Luise Reddemann
Jede Wirklichkeit ist konstruiert, geschaffen
von jedem Einzelnen in einem bestimmten
Kontext. Es gibt keine absolute Wirklichkeit,
die wir erkennen können.
(Christopher Germer)
Die in diesem Buch versammelten Aufsätze gehen auf Vorlesungen zurück, die während der Lindauer Psychotherapiewochen 2010 im Rahmen einer Vorlesungsreihe zur Achtsamkeit gehalten wurden. Das Konzept zu dieser Reihe wurde gemeinsam mit der wissenschaftlichen Leitung, Prof. Verena Kast und Prof. Manfred Cierpka entworfen. Es sollte darum gehen, Achtsamkeit in einen breiten Kontext zu stellen und verschiedene Facetten von Achtsamkeit deutlich werden zu lassen. Das Anliegen war, sich der Achtsamkeitspraxis mit einem psychodynamischen Blick und innerhalb eines psychodynamischen Kontextes anzunähern. Einige Gedanken dazu sollen im Kapitel „Kontexte von Achtsamkeit“ aufgegriffen werden.
Luise Reddemann stellt hier verschiedene Perspektiven der Achtsamkeitspraxis sowohl aus westlich-philosophischer Sicht wie aus einigen buddhistischen Perspektiven dar und hinterfragt die überwiegend am Prinzip Wahrnehmen orientierte gängige Achtsamkeitspraxis in der Psychotherapie. Zuvor nähert sich die Autorin einigen Gemeinsamkeiten und Unterschieden psychoanalytischer und buddhistischer Praxis an.
Sylvia Wetzel zeichnet in ihrem Artikel Grundlagen des buddhistischen Achtsamkeitsbegriffs nach. Sie verdeutlicht verschiedene Begrifflichkeiten und macht buddhistische Tradition verständlicher und nachvollziehbar. Insbesondere zeigt sie den Unterschied zwischen neutraler oder bloßer Aufmerksamkeit und ehtisch relevanter und wirksamer Aufmerksamkeit auf.
Clarissa Schwarz schildert ihre Erfahrungen in der Anwendung von Achtsamkeit in der Begleitung von Schwangeren und Gebärenden. In ihren Betrachtungen wird beeindruckend deutlich, was mit Präsenz gemeint sein kann. Gebärende haben ein inneres Wissen, was für sie indivuell der richtige Weg ist. Dessen werden sie durch Achtsamkeit gewahr und dafür benötigen sie eine achtsame, wertschätzende und mitfühlende Begleitung. Psychotherapeutinnen können von Hebammen lernen und eine Haltung entwickeln, die der Ihren gleicht.
Eckhard Roediger betrachtet vor allem aus einer neurobiologischen und kognitiv verhaltenstherapeutischen Perspektive die Möglichkeiten, die Desidentifikationen bieten, die aus Achtsamkeit resultieren. Er arbeitet die Gemeinsamkeiten von Gelassenheit und Akzeptanz mit Achtsamkeit heraus.
Klaus Renn beschreibt Focusing und das Freiraumprinzip, in dem es ebenfalls um Desidentifikation geht. Entscheidend beim Focusing sind vor allem die starke Einbeziehung des Körpers und seiner Weisheit und die empathische Beziehung zu sich selbst.
Luise Reddemann berichtet davon, welche Schwierigkeiten in der Behandlung von traumatisierten und persönlichkeitsgestörten Patientinnen und Patienten zu beachten sind und wie man Prinzipien aus der Achtsamkeitspraxis in kleinen Schritten in diesen Behandlungen anwenden kann.
Die folgenden Aufsätze sollen Anregungen zu einer Praxis in Achtsamkeit geben und zu einem vertieften Verständnis anregen. Eines aber sollte beherzigt werden: Achtsamkeit kann man nicht vermitteln, wenn man sie nicht selbst praktiziert. Man muss sie erfahren, reine Reflexion genügt nicht. Achtsamkeit zu praktizieren bringt Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Gewinn:
„... der meditierende Therapeut als quasi verborgenes Element kann sehr richtungsweisend sein, um Achtsamkeit in die Therapie zu integrieren ... denn sie bietet ... ein Mittel, solche Faktoren zu beeinflussen, die den Behandlungserfolg am deutlichsten ausmachen.“1
1 Fulton, 2009, S. 86
Luise Reddemann
Wie die Vögel, die sich versammeln
In den Kronen der Bäume zur Nacht
Und die sich im Morgengrauen wieder
In alle Winde zerstreuen,
So sind die Erscheinungen vergänglich.
(Shabkar)
Psychoanalytische Konzepte sind die Grundlage psychodynamischer Therapien, während Achtsamkeit, wie sie jetzt in der Psychotherapie angewendet wird, sich explizit oder implizit auf buddhistische Grundlagen beruft.
Für mich haben beide Lehren sowohl in meinem professionellen wie in meinem persönlichen Leben eine hohe Bedeutung. Ich kann mir ein Leben ohne das eine oder das andere nicht mehr vorstellen. Als ich meine psychoanalytische Weiterbildung absolvierte, galt jedwede spirituelle Orientierung als suspekt. Das habe ich damals allerdings zunächst nicht als Mangel empfunden. Meine psychoanalytische Ausbildung an einem „freien Institut“ war getragen von Offenheit für unterschiedliche psychoanalytische Richtungen, die mir immer noch viel bedeutet und bedeuten. Die Suche nach spiritueller Orientierung „ohne Gott“ könnte eine Folge meiner psychoanalytischen Selbsterfahrung sein. Meditation hatte ich allerdings schon zuvor kennengelernt. Ich war immer überzeugt, dass Ethik ein unverzichtbarer Teil des Lebens ist. Die buddhistische Ethik, die Verantwortung fördert und doch ohne Schuldzuweisungen und ohne Erlösungsnotwendigkeit auskommt, war für mich eine wichtige Entdeckung.
Als junge Ärztin war ich überzeugt, leidenden Menschen nur helfen und beistehen zu können, wenn ich sie verstehe, und dass zu verstehen Leiden beenden könne. Das war meine bewusste Hauptmotivation für die psychoanalytische Ausbildung. Ich erfuhr es als beglückend, dass dies der Fall war, und wie sehr mir psychoanalytisches Wissen half, Kranken hilfreich beistehen zu können. Leider half Verstehen längst nicht immer, und ich musste lernen, dass ich vieles nicht verstehe. Ich musste auch lernen, dass längst nicht jedes Leiden beendet werden konnte. „Mache ich etwas falsch?“, fragte ich mich. Eine geläufige Frage, wenn man (noch) nicht bereit und fähig ist, die Dinge des Lebens und Sterbens zu akzeptieren. Das Betrachten der Dinge, wie sie sind, und das bewusste Wahrnehmen von Vergänglichkeit, wie man das in der Meditation übt, waren und sind daher eine wesentliche Erfahrung. Für den Umgang mit Leiden sind mir heute die buddhistischen Ansichten darüber wichtig und diese Ansichten haben auch meine Therapeutik beeinflusst: Leiden gibt es, man macht es schlimmer, wenn man es nicht akzeptiert. Leiden hat damit zu tun, dass wir uns unserer „Buddha-Natur“ nicht bewusst sind, wir nähern uns ihr an, wenn wir uns erlauben können, Glück, Freude, Liebe und Mitgefühl zu erfahren. „Es gibt keinen Weg zum Glück, Glück ist der Weg“.
Die beiden Erfahrungen – Psychoanalyse und buddhistische Meditation – blieben lange Zeit relativ unverbunden nebeneinander, ähnlich, wie es z. B. auch Safran2 beschreibt. Natürlich kam ich relativ schnell dahinter, dass es eine gewisse Gemeinsamkeit gibt zwischen Freuds Grundregel und dem urteilsfreien Gewahrwerden dessen, was ist, als Empfehlung für die Achtsamkeitsmeditation. Dass man beide Denkrichtungen miteinander verbinden kann, dass es viel mehr Gemeinsamkeiten, aber möglicherweise auch schroffe Gegensätze gibt, vermutlich vor allem in Bezug auf das Menschenbild, sehe ich erst in den letzten Jahren deutlicher. Dass es für eine Weile, nach dem eurozentrischen Denken der Psychoanalyse auch „orientozentrische“ Begeisterung3 gab, was zu einer gewissen Abwendung von der Psychoanalyse führte, soll nicht unerwähnt bleiben.
Heute, nach jahrzehntelanger Erfahrung mit beidem, kann ich zwar deutlicher einige Beziehungen zwischen diesen beiden Lehrgebäuden erkennen, dies zu erfassen, bleibt ein schwieriges Vorhaben, heute allerdings aus anderen Gründen als vor 40 Jahren. Über die Jahre durfte ich lernen, dass es zahllose – und immer neue – psychoanalytische Perspektiven gibt, denn Psychoanalyse ist „work in progress“. Und buddhistische Schulen entwickeln sich seit zweieinhalbtausend Jahren, und der westliche Buddhismus, der sich in den letzten Jahrzehnten herausbildete, hat ein anderes Gepräge als der östliche. Es scheinen Welten zwischen Freud und Fromm oder Freud und S. Mitchell zu liegen, auch wenn es immer noch den common ground des Unbewussten gibt. Und es liegen vermutlich auch Welten z. B. zwischen Zen-Buddhismus und tibetischem Buddhismus. Letzterem fühle ich mich näher. Es wird daher leicht sein, mir zu widersprechen, da bei gründlichem Studium der unterschiedlichen Richtungen beider Lehren sich häufig genau das Gegenteil dessen findet, das andernorts als richtungweisend angenommen wird. Genau aus diesem Grund erscheinen mir Bezüge zu Kontexten bedeutsam.4
Im Rahmen des hier vorliegenden Buches sind mir Beschränkungen auch aus Platzgründen auferlegt. Daher werde ich einen kursorischen Überblick über die mir wichtig erscheinenden historischen Begegnungen zwischen beiden Schulen geben, um mich dann auf einige Gedanken aus dem Buch „Psychoanalysis and Buddhism – An Unfolding Dialogue“5 zu konzentrieren, die meinen eigenen Erfahrungen entsprechen.
In den 1930er Jahren schrieb C. G. Jung ein Geleitwort zu Suzukis Buch „Die große Befreiung“6, d. h. er beschäftigte sich aus Sicht der analytischen Psychologie mit einer Form des Zen-Buddhismus. Danach war über Jahrzehnte Erich Fromms Aufsatz zu „Zen Buddhismus und Psychoanalyse“7 der einzige Text zu diesem Thema. Erstmals auf Englisch 1960 publiziert, war dieser Text also das einzige sichtbare Zeichen eines Dialogs zwischen einem Psychoanalytiker und dem Buddhismus. Das Buch erschien gut zehn Jahre später auch auf Deutsch8 und war sehr bekannt.
Über 50 Jahre später ist in Amerika das Buch „Psychoanalysis and Buddhism“9 erschienen. Die dort versammelten Arbeiten stammen zum größeren Teil von Psychoanalytikern, die mehrheitlich über eine lange Praxis in buddhistischer Meditation verfügen. Der Untertitel des Buches lautet: „An Unfolding Dialogue“ – ein sich entfaltender Dialog, also. Der Herausgeber, Jeremy Safran meint, dass dieses Buch früher nicht möglich gewesen wäre; obwohl er lange, bevor er sich seiner psychoanalytischen Ausbildung unterzog, bereits meditiert habe, habe es beträchtlich länger als 20 Jahre gedauert, bis er es gewagt habe, seine Interessen am Buddhismus und an der Psychoanalyse zusammenzubringen. Safran vermutet, es gäbe viele unterschiedliche Gründe für dieses Verhalten. Als einen nennt er, dass sich Psychoanalytiker, die sich mit Buddhismus beschäftigten, über lange Zeit außerhalb des Mainstream befanden. So habe ich es auch für mich selbst empfunden. Und er bringt das wachsende Interesse von Psychoanalytikern am Buddhismus mit dem allgemeinen Interesse der westlichen Gesellschaften daran in Verbindung. Zwar habe es schon immer „Buddhaphile“ unter den Psychoanalytikern gegeben, aber man dürfe annehmen, dass sie sich bis vor Kurzem nur ungern als solche gezeigt hätten. Nach Safran hat die Psychoanalyse über die Jahre ihr eher revolutionäres und progressives Potential eingebüßt und ist eher „arrogant, konservativ und insulär“ geworden. Jedoch hat es in den letzten Jahren eine Wiederbelebung von psychoanalytischer Theorie und Praxis gegeben, die die Fesseln des Konservatismus gesprengt hat. „Theorie und Praxis haben sich in eine Richtung entwickelt, die in wachsendem Ausmaß die Sehnsüchte des menschlichen Herzens und der menschlichen Seele erfüllen“10. Safran bezieht sich damit vor allem auf die relationale Psychoanalyse.
Schon Fromm (1960) ging davon aus, dass seelisches Wohlgefühl (wellbeing) damit zusammenhängt, dass wir uns ganz verbunden fühlen, sowohl mit Menschen, wie mit der Natur, um das Erleben von Getrenntheit zu überwinden und die Erfahrung von Einheit mit allem, das existiert, zu erreichen. Jedoch ergänzt Fromm, und das unterscheidet den westlichen vom östlich erlebenden Menschen, dass es im Weiteren darum geht, sich ebenfalls als Selbst zu erfahren, als separierte Entität, als „Ich“, als Individuum. Einheit kann erst erfahren werden, nachdem Getrenntheit erlebt wurde, ist seine Hypothese. Dieser Gedanke von Fromm erscheint mir erhellend. Engler11 hat den Faden aufgegriffen, wenn er davon spricht, man müsse erst „jemand“ sein, bevor man „niemand“ im Sinn des Erlebens, Teil eines größeren Ganzen zu sein, werden könne. Für mich war lange Zeit das Aufgehen in einem größeren Ganzen stark durch die Ideologien der Nationalsozialisten und mein Aufbegehren dagegen belastet. Ich gehe davon aus, dass mir der psychoanalytisch geschulte Blick hilft, hier immer wieder „die Spreu vom Weizen“ zu trennen.
Fromm hebt hervor, dass es zwischen dem jüdisch-christlichen und dem Zen-Bewusstsein eine Gemeinsamkeit gibt, nämlich, dass der eigene „Wille“ (im Sinn eines Strebens die äußere und innere Welt zu zwingen, zu dirigieren, zu strangulieren) aufgegeben werden muss, um völlig offen, beantwortend, wach und lebendig zu sein. Das erscheint mir auch der Sinn der psychoanalytischen Grundregel zu sein.
Fromms Überlegungen zum Wohlgefühl greift Rubin (2003) wieder auf. Er macht sich Gedanken dazu in einem Artikel mit dem Titel „A well-lifed life: psychoanalytic and buddhist contributions“12. Er betont, dass sowohl die Psychoanalyse als auch der Buddhismus uns dabei behilflich sein können, mit größerer Selbst-Bewusstheit, Selbst-Akzeptanz, Sorge, Mitgefühl, Moralität und Freiheit zu leben. Er kritisiert zwar den Eurozentrismus der Psychoanalyse, hebt jedoch hervor, dass die Psychoanalyse auch Wesentliches dazu beigetragen habe, die unkritische Vergötterung der Religionen aufzudecken. Und, wie ich ergänzen möchte, viele andere „Vergötterungen“. Der Buddhismus betont die Gefahren des „Anhaftens“, z. B. des Klammerns an Überzeugungen wie die von der Existenz eines beständigen, sich nicht verändernden, autonomen Selbst bis hin zum Festhalten an psychoanalytischen oder buddhistischen Lieblingsüberzeugungen. Rubin mahnt, weder den Buddhismus noch die Psychoanalyse als ewige Wahrheiten zu betrachten. Denn in beidem ist Unbewusstes auffindbar. Heute ist es notwendig, auch den „Orientozentrismus“ zu erkennen. Wechselseitige Befruchtung ist nur möglich, wenn in beiden Traditionen die Bereitschaft besteht, von der jeweils anderen zu lernen. „Wahrheit“ ist nicht der Ort einer bestimmten Schule oder eines bestimmten Denkens. Rubin fährt fort, dass man viele Systeme wertschätzen kann, ohne an sie gebunden zu sein. Um das zu erreichen, müssen wir auf die Bequemlichkeit verzichten, uns mit der einen oder der anderen Richtung zu identifizieren, als sei sie die einzige Quelle der Wahrheit. „Then we can dance in the spaces between them – tacking back and forth – freer to use what is best from each.“13 Das erscheint mir ein passendes Bild für das Anliegen, durch Achtsamkeitspraxis Psychoanalyse und Psychotherapie zu unterstützen.
Wie Safran meine ich, dass die Postmoderne die Gefahren aufgezeigt hat, die jeder Art von Meistererzählung innewohnen, seien sie religiös oder wissenschaftlich. Aus einer postmodernen Sicht ist Freuds Glaube an die Wissenschaft auch eine Art von Religion.
Der Dialog zwischen Psychoanalyse und Buddhismus zeigt uns zwei unterschiedliche Wege der Befreiung: Die Betonung von Verbundenheit in jeder menschlichen Erfahrung im Buddhismus kann ein Korrektiv für den exzessiven westlichen Individualismus sein. So habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, mit meinen schwer traumatisierten und sich verlassen fühlenden Patientinnen und Patienten Verbundenheitsübungen aus dem Buddhismus zu thematisieren. Welcher westliche Mensch kommt schon auf die Idee, dass man bei jedem Stück Brot, das man isst, bei jeder Unternehmung, die man macht, stets mit unzähligen Menschen und anderen Lebewesen verbunden ist. Das Stück Brot verbindet uns mit dem Bauern, der den Weizen gesät und geerntet hat, aber auch mit der Sonne, dem Regen, dem Wind und der Erde, die den Weizen wachsen ließen, den Menschen, die ihn verarbeitet haben, usw. Viele Patientinnen und Patienten haben mir berichtet, dass sie mit solchen Übungen ein Bewusstsein für Verbundenheit entwickelt haben, das sie als heilsam erleben.
Auf der anderen Seite ist die Betonung der Gegenseitigkeit in der psychoanalytischen Beziehung konsistent mit einer Betonung der Werte des Individuums und der Infragestellung traditioneller Quellen der Autorität. Hier bezieht sich Safran auf das relationale Modell der Psychoanalyse nach Stephen A. Mitchell. Mitchell spricht von einer „relationalen Matrix“. „Subjektivität und Individualität erscheinen ihm als Folge der Bezogenheit und nicht als Voraussetzung.“ Im Gegensatz auch zu Fromm, meint Mitchell, „erst die Bezogenheit lässt den Menschen zu seiner Individualität finden.“14 Dieser neue Ansatz in der Psychoanalyse stellt aus meiner Sicht eine besondere Nähe zum Buddhismus her.
Das psychoanalytische Modell bringt Befreiung eher mit persönlicher Freiheit in Verbindung, während das buddhistische Modell der Befreiung Freiheit von selbstzentriertem Verlangen betont, zwei Sichtweisen, die sich ergänzen. Die buddhistische Perspektive kann als Korrektiv westlicher Exzesse, die sich auch in der psychoanalytischen Arbeit zeigen können, dienen. Die psychoanalytische Betonung unbewusster Motive kann auf der anderen Seite das Risiko vermindern, Spiritualität als Abwehr zu nutzen. Man kann also sagen, dass der Dialog beide Richtungen bereichern kann, und dass sich beide dadurch auch unvermeidlich verändern.15
Hans Loewald und später Stephen A. Mitchell haben vermutet, dass die Psychoanalyse ahnungslos dazu beigetragen habe, die Werte einer Kultur zu reproduzieren, die die Welt als entzaubert erfährt. Dadurch, dass der Sekundärprozess dem Primärprozess vorgezogen wurde und als Ausdruck seelischer Gesundheit der Triumph des Realitätsprinzips über das Lustprinzip galt, hat die Psychoanalyse zu einem Sinnverlust beigetragen. Mitchell meint: „Meaning in human experience is generated in the mutual, dialectically enriching tension between fantasy and reality; each requires the other to come alive.“16
Safran fragt, ob wir die Welt wieder neu verzaubern können, sodass wir Erfahrungen von partizipativer Bewusstheit und Verbundenheit machen können; wie Safran habe ich erfahren, dass der tibetische Buddhismus mit seiner Verbindung von imaginativen Ritualen und Mantras und einer konstruktivistischen Epistemologie hier Ansätze bietet. Z. B. imaginiert man im Guru Yoga einen Buddha als Gegenüber, den man dann klein werden und ins eigene Herz sinken lässt. Diese Imagination geht auf eine ältere schamanistische Praxis zurück, dem der tibetische Buddhismus näher steht als z. B. der Zen-Buddhismus. Hier sehe ich eine direkte Verbindung zu unserer psychoanalytischen Vorstellung von Introjektion und Bildung guter Selbstobjekte. In Psychoanalysen, in denen das Imaginative, Kreative und Heilsame erlebbar und gewürdigt wird, geschieht gewiss Ähnliches. Als ich vor ca. 15 Jahren die tibetischen Übungen kennenlernte, zu einer Zeit als Imagination in der Psychotherapie eher als etwas Esoterisches, Unwissenschaftliches angesehen wurde, war ich froh, dass eine so alte Heiltradition den Wert der Imagination zu schätzen wusste. Nach meinem Eindruck ist der tibetische Buddhismus heute weitestgehend mit einer spirituellen Heilkunst verbunden.
Buddhisten sehen das Universum als Ganzes, sie trennen das Spirituelle nicht vom Weltlichen. Berühmt sind zenbuddhistische Empfehlungen, sich um das Nächstliegende zu kümmern. So gibt es eine Geschichte, die erzählt, dass ein Schüler zu seinem Meister kommt und, da es regnet, seinen Schirm abstellt. Er möchte wissen, wie er zur Erleuchtung kommen kann. Darauf fragt ihn der Meister, wo er seinen Schirm abgestellt habe. Das kann der Schüler nicht genau beantworten, sodass der Meister empfiehlt, weitere sieben Jahre Achtsamkeit zu üben. (In unserer christlichen Tradition findet sich Ähnliches noch bis zu Johann Sebastian Bachs Zeiten. Daher konnte Bach ohne Probleme aus weltlichen geistliche Kantaten machen. Für ihn gab es keinen Unterschied zwischen weltlichem und geistlichem Leben).
Engler ist es wichtig, dass wir „ein Jemand“ sein sollten, bevor wir „ein Niemand“ werden wollen. Er bezieht sich dabei auf die buddhistische Vorstellung, das Ich sei eine Illusion, da es aus lauter „Nicht-Ich“-Elementen bestehe. Ich bin mit ihm der Ansicht, dass es einiges an Ich-Stärke braucht, dass man beginnen kann zu erkennen, dass das „Ich“ um das man so ringt, ein Konstrukt ist. Engler geht daher davon aus, dass es Ich-Stärke braucht, um meditieren zu können. Dies gilt nach seiner Auffassung, die ich ebenfalls teile, insbesondere für Vipassana Meditation. Kein spiritueller Weg erspart es uns, bestimmte Entwicklungsaufgaben zu erledigen.17 „Ontologisches Leersein“, also die Art von Leere, die der Buddhismus lehrt, sollte von psychologischer Leere unterschieden werden. Nichtanhaften kann sich auch als Rationalisierung einer Unfähigkeit erweisen, stabile, andauernde und befriedigende Beziehungen einzugehen.18
In buddhistischen Traditionen ist durchaus bekannt, dass Erwachen nicht in einem Augenblick geschieht, sondern in vielen Stufen abläuft, und dass die dort beschriebenen Fortschritte denen in Therapien ähnlich sind: Kognitionen, Überzeugungen und Perspektiven sind leichter zu verändern. Zentrale Überzeugungen und triebhafte „states“ und ihre Grundlagen in affektiver Reaktivität bieten Interventionen mehr Widerstand. Am schwierigsten sind narzisstische Überzeugungen zu beeinflussen, die sich auf die Vorstellung eines getrennten Selbst beziehen. „This is exactly what we would expect: cognitive change first; affective change next; change in core sense of selfhood last.“19
Ausgerüstet mit der Brille der jeweils anderen Richtung, kann man also die Beschränkungen des einen Weges deutlicher sehen. Ich habe erfahren, dass ich meine Sichtweisen und Erkenntnisse erweitern konnte, was es mir erlaubte, ein höheres Maß an Freiheit zu gewinnen. Und ich bin bescheidener hinsichtlich meiner Erwartungen geworden und habe begriffen, dass es immer wieder um das Neubeginnen geht.
Psychoanalyse und Meditation können sich ergänzen, wenn wir uns darauf einlassen. In jedem Fall können Therapeutinnen und Therapeuten etwas dazugewinnen, wenn sie sich auf meditative Praktiken neben der Psychoanalyse einlassen.
In diesem Kapitel habe ich einige persönliche Erfahrungen mit Psychoanalyse und Buddhismus wiedergegeben und mich auf schriftliche Äußerungen von Psychoanalytikern bezogen, die ebenfalls in beiden Schulen Erfahrungen haben.
Es gibt Ähnliches, wie z. B. urteilsloses Wahrnehmen und die psychoanalytische Grundregel, wie auch sich Ergänzendes, wie z. B. stärkeres Erleben von Verbundenheit im Buddhismus und genaueres Sich-Abgrenzen auch von Lehren und Lehrern in der Psychoanalyse.
Schließlich dürfte es zumindest für westliche Meditierende wichtig sein, dass man erst ein stabiles Ich-Bewusstsein entwickelt haben sollte, ehe man buddhistisches Nicht-Ich-Bewusstsein zu erreichen versucht.
2 s. S. 22 in diesem Band
3 zu Rubin s. S. 13 in diesem Band
4 s. Kap. 3 in diesem Band
5 Safran, 2003
6 Suzuki, 1999
7 Fromm, 1960
8 Fromm, 1972
9 Safran, 2003
10 Safran, 2003, XV–XVII
11 Engler, 2003
12 Rubin, 2003
13 ebenda, S. 391
14 Ermann, 2010, S. 62
15 Safran, 2003, S. 30–31
16 zit. n. Safran, 2003, S. 26
17 Engler, 2003, S. 36
18 ebenda, S. 37
19 ebenda, S. 41
Luise Reddemann
„Es war einmal ein Schaf / Das fraß jeden
Morgen bei Sonnenaufgang etwas Gras / lehrte
bis mittags die Kinder sprechen / machte
nachmittags etwas Sport / fraß dann wieder
Gras / plauderte etwas mit Frau Meier / schlief
nachts tief und fest.
Gefragt, was es tun würde, wenn es mehr
Zeit hätte, sagte es / ich würde bei Sonnenaufgang
etwas Gras fressen / ich würde mit
den Kindern reden, / mittags! / Dann etwas
Spaß machen, / fressen / abends würde ich
gerne mit Frau Meier plaudern / nicht zu vergessen:
ein guter fester Schlaf.
,Und wenn sie im Lotto gewinnen
würden ...?‘
Also, ich würde viel Gras fressen, / am
liebsten bei Sonnenaufgang / viel mit den
Kindern sprechen / dann etwas Sport machen /
am Nachmittag Gras fressen / abends würde
ich gerne mit Frau Meier plaudern. / Dann
würde ich in einen tiefen festen Schlaf fallen.‘‘
(Jutta Bauer, „Selma‘‘)
Was wir hier20 über das Schaf Selma und dessen Achtsamkeit phänomenologisch erfahren, steht in einem Kontext von Einfachheit, Bedürfnislosigkeit und daraus resultierendem Glückserleben. Es dürfte einleuchten, dass das ein völlig anderer Kontext ist als z. B. der einer Borderlinepatientin mit ihrer Therapeutin, die sich vermutlich beide in hochkomplexen Zusammenhängen bewegen, sowohl innerseelisch, wie sozial, wie auch historisch. Es könnte für eine solche Patientin in der Tat viel bedeuten, wenn sie sich dazu bereitfindet, für Momente ohne Urteil achtsam wahrzunehmen, was gerade ist. Ebenso könnte dies für einen depressiven Patienten gelten. Aus den gemachten Wahrnehmungen könnten für die Psychotherapie nützliche Erkenntnisse gewonnen werden, die dann zu weiterer nutzbringender Arbeit führen könnten. Es könnte sich für die Therapeutin darüber hinaus als nützlich herausstellen, dass sie sich in ihrem Tun darin überprüfen kann, ob sie gegenwartszentriert und akzeptierend arbeitet.21 (Selbstverständlich wird Achtsamkeit bei sehr viel mehr Patientinnen und Patienten in der Psychotherapie eingesetzt, jedoch ist die Anwendung in den letzten Jahren besonders im Bereich der Borderline-Persönlichkeitsstörung und der depressiven Erkrankungen empfohlen worden.)