Dieses Buch ist für meine Leser,
die immer da waren. Ihr wisst, wer ihr seid.
Hinab, hinab, hinab!
Würde der Fall denn nie enden?
LEWIS CARROLL
Wo du warst, da ist nun ein Loch in der Welt,
durch das ich tagsüber herumschleiche
und des Nachts hineinfalle.
Du fehlst mir höllisch.
EDNA ST. VINCENT MILLAY
NICHT GANZ DAS ENDE,
ABER KURZ DAVOR
Ich bin ein Werwolf in L.A.
Du hast gefragt, warum ich es getan habe.
Was eigentlich?
– Das Ganze, Cole. Alles.
Du, die du zum Übertreiben neigst, meinst doch gar nicht alles. Sondern die letzten fünf Wochen. Als ich deinen Arbeitsplatz niedergebrannt habe. Als ich dafür gesorgt habe, dass du aus dem einzigen Sushi-Restaurant geflogen bist, das du mochtest. Als ich deine Lieblingsleggings ausgeleiert und sie auf der Flucht vor der Polizei zerrissen habe.
Du willst wissen, warum ich hierher zurückgekommen bin.
Und das ist nicht alles, auch wenn es sich im Moment vielleicht so anfühlt.
– Ich weiß, warum du es getan hast.
Ach, ja?
– Du hast es nur getan, um hinterher sagen zu können: »Ich bin ein Werwolf in L.A.«
Du wirfst mir ständig vor, dass ich etwas nur sage, weil ich weiß, dass es einen guten Songtext abgibt, dass ich etwas nur tue, weil es im Fernsehen gut rüberkommt, weil ich weiß, dass ich gut dabei aussehe. Du tust so, als hätte ich eine Wahl. Aber die Sachen kommen mir nun mal unter die Augen, zu Ohren, in die Poren, und schon fangen meine Rezeptoren an, unruhig zu pulsieren, und meine Neuronen feuern drauflos wie Kanonen und wenn das Ganze mein Gehirn erreicht und auf der anderen Seite wieder rauskommt, gehört es zu einer komplett anderen Spezies, Pixel oder Funkwellen, Hochglanz oder Seidenmatt. Ich kann nichts daran ändern, wie ich bin. Ich bin ein Künstler, ein Sänger, ein Werwolf, ein Sünder.
Bloß weil ich etwas vor Publikum singe, heißt das nicht, dass es nicht wahr ist.
Wenn wir beide das hier lebendig überstehen, verrate ich dir den wahren Grund. Und diesmal solltest du mir besser glauben.
Ich bin deinetwegen zurückgekommen, Isabel.
KAPITEL 1
COLE
F LIVE: Heute haben wir Cole St. Clair, den Leadsänger von NARKOTIKA, an der Strippe, der sein erstes Interview nach – na ja, ziemlich langer Zeit gibt. Vor zwei Jahren ist er während eines Konzerts auf der Bühne zusammengeklappt und danach galt er als vermisst. Komplett von der Bildfläche verschwunden. Die Polizei hat einen Fluss nach dem anderen nach ihm abgesucht. Seine weiblichen Fans haben Tränen vergossen und ihm Schreine gebaut. Sechs Monate später kam dann die Nachricht, er sei in einer Entzugsklinik. Dann hörte man nichts mehr von ihm. Jetzt sieht es endlich so aus, als dürften wir uns auf ein bisschen neue Musik von Amerikas Wunderkind des Rock freuen. Cole hat gerade einen Vertrag mit Baby North abgeschlossen.
»Mögen Sie lieber ausgewachsene Hunde oder Welpen, Larry?«, fragte ich und reckte den Hals, um aus den dunkel getönten Fenstern zu spähen. Blick nach links: blendend weiße Autos. Blick nach rechts: schwarze Autos, glänzend wie Öl. Überwiegend Mercedes mit Aussicht auf einen gelegentlichen Audi. Die gleißende Sonne spiegelte sich in ihren blank geputzten Motorhauben. In unregelmäßigen Abständen sprossen Palmen aus der Landschaft. Ich war da. Endlich da.
Ich liebte die Westküste, wie es nur ein Typ von der Ostküste konnte. Es war eine schlichte, reine Liebe, kein bisschen verfälscht durch etwas so Obszönes wie die Wahrheit.
Mein Fahrer sah in den Rückspiegel, die Lider wie windschiefe Zelte über seinen geröteten Augen. Er wirkte wie ein äußerst unzufriedener Gast in seinem schicken Anzug, der ihn gleichermaßen widerwillig beherbergte. »Leon.«
Mein Handy war eine substanzlose Sonne an meinem Ohr. »Leon ist keine mögliche Antwort auf meine Frage.«
»Das ist mein Name.«
»Natürlich ist er das«, erwiderte ich liebenswürdig. Wenn ich recht darüber nachdachte, sah er auch gar nicht aus wie ein Larry. Nicht mit dieser Armbanduhr. Nicht mit diesem Mund. Leon war nicht aus L.A., beschloss ich. Sondern eher aus Wisconsin. Oder Illinois. »Also, Hunde: ausgewachsen oder als Welpen?«
Sein Mund erschlaffte, während er kurz überlegte. »Wahrscheinlich Welpen.«
Jeder sagte Welpen. »Warum?«
Larry – nein, Leon! – geriet ins Stammeln, als hätte er sich diese Frage noch nie gestellt. »Sind wohl irgendwie unterhaltsamer. Weil sie die ganze Zeit durch die Gegend wuseln.«
Wer wollte es ihm übel nehmen? Ich hätte ja selbst Welpen gesagt.
»Was meinen Sie, warum sie irgendwann nachlassen, Leon?«, fragte ich. Das Handy war heiß an meinem Ohr. »Die Hunde, meine ich.«
Diesmal musste Leon nicht über seine Antwort nachdenken. »Das Leben macht sie mürbe.«
F LIVE: Cole? Bist du noch da?
COLE ST. CLAIR: Ich hab mich während deiner Anmoderation kurz ausgeklinkt. Hab meinen Fahrer gefragt, ob er lieber ausgewachsene Hunde mag oder Welpen.
F LIVE: Das war aber auch eine lange Anmoderation. Und, hat er eine Vorliebe?
COLE ST. CLAIR: Hast du eine?
F LIVE: Wahrscheinlich Welpen.
COLE ST. CLAIR: Ha! Doppel-Ha! Da hast du was mit Larry – Leon – gemeinsam. Warum Welpen?
F LIVE: Die sind halt einfach niedlicher.
Ich hielt das Handy ein Stück von meinem Mund weg. »Martin von F Natural Live sagt auch Welpen. Weil niedlicher.«
Diese Information schien Leon nicht sonderlich aufzuheitern.
COLE ST. CLAIR: Leon findet sie unterhaltsamer. Wuseliger.
F LIVE: Das kann aber auch anstrengend werden, oder? Am besten ist es, wenn einem der Welpe nicht selbst gehört. Dann kann man ihm zugucken, aber um den nervigen Kram muss sich jemand anderes kümmern. Hast du einen Hund?
Nein, aber ich war einer. Ich besaß ein Grundstück in Minnesota, auf dem ein Rudel – mein Rudel – extrem temperaturfühliger Werwölfe lebte. An manchen Tagen erschien mir diese Tatsache bedeutsamer als an anderen. Es war eins von diesen Geheimnissen, die anderen Leuten wichtiger waren als einem selbst.
COLE ST. CLAIR: Nein. Nein, nein, nein.
F LIVE: Viermal nein. Leute, wenn das kein exklusives Statement ist: Cole St. Clair hat definitiv keinen Hund. Aber vielleicht ja bald ein neues Album. Denken wir doch mal kurz zurück. Wer kann sich noch an das hier erinnern?
Auf seiner Seite der Leitung dudelten die Anfangsakkorde einer unserer letzten Singles los, »Wait/Don’t Wait«, dann die ersten Zeilen, klar und beißend. Dieses Lied war schon so oft gespielt worden, dass es für mich seine ursprüngliche emotionale Wucht verloren hatte; es war ein Song über mich, geschrieben von jemand anderem. Zugegeben, ein ziemlich genialer Song von jemand anderem. Wer auch immer sich dieses Bassriff ausgedacht hatte, beherrschte sein Handwerk.
»Jetzt können Sie reden«, sagte ich zu Leon. »Ich bin hier in so was wie ’ner Warteschleife. Sie spielen gerade einen meiner Songs.«
»Ich hab gar nichts gesagt«, erwiderte Leon.
Natürlich hatte er nichts gesagt. Stattdessen litt er stumm vor sich hin, der gute Leon, am Steuer dieser schnittigen Limo.
»Ich dachte, Sie wollten mir gerade erzählen, warum Sie eigentlich diesen Wagen fahren.«
Jetzt sprudelte es aus ihm heraus – seine komplette Lebensgeschichte. Sie nahm ihren Anfang in Cincinnati, als er noch zu jung zum Autofahren war. Und endete hier und heute in einem gemieteten Cadillac, als er zu alt war, um noch irgendetwas anderes mit seinem Leben anzufangen. Sie dauerte ganze dreißig Sekunden.
»Haben Sie einen Hund?«, fragte ich ihn.
»Der ist gestorben.«
Natürlich. Hinter uns hupte jemand. Ein schwarzes Auto oder ein weißes und mit ziemlicher Sicherheit ein Mercedes oder ein Audi. Ich war seit genau achtunddreißig Minuten in Los Angeles und hatte elf davon im Stau gestanden. Man hatte mir gesagt, dass das Klischee der permanent verstopften Straßen nicht für alle Gegenden von L.A. galt, aber das lag wahrscheinlich daran, dass diese anderen Gegenden einfach niemanden interessierten. Ich war noch nie besonders gut im Stillsitzen gewesen.
Ich drehte mich um und sah aus dem Heckfenster. Dort, mitten in diesem schwarz-weißen Karossenmeer vor einem Hintergrund aus Palmen, stand ein gelber Lamborghini, so leuchtend wie ein Spielzeugauto. Und gleich daneben ein swimmingpoolblauer VW-Bus, an dessen Steuer eine Frau mit Dreadlocks saß. Als ich mich wieder nach vorn wandte und mich tiefer in meinen Ledersitz sinken ließ, sah ich, wie sich die Sonne in den Dächern von Lagerhallen spiegelte, in Terrakotta-Fliesen und vierzig Millionen überdimensionierten Sonnenbrillen. Oh Mann, diese Stadt. Diese Stadt. Wieder durchzuckte mich Freude.
»Sind Sie berühmt?«, fragte Leon, während wir langsam vorankrochen. Aus meinem Handy plätscherte noch immer blechern unser Song.
»Wenn ich berühmt wäre, müssten Sie mich das dann fragen?«
Die Wahrheit war, dass Berühmtheit eine ziemlich unzuverlässige Weggefährtin war, nie da, wenn man sie brauchte, aber allgegenwärtig, wenn man seine Ruhe wollte. Die Wahrheit war, dass ich für Leon keinerlei Bedeutung hatte, dafür aber, statistisch gesehen, umso mehr für mindestens eine Person in einem Umkreis von fünf Meilen.
Im Wagen neben uns ertappte mich ein Typ mit Ray-Ban-Sonnenbrille dabei, wie ich Kalifornien bestaunte, und hob grinsend den Daumen. Ich erwiderte die Geste.
»Wird das Interview gerade live gesendet?«, wollte Leon wissen.
»Soweit ich weiß, ja.«
Leon zappte die Radiosender durch und drückte glatt an »Wait/Don’t Wait« vorbei. Ich rüttelte ein bisschen an seinem Sitz, bis er wieder zurückschaltete.
»Das hier?« Er blickte zweifelnd. Meine Stimme drang verführerisch aus den Lautsprechern und hielt die Zuhörer dazu an, mindestens ein Kleidungsstück abzulegen, mit dem Versprechen – dem Versprechen –, dass sie es am nächsten Morgen nicht bereuen würden.
»Klingt das etwa nicht nach mir?«
Leon musterte mein Gesicht durch den Rückspiegel, als könnte ihm das die Frage beantworten. Seine Augen waren so rot. Dies war ein Mann mit tiefen Gefühlen, dachte ich. Es war schwer vorstellbar, dass man an einem Ort wie diesem so traurig sein konnte wie er, andererseits war ich selbst hier auch einmal traurig gewesen.
Aber das schien schon ewig her zu sein.
»Doch, vielleicht.«
Der Song im Radio ging zu Ende.
F LIVE: So, Leute, da sind wir wieder. Und, erinnert ihr euch? Mann, was waren das für Sommer, als wir zu NARKOTIKA abgerockt haben. Okay, Cole. Bist du noch da oder führst du schon die nächste Studie zum Thema Hunde durch?
COLE ST. CLAIR: Wir haben gerade über Berühmtheit sinniert. Leon hat noch nie von mir gehört.
LEON: Das hat aber nichts mit Ihnen zu tun. Ich höre einfach die meiste Zeit über Talkshows oder manchmal Jazz.
F LIVE: War das gerade Leon? Was hat er gesagt?
COLE ST. CLAIR: Dass er mehr der Jazz-Typ ist. Und ich sag’s dir, Martin, das sieht man ihm sogar an. Leon hat den Jazz absolut im Blut.
Ich hob meine Hände zur Jazz-Geste und hielt sie in Richtung des Rückspiegels. Leon beäugte mich einen Moment unter seinen schweren Lidern. Dann löste sich seine Faust langsam vom Schaltknüppel und seine Finger spreizten sich zu einer einzelnen Jazz-Hand.
F LIVE: Das glaub ich dir gern. Mit welchem eurer Alben würdest du ihm empfehlen anzufangen?
COLE ST. CLAIR: Wahrscheinlich bloß mit der Coverversion von »Spacebar«, die wir zusammen mit Magdalene gemacht haben. Die ist ziemlich jazzig.
F LIVE: Ach, ja?
COLE ST. CLAIR: Da ist ein Saxofon drin.
F LIVE: Wow, ich bin hin und weg von deinem musikalischen Fachwissen. Apropos, kommen wir zu deinem Deal mit Baby North. Hast du schon mal mit ihr zusammengearbeitet?
COLE ST. CLAIR: Ich wollte imm–
F LIVE: Ich frage mich gerade, ob unsere Hörer eigentlich alle wissen, wer Baby ist.
COLE ST. CLAIR: Martin, es ist echt unhöflich, andere Leute nicht ausreden zu lassen.
F LIVE: Sorry.
LEON: Ich kenne sie.
COLE ST. CLAIR: Echt jetzt? Aber mich nicht, oder was? Also, Leon weiß, wer sie ist.
F LIVE: Dabei hat das doch gar nichts mit Jazz zu tun. Vielleicht könnte er mal kurz für unsere Hörer zusammenfassen, wer Baby ist? Ich meine, solange er dann keinen Unfall baut?
Ich hielt Leon mein Handy hin.
»Hier darf man beim Autofahren nicht telefonieren«, protestierte er.
»Ich kann es ja für Sie halten«, bot ich an und rechnete schon mit der nächsten Abfuhr. Doch er zuckte mit den Schultern, offensichtlich einverstanden.
Also rutschte ich hinter seinen Sitz und hielt ihm das Handy ans Ohr. Er hatte einen von diesen Haarschnitten, die auf jeder Kopfseite eine exakt ohrenförmige Aussparung hatten.
LEON: Das ist doch diese junge Dame mit den Internet-TV-Shows. So ein kleines bisschen verrückt. Die Seite heißt »Sharp Teeth Dot Com«, aber ich glaube, das wird irgendwie besonders geschrieben. Vielleicht mit Zahlen oder so? Sharp t-drei-drei-t-h dot com? Ich weiß nicht genau. Vielleicht waren es auch Einsen anstelle der T.
F LIVE: Sehen Sie sich manchmal ihre Shows an?
LEON: Hin und wieder auf dem Handy, wenn ich gerade keinen Fahrgast habe. Letztes Jahr hatte sie diese eine da. Diese Drogensüchtige mit dem Baby.
F LIVE: Kristin Bank. Das war wohl die Staffel, durch die die meisten von uns auf »sharpt33th.com« aufmerksam geworden sind. Wer hätte gedacht, dass eine Serie über eine Schwangerschaft in der Entzugsklinik so einschlagen würde? Hat sie Ihnen gefallen? LEON: Ich weiß nicht, ob einem solche Shows gefallen oder nicht. Man guckt sie einfach.
F LIVE: Da haben Sie wahrscheinlich recht. Okay, dann mal wieder zu Cole. Man könnte sich jetzt fragen, warum Baby ausgerechnet dich für ihre Internetshow haben wollte. Hast du eine Ahnung, Cole?
Ich war ja schließlich kein Idiot. Baby North interessierte sich für mich, weil ich meine Zuschauer selbst mitbrachte. Sie interessierte sich für mich, weil ich ein hübsches Gesicht hatte und mir besser die Haare stylen konnte als die meisten anderen Typen. Sie interessierte sich für mich, weil ich mit einer Überdosis auf der Bühne des Club Josephine zusammengeklappt und anschließend verschwunden war.
COLE ST. CLAIR: Tja, wegen meiner genialen Musik wahrscheinlich. Und außerdem bin ich ziemlich charmant.
Ja, ich bin mir sicher, dass es daran liegt.
Leon rang sich ein schwaches Lächeln ab. Vor uns vermischten die Autos sich träge, wie Spielkarten. Spiegel und andere glatte Oberflächen reflektierten das satte Sonnenlicht. Zwischen uns und den Palmen am Rand des Highways schienen sich unzählige Fahrspuren zu erstrecken. Ich konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich in Kalifornien war, dass ich das alles direkt vor mir sah, ohne es berühren zu können. Das Innere dieses Wagens schien mindestens zwei Staaten entfernt zu liegen.
F LIVE: Das kann natürlich sein. Sie ist schließlich bekannt für ihren guten Musikgeschmack.
COLE ST. CLAIR: Schon kapiert. Das war ein Scherz.
F LIVE: Du bist ja ganz schön auf Zack.
COLE ST. CLAIR: Ach, das höre ich heute zum allerersten Mal.
F LIVE: Schon kapiert. Das war ein Scherz.
Leon und ich lachten los.
Ich war Martin einmal begegnet. Er hatte eine ewig jung klingende Stimme, war aber schon länger Musikjournalist als ich auf der Welt. Bei meinem ersten Interview mit ihm hatte ich ihn zwanzig Minuten lang über alle möglichen geschmacklosen Sexkapaden zugetextet, um dann, als ich ihn schließlich persönlich traf, festzustellen, dass er alt genug gewesen wäre, um mein Vater zu sein. Fragen über Fragen: Wie konnte er es wagen, als Sechzigjähriger zu klingen wie ein Zwanzigjähriger? Konnte man sich die Stimmbänder liften lassen? Und hatte er mir die Sache sehr übel genommen? Aber wie sich herausstellte, gehörte Martin zu jenen unvulgären älteren Männern, die sich an uns noch vulgären jüngeren nicht störten.
F LIVE: Wie lange wird es dauern, bis du dein Album fertig geschrieben und aufgenommen hast? Nicht besonders lange, oder?
COLE ST. CLAIR: Wahrscheinlich so sechs Wochen.
F LIVE: Das sind ja ambitionierte Pläne.
Wenn man »ambitioniert« auf Wikipedia nachsah, erschien als Erstes mein Foto. Ich hatte ein paar Songs geschrieben, während ich allein in Minnesota die Stellung gehalten hatte, aber es war schwierig gewesen, in diesem Vakuum irgendetwas auf die Reihe zu kriegen. Ohne Band. Ohne Zuhörer.
Im Studio würde sich das endlich ändern.
COLE ST. CLAIR: Ich habe halt eine Vision.
F LIVE: Könntest du dir vorstellen, in L.A. zu bleiben?
Irgendwo zu bleiben, gehörte nicht gerade zu meinen Stärken. Aber Isabel Culpeper war in L.A. Allein ihr Name lenkte meine Gedanken in gefährliche, obsessive Bahnen. Ich würde sie auf keinen Fall anrufen, bevor ich das Haus bezogen hatte. Ich würde sie nicht anrufen, bevor ich eine Idee hatte, wie ich ihr auf möglichst spektakuläre Weise eröffnen konnte, dass ich in Kalifornien war.
Ich würde sie nicht anrufen, bevor ich mir sicher sein konnte, dass sie sich freuen würde, mich zu sehen.
Wenn sie sich nicht freute, dann …
Mit einem Ruck schlug ich die Lüftungsschlitze zu. Ich fühlte mich so kurz davor, ein Wolf zu werden, wie schon lange nicht mehr. In meinen Eingeweiden erhob sich das typische Brodeln, das jeder Verwandlung vorausging.
COLE ST. CLAIR: Kommt drauf an. Darauf, ob L.A. mich hier haben will.
F LIVE: Wer würde das nicht wollen?
Leon hielt sein Handy hoch, sodass ich das Display sehen konnte. Er hatte gerade »Spacebar« von NARKOTIKA (feat. Magdalene) runtergeladen. Er wirkte fröhlicher als am Anfang, als er noch Larry gewesen war. Draußen brüllte die Hitze. Der Asphalt flimmerte unter all den Abgasen. In der letzten Minute hatten wir uns keinen Zentimeter vom Fleck bewegt. Es war, als betrachtete ich L.A. über einen Fernsehbildschirm.
Und jetzt hatte ich zugelassen, dass ich an Isabel dachte, und in meinem Kopf war für nichts anderes mehr Platz. Nicht für dieses Auto, nicht für dieses Interview, für gar nichts – Isabel war alles, was zählte. Sie war der Song.
COLE ST. CLAIR: Martin, Leon, wisst ihr, was? Ich glaube, ich steige jetzt aus. Den Rest gehe ich zu Fuß.
Leon hob eine Augenbraue. »Hier kann man nicht zu Fuß gehen. Ich glaube, am Rand so einer Straße langzuspazieren, ist sogar verboten. Oder sehen Sie irgendjemanden sonst hier, der einfach aus dem Auto steigt und zu Fuß weitergeht?«
Nein, das nicht. Aber ich sah sowieso eher selten Leute, die machten, was ich machte. Und wenn, dann war das meist ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass ich damit aufhören sollte.
Isabel …
F LIVE: Warte, was hat Leon gesagt? Wo seid ihr überhaupt gerade?
Das Interview schien längst der Vergangenheit anzugehören. Es kostete mich den letzten Rest meiner Willenskraft, mich wieder auf Martins Fragen zu konzentrieren.
COLE ST. CLAIR: Er hat mir davon abgeraten. Wir sind auf der 405. Ist schon okay. Ich bin gut in Form. Du würdest nicht glauben, was für Muskeln man sich in der Entzugsklinik antrainiert. Kommen Sie mit, Leon?
Ich hatte mich schon abgeschnallt und zerrte meinen Rucksack – das Einzige, was ich aus Minnesota mit hierhergebracht hatte – auf meine Seite des Wagens. Leons Augen wurden groß. Er war sich nicht sicher, ob ich ernst machen würde, was natürlich absolut lächerlich war, denn ich machte immer ernst.
Isabel. Nur ein paar Meilen weit weg.
Mein Herz begann zu rumpeln. Ich wusste, dass ich es besser ruhig halten sollte, schließlich hatte ich noch einen ziemlich weiten Weg vor mir. Aber ich schaffte es einfach nicht. Wie viele Wochen hatte ich von diesem Tag geträumt und darauf hingearbeitet?
F LIVE: Versuchst du gerade, Leon dazu zu kriegen, seinen Wagen einfach auf der Interstate stehen zu lassen?
COLE ST. CLAIR: Ich versuche lediglich, sein Leben zu retten, bevor es zu spät ist. Kommen Sie schon, Leon. Lassen wir beide dieses Auto hinter uns, Sie und ich. Kaufen wir uns irgendwo einen Frozen Yogurt und verbessern gemeinsam die Welt.
Leon hob hilflos die Hand. Noch vor wenigen Minuten war es eine Jazz-Hand gewesen. Und jetzt ließ er mich einfach hängen.
LEON: Ich kann nicht. Und Sie sollten es auch lieber bleiben lassen. Okay, gerade geht es ein bisschen langsam voran, aber das ist in ein paar Minuten wieder vorbei. Warten Sie einfach kurz –
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter.
COLE ST. CLAIR: Okay, ich bin dann mal weg. Danke, dass ich in deiner Show sein durfte, Martin.
F LIVE: Und, geht Leon mit?
COLE ST. CLAIR: Sieht nicht so aus. Nächstes Mal vielleicht. Viel Spaß mit dem Song, Leon. Finanziell ist ja alles geregelt, oder? Super.
F LIVE: Cole St. Clair, der frühere Frontmann von NARKOTIKA. Es war mir wie immer ein Vergnügen!
COLE ST. CLAIR: Das dagegen höre ich nicht zum ersten Mal.
F LIVE: Die Welt kann sich freuen, dich zurückzuhaben, Cole.
COLE ST. CLAIR: Jaja, das sagt die Welt jetzt. Okay, bis dann.
Ich legte auf und öffnete die Tür. Der Wagen hinter uns hupte ganz zaghaft, als ich ausstieg. Die Hitze – oh Mann, diese Hitze. Sie war wie ein Gefühl, erfüllte mich von Kopf bis Fuß. Die Luft roch nach vierzig Millionen Autos und vierzig Millionen Blumen. Ein regelrechter Tsunami aus Adrenalin durchflutete mich, zusammen mit den Erinnerungen an alles, was ich in Kalifornien je erlebt hatte, und Aufregung beim Gedanken an alles, was ich noch erleben würde.
Leon starrte unglücklich zu mir heraus, also bückte ich mich noch mal kurz zu seinem Fenster. »Es ist nie zu spät für Veränderungen«, sagte ich zu ihm.
»Ich kann mich nicht verändern«, antwortete er niedergeschmettert.
»Gib Gummi, Baby.«
Ich warf mir meinen Rucksack über die Schulter, umrundete einen wartenden schwarzen Mercedes und machte mich auf den Weg zur nächsten Abfahrt.
Irgendjemand hinter mir rief: »NARKOTIKA!«
Ich warf der Person einen Handkuss zu und machte einen Satz über die Betonabsperrung. Als ich auf der anderen Seite landete, war ich in Kalifornien.
KAPITEL 2
ISABEL
In L.A. war immer Platz für noch mehr Monster.
»Isabel, meine Schöne. Zeit, an die Arbeit zu gehen«, sagte Sierra.
Natürlich war ich schon längst bei der Arbeit – ich goss Sierras blöde Blumen. Auf dem Betonfußboden des .blush., der kleinen Boutique für Sierra-ohne-Nachnamens Modekollektion, standen mehr Topfpflanzen als Kleiderständer. Sierra liebte ihre Farne und Palmen und Orchideen, hatte allerdings keine Lust, sich selbst darum zu kümmern. Ihr Talent konzentrierte sich eher auf das Quälen toter Dinge und unbelebter Objekte. Alles, was man mit Nadeln traktieren konnte, ohne dass es sauer wurde. Sachen, die man aufhängen konnte, ohne damit gegen irgendwelche Menschenrechte zu verstoßen.
»Ich bin bei der Arbeit«, sagte ich und stach ein Düngestäbchen in die Blumenerde. »Ich halte hier deine Pflanzen am Leben.«
Sierra schob sich zwei vertrocknete Palmwedel in die hochgesteckten Haare, deren Farbe noch ein paar Nuancen näher an Weiß war als mein Blond. Bei ihr sah das gut aus; aber an jemandem wie ihr sah sowieso fast alles gut aus. Schließlich war sie ein ehemaliges Topmodel. Wobei »ehemalig« in diesem Fall so viel bedeutete wie »letztes Jahr noch«. Das entsprach sieben Hunde- oder L.-A.-Jahren.
»Pflanzen leben von Sonne, Schätzchen.«
»Sierra«, erwiderte ich, »haben deine Eltern dir nie erklärt, was Fotosynthese ist? Das geht so: Wenn eine Pflanze und die Sonne sich ganz doll lieb haben –«
»Christina ist schon auf dem Weg«, unterbrach Sierra mich. »Bitte, Isabel. Tausend Knutscher. Danke.«
Oha, Christina. Die Christina. Die gab immer eine ganze Menge Geld bei uns aus, wenn sie in der richtigen Stimmung war, und außerdem ließ sie sich gern bedienen. Das heißt, eigentlich reichte es ihr zu wissen, dass sie bedient werden würde, wenn ihr der Sinn danach stand. Was sie nicht wollte, war belagert werden. Bevormundet. Sie wollte nicht, dass jemand das gewünschte Paar Leggings für sie bereithielt. Sie wollte nicht gefragt werden, ob sie es vielleicht auch noch in Champagnerfarben anprobieren wolle. Sie hatte einfach gern eine Schar jederzeit verfügbarer Leute um sich, die sie dann mit Nachdruck ignorieren konnte.
Also betraute Sierra uns alle mit der Aufgabe, uns an die fünf vorhandenen Möbelstücke zu lehnen, unsere Nägel zu inspizieren oder unseren Freunden SMS zu schreiben. Eine Reihe blonder kleiner Monster. Kühl zur Seite gestrichene Fransenponys, die Augen düsterschwarz umrahmt, Lippen in Kaugummipink oder Kirschrot – jede Einzelne von uns in etwa so zum Küssen wie ein Flugzeugabsturz.
Obwohl ich erst seit ein paar Wochen dabei war, war ich ziemlich gut in meinem Job. Nicht, dass Sierras andere Monster kein Talent zum Tunikenfalten oder gelangweilt Shirts-auf-Bügeln-Zurechtrücken gehabt hätten. Sie hatten einfach nur noch nicht kapiert, dass das Geheimnis, Sierras Klamotten an den Mann zu bringen, darin lag, auf dem Hocker neben dem Tresen zu lümmeln und so zu tun, als würde man sich überhaupt keinen Kopf machen, und darin, den Kunden exakt vor Augen zu führen, wie die Klamotten aussehen würden, wenn sie sie kauften und sich keinen Kopf machten.
Die anderen Monster waren nicht so gut wie ich, weil sie sich doch einen Kopf machten.
Ich konzentrierte mich hauptsächlich darauf, morgens die Augen aufzumachen, meine Beine in Bewegung zu setzen und genug Nahrung zu mir zu nehmen, damit meine Augen offen und meine Beine in Bewegung blieben. Mehr nicht. Wenn meine emotionale Beanspruchung nur um eine Winzigkeit anwuchs, wurde ich wütend und wenn ich wütend wurde, zerstörte ich vollkommen unschuldige Dinge.
Christina kam. Diesmal trug sie ihr Haar gekreppt.
»Ist die Pflanze da neu?«, fragte sie Sierra.
»Ja«, erwiderte Sierra. »Hast du jemals so ein fantastisches Grün gesehen?«
Christina berührte eins der Blätter mit einem manikürten Fingernagel. »Was ist das für eine?«
Auch Sierra streckte die Hand nach der Pflanze aus, allerdings auf eine Art, die mir verriet, dass sie schon wieder überlegte, wie sich die Blätter in ihren Haaren machen würden. »Die schönste von allen.«
Während Christina im Laden stöberte, lehnte ich mich bäuchlings über meinen Hocker und googelte mit meinem Handy Bilder von berühmten Neurochirurgen. Ich trug zwei von Sierras weit ausgeschnittenen durchsichtigen Tanktops übereinander, einen Sisalgürtel tief auf der Hüfte und meine Lieblingsleggings. Regenbogenmetallic und wunderhübsch, bis man auf den zweiten Blick das Totenkopfmuster sah. Die Leggings waren keiner von Sierras Entwürfen. Und auch generell nicht so ihr Geschmack. Eigentlich war das Teil sogar ein bisschen hässlich, wenn man erst mal darüber weggekommen war, wie schön es war.
Ich hörte auf mit den Chirurgenbildern und tippte als Nächstes »Freunde Definition« in die Suchmaske. Meine Mutter, die selbst keine Freunde hatte, lag mir immer damit in den Ohren, dass ich außer meiner Cousine Sofia und Grace, die in Minnesota lebte, keine Freunde hätte. Nicht dass sie damit unrecht gehabt hätte. Aber es gab eben auch eine Menge Gründe für meine Freundeslosigkeit. Zunächst mal war ich nur fünf Monate vor dem Abschluss an meine neue Schule gekommen. Zweitens hatte sich herausgestellt, dass es sehr viel schwieriger war, Freunde zu finden, wenn man nicht mehr zur Schule ging. Und drittens waren die meisten Mädels bei .blush. älter als ich, sie führten ein Ü-20-Leben mit Ü-20-Problemen und machten sich einen Kopf, während ich mir keinen machte.
Außerdem war ich nun mal einfach nicht besonders freundlich.
»Alles, was sie anhat«, verlangte Christina.
Ihre Stimme klang sehr nah, aber ich sah trotzdem nicht hoch. Obwohl allein ihr Tonfall in mir den Verdacht aufkommen ließ, dass sie mich meinen könnte. Es war wie damals in der Schule, als in meiner Klasse zwei Isabels gewesen waren. Alle hatten uns Isabel C. und Isabel D. genannt, aber ich hatte immer schon gewusst, welche Isabel gemeint war, bevor sie beim Anfangsbuchstaben unserer Nachnamen angekommen waren.
Ich hob gerade lange genug den Blick, um zu sehen, dass Christina mich argwöhnisch anstarrte. Die anderen buckelten und huschten sofort los, um ihr die Shirts und den Gürtel zu besorgen, ohne zu wissen, dass als Accessoires zu meinem Look ein Todesfall in der Familie und Herzschmerz im Allgemeinen vonnöten waren. Die Bässe aus der Musikanlage wummerten und wisperten. Ich begann, die Fenster auf meinem Handy zu schließen. Viele Neurochirurgen sahen seltsam aus. Ursache oder Wirkung?
»Isabel«, sagte Sierra. »Christina hätte gern deine Leggings.«
Mein Blick war weiterhin auf das Handydisplay gerichtet. »Kein Interesse.«
»Isabel, Süße. Sie möchte sie dir abkaufen.«
Ich hob den Blick und sah die Christina an. Es gab Stars, die in natura irgendwie weniger berühmt wirkten. Sie schienen einen Tick unscheinbarer oder kleiner zu werden, sobald keine Kameras auf sie gerichtet waren. Für Christina galt das nicht. Man wusste sofort, dass sie jemand war, selbst wenn man ihr Gesicht nicht kannte. Weil sie irgendwie absichtlich wirkte.
Das konnte ziemlich einschüchternd sein, sogar in dieser Stadt.
Und ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war sie sich dieser Tatsache auch bewusst.
Ich aber blickte bloß von meiner wartenden Chefin zur wunderschönen Christina und dachte: Ich habe schon berühmtere Lippen als deine geküsst.
Schulterzuckend wandte ich mich wieder meinem Handy zu. Ich tippte »frontopolare Lobatomie«. Die Autokorrekturfunktion machte »frontopolare Lobotomie« daraus. Wie es aussah, konnte man diesen Begriff nicht ohne ooo schreiben.
»Isabel.«
Ich sah nicht hoch. »Die Artemis-Leggings in Dunkelgrau kommen ungefähr aufs Gleiche raus.« Als sich niemand rührte, hob ich träge die Hand und deutete in die Richtung der Artemis-Kollektion.
Fünfzehn Minuten später hatte Christina zwei Tanktops, einen Sisalgürtel und zwei Paar Artemis-Leggings gekauft – alles zum Preis einer Mandel-OP im Sonderangebot.
Als sie weg war, zischte Sierra mir zu: »Du bist so ein Miststück«, und gab mir einen liebevollen Klaps auf den Hintern.
Ich ließ mich nicht besonders gern von Leuten anfassen.
Ich rutschte von meinem Hocker und machte mich auf den Weg ins Hinterzimmer. »Ich setze mich mal ein bisschen zu den Orchideen.«
»Hast es dir verdient.«
Was ich mir verdient gehabt hätte, wäre ein Pokal für allgemeines Desinteresse gewesen. Es hatte mich sämtliche Energie gekostet, derart unengagiert zu wirken.
Als ich den Leinenvorhang zum Hinterzimmer zur Seite zog, hörte ich, wie erneut die Ladentür aufging. Wenn Christina noch einen zweiten Versuch wagen würde, mir meine Leggings abzuschwatzen, würde ich laut werden müssen und das wurde ich nicht gern.
Aber es war nicht Christina, die ich vorn im Laden hörte.
Stattdessen sagte eine mir wohlbekannte Stimme: »Nein, nein. Ich suche nach etwas ganz Bestimmtem. Ah, Moment, ich hab es gerade gefunden.«
Ich drehte mich um.
Cole St. Clair schenkte mir sein träges Lächeln.
KAPITEL 3
ISABEL
Plötzlich machte ich mir so sehr einen Kopf, dass es regelrecht wehtat.
Es war einfach nicht möglich, die Realität dieses Augenblicks zu erfassen. Erstens, weil Cole St. Clair eines mit der Christina gemeinsam hatte: Er wirkte berühmt, nicht ganz real und nie tatsächlich anwesend. Zwischen ihm und seiner Umgebung schien immer eine Art Dissonanz zu bestehen, so als würde er reibungslos und originalgetreu von einem fernen Ort herprojiziert.
Zweitens: Cole war ein Wolf.
Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, ihn zu sehen, oder Angst haben. Es war noch nicht lange her, dass ich ihn mit einer Nadel im Arm auf dem Boden gefunden hatte; dass ich mit angesehen hatte, wie er sich vor meinen Augen in einen Wolf verwandelte; dass er mich angefleht hatte, ihm beim Sterben zu helfen.
Und drittens: Er hatte mich weinen sehen. Ich wusste einfach nicht, ob ich mit diesem Wissen weiterleben konnte.
Was willst du hier? Bist du meinetwegen gekommen?
»Hallöchen!«, sagte er. Er lächelte mich immer noch an, auf seine lässige, etwas schläfrige Art. Er hatte das schönste Lächeln der Welt und eine ganze Menge Leute hatte ihm das auch schon bestätigt. Die Tatsache, dass er sich der Macht seines Lächelns bewusst war, hätte sie eigentlich schmälern müssen, doch es war genau diese zwanglose Arroganz, die einen großen Teil des Reizes ausmachte.
Zum Glück hatte ich mir ein paar Monate zuvor eine Impfung verpassen lassen, die seitdem ihre Schutzwirkung entfaltete. Ich war immun gegen ihn.
Wir standen einen knappen Meter voneinander entfernt, zwischen uns ein Stoßdämpfer aus gemeinsamen Erlebnissen, während alles andere uns gnadenlos zueinander hinzog.
»Du hättest vorher anrufen können«, bemerkte ich stumpf.
Sein Grinsen wurde breiter. Mit einer ausladenden Geste deutete er auf sich selbst, wobei er fast einen Ständer voll hauchdünner Tops umgestoßen hätte. »Das hätte doch das hier total zunichtegemacht.«
Mit ihm darin wirkte der ganze Laden wie verwandelt. So als hätte er die Nachmittagssonne mit sich zur Tür hereingezerrt.
»Und was genau ist ›das hier‹?«, fragte ich.
»Tada.« Er gab sich Mühe, sein Cole-St.-Clair-Lächeln über seinem echten zu halten. Jedes Mal, wenn das echte kurz durchschimmerte, zog sich mein Herz zusammen.
Ich war mir unseres Publikums bewusst. Kein direktes Starren – dafür waren sie zu höflich –, sondern dezente Neugier. Ich wollte diese Unterhaltung draußen auf dem Bürgersteig oder im Hinterzimmer weiterführen oder zumindest einen Blick auf meine Hände werfen, um mich zu vergewissern, dass sie nicht so sehr zitterten, wie es sich anfühlte, aber irgendwie war ich zu nichts davon in der Lage.
Das Problem: Ich war in Cole verliebt.
Oder es zumindest gewesen. Oder würde es vielleicht irgendwann mal sein. Für mich gab es da keinen Unterschied.
Ich wusste nicht, ob er meinetwegen hier war, und hätte es nicht ertragen, wenn es anders gewesen wäre. Eigentlich war es vollkommen abwegig, dass er wegen mir den ganzen Weg aus Minnesota hergekommen war. Wahrscheinlich wollte er nur kurz Hallo sagen, da er nun schon mal aus irgendwelchen anderen Gründen hier war. Darum hatte er mich auch nicht vorher angerufen.
»Komm mit«, zischte ich. »Nach draußen. Zeit hast du ja wohl kurz?«
Er schlurfte hinter mir her, als wäre Zeit das Einzige, was er hatte. Auf dem Weg ins Hinterzimmer warf er Sierra mit hochgezogener Augenbraue einen Blick zu, als wäre er diesen Ton von mir nur zu gewohnt.
Passierte das alles gerade wirklich?
Ich führte ihn geradewegs durch das kleine Zimmer, in dem sich neugeborene Leggings neben verstoßenen Tuniken in unzähligen Khaki-Nuancen türmten. Schließlich standen wir im bläulichen Licht der kleinen Gasse hinter dem Laden. Dort befand sich eine Mülltonne, die nicht stank – sie war voll mit Pappe und Pflanzenresten. Ein Stück weiter parkte Sierras alter VW-Käfer, der nicht mehr fuhr – auch er voll mit Pappe und Pflanzenresten.
Während ich neben dem Auto stehen blieb, versuchte ich, mich zu beruhigen, mir einzureden, dass seine Anwesenheit hier nichts zu bedeuten hatte, nichts änderte, nichts, nichts. Nichts.
Ich drehte mich um, eine weitere giftige Bemerkung darüber auf der Zunge, dass er nicht angerufen hatte, bevor er in meiner Stadt, bei meiner Arbeit, in meinem Leben aufgetaucht war.
Doch in dem Moment schlang er die Arme um mich.
Mir stockte der Atem, als hätte er mir die Hand auf den Mund gedrückt. Ich erwiderte seine Umarmung nicht gleich, weil mir einfach nicht genug Informationen zur Verfügung standen, um zu wissen, wie ich ihn umarmen sollte.
Er roch fremd nach Flughafenseife und fühlte sich an wie ein Abgrund, in den ich drauf und dran war zu stürzen.
Cole trat einen Schritt zurück. Ich konnte nicht in seinem Gesicht lesen.
»Was sollte das denn?«, fragte ich.
»Freut mich auch, dich wiederzusehen«, entgegnete er.
»So was sagt man vielleicht zu jemandem, der vorher angerufen hat.«
Er wirkte kein bisschen beeindruckt. »Vor einem ›Tada‹ ruft man eben nicht an.«
»Vielleicht mag ich ja keine ›Tadas‹.«
Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, was ich mochte. Alles, was ich wusste, war, dass mein Herz so schnell raste, dass meine Fingerspitzen taub wurden. Meinem Verstand war klar, dass das an der Überraschung lag, aber ich hatte keine Ahnung, ob ich es mit »Überraschung, hier ist eine Torte für dich!« oder eher mit »Überraschung, du hattest gerade einen Herzinfarkt!« zu tun hatte.
Coles Lächeln vor mir wirkte plötzlich hohl. Sein Blick ging ins Leere, wie immer, wenn man ihn verletzte. In solchen Momenten floh der echte Cole aus der Situation und überließ seinen Körper seinem Schicksal.
Grausamerweise freute ich mich darüber, genauso wie kurz zuvor über die winzige Andeutung seines echten Lächelns. Denn diese Reaktion war immerhin echt. Sie besagte, dass es ihm etwas bedeutete, wie ich über unser Wiedersehen dachte. Einem Lächeln konnte ich nicht trauen, aber Schmerz – auf diesem Gebiet konnte man mir nur schwer eine Fälschung unterjubeln.
»Hör zu«, sagte ich. »Du kannst nicht aus heiterem Himmel hier auftauchen und erwarten, dass ich vor Freude kreische, dafür bin ich einfach nicht der Typ. Also guck nicht so traurig.«
Langsam schwappte wieder ein Ausdruck auf sein Gesicht. Dieser neue war gierig und ungeduldig. »Komm mit. Gehen wir irgendwohin. Was gibt es denn hier in der Nähe so? Lass uns gehen.«
»Ich muss noch bis sechs arbeiten.« Sechs? Sieben? Ich erinnerte mich nicht mal mehr an meine Arbeitszeiten. Wo waren wir überhaupt? Ach ja, hinter dem .blush. Eine sanfte Meeresbrise strich über meine Haut, über uns auf einer Telefonleitung zwitscherte ein Star sein verträumtes Lied, ein vertrocknetes Palmblatt sank langsam herab und blieb auf dem Betonboden liegen. Das hier war real. Es passierte wirklich.
Cole trat von einem Fuß auf den anderen – ich hatte beinahe vergessen, dass er nur aufhörte, sich zu bewegen, wenn es ihm nicht gut ging. »Welche Mahlzeit kommt als Nächstes? Mittagessen? Abendessen? Genau. Ich lad dich zum Abendessen ein.«
»Abendessen?« Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sich meine Pläne für den Abend darauf beschränkt, mich zurück nach Glendale zur Villa Herzschmerz durchzuschlagen, wo ich ein paar östrogengeschwängerte Stunden voller Gelächter verbracht hätte, das kaum von Tränen zu unterscheiden war, und umgekehrt. »Und dann?«
Er griff nach meiner Hand. »Nachtisch. Sex. Leben.« Dann drückte er mir einen Kuss in die Handfläche – keinen von der liebevollen Sorte. Es war ein Kuss, unter dem meine Haut vor plötzlichem, unbändigem Verlangen zu kribbeln begann. Sein Mund.
Jetzt war ich fast sicher, einen Herzinfarkt zu haben. »Cole, hör auf, warte.«
»Aufhören« und »warten« waren keine allzu vertrauten Konzepte für ihn.
»Cole«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, in dieser blauen Gasse zu ertrinken.
»Was?«
Ich war kurz davor, schon wieder »Hör auf« zu sagen, aber das war gar nicht, was ich wollte. »Gib mir doch mal eine Sekunde. Mein Gott!«
Er ließ meine Hand los. Ich starrte ihn an. Das hier war Cole St. Clair: mit seinem scharf geschnittenen Gesicht, den leuchtend grünen Augen, dem halb verwuschelten, halb stachelig hochgegelten braunen Haar. Mit seinem Lächeln hätte er auch ohne NARKOTIKA berühmt werden können. Ich sah ihm an, dass er es genoss, wie ich ihn anstarrte. Ich sah ihm an, dass er alles an diesem Moment genoss. Alles daran war darauf ausgerichtet gewesen, mich zu überrumpeln, mir eine Reaktion zu entlocken.
Hoffnung und Angst wallten zu gleichen Teilen in mir auf.
»Warum bist du hier?«, fragte ich.
»Du.«
Es war die perfekte Antwort, gesagt auf unperfekte Weise. Wie schnell er geantwortet hatte. »Du.« Mehr nicht. Es war so einfach, nur ein einziges Wort zu sagen. Ich wollte, dass er es noch einmal sagte, damit ich beim zweiten Mal die Chance hatte, etwas dabei zu fühlen.
Du.
Ich.
»Okay«, sagte ich. Ich spürte ein Lächeln an meinem Gesicht zupfen. Schnell ließ ich es wieder verschwinden. Nie im Leben würde er ein Lächeln von mir bekommen, ohne vorher angerufen zu haben. »Abendessen. Holst du mich ab?«
Cole lachte, es war ein Laut, der in seiner schieren Freude absolut unerreichbar war. »Abholen, abschleppen – nenn es, wie du willst.«
KAPITEL 4
COLE
Der Uhr im Taxi zufolge würde ich viel zu spät zu meinem Termin mit Baby North kommen. Unpünktlichkeit gehörte nicht zu meinen zahlreichen Lastern, darum hätte mich das normalerweise ziemlich gestört. Aber im Moment konnte mir gar nichts die Laune vermiesen. Ich vibrierte regelrecht vor wohliger Nervosität, mit der die rasiermesserscharfe Linie von Isabels Mund mich erfüllt hatte.
Bei unserer ersten Begegnung hatte ich mir gerade selbst das Leben gerettet, indem ich zum Werwolf geworden war, und ihr Bruder war gerade bei dem Versuch gestorben, keiner mehr zu sein. Isabel war die einzige Person in ganz Mercy Falls, die noch bissiger war als ich.
Sie war die Einzige, die mich wirklich kannte.
Über mir am Himmel glühte die Sonne, tausendmal intensiver als die Sonne über Minnesota. Alles hier schien aus Beton, Kunstrasen und zackigen Palmblättern zu bestehen.
»Welche Straße noch mal?«, fragte der Taxifahrer. Er trug eine Kopfbedeckung aus einem Land, das nicht L.A. war, und sah müde aus.
»Ocean Front Walk«, antwortete ich. »Der in Venice. Falls es zwei gibt. Na ja, wahrscheinlich nicht. Aber um Verwechslungen zu vermeiden.«
»Das ist keine Straße für Autos«, erwiderte der Fahrer. »Ist direkt am Strand. Ich lasse Sie vorher raus. Den Rest Sie müssen laufen.«
Ich wusste nicht, ob es daran lag, dass ich so lange nicht mehr an der Westküste gewesen war, oder daran, dass ich so lange nirgendwo anders als in Minnesota gewesen war, aber Kalifornien überraschte mich nach wie vor, einfach damit, wie sehr es Kalifornien war. Während wir uns weiter Baby Norths Haus näherten, erschien mir alles vertraut und irreal, genau wie ich es von unseren Touren, aus Träumen oder aus Filmen in Erinnerung hatte. Die Straßennamen – Mulholland Drive, Wilshire Boulevard –, die Stadtteile – Hollywood, Cheviot, Beverly Hills –, weckten in mir Gedanken an blonde Haare, rote Autos, Palmen und endlosen Sommer.
Isabel …
Los Angeles. Als ich zum ersten Mal hier gewesen war, ein Eindringling aus dem Norden, ein tapsiger Wichtigtuer, hatte ich ein Foto von einem Straßenschild des Hollywood Boulevard geschossen und es meiner Mutter gesimst, zusammen mit dem Text: wow jetzt bin ich berühmt.
Inzwischen war ich tatsächlich berühmt, aber ich simste meiner Mutter nicht mehr.
Ich bin wieder da.
Es war ein gutes Gefühl. Ein Gefühl, als wäre ich unglücklich gewesen und hätte es erst gemerkt, als ich es nicht mehr war. Ich hatte gedacht, ich wäre ganz zufrieden gewesen in Minnesota. Gelangweilt, einsam, zufrieden.
Kalifornien, Kalifornien, Kalifornien.
Ich spürte noch immer Isabel in meinen Armen, ihre Echtheit. Sie war wie die Sonne auf meinen Lidern, der Geruch des Ozeans in meinem Mund, während ich die Luft durch die Zähne einsog. Ich war schon einmal hier gewesen.
Diesmal würde es anders werden.
Ich rief meinen Freund Sam in Minnesota an. Zu meinem Erstaunen nahm er sofort ab – er hasste telefonieren, weil er dabei das Gesicht seines Gesprächspartners nicht sehen konnte.
»Ich bin da«, eröffnete ich ihm und knibbelte an dem Werbeaufkleber des Taxiunternehmens auf der Innenseite des Autofensters. Vorne führte der Fahrer ein leises, aber eindringliches Telefonat in einer fremden Sprache. »Mein Gesicht ist entspannt und zufrieden. Meine Mundwinkel weisen nach oben.«
Sam lachte nicht, weil er aus irgendeinem Grund immun gegen meinen Humor war. »Warst du schon in deiner Unterkunft? Ist sie okay?«
»Alles bestens, Mama«, zog ich ihn auf. »Aber nein, ich war noch nicht da. Ich hab erst noch einen Termin mit Baby.«
»Ich hatte letzte Nacht einen total schlimmen Albtraum über dich«, sagte Sam nachdenklich. »Du bist durch Los Angeles gezogen und hast zwanzig Leute gebissen, damit du da drüben auch ein Rudel haben konntest.«
Es gibt doch diese olle Kamelle über einen rosa Elefanten, an den man natürlich sofort denken muss, sobald einem jemand sagt, dass man es nicht darf. Somit war es eigentlich Sams Schuld, dass ich jetzt über die Idee, in Los Angeles ein Rudel Werwölfe zu haben, nachdachte. Klar, darauf hätte ich genauso gut selbst kommen können, war ich aber nun mal nicht. Und die Vorstellung erschien mir gar nicht so unromantisch. Wölfe, die im Sonnenuntergang über den Sunset Boulevard jagten.
»Zwanzig«, schnaubte ich abfällig. »Ich würde nie eine gerade Anzahl von Leuten beißen.«
»Und als ich dich dann gewarnt habe, dass das eine furchtbare Idee ist, hast du gesagt, du wolltest aber nicht allein sein.«
Das klang tatsächlich ziemlich nach mir, aber ich würde niemals so tief sinken, mir hier einen neuen Freundeskreis zusammenzubeißen. Während ich mich immer nur für ein paar Minuten am Stück verwandelte, mussten die meisten anderen mehrere Monate in ihren Wolfskörpern verbringen. Genauso war es auch in Minnesota gewesen. Zum Schluss waren nur noch Sam, Grace und ich übrig gewesen, bis die beiden beschlossen hatten, aufs College zu gehen – aufs College! Und dann auch noch zur Sommerakademie. In Duluth. Wer kam denn bitte auf so eine Idee?
»Aber das Schlimmste war«, fuhr Sam fort, »dass dann auf einmal mein Radiowecker angegangen ist und ich von ›Villain‹ geweckt wurde, diesem blöden Song von euch.«
»Scheint, als hättest du einen ganz ausgezeichneten Sender eingestellt.« Das Taxi wurde langsamer. »Ich muss Schluss machen«, sagte ich zu Sam. »Die Zukunft wartet auf mich, dekoriert mit Blumen und Früchten.«
»Warte!«, rief Sam. »Hast du Isabel schon getroffen?«
Meine Finger spürten noch immer ihren Körper unter sich. »Da. Wir hielten uns in den Armen. Der Himmel war voll singender Engel. Diese kleinen dicken. Cherubim. Putten. Ich muss los.«
»Beiß niemanden.«
Ich legte auf. Der Taxifahrer parkte den Wagen. »Jetzt Sie müssen laufen.«
Ich öffnete die Tür. Als ich ihm das Geld reichte, fragte ich ihn: »Wollen Sie mitkommen?«
Er starrte mich an.
Ich stieg aus. Als ich meinen Rucksack über die Schulter schwang, sauste eine Gruppe Skater-Kids an mir vorbei. Einer von ihnen rief mir zu: »Ey, wir skaten hier!«
Die anderen hinter ihm johlten fröhlich.
Ich schmeckte noch immer Isabels Parfüm auf den Lippen.
Über mir brannte die Sonne. Mein Schatten war winzig unter meinen Füßen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es bis zum Abendessen mit mir aushalten sollte.
Baby North wohnte in einem Haus am Venice Beach, das aussah, als wäre es von einem Kleinkind auf Koffein gebaut worden. Es war ein Sammelsurium knallbunter, aufeinander- und nebeneinandergestapelter Klötze in verschiedenen Formen und Größen, die durch Betontreppen und Metallbalkone verbunden waren. Von hier aus hatte man freien Blick über den breiten, von Touristen bevölkerten Strand, das Meer wirkte zum Greifen nah. Es war ein fröhlicheres Domizil, als ich erwartet hatte.
Die Leute hatten Angst vor Baby North. Und das nicht mal zu Unrecht, immerhin hatte sie den letzten sieben Personen, die in ihrer Show aufgetreten waren, das Leben ruiniert. Das war sozusagen ihre Masche: Such dir ein beliebiges Mängelexemplar, bring es ins Fernsehen, warte auf den Zusammenbruch und lass einen hübschen Scheck über das Bild der Verwüstung flattern.
Jeder, der einen Vertrag mit ihr abgeschlossen hatte, war sicher gewesen, dass er die große Ausnahme sein und unversehrt davonkommen würde, seine Würde und geistige Gesundheit unangetastet. Bisher hatten sie alle falschgelegen.
Keiner von ihnen schien sich bewusst gewesen zu sein, dass es einfach eine Show war.
Ich stieg die Betontreppe hoch. Als ich an die Tür klopfte, ging sie auf. Rufen wäre zwecklos gewesen. Die Musik im Inneren des Hauses war so laut, dass die Welt nur noch aus piepsigen Kopfstimmen und wummernden Bässen zu bestehen schien. Es war die Art von Song, wie man ihn von einem Mädchen erwarten würde, das beim Disney Channel entdeckt worden war.
Als ich eintrat, traf mich die kalte Luft aus der Klimaanlage wie ein Faustschlag. Ich fühlte sämtliche Nervenenden in meinem Körper erstarren, als sie ihre Form und Gestalt infrage stellten.
Daran würde ich mich gewöhnen müssen.
Meine letzte Verwandlung lag ziemlich lange zurück. Und jedes Mal war eine Menge Überzeugungsarbeit dafür nötig gewesen – ein plötzlicher Temperatursturz, ein interessanter chemischer Cocktail, ein nachdrücklicher Stups in den Hypothalamus. Der aktuelle Temperaturunterschied reichte nicht aus, aber der Schock war groß genug, um meinem Körper die verlockende Möglichkeit der Verwandlung in Erinnerung zu rufen.
Werwolf, Werwolf.
Das wäre ein guter Song.
Drinnen wölbte sich die Decke über dem Betonboden bis hoch zu den frei liegenden Rohrleitungen. Es gab genau vier Möbelstücke. Dazwischen stand Baby North über ein iPad gebeugt. Ich erkannte sie eher aus den Klatschblogs wieder als von unserer kurzen Begegnung vor ein paar Jahren. Ihr braunes Haar hing ihr als dicker Pony bis knapp über die tief liegenden Augen wie bei einem Siebzigerjahremodel. Sie trug geraffte Leggings unter einer Tunika aus Wolle oder Sackleinen oder sonst irgendwas Mönchmäßigem. Sie war klein und auf verstörende Weise hübsch – auf eine Weise, die »angucken ja, anfassen nein« zu sagen schien. Ich hatte keine Ahnung, wie alt sie war.
Ich deutete auf eine der Boxen über uns. Die Sängerin trällerte irgendwas darüber, dass wir sie doch bitte endlich anrufen sollten, bevor es zu spät war. Die Melodie war erbarmungslos eingängig. »Du weißt schon, dass dieser Kram einen blind machen kann, oder?«