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Titelseite

 

Ich erinnere mich, wie ich im Schnee lag, ein kleines, warmes Bündel, das langsam kälter wurde, und die Wölfe leckten an mir. Oder fraßen mich, ich konnte es nicht sagen. Ich wusste nur, dass das Gewirr ihrer Leiber – in ihren Pelzen glitzerte Eis – auch noch das winzige bisschen Wärme von mir abhielt, das die Sonne verströmte. Ich versank in einem eisigen Meer und wurde wiedergeboren in eine warme Welt.

Ich sah ihn wieder – den Wolf, der mich mit der Schnauze angestupst hatte, erst in die Hand, dann an die Wange, anstatt mir mit gieriger Zunge die letzte Wärme zu stehlen. Er stand am Waldrand am anderen Ende unseres Gartens. In der Dämmerung, wenn ich zu lange draußen auf meiner Reifenschaukel blieb, spürte ich seinen Blick, doch wenn ich mich umdrehte, sah ich ihn nur noch im Unterholz verschwinden.

Angst hatte ich nie vor ihm. Er war noch jung, trotzdem wäre er groß genug gewesen, um mich von der Schaukel zu reißen, wenn er gewollt hätte. Vor der älteren Wölfin, die ihn oft begleitete, fürchtete ich mich jedoch. Noch scheuer als er, beobachtete sie mich, oder besser gesagt: Sie beobachtete ihn dabei, wie er mich beobachtete. Ich sah den Hunger in ihren blassgelben Augen.

Während mein Körper sich in den eines Teenagers zu verwandeln begann, Ecken und Kanten zu Kurven wurden und ich die Reifenschaukel immer häufiger als ruhiges Plätzchen zum Lesen nutzte statt zum Schaukeln, reifte auch er zu einem ausgewachsenen Wolf heran. Das unregelmäßige Fell eines Jungtiers wich einem wunderschönen, weich aussehenden Pelz. Seine Augenfarbe änderte sich von Babyblau zu einem bräunlichen Gelb und die Neugier darin wich Misstrauen. Doch noch immer hatte ich keine Angst.

Ich war fasziniert von ihm und ihm schien es mit mir ebenso zu gehen. Es war wie ein Flirt, beinahe, doch ich wusste, dass Wölfe sich Partner fürs Leben suchten und diese hungrige Wölfin höchstwahrscheinlich seine Gefährtin war. Doch ich war jung und naiv. Ich malte mir große Abenteuer aus, in denen ich nachts zu einem Wolf wurde und mit ihm durch einen goldenen Wald preschte, in dem es niemals schneite.

Eines orangebraunen Abends, als ich unter dem Baum mit der Reifenschaukel saß und ein Buch über König Artus las, spürte ich plötzlich eine Schnauze an meiner Hand, dann an meiner Wange. Ich rührte keinen Muskel, um ihn nicht zu erschrecken, doch es half nichts. Bevor ich auch nur den Blick in seine Richtung wenden konnte, war er schon wieder verschwunden.

Der nächste Wolf, den ich zu Gesicht bekam, war sie, die mich vom Waldrand her anknurrte.

Wochen vergingen zwischen seinen Besuchen und ich fühlte seine Abwesenheit genauso stark wie seine Gegenwart. Und bald schon waren er und die Wölfin nicht mehr die einzigen, die mich an meinen Leseabenden beobachteten. Ein massiger Rüde, dessen Schnauze zu ergrauen begann, stapfte geheimnisvolle Pfade im Schutz der Bäume, ohne mich aus den Augen zu lassen. Dann verschwand er, lautlos trotz seiner Größe, genau wie mein Wolf.

Außerdem zeigte sich nun auch ein mageres, geschecktes Tier, jedoch nur aus der Ferne. Ich war froh, dass es nicht näher kam, wenn ich seinen fleckigen Pelz im Sonnenlicht aufblitzen sah, das durch die Baumkronen drang. Alles an ihm – sein stumpfes, strähniges Fell, die Kerbe in seinem Ohr, das brandig tränende Auge – deutete auf einen kranken Körper hin und in den wild rollenden Augen schien bisweilen auch ein kranker Geist aufzublitzen.

Und dann, eines Abends kurz vor den Weihnachtsferien, erschien die Wölfin zwischen den kahlen Baumgerippen, die ihr keinerlei Möglichkeit zum Verstecken boten. Ich beobachtete sie, sicher hinter der Scheibe des Wohnzimmerfensters, als plötzlich ein weiterer Wolf neben ihr auftauchte. Es war nicht mein Wolf; seine Schultern waren breiter und sein Pelz beinahe schwarz. Er drückte seine Schnauze an ihre, die liebevolle Berührung eines Gefährten, während die treulose Wölfin weiter zum Haus hinübersah, bevor sie die Geste erwiderte.

Weihnachten riss mich fort von den Wölfen im Wald, doch keine Geschenke, kein leckeres Essen, nicht mal die liebevollen Umarmungen meiner Großmutter vermochten die Wölfe aus meinem Kopf zu vertreiben.

Ich sah ihn nicht wieder, bis es zum vierten Mal in diesem Winter schneite. Zögernd stapfte er durch die weiße, pulvrige Schicht auf mich und meinen halbfertigen Schneemann zu.

»Na, Wolf, hast du Hunger?« Er sah zumindest so aus; man konnte seine Rippen zählen. Ich holte ein Plätzchen aus meiner Jackentasche und warf es ein Stück weiter in den Schnee. Auf die Bewegung hin stob er davon, doch als ich den Kopf hob, war das Plätzchen nicht mehr da und er stand am Waldrand und leckte sich über die Lefzen.

Die Wölfin erschien neben ihm, lautlos wie ein Geist, und starrte mich an.

»Ich kenne dein Geheimnis«, sagte ich zu ihr.

Sie knurrte und verschwand. Er, der langsam alt genug war, um auch ohne ihre schützende Gegenwart mutig zu sein, blieb allein zurück.

Ich lächelte ihm zu. »Ich weiß, du hast nur Augen für mich.«

Er senkte den Kopf und wedelte kurz mit dem Schwanz, bevor die Bäume auch ihn verschluckten.

Am kältesten Tag des Jahres, ich war ganz allein zu Hause, hörte ich Schreie. Es war die Art von Schreien, bei der sich die Härchen an meinen Armen aufrichteten und Tränen in meine Augen stiegen. Im Nu hatte ich mir den Mantel übergeworfen und war aus der Tür, in der Hand Dads Neunmillimeter von ganz oben auf dem Küchenschrank.

Ich fürchtete, draußen in der schleichenden Dämmerung den Ursprung der Laute nicht zu finden, doch meine Sorge war unbegründet. Als ich über den hart gefrorenen Schnee zwischen die Bäume schlitterte, war das Geschrei in ein hohes, anhaltendes Heulen übergegangen. Ich hatte Angst zu stürzen und dabei aus Versehen die Pistole abzufeuern.

Die Bäume schienen sich in immer gleicher Monotonie bis in die Ewigkeit zu erstrecken, genauso wie das Heulen, dünn und unmenschlich in der Stille der Nacht.

Dann riss es plötzlich ab.

Nichts regte sich im Wald. Der Frost hatte jede Spur von Leben unter einer Schicht kalten Glases erstarren lassen.

Doch das war nicht wichtig, denn ein Stück weiter vorn sah ich die Frau. Ein dunkelroter Schmetterling breitete sich unter ihrem Körper aus und brachte den Schnee zum Schmelzen.

Sie war tot. Es war die unbestreitbare Wahrheit und die Indizien waren so grausam, dass ich später nichts anderes sagen konnte, als dass es ein Wolf getan hatte.

Ich rannte nicht zum Haus zurück, obwohl mein Instinkt mich dazu drängte. Zu fliehen war ein Eingeständnis von Angst und Angst ein Zeichen von Schwäche. Ich wusste nicht, wie viele Kugeln sich in der Pistole befanden, und konnte nicht sicher sein, dass meine steif gefrorenen Hände sie tatsächlich ihrem Ziel zuführen würden. Also ging ich zurück, zwischen den nackten Bäumen hindurch, und meine Augen nahmen Bewegungen im Wald ringsum wahr, wie die von Fischen im Wasser.

Die Polizei rückte mit Taschenlampen, Schusswaffen und beruhigenden Worten an. Sie nannten mich Ma’am, obwohl ich noch eine Miss war, trampelten die Stille des Eiswaldes nieder und kehrten mit nichts als einer Handvoll blutigen Schnees zurück.

Die Suche nach der Leiche zog sich über Wochen hin, doch die Polizei suchte sich buchstäblich einen Wolf. Sie fanden nichts als zermürbende Stille, und nachdem sie wieder fort waren, tauchte ein neues Tier auf. Es war ein Weibchen und ich sah Furcht und einen Ausdruck von Beklemmung in ihrem Blick, obwohl sie frei war und gehen konnte, wohin das geheimnisvolle Gefüge der Bäume sie führte.

Er erschien ein paar Tage später, allein, und ich war hin- und hergerissen zwischen der Erleichterung, dass er immer noch nur Augen für mich hatte, und Wut.

Im tauenden Schnee trat ich ihm schließlich entgegen, so nah, dass ich die Hand ausstrecken und sein glänzendes Fell hätte berühren können. »Hast du sie getötet?«

Er zuckte nicht vor meiner Stimme zurück. Er stand bloß da, reglos wie eine Statue.

»Die Schreie gehen mir einfach nicht aus dem Kopf.« Beinahe hätte ich »ihre Schreie« gesagt, doch das hätte es aus irgendeinem Grund noch unerträglicher gemacht.

Zu meiner Überraschung schloss er die Augen. Es widersprach jedem Instinkt, den ein Wolf haben sollte. Ein Leben lang dieser regungslose Blick und jetzt schien es, als erstarrte er in beinahe menschlichem Kummer, die leuchtenden Augen geschlossen, Kopf und Schwanz gesenkt.

Etwas so Trauriges hatte ich noch nie gesehen.

Langsam, fast ohne mich zu bewegen, näherte ich mich ihm, wie immer ohne eine Spur von Angst. Seine Ohren zuckten wachsam, als ich näher kam. Ich ging in die Hocke und war ihm jetzt so nah, dass ich den wilden Duft seines Pelzes riechen und seinen warmen Atem spüren konnte.

Und dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen – ich streckte die Hand nach ihm aus, und als er nicht zurückwich, vergrub ich beide Hände in seinem Fell. Außen war es nicht so seidig, wie es aussah, aber unter dem drahtigen Deckhaar wurde es weich und flauschig wie die Federn eines Kükens. Mit einem dumpfen Seufzen drückte er seinen Kopf an meinen Körper, die Augen noch immer geschlossen. Ich hielt ihn im Arm, als wäre er nichts weiter als ein Schoßhund. Nur sein wilder, strenger Geruch erinnerte mich an das, was er wirklich war.

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr: In der Ferne sah ich den gescheckten Wolf und näher, am Waldrand, stand die alte Wölfin. Ihre Augen glühten.

Ich spürte ein plötzliches Grollen an meinem Körper, das mehr und mehr anschwoll, und mir wurde klar, dass mein Wolf sie anknurrte. Unerwartet forsch kam die Wölfin näher und er wandte in meinen Armen den Kopf, um sie anzusehen.

Sie knurrte nicht und irgendwie war das sogar noch schlimmer. Ein Wolf hätte doch knurren müssen. Sie aber starrte uns bloß an, ihr Blick flog zwischen ihm und mir hin und her. Ihr gesamter Körper drückte Hass aus.

Der magere Wolf beobachtete uns, reglos, von seinem Versteck zwischen den Bäumen aus. Noch immer leise knurrend, drängte mein Wolf sich enger an mich und zwang mich einen Schritt zurück, dann noch einen. Auf diese Weise bewegten wir uns zusammen in Richtung des Hauses. Meine Hand ertastete die Tür und ich stolperte zurück ins Haus. Wie Geister verschmolzen der Gescheckte und die Wölfin mit dem Wald und schließlich verschwand auch mein Wolf in der Dunkelheit.

Wochen vergingen. Der Wald war frei von Wölfen, aber voller Vögel, so klein, dass sie in meine Handfläche gepasst hätten, und frischer grüner Knospen, die nach neuem Leben dufteten. Es war unerträglich. Ich wollte nicht dasitzen und Massen von Tieren in diesem Wald sehen, nur das eine nicht, nach dem ich mich sehnte. Doch ich wollte auch nirgendwo anders sein, für den Fall, dass er wieder auftauchte. Wozu war die Wölfin in ihrer Wut imstande?

Meine Eltern fuhren ohne mich in den Frühjahrsurlaub und ließen mich für drei Tage in einem Haus zurück, das ebenso leer war wie der Wald. Am zweiten Tag ergriff mich Unruhe, eine unstete Zeitgenossin, und trieb mich schließlich erneut in den Wald, das tröstende Gewicht der Pistole in meiner Hand. Von der Trostlosigkeit, die dort noch wenige Monate zuvor geherrscht hatte, als die Schreie mich angelockt hatten, war nichts mehr übrig. Nun waren die Bäume in sattes Grün gehüllt und von Ranken überwuchert; sorgloses Vogelgezwitscher und das selbstvergessene Surren von Insekten schufen eine lebhafte Geräuschkulisse.

Aber es war derselbe Wald wie zuvor und wieder waren es Schreie, die meine Schritte lenkten, doch diese Schreie waren für niemanden wahrnehmbar außer mir selbst.

Ich fand ihn zusammengekrümmt am Fuß einer Birke, wo er leise vor sich hin wimmerte. Sein glänzender Pelz war verschwunden, er war nackt. Aber ich wusste, dass es mein Wolf war, noch bevor er die Augen aufschlug. Seine blassgelben Augen öffneten sich, als er mich näher kommen hörte, doch er regte sich nicht. Er war rot verschmiert, vom Ohr den Hals hinunter bis zu den Schultern – wie eine tödliche Kriegsbemalung.

Schnell hockte ich mich neben ihn, legte die Pistole ins frische Gras und nahm meinen Rucksack ab. Ich holte ein Geschirrtuch, bedruckt mit lachenden Enten, heraus und löste vorsichtig die Hand, die er sich auf die Wunde an seinem Hals presste. Dann legte ich das Tuch darauf und strich ihm das blutverschmierte Haar aus den Augen. Neben all dem Wilden lag nun auch eine Klarheit in seinem Blick, die ich nie zuvor darin gesehen hatte.

»Ich will nicht zurück.« Diese gequälten Worte riefen sofort eine Erinnerung in mir wach: ein Wolf, der voll stummem Schmerz vor mir stand. »Wenn ich … wenn ich anfange, mich zu verwandeln, lass mich sterben.«

Er würde nicht sterben. Ich hatte es selbst überlebt.

»Hab keine Angst.«

Er erschauderte und schloss die Augen. »Ich habe dich beobachtet. Um da zu sein, wenn du dich verwandelst. Um dir zu helfen. Aber es ist nie passiert.«

Ich erinnerte mich daran, wie oft ich davon geträumt hatte, ein Wolf zu sein und Abenteuer mit ihm zu erleben.

»Du bist doch gebissen worden. Du hättest dich verwandeln müssen, so wie wir anderen auch.«

An meinem Hals waren noch immer die Narben zu sehen. Ich dachte an die Zungen der Wölfe, an ihre Zähne. Ich dachte daran, wie er seine Schnauze in meine Hand, an meine Wange gestoßen hatte und sich dann aus seiner Wolfsgestalt in seine wahre Haut gezwungen hatte. Wie er mich nach Hause getragen hatte, weg von den hungrigen Blicken und zurück ins Leben.

Ich spürte die Hoffnung in seiner Stimme. »Ich glaube nicht, dass es ein Heilmittel gibt«, sagte ich leise. »Hast du mich deswegen die ganze Zeit beobachtet?«

Er erschauderte abermals. »Zuerst ja.«

Ich legte seine Hand auf das Geschirrtuch, damit er es selbst halten konnte, packte die Pistole in den Rucksack und lehnte ihn zurück an den Baum; ich würde ihn später holen.

»Diesmal rette ich dich.« Ich sammelte meine Kräfte und hob ihn auf meine Schultern. Schwer, aber nicht so schwer, wie er hätte sein sollen, und für mich sogar leicht.

Etwas bewegte sich am Rand meines Gesichtsfelds und da stand die Wölfin, ein paar Schritte von mir entfernt, den Blick starr auf mich gerichtet.

Ich spürte, wie er auf meinen Schultern zu zucken begann und sein menschlicher Körper den immerwährenden Kampf verlor. Die Wölfin kam auf mich zu. Sie würde sich die Genugtuung nicht nehmen lassen, ihn sterben zu sehen, nachdem er sie abgewiesen hatte.

Ich trat vor und fletschte die Zähne, um ihr zu zeigen, dass sie sich von meiner unveränderlichen Gestalt hatte irreführen lassen.

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Für Kate,
weil sie geweint hat.

KAPITEL 1 · GRACE

-9 °C

Ich erinnere mich, wie ich im Schnee lag, ein kleines, warmes Bündel, das langsam kälter wurde. Die Wölfe drängten sich um mich, sie leckten und bissen, zerrten an meinen Gliedern. Das Gewirr ihrer Leiber hielt auch noch das winzige bisschen Wärme von mir ab, das die Sonne verströmte. In ihren Pelzen glitzerte Eis und ihr Atem stand in milchigen Wolken zwischen uns in der kalten Luft. Der Moschusgeruch ihres Fells erinnerte mich an nassen Hund und brennendes Laub, vertraut und bedrohlich zugleich. Ihre Zungen brannten auf meiner kalten Haut; rücksichtslose Zähne rissen an meinen Ärmeln und verfingen sich in meinem Haar, fuhren über mein Schlüsselbein, meine Kehle.

Ich hätte schreien können, aber ich schrie nicht. Ich hätte mich wehren können, aber ich wehrte mich nicht. Ich lag einfach da und ließ es geschehen. Der weiße Winterhimmel über mir färbte sich langsam grau.

Einer der Wölfe stupste mir mit der Schnauze in die Hand, dann an die Wange. Sein Schatten fiel auf mein Gesicht. Mit seinen gelben Augen sah er mich an, während die anderen Wölfe weiter an mir zerrten.

Ich erwiderte seinen Blick, solange ich konnte. Gelb. Mit goldenen und haselnussbraunen Sprenkeln, die man erst aus der Nähe sehen konnte. Ich wollte nicht, dass er wegsah, und das tat er auch nicht. Ich wollte den Arm ausstrecken und das Fell an seinem Hals berühren, aber meine Hände blieben liegen, als wären sie auf meiner Brust festgefroren.

Ich wusste nicht mehr, wie sich Wärme anfühlte.

Dann war er fort. Und plötzlich drängten sich die anderen Wölfe noch näher um mich. Erstickend nah. Ich fühlte ein Flattern in der Brust.

Es gab keine Sonne mehr, kein Licht. Ich würde sterben. Ich wusste nicht mehr, wie der Himmel aussah.

Aber ich starb nicht. Ich versank in einem eisigen Meer und wurde wiedergeboren in eine warme Welt.

Seine gelben Augen – daran erinnere ich mich. Ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen.

KAPITEL 2 · SAM

-9 °C

Sie rissen das Mädchen von seiner Reifenschaukel im Garten und schleiften es in den Wald; sein Körper hinterließ im Schnee eine zarte Spur, von seiner Welt herüber in meine. Ich sah es geschehen. Ich hielt sie nicht auf.

Es war der längste, kälteste Winter meines ganzen Lebens gewesen. Tag um Tag verging, unter einer bleichen Sonne, die keine Wärme spendete. Und dann der Hunger, dieser nagende, brennende Hunger, der mich fast um den Verstand brachte. Nichts regte sich in diesem Monat, die Landschaft war zu einer blassen, leblosen Kulisse erstarrt. Einen von uns hatten sie erschossen, als er den Müll hinter einem Haus nach Essbarem durchwühlte. Der Rest des Rudels blieb seitdem im Wald und hungerte. Wir warteten auf die Wärme und auf unsere alte Gestalt. Bis sie das Mädchen fanden. Bis sie angriffen.

Lauernd umringten sie sie, knurrten und schnappten, jeder wollte seine Zähne als Erster in die Beute schlagen. Ich sah zu. Ich sah, wie ihre Flanken bebten vor Ungeduld, wie sie das Mädchen hin und her zerrten, bis der kahle Boden unter dem Schnee sichtbar wurde. Ich sah rot verschmierte Lefzen. Aber ich hielt sie nicht auf.

Ich stand in der Rangfolge des Rudels ziemlich weit oben – dafür hatten Beck und Paul gesorgt – und hätte sofort einschreiten können, aber ich blieb ein Stück abseits stehen, zitternd vor Kälte im knöcheltiefen Schnee. Das Mädchen roch warm und lebendig und vor allem menschlich. Was war denn nur los mit ihr? Warum wehrte sie sich nicht, wenn sie noch lebte?

Ich konnte ihr Blut riechen, ein warmer, strahlender Geruch in dieser toten, kalten Welt. Ich sah, wie Salems ganzer Körper bebte, als er an ihren Kleidern zerrte. Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft – es war so lange her, dass ich etwas gegessen hatte. Am liebsten hätte ich mich zu Salem durchgedrängt und einfach so getan, als könnte ich ihre Menschlichkeit nicht riechen und ihr leises Wimmern nicht hören. Sie wirkte so klein inmitten unserer Wildheit, inmitten des Rudels, das ihr Leben eintauschen wollte gegen seines.

Knurrend schob ich mich nach vorn, die Zähne gebleckt. Salem schnappte nach mir, aber ich war größer als er, wenn auch jünger und ziemlich abgemagert. Da stieß Paul ein warnendes Grollen aus, um mir den Rücken zu stärken.

Dann war ich bei ihr. Teilnahmslos starrte sie in den Himmel. War sie doch tot? Ich schob meine Schnauze in ihre Hand, der Duft ihrer Haut – Zucker, Butter und Salz – erinnerte mich an ein anderes Leben.

Und dann sah ich ihre Augen.

Wach. Lebendig.

Das Mädchen sah mich direkt an und erwiderte meinen Blick mit verstörender Offenheit.

Ich wich zurück, und diesmal war es keine Wut, die mich zittern ließ.

Unsere Blicke verschmolzen. In meinem Gesicht klebte ihr Blut.

Ich fühlte, wie etwas in mir zerriss.

Ihr Leben.

Mein Leben.

Widerstrebend wich das Rudel zurück – misstrauisch, als gehörte ich nun nicht mehr dazu. Sie fletschten die Zähne, bereit, ihre Beute zu verteidigen. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, ein kleiner, blutender Engel im Schnee. Und die anderen wollten sie töten.

Ich sah sie an, und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.

Ich sah nicht mehr zu. Diesmal hielt ich sie auf.

KAPITEL 3 · GRACE

°C

Ich sah ihn wieder. Immer wenn es kalt war. Er stand am Waldrand am anderen Ende unseres Gartens. Seine gelben Augen folgten mir, wenn ich neues Futter ins Vogelhäuschen streute oder den Müll rausbrachte, doch er kam nie näher. In der Dämmerung, die in den langen Wintern Minnesotas ewig dauerte, saß ich auf der frostbedeckten Reifenschaukel, bis ich seinen Blick spürte. Später, als ich zu alt für die Schaukel war, stieg ich die Verandastufen hinunter und näherte mich ihm vorsichtig, die Hand ausgestreckt, Handfläche nach oben, den Blick gesenkt. Keine Bedrohung. Ich versuchte, seine Sprache zu sprechen. Aber wie lange ich auch wartete, wie sehr ich es auch versuchte, er verschwand jedes Mal im Unterholz, bevor ich ihn erreichen konnte.

Angst hatte ich nie vor ihm. Er wäre groß genug gewesen, um mich von der Schaukel zu reißen, stark genug, um mich in den Wald zu zerren, doch in seinen Augen war keine Spur von der Wildheit, die sein Körper ausstrahlte. Ich erinnerte mich an seinen Blick, das Gelb in all seinen Facetten, und ich konnte mich nicht vor ihm fürchten. Ich wusste, er würde mir nichts tun.

Und ich wollte ihm zeigen, dass ich ihm auch nichts tun würde.

Ich wartete und wartete.

Er wartete auch. Worauf, wusste ich nicht. Manchmal kam es mir vor, als ginge alles nur von mir aus.

Und doch war er immer da – und beobachtete mich dabei, wie ich ihn beobachtete. Er kam nie näher, wich aber auch nie zurück.

So ging es sechs Jahre lang. Im Winter ließ mich die unergründliche Gegenwart der Wölfe nicht zur Ruhe kommen. Im Sommer zeigten sie sich nie – und das war noch schlimmer. Wohin sie dann verschwanden, darüber dachte ich nicht weiter nach. Es waren eben Wölfe. Nur Wölfe.

KAPITEL 4 · SAM

32 °C

Der Tag, an dem ich beinahe mit Grace geredet hätte, war der heißeste, den ich je erlebt hatte. Selbst in der klimatisierten Buchhandlung kroch die Hitze langsam durch alle Ritzen und rollte in Wellen herein, sobald die Tür aufging. Träge saß ich auf meinem Hocker hinter der Ladentheke und sog den Sommer auf, als könnte ich jedes Quäntchen davon in mir speichern. So schlichen die Stunden vorbei, und die Nachmittagssonne bleichte die Bücher in den Regalen zu blassgoldenen Abbildern ihrer selbst aus, wärmte Papier und Tinte, sodass der Geruch ungelesener Wörter in der Luft hing.

Das liebte ich am Menschsein.

Ich las gerade in einem Buch, als mit einem leisen Pling die Tür aufging und einen heißen Schwall stickiger Luft hereinließ, gefolgt von einer Gruppe Mädchen. Sie lachten ausgelassen, also wandte ich mich wieder meinem Buch zu und ließ sie in Ruhe an den Regalen vorbeischlendern und über alles außer Bücher reden.

Wahrscheinlich hätte ich nicht weiter über die Mädchen nachgedacht, wenn ich nicht aus dem Augenwinkel gesehen hätte, wie eines von ihnen seine dunkelblonden Haare hochnahm und zu einem langen Pferdeschwanz band. Daran war eigentlich nichts Besonderes, aber die Bewegung sandte einen Geruch zu mir herüber. Ich kannte diesen Duft.

Sie war es. Sie musste es sein.

Schnell duckte ich mich hinter mein Buch und spähte unauffällig über den Rand zu den Mädchen hinüber. Die anderen beiden unterhielten sich immer noch und deuteten auf einen Papiervogel, den ich in der Kinderbuchabteilung an die Decke gehängt hatte. Sie sagte nichts, blieb hinter den anderen zurück und betrachtete die Bücher ringsum. Dann sah ich ihr Gesicht und in ihrem Ausdruck erkannte ich etwas von mir selbst. Ihr Blick glitt über die Regale und suchte nach Fluchtmöglichkeiten.

Wie oft hatte ich diese Situation in meiner Fantasie schon durchgespielt? Und jetzt, als es endlich so weit war, wusste ich nicht, was ich tun sollte.

Sie erschien mir hier so wirklich. Ganz anders, als wenn sie im Garten saß und las oder Hausaufgaben in ihr Heft kritzelte. Dort kam mir die Distanz zwischen uns unüberwindbar vor, dort gab es tausend Gründe, mich von ihr fernzuhalten. Aber hier im Buchladen wirkte sie plötzlich so atemberaubend nah wie noch nie zuvor. Nichts hielt mich davon ab, mit ihr zu reden.

Ihr Blick wanderte in meine Richtung und ich sah schnell wieder in mein Buch. Mein Gesicht würde sie nicht erkennen, aber meine Augen. Davon war ich überzeugt.

Ich hoffte, sie würde gehen, damit ich wieder atmen konnte.

Ich hoffte, sie würde ein Buch kaufen, damit ich mit ihr reden konnte.

Eines der Mädchen rief: »Grace, komm mal her und guck dir das an. Volle Punktzahl: So kommst du ans College deiner Träume. Klingt super, oder?«

Langsam atmete ich ein und betrachtete ihren schmalen Rücken, auf den die Sonne fiel, als sie sich zusammen mit ihren Freundinnen über die Collegeratgeber beugte. So wie sie ihren Kopf schräg hielt, kam es mir vor, als täte sie nur aus Höflichkeit interessiert. Sie nickte, als ihre Freundinnen auf andere Bücher zeigten, aber sie wirkte abwesend.

Gedankenversunken beobachtete ich, wie das Sonnenlicht, das durch die Fenster strömte, ein paar einzelne Haare aus ihrem Pferdeschwanz in rotgolden schimmernde Fäden verwandelte. Ihr Kopf bewegte sich fast unmerklich im Takt der Musik, die im Hintergrund lief.

»Hey.«

Ich fuhr zusammen, als plötzlich ein Gesicht vor mir auftauchte. Es war nicht Grace, sondern eines der anderen Mädchen, sonnengebräunt und mit dunklen Haaren. Sie trug einen riesigen Fotoapparat über der Schulter und sah mir direkt in die Augen. Ich ahnte schon, was jetzt kommen würde. Die Reaktionen auf meine Augenfarbe reichten von verstohlenen Blicken bis hin zu ungeniertem Starren. Dieses Mädchen war wenigstens ehrlich.

»Darf ich ein Foto von dir machen?«, fragte sie.

Ich suchte nach Ausflüchten. »Es gibt Völker, die glauben, Fotos rauben einem die Seele. Find ich gar nicht mal so abwegig, also keine Fotos, tut mir leid.« Entschuldigend hob ich die Schultern. »Ansonsten kannst du aber ruhig Fotos im Laden machen, wenn du willst.«

Jetzt drängelte sich das dritte Mädchen neben seine Freundin mit der Kamera: buschiges hellbraunes Haar, eine Unmenge von Sommersprossen und so viel geballte Energie, dass mich schon der Anblick völlig erschöpfte. »Na, flirtest du schon wieder, Olivia? Dafür haben wir jetzt echt keine Zeit. Hi, wir hätten gern das hier.«

Ich nahm ihr Volle Punktzahl aus der Hand und riskierte einen kurzen Blick in die Richtung, in der ich Grace vermutete.

»Neunzehn neunundneunzig«, murmelte ich.

Mein Herz klopfte wie wild.

»Für ein Taschenbuch?«, beschwerte sich das sommersprossige Mädchen, hielt mir aber dann einen Zwanziger hin. »Den Penny kannst du behalten.«

Wir hatten keine Spardose und so legte ich den Penny neben die Kasse auf den Tresen. Wie in Zeitlupe packte ich das Buch zusammen mit dem Kassenzettel in eine Tüte – vielleicht würde Grace ja rüberkommen, um nachzusehen, was da so lange dauerte.

Aber sie blieb in der Ecke mit den Biografien und las die Titel auf den Buchrücken, den Kopf leicht schief gelegt. Die Sommersprossige nahm die Tüte und grinste Olivia und mich breit an. Dann gingen beide zu Grace hinüber und schoben sie zur Tür.

Dreh dich um, Grace. Sieh mich an, ich stehe direkt hinter dir. Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie meine Augen sehen, die im Sonnenlicht bestimmt noch gelber leuchteten als sonst, und dann müsste sie mich einfach erkennen.

Sommersprosse öffnete die Tür – pling – und winkte den Rest der Herde ungeduldig herbei: Zeit zu gehen. Olivia drehte sich noch einmal zu mir um. Ich wusste, dass ich die Mädchen – Grace – anstarrte, aber ich konnte einfach nicht anders.

Olivia runzelte die Stirn und verschwand nach draußen. »Komm schon, Grace«, drängelte Sommersprosse.

Meine Brust schmerzte. Mein ganzer Körper schien plötzlich eine Sprache zu sprechen, die mein Kopf nicht recht verstand.

Ich wartete.

Aber Grace, die Einzige auf dieser Welt, von der ich erkannt werden wollte, fuhr nur bedauernd mit dem Finger über den Umschlag einer der Neuerscheinungen und verließ den Laden. Ohne auch nur zu bemerken, dass ich da war, ganz in ihrer Nähe.

KAPITEL 5 · GRACE

°C

Dass die Wölfe in unserem Wald Werwölfe waren, begriff ich erst, als Jack Culpeper getötet wurde.

Im September meines dritten Highschooljahres war Jacks Tod das Thema in der Stadt. Dabei war Jack nicht übermäßig beliebt gewesen, als er noch lebte, auch wenn ihm das teuerste Auto auf dem ganzen Schulparkplatz gehörte – den Wagen des Schulleiters eingerechnet. Eigentlich war er sogar ein ziemlicher Idiot gewesen. Aber dann wurde er getötet und prompt zum Heiligen erklärt. Es war die Art und Weise, wie er gestorben war, die jeden in ihren Bann zog, eine grausige Sensation. Fünf Tage nach seinem Tod hatte ich auf den Schulfluren bereits an die tausend unterschiedliche Versionen gehört.

Mit dem Ergebnis, dass nun alle panische Angst vor den Wölfen hatten.

Da Mom selten die Nachrichten schaute und Dad so gut wie nie zu Hause war, dauerte es seine Zeit, bis die allgemeine Panik in ihrem vollen Ausmaß auch bis zu uns durchgedrungen war. In den letzten sechs Jahren war es meiner Mutter über ihren Terpentindämpfen und Komplementärfarben beinahe gelungen, den Vorfall mit mir und den Wölfen zu vergessen. Erst der Angriff auf Jack rief die Erinnerungen wieder wach.

Nicht dass diese Sorge meine Mutter auf den logischen Gedanken gebracht hätte, mehr Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen – die ja tatsächlich von Wölfen angegriffen worden war. Stattdessen nahm sie das Ganze zum Anlass, nur noch zerstreuter zu werden.

»Mom, soll ich dir mit dem Abendessen helfen?«

Meine Mutter riss den Blick vom Fernseher los, der vom hinteren Teil der Küche aus gerade noch sichtbar war, und sah mich schuldbewusst an. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Pilzen zu, die sie gerade auf einem Schneidbrett malträtierte.

»Das war hier ganz in der Nähe. Wo sie ihn gefunden haben«, sagte Mom und deutete mit der Messerspitze in Richtung Fernseher. Mit betont betroffenem Blick wies der Nachrichtensprecher in die rechte Bildschirmecke, wo eine Karte unserer Gegend und das verschwommene Foto eines Wolfs erschienen. »Die Jagd nach der Wahrheit geht weiter«, verkündete er. Man sollte meinen, dass nach einer Woche, in der sie immer wieder von derselben Geschichte berichtet hatten, wenigstens die Fakten stimmten. Aber das Tier auf dem Foto gehörte noch nicht einmal zu derselben Unterart wie mein Wolf, der graues Fell und gelbbraune Augen hatte.

»Ich kann das immer noch nicht glauben«, redete Mom weiter. »Gerade mal auf der anderen Seite vom Boundary Wood. Da ist er umgebracht worden.«

»Oder gestorben.«

Mom runzelte die Stirn, bezaubernd schusselig und wunderschön wie immer. »Was?«

Ich sah von meinen Hausaufgaben auf – diesen beruhigend ordentlichen Reihen aus Zahlen und Symbolen. »Es kann doch sein, dass er einfach am Straßenrand ohnmächtig geworden ist und erst danach in den Wald gezerrt wurde, als er schon bewusstlos war. Das ist doch ein Unterschied. Ich finde, man sollte die Leute nicht grundlos in Panik versetzen.«

Moms Aufmerksamkeit galt nun wieder dem Fernseher, während sie die Champignons in so kleine Stücke häckselte, dass man damit Amöben hätte füttern können. Sie schüttelte den Kopf. »Die haben ihn angegriffen, Grace.«

Ich sah aus dem Fenster zum Waldrand hinüber, einer geisterhaft blassen Linie aus Bäumen in der Dunkelheit. Falls mein Wolf dort draußen war, konnte ich ihn zumindest nicht sehen. »Mom, du warst doch diejenige, die mir andauernd erzählt hat, dass Wölfe im Allgemeinen friedliche Tiere sind.«

Wölfe sind friedliche Tiere. Über Jahre hinweg waren das Moms Worte gewesen. Ich glaube, die einzige Möglichkeit für sie, weiter in diesem Haus zu leben, war, sich selbst von der relativen Harmlosigkeit der Wölfe zu überzeugen und sich einzureden, dass der Angriff auf mich nur eine Ausnahme gewesen war. Ich weiß nicht, ob sie jemals wirklich geglaubt hatte, dass die Wölfe harmlos waren – ich jedenfalls glaubte fest daran. Jedes einzelne Jahr meines Lebens hatte ich die Wölfe im Wald beobachtet, mir ihre Gesichter und Persönlichkeiten eingeprägt. Sicher, da gab es diesen gescheckten, krank aussehenden Wolf, der nie so richtig aus dem Wald hervorkam und sich nur in den allerkältesten Monaten zeigte. Alles an ihm – sein stumpfes, strähniges Fell, die Kerbe in seinem Ohr, das brandig tränende Auge – deutete auf einen kranken Körper hin. In den wild rollenden Augen aber schien bisweilen auch ein kranker Geist aufzublitzen. Ich dachte daran, wie seine Zähne meine Haut geritzt hatten. Bei ihm konnte ich mir vorstellen, dass er im Wald noch mehr Menschen angriff.

Und dann war da diese weiße Wölfin. Ich hatte gelesen, dass Wölfe sich Partner fürs Leben suchten, und hatte sie mit dem Anführer des Rudels gesehen, einem massigen Tier, das so schwarz war wie sie selbst weiß. Ich hatte beobachtet, wie er sanft ihre Schnauze beschnupperte und sie durch die kahlen Baumgerippe führte. Sein Pelz schimmerte wie die Schuppen eines Fisches. Sie hatte so eine wilde, rastlose Schönheit an sich; auch bei ihr konnte ich mir vorstellen, dass sie einen Menschen angriff. Aber der Rest des Rudels? Sie waren wie schöne, stumme Waldgeister. Vor ihnen fürchtete ich mich nicht.

»Friedlich, klar.« Mom hackte auf das Schneidbrett ein. »Vielleicht sollten sie sie einfach alle einfangen und in Kanada oder sonst wo aussetzen.«

Ich starrte düster auf meine Hausaufgaben. Die Sommer ohne meinen Wolf waren schon schwer genug. Als Kind waren mir diese Monate unvorstellbar lang vorgekommen, eine Zeit, die ich einfach abwarten musste, bis die Wölfe zurückkamen. Und es war nur noch schlimmer geworden, nachdem ich meinen gelbäugigen Wolf zum ersten Mal gesehen hatte. Während dieser langen Monate hatte ich mir ausgemalt, wie ich mich nachts in einen Wolf verwandelte und zusammen mit meinem Wolf davonlief – in einen goldenen Wald, in dem es nie schneite. Heute wusste ich, dass es diesen goldenen Wald nicht gab, das Rudel aber – und meinen Wolf mit den gelben Augen – gab es sehr wohl.

Seufzend schob ich mein Mathebuch über den Küchentisch und gesellte mich zu Mom an die Arbeitsplatte. »Lass mich das lieber machen. Du machst noch Mus draus.«

Sie protestierte nicht, und das hatte ich auch nicht erwartet. Dankbar lächelte sie mich an und stürmte davon, als hätte sie nur darauf gewartet, dass ich bemerkte, wie erbärmlich sie sich anstellte. »Meine Heldin! Sag Bescheid, wenn’s fertig ist, ja?«, flötete sie.

Ich verzog das Gesicht und nahm das Messer von ihr entgegen. Mom war eigentlich immer voller Farbspritzer und mit ihren Gedanken woanders. Sie hatte absolut nichts gemeinsam mit den Müttern meiner Freundinnen, die Schürzen trugen, kochten und staubsaugten – perfekte Hausfrauen eben. Eigentlich fand ich das auch ganz in Ordnung so. Und trotzdem – wie sollte ich jetzt noch mit meinen Hausaufgaben fertig werden?

»Dank dir, Schatz. Ich bin dann im Atelier.« Wenn Mom eine von diesen Puppen gewesen wäre, die fünf oder sechs verschiedene Sätze sagen konnten, wenn man ihnen auf den Bauch drückte, dann wäre dieser Satz auf jeden Fall dabei gewesen.

»Kipp nicht um von all den Dämpfen«, rief ich ihr noch nach, aber sie rannte schon die Treppe hinauf. Ich kratzte die verstümmelten Pilze in eine Schüssel und sah auf die Uhr, die an der hellgelben Küchenwand hing. Dad würde erst in einer Stunde nach Hause kommen. Ich konnte mir mit dem Abendessen also Zeit lassen und danach vielleicht sogar noch einen Blick auf meinen Wolf erhaschen.

Im Kühlschrank fand ich ein Stück Rindfleisch, das es wahrscheinlich zu den geschredderten Champignons geben sollte. Ich nahm es heraus und ließ es auf die Arbeitsplatte klatschen. In den Nachrichten im Hintergrund fragte sich inzwischen ein »Experte«, ob die Wolfspopulation in Minnesota reduziert oder umgesiedelt werden sollte. Das alles machte mir ziemlich schlechte Laune.

Das Telefon klingelte. »Hallo?«

»Hey. Wie geht’s dir?«

Rachel. Ich war so froh, sie zu hören. Sie war das genaue Gegenteil meiner Mutter – bestens organisiert und eine geborene Macherin. Schon fühlte ich mich ein bisschen weniger wie eine Außerirdische. Ich klemmte mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter und schnitt nebenbei das Fleisch. Ein faustgroßes Stück legte ich für später zur Seite. »Ich mache grad Abendessen und gucke mir diese dämlichen Nachrichten an.«

Sie wusste sofort, was ich meinte. »Ja, ich weiß. Total surreal, oder? Als könnten die einfach nicht genug bekommen. Ist doch langsam echt abartig – ich meine, wieso können sie nicht einfach damit aufhören und uns allein damit klarkommen lassen? Ist ja schon schlimm genug, in der Schule ständig davon zu hören. Und dann du und die Wölfe und so, das muss ja echt schlimm sein für dich. Und mal ehrlich, Jacks Eltern wollen wahrscheinlich einfach nur, dass diese Reporter den Mund halten.«

Rachel redete so schnell, dass ich kaum mitkam. In der Mitte verpasste ich ein Stück, dann fragte sie: »Hat Olivia dich schon angerufen?«

Olivia war die Dritte in unserem Trio und die Einzige, die meine Faszination für die Wölfe zumindest ein bisschen nachvollziehen konnte. Es verging kaum ein Abend, an dem ich nicht entweder mit ihr oder Rachel telefonierte. »Die ist wahrscheinlich noch draußen und macht Fotos«, sagte ich. »Sollte es heute Abend nicht einen Meteoritenschauer geben?«

Olivia sah die Welt durch ihre Kamera; ich hatte das Gefühl, die Hälfte meiner Schulerinnerungen existierten hauptsächlich in 10 × 15, schwarz-weiß, glänzend.

»Wahrscheinlich hast du recht«, erwiderte Rachel. »So eine heiße Asteroidenshow lässt Olivia sich bestimmt nicht entgehen. Hast du kurz Zeit zum Quatschen?«

Ich warf einen Blick auf die Uhr. »Ein bisschen, beim Abendessenmachen, danach muss ich wieder an die Hausaufgaben.«

»Okay, nur ganz kurz dann. Zwei Wörter, Süße, was hältst du davon: ab hauen

Ich fing an, das Fleisch anzubraten. »Das ist nur ein Wort, Rach.«

Sie überlegte. »Stimmt. In meinem Kopf klang das irgendwie besser. Egal, pass auf: Meine Eltern haben gesagt, dass ich in den Weihnachtsferien wegfahren darf, wenn ich will – und sie bezahlen! Und ob ich will! Mann, alles ist besser als Mercy Falls! Wollt ihr morgen nach der Schule nicht zu mir kommen, Olivia und du, und mir helfen, was auszusuchen?«

»Klar.«

»Wenn wir was Cooles finden, könnt ihr zwei ja vielleicht mitkommen«, schlug Rachel vor.

Ich zögerte. Das Wort Weihnachten weckte in mir sofort Erinnerungen an den Duft unseres Weihnachtsbaums, den sternenübersäten Dezemberhimmel über unserem Garten und meinen Wolf, der mich aus dem schneebedeckten Dickicht am Waldrand mit den Augen verfolgte.

Rachel stöhnte. »Krieg jetzt bloß nicht wieder diesen Ich-starre-verträumt-in-die-Ferne-Blick, Grace! Ich kenn dich doch! Du kannst mir nicht erzählen, dass du hier nicht auch mal rauswillst!«

Irgendwie wollte ich das aber wirklich nicht. Irgendwie musste ich einfach hierbleiben. »Ich hab doch überhaupt nicht Nein gesagt«, protestierte ich.

»Aber auch nicht gerade: Super, nichts wie weg! Das hättest du nämlich sagen sollen.« Rachel seufzte. »Morgen kommst du aber, oder?«

»Das weißt du doch ganz genau«, erwiderte ich und reckte den Hals, um aus dem Fenster in den Garten zu spähen. »Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Jaja, schon okay«, seufzte Rachel. »Bring Kekse mit, ja? Nicht vergessen! Tschau, hab dich lieb.« Sie lachte und legte auf.

Ich beeilte mich, die restlichen Zutaten in den Topf zu geben, damit der Eintopf allein vor sich hin köcheln konnte. Dann schnappte ich mir meinen Mantel von der Garderobe und öffnete die Schiebetür zur Veranda.

Die kühle Luft brannte mir auf den Wangen und ließ meine Ohren prickeln, wie um mich daran zu erinnern, dass der Sommer nun endgültig vorbei war. Für alle Fälle hatte ich meine Bommelmütze in der Manteltasche, doch ich wusste, dass mein Wolf mich damit manchmal nicht wiedererkannte, also setzte ich sie nicht auf. Ich sah zum anderen Ende des Gartens hinüber und schlenderte wie zufällig die Verandastufen hinunter. Das Stück Rindfleisch in meiner Hand fühlte sich kalt und glitschig an.

Ich stapfte durch das bleiche, brüchige Gras. Mitten im Garten blieb ich einen Moment stehen und blinzelte in das leuchtende Pink des Sonnenuntergangs, das durch die schwarzen, im Wind zitternden Blätter drang. Welten lagen zwischen dieser kargen Landschaft und der kleinen, gemütlich warmen Küche mit ihren vertrauten Gerüchen nach Sicherheit und Sorglosigkeit. Sollte ich mich dort nicht eigentlich am wohlsten fühlen? Schließlich gehörte ich doch dorthin. Aber die Bäume riefen nach mir, drängten mich, in der Dämmerung zu verschwinden und das Bekannte hinter mir zu lassen. Dieses Verlangen hatte sich in den letzten Tagen beunruhigend oft in mir geregt.

In der Dunkelheit am Waldrand bewegte sich etwas und ich sah meinen Wolf an einem Baum stehen. Die Schnauze erhoben, schien er das Fleisch in meiner Hand zu riechen. Meine Erleichterung, ihn zu sehen, verebbte schlagartig, als er den Kopf bewegte und das gelbe Licht, das aus der Verandatür drang, auf sein Gesicht fiel. Jetzt konnte ich sehen, dass sein Kinn mit altem, getrocknetem Blut verkrustet war – tagealtem Blut.

Seine Nase zuckte, er witterte das Stück Fleisch in meiner Hand. Angelockt entweder durch das Fleisch oder durch meine mittlerweile vertraute Gegenwart, wagte er sich ein paar Schritte aus dem Wald heraus. Dann noch ein paar Schritte. Näher als je zuvor.

Im schwindenden Licht standen wir uns gegenüber, so nah, dass ich sein glänzendes Fell hätte berühren können. Oder den tiefroten Fleck an seiner Schnauze.

Ich hoffte so sehr, dass es sein eigenes Blut war. Eine alte Wunde oder ein Kratzer aus einer Rangelei.

Aber danach sah es nicht aus.

»Habt ihr ihn getötet?«, flüsterte ich.

Er lief nicht weg beim Klang meiner Stimme, wie ich zuerst befürchtet hatte. Reglos wie eine Statue stand er da und sein Bernsteinblick lag auf meinem Gesicht statt auf dem Fleisch in meiner Hand.

»In den Nachrichten reden sie von nichts anderem«, sagte ich, als könnte er mich verstehen. »Sie glauben, dass es ein wildes Tier war. Sah wohl ziemlich grausam aus.« Ich holte tief Luft. »Seid ihr es gewesen?«

Er starrte mich noch eine Weile an, völlig bewegungslos, ohne auch nur einmal zu blinzeln. Und dann, zum ersten Mal in sechs Jahren, schloss er die Augen, gegen jeden Instinkt, den ein Wolf eigentlich haben sollte. Ein Leben lang dieser regungslose Blick, und jetzt schien es, als erstarrte er in beinahe menschlichem Kummer, die leuchtenden Augen geschlossen, Kopf und Schwanz gesenkt.

Etwas so Trauriges hatte ich noch nie gesehen.

Langsam, fast ohne mich zu bewegen, näherte ich mich ihm. Ich hatte Angst, aber nur davor, ihn zu verscheuchen, nicht vor seinen rot verkrusteten Lefzen oder den Zähnen, die sich dahinter verbargen. Seine Ohren zuckten wachsam, als ich näher kam, aber er rührte sich nicht. Ich ging in die Hocke und ließ das Stück Fleisch neben mich auf den Boden fallen. Er zuckte zusammen, als es dort landete. Ich war ihm jetzt so nah, dass ich den wilden Duft seines Pelzes riechen und seinen warmen Atem spüren konnte.

Und dann tat ich, was ich schon die ganze Zeit hatte tun wollen – ich streckte meine Hand nach ihm aus, und als er nicht zurückwich, vergrub ich beide Hände in seinem dichten Fell. Außen war es nicht so seidig, wie es aussah, aber unter dem drahtigen Deckhaar wurde es weich und flauschig. Mit einem dumpfen Seufzen drückte er seinen Kopf an meinen Körper, die Augen noch immer geschlossen. Ich hielt ihn im Arm, als wäre er nichts weiter als ein Schoßhund. Nur sein wilder, strenger Geruch erinnerte mich an das, was er wirklich war.

Einen Moment lang vergaß ich, wo – und wer – ich war. Einen Moment lang war das alles gleichgültig.

Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung: Am Waldrand, in der Dämmerung kaum zu erkennen, stand die weiße Wölfin. Ihre Augen glühten.

Ich spürte ein plötzliches Grollen an meinem Körper und merkte, dass mein Wolf sie anknurrte. Unerwartet forsch kam die Wölfin näher, und er wandte in meinen Armen den Kopf, um sie anzusehen. Ich erschrak, als er nach ihr schnappte.

Sie knurrte nicht und irgendwie war das sogar noch schlimmer. Ein Wolf hätte doch knurren müssen. Sie aber starrte uns bloß an, ihr Blick flog zwischen ihm und mir hin und her. Ihr gesamter Körper drückte Hass aus.

Noch immer leise knurrend, drängte mein Wolf sich enger an mich und zwang mich einen Schritt zurück, dann noch einen. So lange, bis ich schließlich wieder an der Veranda stand. Meine Füße ertasteten die Stufen, dann war ich an der Schiebetür. Er blieb am Fuß der Treppe stehen, bis ich die Tür aufgeschoben hatte und sicher im Haus war.

Kaum hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, stürzte sich die weiße Wölfin auf das Stück Fleisch, das immer noch auf dem Boden lag. Obwohl mein Wolf ihr viel näher war und ihr leicht das Fleisch hätte streitig machen können, starrte sie nur mich hinter der Glastür an. Eine ganze Weile sah sie mir direkt in die Augen, dann verschwand sie wieder wie ein Geist im Wald.

Mein Wolf blieb zögernd am Waldrand stehen, das matte Verandalicht spiegelte sich in seinen Augen. Noch immer beobachtete er mich hinter der Scheibe.

Ich drückte meine Handfläche an das eiskalte Glas.

Er schien mir so weit entfernt wie nie zuvor.

KAPITEL 6 · GRACE

°C

Als mein Dad nach Hause kam, war ich noch immer wie versunken in der stillen Welt der Wölfe. Immerzu meinte ich, das drahtige Fell meines Wolfs zwischen den Fingern zu spüren. Zwar hatte ich mir widerstrebend die Hände gewaschen, damit ich das Abendessen fertig kochen konnte, aber sein Moschusgeruch hing immer noch in meinen Kleidern und erinnerte mich ständig an unsere Begegnung. Sechs Jahre hatte es gedauert, bis ich ihn berühren durfte. Ihn umarmen durfte. Und nun hatte er mich beschützt, wie er mich schon immer beschützt hatte. Ich hätte es so gern jemandem erzählt, aber Dad wäre wohl nicht ganz so begeistert gewesen wie ich, besonders weil die Nachrichtensprecher im Hintergrund immer noch über den Wolfsangriff schwadronierten. Also hielt ich den Mund.

Gerade kam Dad in die Diele gestapft. »Das riecht aber lecker, Grace«, rief er schon, ohne mich in der Küche gesehen zu haben.

Er kam herein und tätschelte mir den Kopf. Seine Augen hinter den Brillengläsern wirkten müde, doch er lächelte. »Wo ist denn deine Mutter? Malt sie schon wieder?« Er warf seinen Mantel über einen Stuhl.

»Als ob sie jemals was anderes machen würde.« Stirnrunzelnd deutete ich auf den Mantel. »Den willst du doch wohl nicht da liegen lassen, oder?«

Mit einem versöhnlichen Lächeln hob er ihn wieder auf und rief die Treppe hinauf: »Klecks, Essen ist fertig!« Er rief Mom bei ihrem Spitznamen, also war er wohl gut gelaunt.

Kaum zwei Sekunden später kam meine Mutter auch schon die Treppe heruntergeflitzt – ganz außer Atem, sie ging nie in einem normalen Tempo, wenn sie es vermeiden konnte. Ein grüner Farbstreifen zierte ihre Wange.

Dad gab ihr einen Kuss und versuchte, sich dabei nicht auch noch mit Farbe zu beschmieren. »Na, bist du heute brav gewesen, mein Schatz?«

Sie klimperte mit den Wimpern, und man sah ihr an, dass sie genau wusste, was er sagen würde.

»Brav? Na klar, ich war die Allerbravste.«

»Und was ist mit dir, Gracie?«

»Ich war noch viel braver als Mom.«

Dad räusperte sich. »Meine Damen und Herren, hiermit möchte ich Ihnen meine Gehaltserhöhung ankündigen. Das heißt …«

Mom klatschte in die Hände und wirbelte einmal im Kreis, nicht ohne sich dabei im Dielenspiegel zuzusehen. »Dann kann ich ja das Atelier in der Stadt mieten!«

Dad grinste und nickte. »Und du, Gracie-Schatz, du tauschst deine Schrottkarre gegen was Anständiges um, sobald ich Zeit habe, mit dir runter zum Autohändler zu fahren. Mir reicht’s, die Klapperkiste andauernd in die Werkstatt zu bringen.«

Mom lachte aufgekratzt und klatschte noch einmal in die Hände. Tanzend verschwand sie in der Küche und trällerte dabei irgendein Nonsenslied vor sich hin. Wenn sie wirklich das Atelier in der Stadt mietete, würde ich meine Eltern wahrscheinlich beide nicht mehr zu Gesicht bekommen. Na ja, außer zum Abendessen. Zur Nahrungsaufnahme tauchten sie in der Regel wieder auf.

Aber das war im Moment unwichtig, verglichen mit der Aussicht auf ein verlässliches Transportmittel. »Echt? Ein eigenes Auto? Eins, das auch fährt, meine ich?«

»Eins, das nicht ganz so klapprig ist«, versprach mein Vater. »Nichts Großartiges.«

Ich fiel ihm in die Arme. Ein solches Auto bedeutete Freiheit.

In dieser Nacht lag ich mit fest zugekniffenen Augen im Bett und versuchte zu schlafen. Die Welt vor meinem Fenster wirkte so still, als hätte es geschneit. Für Schnee war es noch viel zu früh, aber jedes Geräusch klang gedämpft. Zu leise.

Ich hielt den Atem an und konzentrierte mich auf die Nacht, lauschte auf Bewegungen in der reglosen Dunkelheit.

Langsam drang ein schwaches Kratzen durch die Stille in mein Bewusstsein – wie Krallen, die über den Holzboden der Veranda schabten. War da ein Wolf vor meinem Fenster? Vielleicht war es ja auch ein Waschbär. Wieder hörte ich das leise Scharren und dann ein Knurren. Mit Sicherheit kein Waschbär. Ich fühlte, wie meine Nackenhaare sich aufrichteten.

Ich schlang mir die Decke um die Schultern, kroch aus dem Bett und tappte über die halbmondbeschienenen Dielen. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob ich das Geräusch nicht doch geträumt hatte, aber da hörte ich vor dem Fenster wieder dieses Klackklackklack