Von Diktatur keine Spur?
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ISBN 978-3-95768-152-2
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Redaktion: Christina Brock M. A., München
Umschlagentwurf: Atelier Versen, Bad Aibling
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
Einleitung: Die Wiederkehr der Ostschrippe
1. |
Repression |
1.1 |
Diktatur des Proletariats mit totalitären Zügen |
1.2 |
Justiz: Unrechtsstaat DDR |
1.3 |
Der Bau der Mauer |
1.4 |
Das Ministerium für Staatssicherheit |
1.5 |
Die Todesstrafe |
2. |
Die Fürsorgediktatur |
2.1 |
„Soziale Gerechtigkeit“ I: Arbeit und Soziales |
2.2 |
„Soziale Gerechtigkeit“ II: Gesellschaft |
2.3 |
Frauenpolitik |
2.4 |
Wohnen in der DDR: Aufgewacht in Ruinen oder Die Schnarchsilos der Arbeiterklasse |
2.5 |
Das Bildungssystem: Elitenbildung im Reich der Gleichen |
2.6 |
Ausbildung: Staatlich gelenkte Berufswahl |
2.7 |
Jugend: Das Doppelleben der „Sozialistischen Persönlichkeit“ |
2.8 |
„Sportwunder“ DDR: Gedopte Diplomaten im Trainingsanzug |
2.9 |
Rentner: Zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben |
3. |
Wirtschaft: Der Primat der Politik (oder der alten Männer) |
3.1 |
Vom Plan zum Mangel |
3.2 |
Umweltkatastrophe: Plan übererfüllt |
4. |
Die Mär vom besseren Deutschland |
4.1 |
Antifaschismus: Instrument der SED |
4.2 |
Verleugneter Rechtsextremismus: Es kann nicht sein, was nicht sein darf |
4.3 |
Juden in der DDR: Erst „Bestien der Menschheit“, dann geduldet |
4.4 |
Die Militarisierung der Gesellschaft: (Gescheiterte) Erziehung zum Hass |
4.5 |
Die DDR als selbst ernannter Friedensstaat |
Glossar häufig verwendeter Begriffe
Auswahl verwendeter Literatur
Berlin, Prenzlauer Berg: Jeden Samstagvormittag ist in einer Seitenstraße im trendigen Szeneviertel der Hauptstadt die gleiche Szene zu beobachten. Vor dem kleinen Bäckergeschäft bildet sich eine lange Schlange, manchmal fast dreißig Menschen. Sie warten geduldig, bis sie an der Reihe sind – gleich, ob bei Schneeregen oder in der prallen Sommersonne. Denn hier gibt es sie noch: die original Ostschrippe, gebacken in der eigenen Backstube nach altem DDR-Rezept. Das Publikum ist gemischt: Alte Männer mit grauen, strähnigen Haaren und Jacken aus Leder-Imitat, die aussehen wie Überbleibsel aus Erich Honeckers Partei- oder Erich Mielkes Stasi-Apparat, warten genauso geduldig wie Studenten, junge Väter mit kleinen Kindern oder schicke Frauen, die aus Westdeutschland zugezogen sind und auch am Wochenende rasch ins Büro müssen, um ein paar Kunden zu betreuen. Wer zwei Häuser weitergeht und seine Schrippen beim türkischen Bäcker kauft, sieht sich bei der Rückkehr durchaus manch kritischem Blick ausgesetzt.
Szenenwechsel. Im März 2009 steht an einem Montagmorgen das Telefon bei der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Schwerin nicht still. Die Anrufer sind aufgewühlt, empört, ja, einige haben sogar Angst. Was ist geschehen? Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering hatte einer Wochenzeitung ein Interview gegeben, in dem er die These ablehnte, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen. Auszüge des Gesprächs waren am Samstag, just als die Ostschrippe im Ortsteil Prenzlauer Berg reihenweise über die Ladentheke ging, vorab verbreitet worden. Äußerungen wie die, dass es in der DDR lediglich einen „Schuss Willkür“ gegeben habe – angesichts der erschossenen Flüchtlinge an der Mauer eine denkbar unglückliche Formulierung – wirken vor allem auf jene Menschen, die im „Arbeiter- und Bauernstaat“ aus politischen Gründen im Gefängnis saßen, verfolgt wurden oder nicht studieren durften, weil sie aus einem christlich-geprägten Elternhaus kommen, wie ein Schlag ins Gesicht. Sie müssen ihrem Unmut Ausdruck verleihen und tun dies bei der Stasi-Beauftragten. Sonst hört sie ja fast niemand mehr.
Ob die original Ostschrippe nun besser schmeckt als das heißluftgebackene, deutlich größere Brötchen, kann jeder nach seinem eigenen Geschmack entscheiden. Die langen Wartezeiten von teilweise bis zu 30 Minuten vor dem samstäglichen Frühstück rechtfertigen den Unterschied aber wohl kaum. So scheint der Andrang auf die Ostschrippe im Kleinen für eine Entwicklung zu stehen, die wir ausgerechnet im 20. Jahr der Revolution von 1989 im Großen erleben: die Rückkehr der DDR. Egal ob aus eigenem Erleben oder aus lustigen Filmen und Retro-Shows – immer mehr Menschen, vor allem in Berlin und den neuen Bundesländern (aber nicht nur), erscheint nach verschiedenen Umfragen die untergegangene zweite deutsche Diktatur heute zunehmend wie ein soziales Paradies mit zahlreichen bewahrenswerten „Errungenschaften“: mit skurrilen oder auch liebenswerten Eigenarten und einem System, in dem alle gleich und hochgebildet waren, in einer sauberen Umwelt lebten und Ärger mit dem lustigen alten Staatschef Erich Honecker nur der bekam, der aufmuckte. Ein Staat, der die bösen Seiten deutscher Nazi-Geschichte vollkommen ausgemerzt hatte. Selbst die Ostschrippe symbolisiert im Kleinen bei vielen ihrer Käufer – wohl eher unbewusst – eine solche „Errungenschaft“.
Die sich empörenden DDR-Opfer zeigen eine zweite Entwicklung auf: Sie werden in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen. Klar, Politiker melden sich noch zu Wort, die die DDR als Diktatur geißeln; Historiker weisen darauf hin, dass es die Mauer, die Stasi und die SED mit ihrem totalitären Verfügungsanspruch über die Menschen gegeben hat. Die Opfer will kaum noch jemand hören. Sie gelten als ewige Dauernörgler und Schlechtredner. Bei vielen Menschen in den neuen Ländern, auch solchen, die nicht zur Funktionärsschicht in der DDR gehörten, hat sich längst eine Meinung breitgemacht: Haben die nicht selbst schuld gehabt, wenn sie im Gefängnis gelandet sind, weil sie ausreisen oder auch nur ihre Meinung frei äußern wollten? Haben die nicht gewusst, dass sie ihr Hab und Gut zurücklassen müssen, wenn sie ihre Heimat gen Westen verlassen? Haben sie ihren Tod nicht in Kauf genommen, wenn sie versucht haben, über die Mauer mit ihren Selbstschussanlagen und den Grenzsoldaten, die darauf getrimmt waren, „Republikflüchtlinge“ zu „vernichten“, in den Westen zu entkommen?
Die DDR kehrt zurück, und der Zeitpunkt im Jahre 2009 ist kein Zufall. Vor allem seit der westliche Kapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft als seine typisch bundesrepublikanische Ausprägung infolge der globalen Finanzmarktkrise in Turbulenzen geraten sind, erscheinen die DDR und der in ihr herrschende Sozialismus immer mehr Menschen als eine Alternative. Während das totale Scheitern der Planwirtschaft verdrängt wird, werden die angeblichen sozialen Vorteile schöngeredet. Keine Frage, das kapitalistische System steckt in einer Krise. Aber genauso klar sein muss auch: Der Kapitalismus hat ein Problem – der Sozialismus war selbst das Problem. Ein Blick auf die in der DDR herrschenden Realitäten, auf die Fakten, die ihr gesellschaftliches, politisches und wirtschaftliches System prägten, können rasch viele Missdeutungen zurechtrücken.
Die Diskussion über die DDR ist indes auf eine schiefe Bahn geraten, ja, sie hat teilweise groteske Züge angenommen. Kritik an der ideologischen Ausrichtung der SED mit ihren Auswirkungen im alltäglichen Leben der Menschen (wie die Militarisierung des Bildungswesens, in dem schon Dreijährige in Kasernen der Nationalen Volksarmee geführt wurden), gelten als „holzschnittartig“. Warum eigentlich? Gerade wenn das angeblich so gute Bildungssystem als Vorbild für die Gegenwart gefeiert wird, müssen doch auch die Schattenseiten Erwähnung finden. Wer das kritisiert, kann scheinbar mit einem offenen Meinungsdiskurs nicht viel anfangen. Er will dann nicht das bessere Schulsystem für seine Kinder, sondern seine ideologische Sichtweise durchsetzen.
Der gewichtigere Vorwurf ist aber ein anderer, der zugleich ein Totschlagsargument ist und jede weitere Diskussion mit einem Tabu belegen soll: Wer die DDR kritisiere, entwürdige damit gleichzeitig die Biografien und die Lebensleistungen der Menschen, die in ihr gelebt haben. Schon seit die PDS Anfang der Neunzigerjahre die „Komitees für Gerechtigkeit“ gegründet hat, steht dieser Vorwurf im Raum. Noch heute wird er am lautesten von denen formuliert, die wie die Stasi-Generäle oder der letzte nicht frei gewählte Ministerpräsident Hans Modrow halfen, das Volk zu unterdrücken, und viele um ihr Leben oder ihre Lebenschancen betrogen. Im Laufe der Jahre fand diese eigentlich makabre These immer mehr Anhänger – bis weit in die Kreise der ostdeutschen Christdemokraten (deren Mitglieder ja zum Teil selbst als einstige Angehörige der Blockpartei CDU zu den Begünstigten des Systems gehörten). Deshalb ist diese These noch lange nicht richtig, sie ist sogar grundfalsch. Denn es ist das eine, das Unterdrückungssystem, das die DDR unstreitig war, zu kritisieren, und etwas völlig anderes, über die Menschen, die in ihm lebten, zu berichten oder zu „urteilen“. Wer die Staatssicherheit, die Mauer oder die Unterdrückung der Meinungsfreiheit anprangert, kritisiert damit in keiner Weise die Menschen. Ganz im Gegenteil: Er erkennt gerade an, dass diese unter bedrückenden Umständen versuchen mussten, möglichst aufrecht durch ihr Leben zu gehen, ohne sich allzu sehr zu verbiegen. Und er erkennt damit auch gerade an, dass das Leben in diesem System, vor allem in der völlig versagenden Planwirtschaft, zweifellos nicht so funktioniert hätte, hätte es nicht trotz allem Menschen gegeben, die sich einsetzten, Leistungen erbrachten, Erfindungsreichtum an den Tag legten. Schließlich: Wer die SED und ihren auf Unterdrückung aufgebauten Allmachtsanspruch kritisiert, kritisiert damit noch lange nicht die große Masse der eher unpolitischen Menschen, weil sie sich ihr Leben in der Diktatur so gut einrichteten, wie es nun einmal ging.
Das gilt natürlich auch für den Alltag. Dass die Menschen in der SED-Diktatur, die – wie zu zeigen sein wird – bis weit in den alltäglichen Bereich eines jeden reichte, ständig bedrückt und unglücklich durch die Gegend gelaufen seien, wäre eine absurde Behauptung. Die Menschen in der DDR haben gelacht und geweint, getanzt, geliebt, gehasst. Sie haben geheiratet und ihre Angehörigen beerdigt. Sie hatten Phasen des Glücks und des Leids, sie hatten Hobbys, haben sich für Sport interessiert und sonntägliche Ausflüge mit ihrer Familie gemacht. Nur – was sagt das über den Charakter des politischen Systems als Diktatur aus? Nichts. Denn all das haben die Menschen im „Dritten Reich“ auch getan. Darf man die Zeit von 1933 bis 1945 deshalb nicht als Diktatur bezeichnen? Die Behauptung, die DDR-Kritiker wollten den Ostdeutschen ihr alltägliches Leben nachträglich mies machen, ist eine Erfindung der PDS (später Die Linkspartei, heute Die Linke) aus den Neunzigerjahren, die anschließend aus der Zurückweisung dieses von ihr unterstellten Vorwurfs politisches Kapital schlagen wollte. Diese Taktik hat in der Vergangenheit durchaus funktioniert, sodass derzeit immer mehr Politiker anderer Parteien auf diesen Zug aufspringen. Es gelang der 1989 in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) umgetauften SED, daraus einen Ost-West-Konflikt zu konstruieren. Wenn Westdeutsche heute über das Leben in der DDR reden, gilt dies als „Anmaßung“. Freilich nur, wenn sie sich kritisch äußern. Wenn sich Politiker wie der SPD-Mann Sellering oder Bodo Ramelow, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Linken im Bundestag, positiv äußern, wird dagegen gerne in Kauf genommen, dass sie Westdeutsche sind und erst seit den Neunzigerjahren in den neuen Ländern leben. Doch gerade zu einer „fairen“ Beurteilung der DDR, die immer wieder gefordert wird, gehört auch, die Schattenseiten des Systems offen zu benennen. Sie reichten bis weit in den Alltag der Menschen hinein, was heute gerne vergessen oder unterschlagen wird. Dazu gehörten Mangelwirtschaft mit Schlange stehen vor den Konsum-Läden ebenso wie Presse-Zensur, Reiseverbot ins „nichtsozialistische“ Ausland, Fahnenappell in der Schule und Gesundheitsgefährdungen durch eine völlig verseuchte Umwelt – um nur einiges zu nennen. Niemand kann über die Lebenswirklichkeit der Menschen reden, der nicht über diese Erscheinungen spricht.
Dass Kritik an der Diktatur heute von vielen Ostdeutschen als Kritik an ihrem damaligen Leben missverstanden wird, ist umso erstaunlicher, als es die Ostdeutschen selbst waren, die im Herbst 1989 heldenhaft und friedlich dieses System hinwegfegten. Warum eigentlich hätte es zur Revolution kommen sollen, wenn es die heute von interessierten politischen Kreisen behauptete Identität zwischen politischem System und Volk gegeben hätte? Denn nichts anderes behauptet ja, wer Kritik am ersten mit Kritik am zweiten gleichsetzt. Übrigens ist es ratsam, genau auf die Begriffe zu achten, die heute oftmals gebraucht werden und zur unterschwelligen Verharmlosung des SED-Regimes beitragen. So werden die Mauer mit den Toten, das menschenverachtende Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS, „Stasi“) oder die faktische Einparteienherrschaft unter Führung einer kleinen Führungsriege als „demokratische Defizite“ bezeichnet, obwohl sie typische Merkmale einer Diktatur sind. Ebenso ist häufig vom „legitimen Versuch“ die Rede, nach 1945 einen sozialistischen deutschen Staat aufzubauen, und es wird vor der „Delegitimierung der DDR“ gewarnt. Es bleibt aber die Frage: Wer eigentlich sollte diesen Versuch legitimiert haben und wer die DDR? Bei den freien Wahlen 1946 im damals noch vereinten Groß-Berlin erhielt die gerade aus SPD und KPD zwangsgebildete Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gerade einmal ein Fünftel der Stimmen. Dreimal nahm sich in den nächsten Jahrzehnten das Volk gegen die Machthaber das Recht, mit den Füßen „abzustimmen“: 1945 bis 1961, als mehr als 3 Millionen Menschen in den Westen flohen, 1953 beim Volksaufstand vom 17. Juni und im Herbst 1989. Jedes Mal war das Ergebnis für die SED niederschmetternd. In der Bundesrepublik entschied sich bei der ersten Bundestagswahl 1949 hingegen eine übergroße Mehrheit unter der Voraussetzung freier Wahlmöglichkeiten für Demokratie und Soziale Marktwirtschaft. Wo und wann die DDR und der Aufbau eines sozialistischen Staates „legitimiert“ wurden, bleibt daher das Geheimnis derer, die das behaupten. Vorsicht sollte auch bei dem gerne gebrauchten Argument walten, die DDR könne schon deshalb nicht als „Unrechtsstaat“ bezeichnet werden, weil es diesen Begriff juristisch (anders als den des Rechtsstaates) nicht gebe. Dabei handelt es sich um eine verschleiernde und verharmlosende formaljuristische Argumentation, die in der Tradition von Stasi und DDR-Justiz steht. Denn gerade diejenigen, die diese These aufstellen, wenden den Begriff „Unrechtsstaat“ mit Blick auf die Nazi-Diktatur völlig zu Recht an. Konsequenterweise dürfte man ihn dann für das „Dritte Reich“ auch nicht mehr anwenden und könnte von ihm bestenfalls als „Nicht-Rechtsstaat“ sprechen. Eine absurde Vorstellung.
Fühlen sich viele Ostdeutsche persönlich durch Kritik an der DDR-Diktatur angegriffen, so gehen sie heute auf einem anderen Feld in die Offensive – und finden durchaus Gesinnungsfreunde im Westen. Gerade in der aktuellen Diskussion über die Finanzkrise verweisen sie mit zunehmendem Stolz auf die „sozialistischen Errungenschaften“, die die DDR angeblich zutage gebracht hat. Vor allem im sozialen Bereich werden diese hochgehalten: das „Recht auf Arbeit“, die Gleichberechtigung der Frau, das Bildungs- oder das Gesundheitssystem. Mit der Realität im real existierenden Sozialismus hat das in den allermeisten Fällen nichts zu tun. Diese Diskussion dreht sich oftmals um ein Land, das es nie gegeben hat. Das geschieht teils bewusst aus politischer Motivation heraus, teils aus purer Unwissenheit. Ein paar Beispiele: Wer weiß heute noch, dass die Quote der Schulabbrecher in der DDR trotz des angeblich so guten Bildungssystems deutlich höher war, als bei den 15- bis 17-Jährigen in der heutigen Bundesrepublik (in der es zudem eine wachsende Zahl von Schülern aus bildungsfernen Familien mit Migrationshintergrund gibt, die die DDR nicht kannte)? Wer denkt heute daran, dass es in der DDR zwar keine offizielle, wohl aber eine verdeckte Arbeitslosigkeit von mindestens 16 Prozent gab? Dass der überwiegende Teil der Rentner unterhalb der Armutsgrenze lebte? Und dass man auf ein Auto der Marke „Trabant“ 14 Jahre warten musste – und auf einen neuen Reifen ein Jahr? Nicht klar ist zudem vielen Verfechtern der vom Staat finanzierten „sozialistischen Errungenschaften“, dass sie der Grund für den gänzlichen Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft waren. Man muss sich nur einmal klar machen, dass jeder DDR-Bürger trotz des deutlich niedrigeren Lebensstandards dramatisch über seine Verhältnisse gelebt hat, denn selbst der bescheidene Wohlstand überforderte die finanziellen Möglichkeiten des Staates in hohem Maße. Dann erkennt man, wie absurd die Darstellung der DDR und ihrer „sozialistischen Errungenschaften“ als Alternative zur Sozialen Marktwirtschaft ist – trotz deren unübersehbaren Krisenerscheinungen.
Noch eine andere Vorstellung kann dies veranschaulichen. Was würde eigentlich passieren, wenn man nach DDR-Vorbild das von vielen heute hochgehaltene „Recht auf Arbeit“ in das Grundgesetz schreiben würde? Aus gutem Grund verschweigen die DDR-Apologeten, dass die (für die SED viel wichtigere) Kehrseite der Medaille die Pflicht zur Arbeit war. Man stelle sich vor, aufgrund der neuen Grundgesetzbestimmung müssten Heerscharen von Langzeitarbeitslosen wieder in Lohn und Brot gebracht werden … Und wer sich partout weigerte, liefe Gefahr – ebenfalls nach DDR-Vorbild – als „Bummelant“ strafrechtlich verfolgt zu werden.
In diesem Buch geht es zuallererst um diese Mythen, die sich seit einiger Zeit um die DDR bilden. An verschiedenen Stellen wird auf den Unterschied zwischen dem Anspruch der Staatspartei SED und der Wirklichkeit einer Verweigerungshaltung vieler DDR-Bürger hingewiesen. Der Alltag und die Lebenswirklichkeit der Menschen sind aber insgesamt eher ein Randaspekt. Das Buch soll ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die „Vorzüge“ des DDR-Systems sein. Häufig vergessene Fakten werden sich ausbreitenden Mythen gegenübergestellt. Quellen sind daher nicht persönliche Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger, sondern Tatsachen aus dem politischen und Daten aus dem Wirtschafts- und Sozialsystem. Man muss zur Heranziehung dieses Materials wie der Autor nicht in der DDR gelebt haben, sondern nur in der Lage sein, Quellen, Daten und wissenschaftliche Analysen zu lesen. Das Buch selbst erhebt indes keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern richtet sich an breite Leserschichten, die sich in komprimierter Form über die DDR informieren wollen. Dieses Buch ist auch kein Nachschlagewerk oder Lexikon. Es geht nicht auf Themen ein, die völlig unstrittig sind – wie die Pressezensur oder die eingeschränkte Reisefreiheit. Auf Fußnoten wird aus Gründen der Lesbarkeit verzichtet. Wer weiterführende Literatur sucht, findet diese im Anhang.
Schwieriger als die Widerlegung falscher Thesen mit harten Fakten wäre dagegen die Auseinandersetzung mit der häufig formulierten Behauptung, in der DDR sei der Zusammenhalt zwischen den Menschen viel größer gewesen als im Westen. Naturgemäß können hierzu keine Fakten herangezogen werden, handelt es sich bei dem Thema doch um rein gefühlsmäßige Empfindungen. Doch ist auch bei dieser massenhaften subjektiven Erinnerung große Vorsicht geboten. Einmal abgesehen von den laut Hubertus Knabe 600.000 Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die in 40 Jahren DDR ihre Verwandten, Ehepartner, Arbeitskollegen und Freunde ausspioniert, und den zahlreichen Funktionären, die den DDR-Bürgern das Leben schwer gemacht haben, basiert dieser angeblich größere Zusammenhalt ja auf einer Grundvoraussetzung, die es im Westen gar nicht gab. Die DDR war im Gegensatz zur Bundesrepublik eine Mangelwirtschaft, die die Leute zum Tauschhandel zwang. Wenn beispielsweise jemand aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit Autoreifen beschaffen konnte, hatte er eine große Liste von Interessenten, die ihm gerne dafür den Abfluss reinigten, das Dach reparierten oder Lebensmittel besorgten, die man nur selten bekam. Das war in der Bundesrepublik nicht nötig – hier konnte man das alles kaufen. Was hier als „Zusammenhalt“ verklärt wird, ist in Wahrheit nichts anderes als aus der Not geborene Schwarzarbeit, also Schwarzmarkt. Auf eine Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex wird aufgrund der mangelnden Nachprüfbarkeit verzichtet.
Aufklärung scheint wichtig, denn Untersuchungen wie die von Klaus Schroeder und Monika Deutz-Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin, die Tausende Schüler in Ost und West zu ihrem Wissen über und ihrem Bild von der DDR befragt haben, zeigen: Je mehr Wissen über die SED-Diktatur vorhanden ist, umso kritischer die Sichtweise. Schließlich handelt es sich dabei nicht um eine theoretische, rein historische Frage. Das Bild, das wir von der DDR haben, ist in den nächsten Jahrzehnten mitentscheidend über die Entwicklung des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems Deutschlands. Wenn laut der FU-Studie 48,6 Prozent der Schüler finden, dass die DDR keine Diktatur war, also faktisch den Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Diktatur nicht mehr kennen, und auch über harte Fakten jenseits von Schönrednerei und Verklärung oftmals eine erschreckende Unkenntnis zeigen, müssen alle demokratischen Alarmglocken laut schrillen. Schließlich sind es diese Schüler, die in wenigen Jahrzehnten an den Schaltstellen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sitzen.
Darüber, dass die DDR eine Diktatur war und die SED einen totalitären Machtanspruch über die Bürger erhob, kann und darf kein Zweifel bestehen. Ebenso wenig darf sich die Demokratie ein Vergleichsverbot zwischen dem SED-Staat und dem „Dritten Reich“ von denjenigen aufzwingen lassen, die davon politisch profitieren wollen. Es gab zwei Diktaturen auf deutschem Boden, die man mit gutem Recht vergleichen kann. Ein Vergleich bedeutet indes nicht Gleichsetzung. Er wird strukturelle und auch ideologische Ähnlichkeiten zutage fördern, ebenso wie Unterschiede zwischen den beiden Diktaturen. Er wird die Einmaligkeit der NS-Diktatur belegen, aber er wird auch zeigen, dass das SED-Regime nicht zu verharmlosen ist, nur weil es ein anderes, noch weitaus schlimmeres Regime in Deutschland gegeben hat.
Dass die DDR eine Diktatur war, wird von Wissenschaftlern nicht ernsthaft angezweifelt. Bis zu Teilen der deutschen Bevölkerung – vor allem in den neuen Bundesländern – scheint diese Erkenntnis indes nicht durchgedrungen zu sein. Anders ist nicht zu erklären, dass hier mehr als 40 Prozent der Schüler das politische System der DDR im Vergleich zur Bundesrepublik als besser oder gleich einschätzen. Hier scheint die Kausalkette eindeutig: Während die Medien kaum einen Zweifel am Diktaturcharakter lassen, dürften die jungen Leute ihr „Wissen“ von ihren Eltern haben (also dem Teil der ehemaligen DDR-Bevölkerung, der zum Beispiel als Mitglied des bevorzugten Funktionärsapparates Vorteile genoss) oder von ihren ehemals systemtreuen Lehrern, die zum allergrößten Teil nach der Wende im Schuldienst verblieben. Oder sie wissen gar nichts und bekommen vor allem die Unterscheidungsmerkmale zwischen einer Demokratie und einer Diktatur nicht mehr beigebracht.
Nach der Logik der SED hätte eigentlich Erich Honecker der klügste Mann der DDR sein müssen. Dies wörtlich zu behaupten schien zwar offenbar selbst der Propaganda zu viel des Guten, doch ein Blick auf die theoretischen Grundlagen der Partei legt diese Einschätzung nahe. Die SED verstand sich als „Avantgarde der Arbeiterklasse“, was vor allem bedeutete, dass sie nach ihrer Selbsteinschätzung am besten wusste, was für diese gut sei. Mit der Formulierung des sogenannten Erkenntnismonopols unterstellte sie in arroganter Selbstüberschätzung der Bevölkerung letztendlich, zu dumm zu sein, um über ihre eigene Zukunft bestimmen zu können. Nicht umsonst behauptete sie ja selbst: „Die Partei hat immer recht.“ Nur sie könne die „historische Mission“ erfüllen, zunächst den Sozialismus und später den Kommunismus zu verwirklichen. Sie sah sich selbst als die Trägerin der „wissenschaftlichen Weltanschauung“, die schließlich zu diesem Ziele führe.
Doch es gab auch innerhalb der Parteimitgliedschaft Abstufungen. Das richtige sozialistische Bewusstsein, also die Erkenntnis des richtigen Weges beim angepeilten Aufbau des Sozialismus entwickelte sich demnach praktisch mit dem Aufstieg innerhalb der Funktionärsebenen. Und das höchste Bewusstsein, die größte Erkenntnis attestierte die Parteiführung sich selbst. „Höher, weiter, besser“ – ganz oben stand Parteichef Erich Honecker, dem damit automatisch die höchste Stufe der Unfehlbarkeit zugebilligt wurde.
Zweifel konnten die Partei nicht stoppen. Neben dem beanspruchten „Erkenntnismonopol“ besaß sie nämlich auch das unbedingte Führungsmonopol, das sie auf verschiedenen Wegen durchsetzte. Es gab keine Gewaltenteilung, keine wirkliche Volksvertretung, keine legale Opposition, keine unabhängige Justiz – dafür aber staatliche Repression und eine Gleichschaltung aller staatlichen und gesellschaftlichen Organe und Organisationen mit der SED. Die DDR war also zweifelsohne eine Diktatur. Aufgrund der alles beherrschenden Macht der Partei wird sie zu Recht „SED-Diktatur“ genannt.
Zugleich hatte die Partei den Anspruch, einen „neuen Menschen“ beziehungsweise eine „sozialistische Persönlichkeit“ zu schaffen. In Fällen, in denen sie auf Widerspruch stieß, setzte sie das ihr zu Verfügung stehende Repressionsinstrumentarium (in erster Linie das Ministerium für Staatssicherheit) ein. Doch vorher hatte sie eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten, umfassend auf die Bürger der DDR Einfluss zu nehmen. Es kam zu einer weitgehenden Durchpolitisierung aller Lebensbereiche. Die SED setzte über verschiedene Massenorganisationen wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ) eine weitgehende Kollektivierung der Gesellschaft durch, in der die Belange des Individuums wenig zählten. Am stärksten galt das für SED-Mitglieder selbst, die auf Parteitreffen über intime Dinge wie Ehe- oder Alkoholprobleme Rede und Antwort stehen mussten (was für die anderen Genossen oftmals eine willkommene Abwechslung zum sonst öden Parteialltag mit seinen ewigen gleichen Verlautbarungen und schematischen Abläufen war). Diese Vergesellschaftung des Einzelnen wurde auf anderen Ebenen massiv begleitet, so zum Beispiel im Erziehungsbereich, der den „sozialistischen Menschen“ von Kindesbeinen an formen sollte, weshalb auch von einer „Erziehungsdiktatur“ gesprochen wird. Auch Kultur und Massenmedien hatten der Partei zu dienen. Nicht nur der Machtanspruch, sondern auch der Anspruch der SED auf die Formung ihrer Untertanen zur „sozialistischen Persönlichkeit“ war total. Allerdings gelang es ihr nicht, ihn völlig durchzusetzen, weil sich kritische Teile der Gesellschaft in Nischen zurückzogen. Andere entzogen sich durch passive Teilnahme den Erziehungsmaßnahmen zumindest innerlich, aber für viele gehörte der ständige Eingriff des Staates in die Freizeit umso mehr zum Alltag, desto länger die DDR existierte. Zweifellos aber hatte die DDR nicht nur den Charakter einer Diktatur, sondern zeigte auch deutliche Züge eines totalitären Systems, welches alle Lebensbereiche ideologisch durchdrang.