die Pflegebeziehung auswirken können. Es liegt demnach in der Verantwortung von Pflegenden, ihre Tätigkeit in moralischer Solidarität zu gründen und das Person-Sein der demenziell veränderten Personen aus einer positiven Pflegebeziehung zu stärken (vgl. Höwler 2007a, S. 45).
Die bedeutsamsten psychischen Bedürfnisse von Patienten mit demenziellen Veränderungen sind nach Kitwood Liebe, Bindung, Trost, Identität, Beschäftigung und Einbeziehung in die soziale Gemeinschaft. Patienten, die ihre kognitiven Fähigkeiten im Verlauf des demenziellen Prozesses vollständig verlieren, sind wenig bis gar nicht mehr in der Lage, diese Bedürfnisse autonom zu befriedigen. Zum Beispiel ist es dem Patienten im fortgeschrittenen Stadium nicht möglich, psychische Bedürfnisse aufzuschieben (vgl. Kitwood 2000, S. 121 f.).