Grundwissen Soziale Arbeit
Herausgegeben von Rudolf Bieker
Band 15
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1. Auflage 2015
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© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
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ISBN 978-3-17-022252-6
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pdf: ISBN 978-3-17-026811-1
epub: ISBN 978-3-17-026812-8
mobi: ISBN 978-3-17-026813-5
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Mit dem so genannten „Bologna-Prozess“ galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin „berufliche Handlungsfähigkeit“ zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.
Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.
Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.
Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln
„Vielfalt und Differenz“ sprechen etwas ganz Ähnliches an – nämlich Unterschiede. Allerdings werden sie eingesetzt, um Gegensätzliches auszudrücken: Vielfalt wird tendenziell verwendet, wenn in positiv konnotierter Form über Verschiedenheit gesprochen werden soll. Gemeint ist eine Verschiedenheit, die Unterschiedlichkeit als Teil des gesellschaftlichen Gesamten begreift. Differenz dagegen wird eher eingesetzt, um eine Abgrenzung zu markieren und wenn die Eigenständigkeit im Gegensatz zum Gesamten betont werden soll. Der Einsatz von Sprache spielt also in jedem Fall eine zentrale Rolle in der Begegnung von Menschen mit vielfältigen Erfahrungshintergründen und Merkmalen – wie sie Zielgruppe Sozialer Arbeit sind.
Sowohl Vielfalt als auch Differenz sollen in diesem Lehrbuch Berücksichtigung finden. Sie sind grundlegende Bedingungen für das Zusammenleben von Menschen: Vielfalt und Differenz sind immer dann gegeben, wenn zwei Menschen sich begegnen, denn niemals können Menschen gänzlich gleich bzw. identisch sein. Entscheidend ist jedoch, wie wir die Verschiedenheit von Menschen einordnen und bewerten.
In diesem Buch beschäftigen wir uns mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen und Merkmalen. Als Referenzfolie dienen die Vielfaltsdimensionen bzw. gesellschaftlich exponierte Differenzkategorien: ethnische Herkunft, Geschlecht, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung, die sich beispielsweise auch im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in § 1 niederschlagen. Diese Auswahl an Vielfalts-/Differenzdimensionen ist vor allem auch dem Sachverhalt geschuldet, dass sich historisch klassische Arbeitsfelder und Konzepte der Sozialen Arbeit just entlang dieser Dimensionen entwickelt, etabliert und verfestigt haben. Sie markieren bis heute fachliche Ankerpunkte, Professionalitätsansprüche und Zuständigkeiten, mit denen gegenwärtig und zukünftig umgegangen werden muss.
Auf der einen Seite können mit dieser Angebotsstruktur Menschen mit differenzspezifischen Erfahrungen erreicht werden und Unterstützung erfahren. Gleichzeitig erzeugen diese Spezialangebote aber auch negative Effekte im Hinblick auf gesellschaftliche Teilhabe: Menschen werden auf der Basis ihrer Erfahrungshintergründe oder zugewiesener Differenzmerkmale in darauf ausgerichtete Hilfsangebote vermittelt. Damit werden sie auf ein spezifisches Merkmal oder einen Erfahrungshintergrund reduziert, während andere Erfahrungsebenen und Merkmale – auch in ihrem intersektionellen Zusammenwirken – zu wenig beachtet werden. Zudem ergibt sich daraus die Gefahr, sich beinahe ausschließlich in den jeweiligen zielgruppenspezifischen Lebenswelten und Beratungslandschaften zu bewegen.
Darüber hinaus strukturieren und lenken die isoliert betrachteten Einzeldimensionen auch die Selbstbeobachtung von Individuen dahingehend, welcher Dimension oder Differenzkategorie sie sich selbst zuordnen, um im Hilfesystem überhaupt als zielgruppenzugehörig, d. h. „passend“ zu erscheinen und Angebote in Anspruch nehmen zu können. Hinzu kommt, dass beispielsweise Akteur_innen im Feld der Politik mittels Förderlinien und -programmen sich wiederum überwiegend auf die gängige Referenzfolie der isolierten Einzeldimensionen beziehen und somit materielle Anreize setzen, jenes eingeschliffene Koordinatensystem aus Einzeldimensionen, entsprechenden Zielgruppenfixierungen und spezifischen Angeboten immer wieder aufs Neue zu reproduzieren und zu perpetuieren.
Die Betonung bzw. gesonderte Betrachtung einzelner Differenz-/Vielfaltsdimensionen bzw. der damit zugeschriebenen Merkmale wird umso problematischer, wenn einzelne Merkmale mit Bewertungen versehen werden und sich darüber unterschiedliche Machtverhältnisse ausbilden. Genau dieser Prozess – die Einordnung und Bewertung von Merkmalen und Erfahrungshintergründen – ist im Zusammenleben von Menschen sehr weit fortentwickelt und wird subtil von Beginn des Lebens an vermittelt, so dass wir uns diesen Bewertungen und Einordnungen kaum entziehen können, was wiederum das Risiko bedingt, sie permanent und unreflektiert zu reproduzieren. In alle sozialen Kontexte wirken diese Bewertungen hinein und bilden sich in kommunikativen Handlungen ab – in der Regel sind uns diese Typisierungen nur partiell bewusst. Auch Soziale Arbeit als Disziplin und Profession ist hiervon nicht ausgenommen, ganz im Gegenteil: Kontakt, Begegnung, Dialog – unter den Bedingungen von Vielfalt und Differenz – sind ein Kerngeschäft Sozialer Arbeit. Insofern ist es wichtig, sich diese Prozesse bewusst zu machen und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen.
Diese Auseinandersetzung bzw. der Akt der Reflexion all dieser komplexen Verweiszusammenhänge setzt voraus, sich über die fachlichen Grundlagen, die zentralen Begriffe sowie über die Sinnkontexte, in die sie wiederum eingebettet sind, klar zu werden. Diese Prozesse und Kategorien müssen folglich erst einmal benannt und rekonstruiert, d. h. im Sinne eines Lehrbuches kennengelernt werden. Sie sind daher selbst Bestandteil des Grundwissens Sozialer Arbeit. Der Prozess der Reflexion ist insofern zunächst einmal ein – wenn auch notwendiger – „Durchlauferhitzer“ für jene gesellschaftlich wirkmächtigen Kategorisierungs- und Einordnungsprozesse, die es eigentlich zu dekategorisieren und zu dekonstruieren gilt. Wir müssen uns dieser Kategorien und Prozesse erst einmal bewusst werden, um sie zukünftig anders gestalten, aber auch, um neue Arbeitsformen im professionellen Handlungskontext der Sozialen Arbeit entwickeln zu können.
Im Anspruch, die umrissenen Begrenztheiten und Reduktionen, die jene Vielfalts-/Differenzkategorien, Zielgruppenkonstruktionen und -fixierungen mit sich bringen, langfristig zu überwinden oder zumindest kritisch zu hinterfragen, bedienen wir diese zunächst selbst, nicht zuletzt weil wir aus den jeweiligen Handlungsfeldperspektiven heraus versuchen, über den Tellerrand der Einzeldimensionen zu schauen, um etwaige Anknüpfungsmöglichkeiten an den Inklusionsbegriff auszuloten und zu sondieren. Dies bedeutet auch, dass in dem Lehrbuch kein einheitlicher Inklusionsbegriff verwendet wird, sondern in einzelnen Beiträgen von dem jeweiligen Handlungsfeld ausgehende Perspektiven auf Inklusion eingenommen werden. Was bleibt, ist, sich dieser unauflösbaren Ambivalenzen und diesem unabgeschlossenen Prozess in kritischer Absicht bewusst zu sein.
Entsprechend haben wir das Lehrbuch konzeptionell so aufgebaut, dass in Kapitel I grundlegend in Begrifflichkeiten und das Themenfeld eingeführt wird. Ein Schwerpunkt liegt hier insbesondere auf der Thematik der Diskriminierung, da diese den gesamten weiteren Überlegungen inhärent ist. In Kapitel II werden verschiedene Differenzlinien wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Alter und ethnische Herkunft sowie die Perspektive auf die Überschneidung unterschiedlicher Erfahrungshintergründe vorgestellt. In Kapitel III werden die auf diese Differenzlinien bezogenen Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit dargestellt. Hier wird versucht aufzuzeigen, wie sich diese Arbeitsfelder entwickelt und etabliert haben. Darüber hinaus werden auch erste Überlegungen aus inklusiver Perspektive auf das jeweilige Arbeitsfeld geworfen. In Kapitel IV schließlich werden Konzepte und Überlegungen für die Umsetzung einer inklusionsorientierten Sozialen Arbeit vorgestellt.
Während das Lehrbuch zum einen als eine Art Standortbestimmung gelesen werden kann, so verfolgt es zugleich die Absicht, über den Tellerrand der Einzeldimensionen hinauszublicken. Dieses Bild des Blicks über den Tellerrand bezieht sich sowohl auf die gewachsene Struktur der an Differenzkategorien ausgerichteten Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit als auch auf Fragen, die die Konjunktur des Paradigmas der Inklusion mit sich bringt: Aus dieser Konjunktur erwächst die Notwendigkeit grundlegender Umstrukturierungsprozesse einer bislang an Differenzkategorien und Zielgruppen orientierten Angebotslandschaft. Insbesondere forciert sie Auseinandersetzungsprozesse auf Seiten der professionellen Akteur_innen bezüglich ihres Selbstverständnisses, ihrer Haltungen, Konzeptionen und Handlungsweisen. Ansätze, wie diese aussehen könnten, werden im Ansatz skizziert.
Das vorliegende Lehrbuch ist ein Gemeinschaftsprojekt von Lehrenden des Fachbereichs Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main. Es verfolgt die Intention, Studierenden der Sozialen Arbeit und interessierten Kolleg_innen den Fachdiskurs um Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit näherzubringen. Diese Auseinandersetzung gilt sowohl gegenwärtig als auch zukünftig als zentrale gesellschaftspolitische Herausforderung, um Benachteiligungsstrukturen marginalisierter Einzelpersonen oder sozialer Gruppen zu analysieren und Teilhabemöglichkeiten zu generieren.
Bettina Bretländer
Michaela Köttig
Thomas Kunz
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
In diesem Kapitel wird grundlegend in die Thematik eingeführt. Zunächst geht es Julia Bernstein und Lena Inowlocki darum, aufzuzeigen, wie Menschen wahrnehmen und welche Bedeutung sie diesen Wahrnehmungen beimessen. Wichtige Begriffe wie Kategorisierung, Stereotypisierung, Vorurteil und Diskriminierung als Folge von Machtungleichheit werden erklärt und unterschieden. Im zweiten Beitrag geht Heike Beck auf Soziale Arbeit als eine Profession ein, in der in diversen Handlungsfeldern mit potenziell von Diskriminierung betroffenen Personen und Gruppen gearbeitet wird. Die Autorin diskutiert, wie durch gezielte Reflexion vermieden werden kann, dass Diskriminierung im Hilfekontext reproduziert wird. Der dritte Beitrag von Beatrix Schwarzer beschäftigt sich mit Differenz und Differenzierungspraxen im sozialen Miteinander und der Frage, welche Herausforderungen sich hieraus für Soziale Arbeit ergeben, deren Aufgabe es ist, auf „die gleichberechtigte Teilhabe“ als Grundlage des gesellschaftlichen Miteinanders hinzuarbeiten. Abschließend stellt Dagmar Oberlies das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – auch Antidiskriminierungsgesetz genannt – vor. Es wurde 2006 als Instrument zum Schutz vor Diskriminierung eingeführt. Die Autorin stellt ein Prüfschema vor, welches es ermöglicht, Rechtsansprüche zu erkennen.
Einleitung
Um Stereotype und Vorurteile zu verstehen, ist es zunächst wichtig, sich mit Wahrnehmung und sprachlicher Kategorisierung zu befassen, das heißt, wie wir Personen und Gegenstände benennen und erkennen. Als menschliche Wesen haben wir keine Möglichkeit, die Wirklichkeit unmittelbar wahrzunehmen, vielmehr erkennen wir unsere Umwelt in ihrer kulturellen – vor allem sprachlichen und bildlichen – Symbolisierung. Hinzu kommt, dass wir Personen und Gegenstände nicht „an sich“ erkennen, sondern im Verhältnis zu ihrer Bedeutung und Bewertung aus unserer subjektiven Sicht. Unsere symbolische und subjektive Natur der Wahrnehmung ist uns üblicherweise nicht bewusst, da wir unseren Zugang zur Welt durch unsere Sozialisation des Benennens und Bewertens verinnerlicht haben. Im Allgemeinen halten wir daher unsere Wahrnehmung und Kenntnis von Menschen und Objekten für die tatsächlich gegebene Realität und unsere Perspektive für „wertfrei“ und sind irritiert, wenn unser Alltagswissen oder „Denken wie üblich“ (Schütz 1972, 58) in Frage gestellt wird. Zu den Prozessen ungeprüfter Wahrnehmung gehören jedoch Stereotypisierung und Vorurteile, die sich bei bewusster Betrachtung und kritischer Reflexion als unbegründete und ressentimentbeladene Meinungen herausstellen. Für die Soziale Arbeit – und grundsätzlich für unsere Interaktionen mit anderen – ist es grundlegend, dass wir mit Stereotypen und Vorurteilen verbundene soziale Ungleichheiten und Formen der Diskriminierung erkennen, sie nicht reproduzieren, sondern ihnen entgegenwirken.
Unsere Wahrnehmung findet durch Kategorisierung statt, dem Erkennen und Zuordnen gemeinsamer Bedeutungen; auf diese Weise erkennen wir beispielsweise einen Gegenstand als einen „Stuhl“ oder „Tisch“. Kategorisierung beinhaltet eine Art Bestandsaufnahme oder Zuordnung von Gegenständen, der natürlichen Umgebung und der sozialen Welt, durch die wir uns in der Welt orientieren und auf die wir uns mit anderen in einer gemeinsamen Sprache beziehen. Auch unsere persönlichen Erfahrungen eignen wir uns über Kategorisierung an und bringen diese wiederum auf unsere persönliche Weise zum Ausdruck, als Teil einer Sprachgemeinschaft oder mehrsprachiger Gemeinschaften. Wie wir uns zugehörig fühlen, Wir-Gruppen bilden und andere als nicht zugehörig betrachten oder sogar ausschließen, beinhaltet und mobilisiert (starke) Emotionen. Denn Ordnungskategorien funktionieren in vielen Fällen binär (vgl. Strauss 1970; Hall 1994), als gegenseitige (entweder/oder) Ausschlusskriterien von Zugehörigkeit. Am Beispiel der allgemeinen Kategorisierung männlich/weiblich zeigt sich, dass diese als Ordnungsprinzip unserer gewohnten Normalität gilt und gegenüber einer kritischen Infragestellung des Gewohnten verteidigt wird; dabei können Verteidigung und Kritik mit heftigen Emotionen verbunden sein. Sozio-kulturelle Identitäten oder Zugehörigkeiten beinhalten daher nicht nur Klassifikationssysteme, sondern auch grundsätzliche Mittel der Repräsentation von Selbst- und Fremdbildern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unser Wissen über die Welt durch Sozialisationsprozesse angeeignet und verinnerlicht wird und uns als stabiles Alltagswissen und Handlungsorientierung zur Verfügung steht. Gesellschaftliches Wissen wird durch Sprache, Alltagskommunikation und institutionalisierte Sprachregelungen naturalisiert und erscheint uns als objektiv gegeben. Es repräsentiert, was uns als unsere primordiale, schon immer gegebene Vergemeinschaftung und deren normative Ordnung erscheint. Die Kategorien, auf die wir uns beziehen, scheinen „natürlich“ organisiert zu sein und motivieren Kulturwissen als eine Form des „Denkens wie üblich“ (Schütz 1972, 58).
In seiner Arbeit „Der Fremde“ entwickelt Alfred Schütz (1899–1959), dem die Wissenssoziologie grundlegende Überlegungen verdankt, vier Annahmen, die Gesellschaftsmitglieder in ihrem „Denken wie üblich“ pflegen. Diese Annahmen werden stillschweigend vorausgesetzt und entfalten darüber ihre Wirksamkeit:
„1. dass das Leben und insbesondere das soziale Leben weiterhin immer so sein wird, wie es gewesen ist […]; 2. dass wir uns auf das Wissen verlassen können, das uns durch unsere Eltern, Lehrer, Regierungen, Traditionen, Gewohnheiten usw. überliefert wurde, selbst wenn wir nicht deren Ursprung und deren reale Bedeutung kennen; 3. dass in dem normalen Ablauf der Dinge es genügt, etwas über den allgemeinen Typus oder Stil der Ereignisse zu wissen, die uns in unserer Lebenswelt begegnen, um sie zu handhaben und zu kontrollieren; und 4. dass weder die Rezeptsysteme als Auslegungs- und Anweisungsschemen noch die zugrunde liegenden Grundannahmen, die wir gerade erwähnen, unsere private Angelegenheiten sind, sondern dass sie auch in gleicher Weise von unseren Mitmenschen akzeptiert und angewandt werden.“ (Schütz 1972, 58 f.)
Diese Annahmen des „Denkens wie üblich“ bilden Vorstellungen einer sozialen Ordnung, die weder hinterfragt noch reflektiert werden müssen und im Gegenteil vielfach als quasi natürlich gegeben betrachtet und vertreten werden. Zu dieser sozialen Ordnung gehören Machthierarchien und soziale Ungleichheit zwischen der „eigenen“ sozialen Gruppe und „anderen“ und „fremden“ Individuen und Gruppen. Stereotype und Vorurteile können Teil dieser Vorstellungen einer sozialen Ordnung sein und auch soziale Ungleichheiten legitimieren. Dabei wird oft ausgeblendet, dass „Wir“-Gruppe und „andere“ Gruppen keine naturgegebenen Erscheinungen sind, es sich vielmehr um strukturell verankerte und in Interaktionen reproduzierte Prozesse handelt, durch die „Eigenes“ und „Fremdes“ zustande kommen, legitimiert werden und als „natürliche Ordnung“ erscheinen. Die Zuweisung, „anders“ und „fremd“ zu sein, hat Stuart Hall zutreffend als Othering bezeichnet, zum Andersartigen/Fremden machen (Hall 1994). Dies kann durch Kulturalisierung, Ethnisierung, Rassifizierung sowie weitere Formen von Differenzzuweisung und Unterordnung von Personen und Gruppen geschehen.
Die symbolische Natur der Wahrnehmung und eine generelle Bereitschaft zur kulturellen Kategorisierung von Menschen und Objekten haben unterschiedliche Funktionen für das Handeln. Im Alltag ist es für eine erfolgreiche Kommunikation wichtig zu wissen – oder dies zumindest anzunehmen –, dass wir uns auf die gleichen Sachverhalte beziehen. Harvey Sacks (1935–1975), der sich auf Alfred Schütz bezog und die stillschweigenden Annahmen in Konversationen untersuchte, bezeichnete die – oft illusorische – Annahme, dass wir das Gleiche meinen, als „Lösung“ des Konvergenzproblems (Sacks 1992, 41), also ob wir und unsere Gesprächspartner_innen wirklich dasselbe meinen, wenn wir über etwas sprechen. Wenn wir sagen „Heute war sie wieder im Seminar“ und sicher sein wollen, dass unsere Gesprächspartner_in weiß, wen wir meinen, beziehen wir uns – als kommunikative Abkürzungsstrategie – auf Eigenschaften, die aus unserer Perspektive die Kommilitonin eindeutig charakterisieren („die kleine Blonde“ oder „die Polin“). Auch wenn wir uns „nichts“ dabei denken, kategorisieren wir ein Subjekt durch seine Gruppenzugehörigkeit mit Stereotypen. Die Orientierungsfunktion von Stereotypen erscheint uns in vielen Fällen neutral, sie kann aber mit einer Bewertung von Gruppenzugehörigkeiten einhergehen, die im Verhältnis zu unserer eigenen Positionierung steht, auch wenn dies nicht bewusst und intentional geschieht. Gruppenzugehörigkeiten sind in ihrem Verhältnis durch geschichtliche und gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägt. Welche Bilder gehen uns durch den Kopf, wenn wir „kleine Blonde“ oder „Polin“ sagen?
„Ich bin ohne Vorurteile aufgewachsen. Ich freue mich immer, wenn Ausländer auch studieren.“ (Studentin in einer Seminardiskussion zum Thema Ethnizität)
Ist eine Kategorisierung mit der Zuordnung oder Zuweisung eines gesellschaftlichen Status verbunden, so sind damit Macht- und Herrschaftsverhältnisse impliziert und – auf der Skala hierarchischer Macht – auch die eigene Positionierung (selbstverständlich studieren zu können und darüber zu urteilen, wem dieses Privileg auch zusteht). Wie in diesem Beispiel wird aber in vielen Fällen nicht die eigene Privilegierung gegenüber anderen angesprochen, und die herablassende Meinung über andere („… wenn Ausländer auch studieren“) wird durch eine positive Selbstdarstellung als offen und aufgeklärt verdeckt („Ich bin ohne Vorurteile aufgewachsen. Ich freue mich immer …“). Mit dem Stereotyp Ausländer_innen ist die Zuweisung von Nicht-Zugehörigkeit zu einer eigenen national imaginierten Wir-Gruppe verbunden, die Unterscheidung wird noch markiert durch den Ausnahmecharakter höherer Bildung für die behauptete Gruppe der Ausländer_innen. Ein Gruppen-Stereotyp verhindert die Wahrnehmung individueller Personen, ihrer eigenen Zugehörigkeiten und Zuordnungen.
Stereotype bezeichneten früher im Buch- und Zeitungsdruck feste Vorlagen, der Publizist Walter Lippmann (1889–1974) führte 1922 diesen Begriff für verallgemeinerte Aussagen und unverrückbare Meinungen über Gruppen von Menschen ein, als „vorgefasste Meinungen über soziale Gruppen“; die Diskrepanz bestehe zwischen der Außenrealität und „den Bildern in unserem Kopf“ („The world outside and the pictures in our head“), zwischen den inneren Vorgängen des Wahrnehmens und Denkens und den äußeren Vorgängen in der uns umgebenden Welt: „We are told about the world before we see it. We imagine things before we experience them and those preconceptions govern deeply the whole process of perception“ (Lippmann 1964, 89).
Stereotype stellen somit vorgefasste Annahmen, Etikettierungen, Attribute, nicht bewusste Vordefinitionen dar, als „Schubladen-Denken“ sind sie wie „eingefroren“. Dass sie im Widerspruch zu unserer eigenen geäußerten Haltung stehen, wird uns nicht bewusst. So schrieb ein Lehramts-Student in seiner Mail zum Abschlusskolloquium: „Ich möchte zur Benachteiligung von Schülern mit Migrationshintergrund geprüft werden und vor allem darauf eingehen, wie wichtig es ist, unsere Sprache zu lernen.“ Das thematische Interesse an Bildungsbenachteiligung entspricht der eigenen Selbstwahrnehmung als kritisch und engagiert, das Stereotyp „unsere Sprache“ beinhaltet aber gleichzeitig den Ausschluss von „Schülern mit Migrationshintergrund“, die nicht so gut und richtig Deutsch sprechen würden wie „wir“. An diesem Beispiel lässt sich auch erkennen, wie die eigene Zugehörigkeit zu einer Wir-Gemeinschaft (einheimisch, die eigene Sprache sprechend) und deren kultureller Dominanz durch die Rede über „andere“ hergestellt und fortlaufend bestätigt wird.
Eine Studentin meinte zum Thema Migration: „Ich habe selbst viele Ausländer-Freunde.“ Die Nachfrage der Dozentin, ob die Freunde hier in Deutschland geboren seien, bejahte sie ohne ihre Begriffswahl zu revidieren. Eine Reflexion der eigenen Begriffe wäre zwar im Sinne eines eigenen Erkenntnisprozesses, wird aber als abträglich erlebt und vermieden. Gegen Reflexion und selbstkritische Überprüfung der eigenen Vorannahmen wandten sich auch Studierende in einer Seminardiskussion über Bildungschancen in Familien, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Sie hielten an der scheinbar natürlichen Unterscheidung in Beispielen aus Nachrichtenmedien fest, die Kindern eingewanderter Familien von vornherein ein geringeres Bildungspotenzial einräumten, und verteidigten stattdessen ihre Einstellung: „Es war nicht unsere Absicht, Zuweisungen zu tätigen, vielmehr sollten es wertfreie Aussagen, ohne Stereotypisierung und Stigmatisierungen sein.“ Wird vor allem die eigene rechtmäßige Positionierung verteidigt, steht dies einer Reflexion und kritischen Erkenntnis der Reproduktion von Vorurteilen im Weg. Dabei wäre es schon ein wichtiger Erkenntnisschritt, dass wir Differenzkategorien auch dann reproduzieren, wenn wir es nicht absichtsvoll tun.
Für die Erkenntnis und Reflexion von Stereotypen ist es wichtig, ihre universale Natur zu verstehen: Jeder Mensch stereotypisiert, weil wir die Komplexität der Wirklichkeit mit ihrem Informationsüberfluss nicht verarbeiten können. Durch ihre Filterfunktion haben Stereotype eine Funktion als Wegweiser, Orientierungs- und Handlungshilfen. Allerdings bestehen Stereotype aus „Allsätzen“, die mit oder auch ohne unsere Intention bruchlos zu Verallgemeinerungen in Form von Vorurteilen übergehen können, mit denen Zustimmung erheischt wird („Die Schwulen/Die Ausländer sind irgendwie … komisch“).
Stereotype können sich auf sichtbare soziale Differenzkategorien beziehen, wie Aussehen und Hautfarbe, auf „kulturelle“ Unterschiede, die dem Ansehen derer, die sie äußern, nicht abträglich sind, in vielen Fällen aber auf rassistischen Klassifizierungen beruhen, ohne dass dieser Zusammenhang bewusst ist. Weitere Differenzkategorien betreffen die Herkunft von Personen, deren sozio-ökonomische Lage, Religion, politischen und rechtlichen Status. Ein zentraler Mechanismus der Erzeugung und Reproduktion von Stereotypen liegt im politischen und auch im – unkritischen – sozialwissenschaftlichen Diskurs und dessen Verbreitung durch Nachrichtenmedien. Ein Beispiel dafür ist die Rede von „muslimischen Jugendlichen“ als einer scheinbar einheitlichen und erkennbaren Problemgruppe, wie dies in Politik, Öffentlichkeit, in sozialwissenschaftlichen Studien und Veröffentlichungen der Sozialen Arbeit geschieht (vgl. kritisch hierzu Franz 2013).
Als handlungsfähige Akteure möchten wir gerne den Freiheitsraum haben, selbst bestimmen zu können, mit welchen unserer multiplen Identitäten und Zugehörigkeiten wir uns in einer bestimmten Situation zu erkennen geben und wie wir wahrgenommen werden wollen. Einschränkend und verletzend ist, wenn über uns entschieden wird, welche Aspekte unserer Identität im Vordergrund stehen sollen, und wir auf einzelne Differenzkategorien angesprochen werden, zum Beispiel: „Was denken Sie als freiwillige Kopftuchträgerin dazu?“ Mit dieser Reduzierung der Person auf ein – umstrittenes – Merkmal wird das Privileg beansprucht, über die Person zu sprechen und nicht auf gleicher Ebene mit ihr zu kommunizieren. Für die so adressierte Person entsteht eine kommunikative Zwangslage, die sie auflösen kann, indem die Frage nicht beantwortet, sondern kommentiert wird. Dies kann aber situativ schwierig sein.
Eine Bedrohung durch Stereotype („stereotype threat“, Petersen/Six 2008, 89) kann Selbststereotypisierung oder eine selbsterfüllende Prophezeiung hervorrufen, so dass eine Person aus sozialem Zuschreibungs- und Erwartungsdruck heraus Stereotype reproduziert. Dazu ein eher komisches Beispiel aus einem Interview: „Ich habe mich so betrunken, und eigentlich trinke ich nie. Ich habe ihnen Wodka serviert, weil sie [die deutschen Besucher] mit dieser Erwartung gekommen sind, Du bist Russe, dann trinkst Du ja bestimmt Wodka.“
Stereotype beinhalten miteinander verflochtene kognitive, emotionale und Verhaltenskomponenten. Kognitive Komponenten verbinden Dimensionen der Wahrnehmung zu einer sozialen Kategorie und schaffen eine illusorische Korrelation zwischen beiden, die als selbstverständlich, zutreffend und richtig erscheint („sie“ sind „so“). Emotionale Komponenten bestärken die verinnerlichten normativen Regeln als gut und richtig und befriedigen ein Bedürfnis nach normativer Konformität sowie den Wunsch, zu einer positiv besetzten „Wir“-Gruppe zu gehören. Wir beurteilen unsere Mitmenschen vornehmlich emotional, als „warm“ oder „kalt“, „kompetent“ oder „inkompetent“ und begründen unseren Eindruck auf scheinbar rationale Weise. Menschen „anderer“ und „fremder“ Gruppenzugehörigkeit werden dabei negative Eigenschaften aus dem Kategorienrepertoire zugeschrieben, die ihr Verhalten scheinbar erklären. Stereotype funktionieren dann keineswegs als Orientierungshilfen zur Erleichterung der Kommunikation. Im Gegenteil, wenn wir auf das für uns „Fremde“ beispielsweise eines Namens oder der äußeren Erscheinung unseres Gegenübers reagieren, etwa einer körperlichen Behinderung, wird unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung dadurch gebunden und auf die Herstellung von Differenz fixiert.
Durch Vorannahmen und Fremdzuschreibung kommt es zu asymmetrischer Kommunikation, die die Grundlagen gegenseitiger Verstehens- und Verständigungsprozesse zerstört. Dies beschädigt auf gesellschaftlicher Ebene auch die Grundlagen gleichwertiger Teilhabe und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen in einer demokratischen Gesellschaft.
An dieser Stelle lassen sich die eingangs zitierten vier Grundannahmen von Alfred Schütz auf Stereotype über „andere“ und „fremde“ Gruppen beziehen:
1. Als Bestätigung unserer Erwartungen und unseres Vorwissens („So sind sie, und so bleiben sie“)
2. Als Bestätigung der Quellen unseres Vorwissens als zuverlässig und überlegen („Es bewahrheitet sich eben immer wieder, dass …“)
3. Als Bestätigung, dass wir die allgemeine Regel oder eine Typologie kennen, die durch Ausnahmen bestätigt wird („Bei Dir hätte ich aber gar nicht gedacht, dass Du Türke bist“)
4. Als Bestätigung, dass wir mit unserem Vorwissen auf der sicheren Seite sind („Es ist allgemein bekannt, alle denken und wissen, dass es so ist“)
Hinzu kommt noch die Bildsprache, die Stereotype als asymmetrisches Vorwissen über „andere“ und „Fremde“ zementiert. So werden Fremde, „Flüchtlinge“ und Asylsuchende als unmittelbare Gefahr für die Einheimischen dargestellt, mit Bildern unbeherrschbarer Naturkatastrophen wie Überflutung, einem überwältigendem Ansturm oder einem übervollen Boot, das zu kentern droht. Deutschland erscheint hingegen als „schutzlos“, mit bereits „begrenztem Raum“, den die Neuankömmlinge sprengen würden (Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e. V.).
Mechanismen von Stereotypen bestehen in psychologischer Sicht darin, dass in Bezug auf die „Wir“-Gruppe positives Verhalten (zum Beispiel das Aufhalten einer Tür) die entsprechende Person insgesamt positiv charakterisiert wird („Er ist hilfsbereit“). Negatives Verhalten wird hingegen als einmaliges, situatives beschrieben, das für die Person nicht typisch ist („Er hat mir die Tür nicht aufgehalten“). Im Gegensatz dazu wird positives Verhalten derjenigen, die wir nicht zu „uns“ zählen, auf die einmalige Situation begrenzt („Er hat mir die Tür aufgehalten“) und nicht auf die Einschätzung der Person übertragen. Im Fall eines negativen Eindrucks (des Nicht-Aufhaltens der Tür) wird aber die Person insgesamt negativ charakterisiert („Er ist unhöflich“, vgl. Petersen/Six 2008). Die gleichen Eigenschaften können je nach Situation und Referenzgruppe die Bedeutung diametral ändern:
„Intelligenz, Mäßigung, Bildung, Rationalität und Zuwendung an die Familie (in Verbindung mit unternehmerischem Erfolg) können als List, Feigheit, Spitzfindigkeit, Unmännlichkeit, Stammesdenken und Gier dargestellt werden, während die scheinbare Betonung des Körpers, des Exzesses, Instinkts, der Zügellosigkeit und Gewalt als Erdverbundenheit, Spontanität, Seelentiefe, Großzügigkeit und kriegerische Kraft interpretiert werden können.“ (Slezkine 2004, 106)
Positive Stereotype über „ethnische“ Minderheiten fokussieren oft Bereiche, in denen es nicht um politische und gesellschaftliche Macht geht, wie Sport, Musik und Essen. In diesen Bereichen wird soziale Vielfalt als legitime und erwünschte Bereicherung zelebriert. Dabei verbergen die scheinbar eindeutig positiven Stereotype in der Regel, dass gesellschaftliche Schlüsselpositionen für Minderheiten kaum erreichbar sind und im Gegenteil der Zugang zu Bildungs- und Berufschancen sehr ungleich ist und vorhandene Statusunterschiede weiter verstärkt werden.
Der mögliche Übergang von Stereotypen zu Vorurteilen geschieht beispielsweise durch die substantivische Benennung („die Türkin“, „der Jude“, „der Schwule“, „der Schwarze“), in der sich die Geschichte der Ausgrenzung, Verfolgung und Diskriminierung von Minderheiten spiegelt. In der Alltagssprache, insbesondere der Jugendsprache gelten Gruppennamen als Zeichen einer eigenen, scheinbar unabhängigen Positionierung gegenüber der geschichtlichen Bedeutung der herabsetzenden Bezeichnungen. Für die Professionalisierung in der Sozialen Arbeit – und ganz grundlegend für die Kommunikation und Interaktion in einer demokratischen Gesellschaft – ist es aber unabdingbar, die in der Kompromissrede („Wir beide wissen schon, was ich meine“) enthaltenen Stereotype zu reflektieren, da sie Vorurteile beinhalten können.
Stereotype werden zum Vorurteil, wenn ihnen als emotionale Komponente ein Ressentiment unterliegt. Unterschiede werden dann zu grundsätzlichen und unüberbrückbaren erklärt. Es kommt zu einer pauschalen Vorverurteilung, als „ablehnende und feindselige Haltung gegenüber einer Person, die zu einer Gruppe gehört und deswegen dieselben zu beanstandenden Eigenschaften haben soll, die man der Gruppe zuschreibt“ (Peterson/Six 2008, 109). Das Ressentiment impliziert starke negative Gefühle von Abwertung bis offener Feindlichkeit, die oft als Intoleranz und Diskriminierung zum Ausdruck kommen. Es handelt sich um eine affektiv aufgeladene Abwertung, die Machtverhältnisse verfestigt und den Status quo der dominanten Gruppen zementiert (vgl. Dovidio 2010, 7). Das Ressentiment wird am Beispiel folgender Aussage einer Lehramtsstudierenden über Migrant_innen deutlich, die sich auf „muslimische Migranten“ bezieht: „Sie leben hier seit 30, 40 Jahren, können kein Deutsch, sprechen ihre Sprache, leben in ihren Gegenden, sind nur unter sich und essen ihr Essen (betont).“ Auf die Nachfrage, was daran störend sei, fährt die Studierende fort: „Naja, halt alles nur unter sich? Es ist ja nicht umsonst, dass so viele Migrantenkinder an den Förder- und Hauptschulen sind, bei so Eltern, na? Kein Wunder!“
Die vier Kategorien des quasi-selbstverständlichen Alltagswissens (vgl. Schütz 1972) werden durch die emotionale negative Aufregung über eine konstruierte „Migrantengruppe“ zum Vorurteil. Die Studierende behauptet, es sei berechtigt, dass „Migrantenkinder an den Förder- und Hauptschulen sind“, indem sie ihre Abneigung und Empörung mit Elementen eines verbreiteten Diskurses über eine scheinbar fehlende Bereitschaft zur Integration (muslimischer) Einwanderer und ihrer Familien rationalisiert.
Das Beharren auf „dem, was alle wissen“, wird durch die Empörung gegenüber einer als einheitlich konstruierten Gruppe der Migrant_innen gesteigert, die Probleme habe und vor allem Probleme verursache. Durch eine Verkehrung ins Gegenteil wird „ihnen“ die Schuld für gesellschaftlichen Ausschluss zugeschrieben. Als generalisierende Vorstellungen sind Vorurteile sehr stabil und können durch widersprechende Erfahrungen oder den Hinweis darauf kaum korrigiert werden. Da die Argumentation mit Vorurteilen nicht auf realen Erfahrungen beruht, erweist sie sich als erfahrungsresistent (vgl. Kallmeyer 2002, 154). Unterschiede gelten dann als unüberbrückbare Unterschiede, die wir moralisch verurteilen („Sie essen Insekten! Was kann man von Menschen erwarten, wenn sie das essen!?“). Wie Albert Einstein gesagt haben soll, seien Vorurteile schwerer zu spalten als Atome (Petersen/Six 2008, 18).
Da es aber ein verbreitetes Bewusstsein dafür gibt, dass offen geäußerte Vorurteile auf diejenigen zurückfallen, die sie äußern, werden Ressentiments – Feindseligkeit und Voreingenommenheit – in vielen Fällen in eine scheinbar rationale Rechtfertigung eingekleidet: („Ich habe nichts gegen Fremde, ich bin ein toleranter Mensch, aber sie sollten sich schon anstrengen und anpassen“). In anderen Fällen wird Political Correctness kritisiert, durch die man sich eingeschränkt fühle („Man wird doch wohl noch sagen dürfen!“), ohne den Sachverhalt der Herabsetzung anderer durch die eigene Rede zur Kenntnis zu nehmen.
Mit Studierenden der Sozialen Arbeit diskutierten wir die Aussage einer Beratenden, „Migranten sind homophob“. Ein Student meinte: „Aber es ist wirklich so, dass Migranten homophob sind, es ist kein Vorurteil. Ich bin auch schwul und vermeide bestimmte Gegenden, in denen sich Migranten aufhalten.“ Mit „Migranten“, so stellte sich heraus, meinte er „muslimische Männer“. Auf die Nachfrage „Und wenn Sie aus der Großstadt auf das Land fahren?“ entgegnete eine Studentin: „Da sind alles alte Nazis, die sind sowieso homophob“. Auf die folgende Nachfrage: „Und wenn sie nach Leipzig fahren?“ entgegnete die Studentin: „Dort sind alle Kommunisten und sowieso homophob“. Auf die Frage schließlich „ Und wenn Sie hier an der Hochschule einen deutschen männlichen Studenten aus der Mittelschicht treffen, der homophob ist, wie würden Sie das erklären?“ zögerte die Studentin: „Mmh – unaufgeklärt?“ An diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass eine Gruppenzuordnung („Migranten“, „alte Nazis“, „Kommunisten“) als Vorverurteilung erfolgt, wenn wir mit den entsprechenden Menschen nichts zu tun haben (wollen). Bei einer uns näherstehenden Person erklären wir das gleiche Phänomen („homophob“) zu einer Frage des relativen Aufgeklärt-Seins und damit als veränderbar.
Durch Vorurteile werden Menschen aus einem imaginierten Kollektiv (der Wir-Gruppe), dem man sich selbst zugehörig fühlt, auf grundsätzliche Weise ausgeschlossen. Der Ausschluss-Charakter des Vorurteils ist auch als Menschenfeindlichkeit bezeichnet worden (vgl. Zick/Küpper/Hövermann 2011, 20). In struktureller Hinsicht bestehen keine Unterschiede zwischen den Ausgrenzungsmechanismen althergebrachter biologischer Rassismen und rhetorisch modernisierten Formen kulturalistischer Vorurteile; aufgrund „angeborener“ oder „kultureller“ Dispositionen werden Menschen als gleichermaßen „unfähig, sozial aufzusteigen“ (Weiss 2002, 20), definiert. In der Kritik des Vorurteils ist es wichtig, die Positionierung derjenigen zu thematisieren, die Vorurteile äußern, um deutlich zu machen, dass es um ihre ausgrenzende Rede gegenüber Personen oder Gruppen von Personen geht und nicht um deren Handlungen und Eigenschaften. Die ausgrenzende Positionierung beinhaltet immer die Behauptung der eigenen Besserstellung in gesellschaftlichen Machtverhältnissen.
Ressentimentgeladene Vorurteile beinhalten unter anderem Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Antiziganismus, Antiislamismus, Behindertenfeindlichkeit, Ageism, Homophobie als Aberkennung der prinzipiellen Gleichheit von Menschen und als Ausgrenzung Einzelner und Gruppen von Personen. Ausgrenzung kann sich als Verminderung des Kontakts durch die Distanzierung von scheinbar „anderen“ manifestieren oder als diskriminierendes Handeln.
Diskriminierung beinhaltet die Ungleichbehandlung und Benachteiligung von Individuen wegen ihrer – tatsächlichen oder zugeschriebenen – Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder Kategorie (vgl. Kallmeyer 2002, 154). Dabei sind Vorurteile als Feindseligkeit und durch ihren Ausschlusscharakter ausschlaggebender als Stereotype. Diskriminierung beinhaltet vorurteilshaftes Verhalten gegenüber Einzelnen und Gruppen der Bevölkerung, durch Einzelne und insbesondere durch Institutionen, deren Regulierungen und Praxis Ungleichheit zwischen Gruppen und Bevölkerung verstärken (vgl. Dovidio 2010). Allerdings sind vorurteilshafte Einstellungen nicht identisch mit diskriminierendem Handeln. Zwar können Vorurteile Diskriminierung nahelegen, es hängt aber von den situativen – gesellschaftlichen, institutionellen – Bedingungen ab, ob es dazu kommt. Daher gehört es zur Verantwortlichkeit aller – gerade auch Professioneller in der Sozialen Arbeit –, die institutionellen Voraussetzungen und Routinen der eigenen Tätigkeit immer wieder kritisch zu befragen, um Prozesse und Mechanismen der Diskriminierung zu erkennen und diesen gegenzusteuern.
Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung werden gerade in Institutionen in vielen Fällen geleugnet und anderen als der „Wir“-Gruppe zugeschrieben (für den pädagogischen Bereich vgl. Stender/Follert/Özdogan 2010). Diskriminierung kann sich also als Stigmatisierung äußern, aber auch als De-Thematisierung oder Ignorieren.
Abschließend möchten wir noch einige Strategien skizzieren, gegen Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung vorzugehen und ein reflektiertes Bewusstsein dafür zu entwickeln. Aktive Aufklärung und sozial-politisches Engagement bilden Gegenstrategien. Insbesondere diejenigen, die nicht direkt von Diskriminierung betroffen sind, sollten aufmerksam auf jede Form der Herabsetzung anderer reagieren und diese nicht unwidersprochen hinnehmen. Nicht-Thematisieren bestärkt Vorurteile, es gilt dann als stillschweigendes Einverständnis. Gegenstrategien beinhalten Perspektivenübernahme und Empathie, persönliche Beziehungen, gemeinsame Ziele, Teamarbeit und gemeinsames Handeln, um Vertrauen zu sichern. Gerade in der Sozialen Arbeit sind entsprechende Strategien von grundlegender Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Professionalität. Grundprinzipien des Reflektierens sind unabdingbar, um Stereotypisierung durch Diskursübernahme zu kontrollieren und eigene Zugehörigkeiten zu „Wir“-Gruppen – als permanenten identitätsstiftenden Prozess – nicht über den Ausschluss anderer zu definieren.
Für diejenigen, die immer wieder von Zuschreibungen und Ungleichbehandlung betroffen sind, kann dies in einer resignativen Haltung sowie in der Vermeidung des Kontakts mit Angehörigen gesellschaftlich dominanter Gruppen resultieren. Viele Menschen entwickeln aber Gegenstrategien, so die Suche nach Unterstützung bei nahestehenden Menschen in der Familie oder bei Freunden sowie die Stärkung in der „Wir“-Gruppe (einer „Szene“, in Vereinen etc.) Wichtig sind auch unterstützende Strukturen, wie Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, Psychotherapie (vgl. Bernstein u. a. 2010).
Eine Studierende ohne Migrationshintergrund:
„Jetzt verstehe ich, wie es ist, diskriminiert zu werden. Gestern in meiner mobilen Jugendarbeit haben die Kinder fünf-, sechsmal gesagt [zeigt auf ihre rote Haare]: ,Hast Du echte Haare?? Was hast Du am Gesicht?‘ [zeigt auf die Sonnensprossen] Und dann haben sie mich ,Möhre‘, ,Karotte‘ gerufen, irgendwann habe ich gesagt: ,Also, nö, genug.‘ Ein Mädchen sagte mir: ,Ich werde mir auch die Haare färben lassen, aber nicht so ein hässliches Rot wie bei dir, eher dunkler. Deine sehen ja so orange aus, ich will meine so schön rot haben.‘ Und dann mein WG-Nachbar aus Korea, mit dem ich seit zwei Jahren zusammenwohne: ,Ich habe eine Frage. Die ist ein bisschen komisch. Das in deinem Gesicht?! Ist das eine Allergie? Diese Punkte? Warum hast Du die Punkte im Gesicht? Sind es Pickel oder was?‘ Das war alles an einem Tag. Abends war ich dann sehr genervt. Habe mich das erste Mal vor den Spiegel gestellt und habe versucht zu verstehen, wie ich wohl auf andere wirken muss. Ich habe mich mit anderen Augen gesehen. Und habe mich irgendwie nicht wiedererkannt. Es war ein blödes Gefühl. Aber gut, dass mir meine Mutter beigebracht hat, mich selbst ,schön‘ zu finden und stets schlagfertig gegenüber Beleidigungen zu sein!“
Fragen/Arbeitsaufträge zum Beitrag
• Was hat Einfluss darauf, ob eine Kategorisierung zum Stereotyp wird?
• Stimmen Stereotype mit der Wirklichkeit überein? Wie verhalten sie sich zu eigenen Erfahrungen?
• Welche Eigenschaften verbinde ich mit meiner „Wir-Gruppe“? Könnte es sich dabei um Stereotype handeln?
• Was unterscheidet Vorurteile von Stereotypen?
• Ist es besser, „heikle“ Themen in der Kommunikation zu vermeiden? Welche Alternativen könnte es dazu geben?
• Für wen sind Stereotype und Vorurteile problematisch?
• Wird meine Wahrnehmung nicht rassistisch, indem ich auf Differenz achte? Diskutieren Sie folgende Aussage: „When you are talking to me, remember that I am Black and forget it at the same time”!
• Warum ist es wichtig, unsere Interaktionen und unsere Kommunikation zu reflektieren?
Bernstein, Julia/Dern, Susanne/Inowlocki, Lena/Oberlies, Dagmar (2010): Interdisziplinäre Expertise/Untersuchung zum Thema „Mehrfach-, mehrdimensionale und intersektionale Diskriminierung im Rahmen des AGG“. Berlin: Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
Dovidio, John F. u. a. (2010): Prejudice, Stereotyping and Discrimination. Theoretical and Empirical Overview. In: Dovidio, John F. u. a. (Hrsg.) (2010): The SAGE Hand-book of Prejudice, Stereotyping and Discrimination. London u. a.: SAGE Publications, S. 3–28.
Franz, Julia (2013): Muslimische Jugendliche? Eine empirisch-rekonstruktive Studie zu kollektiver Zugehörigkeit. Opladen: Budrich.
Hall, Stuart (1994): Rassismus und Kulturelle Identität. Hamburg: Argument-Verlag.