20.000 Meilen unter den Meeren
IN 80 TAGEN UM DIE WELT
REISE ZUM MITTELPUNKT DER ERDE
Von der Erde zum Mond
Roman
Mit sämtlichen Illustrationen
der französischen Originalausgabe
von 1869/71
Titel der französischen Originalausgabe: Vingt Mille Lieues sous les mers (Paris 1869/71). Die anonyme deutsche Übersetzung folgt der vierten Auflage der Ausgabe Zwanzigtausend Meilen unter’m Meer. Wien, Pest, Leipzig: A. Hartleben’s Verlag 1878. Sie wurde den Regeln der neuen Rechtschreibung angeglichen und behutsam überarbeitet.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
Diese Bände sind Teil der Sonderausgabe Jules Verne:
Romane. 20.000 Meilen unter den Meeren. In 80 Tagen um die Welt. Reise zum Mittelpunkt der Erde. Von der Erde zum Mond
© 2013 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagmotiv: Gino D’Achille, Illustration from
Twenty Thousand Leagues Under the Sea by Jules Verne (1980s),
Private Collection / bridgemanart.com
Covergestaltung: www.katjaholst.de
ISBN 978-3-7306-9086-4
V003
www.anacondaverlag.de
Erstes Buch
1. Kapitel.Eine schweifende Klippe
2. Kapitel.Für und Wider
3. Kapitel.Wie es meinem Herrn beliebt
4. Kapitel.Ned Land
5. Kapitel.Auf gut Glück!
6. Kapitel.Mit vollem Dampf
7. Kapitel.Ein Walfisch unbekannter Art
8. Kapitel.Mobilis in Mobile
9. Kapitel.Ned Lands Zorn
10. Kapitel.Der Mann des Meeres
11. Kapitel.Die Nautilus
12. Kapitel.Alles durch Elektrizität
13. Kapitel.Einige Zahlen
14. Kapitel.Der schwarze Strom
15. Kapitel.Eine briefliche Einladung
16. Kapitel.Spaziergang im Freien
17. Kapitel.Ein unterseeischer Wald
18. Kapitel.Viertausend Meilen unterm Stillen Ozean
19. Kapitel.Vanikoro
20. Kapitel.Die Torresstraße
21. Kapitel.Einige Tage auf dem Land
22. Kapitel.Des Kapitän Nemo Blitzstrahl
23. Kapitel.Fieberträume
24. Kapitel.Das Korallenreich
Zweites Buch
1. Kapitel.Der Indische Ozean
2. Kapitel.Ein neuer Vorschlag von Kapitän Nemo
3. Kapitel.Eine Perle von zehn Millionen
4. Kapitel.Das Rote Meer
5. Kapitel.Der Arabische Tunnel
6. Kapitel.Der griechische Archipel
7. Kapitel.Das Mittelländische Meer in vierundzwanzig Stunden
8. Kapitel.Die Bai von Vigo
9. Kapitel.Ein verschwundener Kontinent
10. Kapitel.Unterseeische Kohlenminen
11. Kapitel.Das Tang-Meer
12. Kapitel.Pottfische und Walfische
13. Kapitel.Die Eisdecke
14. Kapitel.Der Südpol
15. Kapitel.Unfall oder Zwischenfall
16. Kapitel.Luftmangel
17. Kapitel.Vom Kap Hoorn zum Amazonenstrom
18. Kapitel.Riesenpolypen
19. Kapitel.Der Golfstrom
20. Kapitel.Unter 47° 24’ Breite und 17° 28’ Länge
21. Kapitel.Eine Hekatombe
22. Kapitel.Letzte Worte von Kapitän Nemo
23. Kapitel.Schluss
Anmerkungen
Ein seltsames Ereignis, ein unerklärtes, und eine unerklärbare Naturerscheinung, die sich im Jahr 1866 begab, ist ohne Zweifel noch unvergessen. Nicht allein die Bevölkerung der Hafenstädte war durch Gerüchte beunruhigt, im Binnenland der öffentliche Geist aufgeregt, besonders die Seeleute gerieten in Bewegung. Die Kaufleute und Reeder, Schiffsherren, Patrone und Kapitäne in Europa und Amerika, Offiziere der Kriegsmarine aller Länder, und dann die Staatsregierungen der beiden Weltteile widmeten der Sache im hohen Grade ihr Interesse.
Die Tatsache ist, dass seit einiger Zeit manche Schiffe auf hoher See einem »enormen Gegenstand« begegneten, lang, spindelförmig, mitunter phosphoreszierend, unendlich größer und rascher als ein Walfisch.
Die Angaben über diese Erscheinung, wie sie in den Schiffsbüchern verzeichnet wurden, betrafen mit ziemlicher Genauigkeit die Struktur des fraglichen Gegenstandes oder Geschöpfes, die unerhörte Schnelligkeit und erstaunliche Kraft seiner Bewegungen, die besonderen Lebensäußerungen, welche ihm eigentümlich schienen. War es ein Tier von der Walfischgattung, so übertraf es an Umfang weit alle von der Wissenschaft bisher verzeichneten. Cuvier, Lacépède, Dumeril, Quatrefages – hätten sicher die Existenz eines solchen Ungeheuers nicht gelten lassen – sofern sie es nicht selbst gesehen, d. h. mit eigenen kundigen Augen gesehen.
Lassen wir die ängstlichen Schätzungen, welche diesem Gegenstand zweihundert Fuß beimaßen, beiseite, verwerfen die übertriebenen Angaben von der Breite einer Meile und der Länge dreier – und halten uns an das Durchschnittliche der wiederholt gemachten Beobachtungen, so könnte man doch behaupten, dass dieses phänomenale Wesen – sofern es existierte – alle von den Ichthyologen bisher angenommenen Dimensionen bei Weitem übertraf.
Aber es existierte; die Tatsache an sich war nicht in Abrede zu stellen, und bei der Neigung, womit sich die Menschen dem Wunderbaren zuwenden, begreift man leicht die Bewegung, welche diese übernatürliche Erscheinung in der ganzen Welt hervorbrachte. Sie ins Reich der Fabeln zu verweisen, ging schon nicht mehr an.
In der Tat begegnete am 20. Juli 1866 das Dampfboot Governor Higginson, der Calcutta and Burnach steam navigation Company gehörig, dieser schwimmenden Masse fünf Meilen östlich von den Küsten Australiens. Der Kapitän Baker glaubte anfangs auf eine unbekannte Klippe zu treffen; er war auch bereits im Begriff, die Lage derselben genau zu bestimmen, als von dem unerklärlichen Gegenstand aus zwei Wasserstrahlen hundertundfünfzig Fuß hoch zischend in die Luft emporschossen. Demnach, sofern nicht auf dieser Klippe intermittierende Quellen eines Geysirs sich befanden, hatte es der Governor Higginson mit nichts anderm zu tun, als einem bisher unbekannten Seesäugetier, welches durch seine Luftlöcher Wasserstrahlen mit Luft und Dunst gemischt ausstieß.
Die gleiche Tatsache wurde am 23. Juli desselben Jahres in den Gewässern des Stillen Ozeans, von dem Cristobal Colon der West India and Pacific steam navigation Company beobachtet. Demnach war dieses außerordentliche Seetier imstande, mit erstaunlicher Schnelligkeit seine Stellung zu wechseln, da es vom Governor Higginson und Cristobal Colon nach Verlauf von drei Tagen an zwei Punkten beobachtet wurde, welche der Karte nach über siebenhundert Seemeilen voneinander entfernt sind.
Vierzehn Tage später, als zweitausend Meilen von da die Helvetia, von der Company Nationale, und der Shannon, von der Royal-Mail, in dem zwischen den Vereinigten Staaten und Europa gelegenen Teil des Atlantischen Meeres in entgegengesetzter Richtung fuhren, signalisierten sie sich das Ungeheuer unterm 42° 15’ nördl. Breite und 60° 35’ westl. Länge vom Meridian zu Greenwich aus. Bei dieser gleichzeitigen Beobachtung glaubte man die Länge des Tieres zum Mindesten auf etwa dreihundertfünfzig engl. Fuß (ca. 106 Meter) anschlagen zu können. Die größten Walfische aber, wie sie in der Gegend der Aleuten vorkommen, haben die Länge von hundertundfünfzig Meter niemals überschritten.
Als diese Nachrichten Schlag auf Schlag eintrafen, machten neue an Bord der Pereira gemachte Beobachtungen, ein Zusammenstoßen des Ätna mit dem Ungeheuer, ein von den Offizieren der französischen Fregatte La Normandie vorgenommenes Protokoll, eine sehr ernste, vom Generalstab des Commodore Fitz-James an Bord der Lord Clyde gemachte Aufnahme – auf die öffentliche Meinung den tiefsten Eindruck. In den Ländern leichten Humors scherzte man über das Phänomen, aber die ernsten und praktischen Länder, England, Amerika, Deutschland, befassten sich lebhaft damit.
Überall in den großen Verkehrsmittelpunkten kam das Ungeheuer in Schwung; man besang es in den Cafés, man verspottete es in den Journalen, man spielte es in den Theatern. Die Enten bekamen eine hübsche Gelegenheit, Eier in allen Farben zu legen. Die Journale gaben in Abbildungen alle riesenmäßigen Fantasiebilder zum Besten, vom weißen Walfisch, dem erschrecklichen »Moby-Dick« der Hyperboreerländer bis zum maßlosen Kraken, der mit seinen Fühlhörnern ein Fahrzeug von fünfhundert Tonnen umwickeln und in den Abgrund des Ozeans hinabziehen kann. Man zitierte sogar Stellen aus dem Altertum, die Ansichten des Aristoteles und Plinius, welche für die Existenz solcher Ungeheuer sprachen, sodann die norwegischen Berichte des Bischofs Pontoppidan, die Erzählungen Paul Heggedes, und endlich die Berichte Harringtons, dessen Ehrlichkeit nicht anzufechten ist, wenn er behauptet, er habe an Bord der Castillan im Jahr 1857 diese enorme Schlange gesehen.
Darauf begann eine unendliche Polemik der Gläubigen und Ungläubigen in den gelehrten Gesellschaften und den wissenschaftlichen Journalen. Die »Frage des Ungeheuers« erhitzte alle Gemüter. Die Journalisten, welche wetteifernd mit den Schöngeistern die Wissenschaft vertraten, vergossen, verbrauchten in diesem merkwürdigen Feldzug tonnenweise Tinte; manche sogar etliche Tropfen Blut, denn von der Seeschlange gingen sie zu beleidigenden Persönlichkeiten über.
Sechs Monate lang wurde der Krieg mit abwechselndem Erfolg geführt. Auf die gründlichen Artikel des geografischen Instituts in Brasilien, der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Britischen Gesellschaft, der Smithson’schen Anstalt zu Washington, auf die Erörterungen des Indian Archipelago, des Kosmos des Abbé Moigno, der Petermann’schen Mitteilungen, auf die wissenschaftliche Chronik der großen Journale entgegnete die kleine Presse mit unerschöpflicher Laune. Die geistreichen Schriftsteller parodierten ein von den Gegnern des Ungeheuers zitiertes Wort Linnés, indem sie behaupteten, »die Natur schaffe keine Dummköpfe«, und beschworen ihre Zeitgenossen, nicht die Natur Lügen zu strafen, indem sie die Existenz des Kraken, der Seeschlangen, des »Moby-Dick« und andere Hirngespinste irrsinniger Seeleute gelten ließen. Endlich versetzte, in einem Artikel eines sehr gefürchteten satirischen Journals, der Beliebteste seiner Redakteure, bei einem Überblick über das Ganze, dem Ungeheuer einen letzten Streich, und erlegte es inmitten allgemeinen hallenden Gelächters. Der Geist siegte über die Wissenschaft.
Während der ersten Monate des Jahres 1867 hielt man die Frage für beseitigt, und es schien nicht, als solle dieselbe wieder auftauchen, als neue Tatsachen zur Kenntnis des Publikums kamen. Es handelte sich dabei nicht mehr um die Lösung eines wissenschaftlichen Problems, als die Vermeidung einer wirklichen, ernsten Gefahr. Die Frage nahm eine andere Gestalt an. Das Ungeheuer wurde wieder Inselchen, Felsen, Klippe, aber eine bewegliche, unbestimmbare und unfassbare.
Am 5. März 1867 stieß die Moravian von der Montreal Ocean Company, unter 27° 30’ Breite und 72° 15’ Länge, bei Nacht wider einen Felsen, der in jener Gegend von keiner Karte verzeichnet war. Nur durch die ausgezeichnete Beschaffenheit seines Rumpfes und seine Schnelligkeit bei vierhundert Pferdekraft entging er der Gefahr, mit seinen zweihundertsiebenunddreißig Passagieren unterzugehen.
Der Vorfall ereignete sich morgens früh, als schon der Tag graute. Man untersuchte das Meer genau, sah aber nichts, als ein starkes Kielwasser, welches auf drei Kabellängen das Gewässer brach. Ob die Moravian wider einen Felsen gestoßen, konnte man nicht wissen; aber als man ihn im Ausbesserungsbassin untersuchte, fand sich, dass ein Teil seines Kiels zerbrochen war.
Diese so bedeutende Tatsache wäre vielleicht vergessen worden, hätte sie sich nicht drei Wochen später unter gleichen Bedingungen wiederholt. Nur dass diesmal durch die Nationalität des betroffenen Schiffes und den Ruf der Gesellschaft, welcher es gehörte, das Ereignis das größte Aufsehen bekam.
Der berühmte englische Reeder Cunard ist weltbekannt. Derselbe gründete im Jahr 1840 eine Postverbindung zwischen Liverpool und Halifax mit drei hölzernen Schiffen von vierhundert Pferdekraft und elfhundertundzweiundsechzig Tonnen Gehalt. Dieses Material vergrößerte sich mit den wachsenden Geschäften nach und nach bedeutend; besonders im Jahr 1853 mit einer Reihe von Schiffen ersten Ranges, Arabia, Persia, China, Scotia etc. etc.; und im Jahr 1867 besaß sie zwölf Fahrzeuge, worunter vier Schraubendampfer. Die Unternehmung wurde mit größter Geschicklichkeit geleitet, und ihre Geschäfte waren vom besten Erfolg gekrönt. Seit sechsundzwanzig Jahren, da die Schiffe der Gesellschaft Cunard das Atlantische Meer befuhren, ist von zweitausend Fahrten nicht eine einzige missglückt, nie kam eine Verspätung vor, nie ist ein Brief, ein Mensch oder ein Schiff abhandengekommen oder zugrunde gegangen. Darum erregte auch der Unfall, welcher einem seiner besten Schiffe widerfuhr, so großes Aufsehen.
Am 13. April 1867 fuhr die Scotia unter 15° 12’ Länge und 45° 37’ Breite, bei ruhigem Meer und günstigem Wind mit einer Schnelligkeit von dreizehn Knoten und vollkommen regelmäßiger Radbewegung. Am Abend, als eben die Passagiere im großen Salon ihr Vesper nahmen, verspürte man einen wenig merkbaren Stoß. Derselbe kam eher von einem schneidenden Instrument her, als von einem bohrenden oder stoßenden, und schien so leicht, dass kein Mensch an Bord dadurch beunruhigt wurde, bis die Leute des Schiffsraumes aufs Verdeck stürzten mit dem Geschrei: »Wir gehen unter!«
Augenblicklich gerieten die Passagiere in großen Schrecken; aber der Kapitän Anderson war imstande sie unverzüglich zu beruhigen. In der Tat konnte die Gefahr nicht bedeutend werden, da die Scotia durch wasserdichte Verschläge in sieben Abteilungen geteilt war, sodass sie leicht einem Eindringen des Wassers gewachsen war. Der Kapitän begab sich sofort in den Schiffsraum und erkannte, dass das Wasser in das fünfte Gefach durch ein beträchtliches Leck eindrang. Dieses Fachwerk war zum Glück nicht dasjenige, welches die Kessel enthielt, sonst wären die Feuer mit einem Mal ausgelöscht worden.
Der Kapitän ließ sogleich halten, ein Matrose tauchte unter, um den Schaden zu untersuchen, und es fand sich ein zwei Meter breites Loch im Kiel. So konnte es nur mit halber Schnelligkeit weiterfahren, und kam um drei Tage verspätet in Liverpool an.
Bei der Ausbesserung fand sich ein regelmäßiger Riss in Form eines gleichschenkligen Dreiecks. Der Bruch des Eisenblechs zeigte, dass das durchbohrende Werkzeug ausnehmend hart gewesen sein musste; auch musste es, nachdem es mit enormer Gewalt eingedrungen, sich durch eigene Bewegung, in unerklärbarer Weise wieder herausgezogen haben.
Diese Tatsache setzte die öffentliche Meinung in leidenschaftliche Bewegung. Von nun an wurden Unfälle zur See, von welchen man nicht eine bestimmte Ursache wusste, auf Rechnung des Ungeheuers gesetzt, und das fantastische Tier musste alle solche Schiffbrüche sich zuschreiben lassen.
Da nun, mit Recht oder Unrecht, die Beschuldigung sich erhob, dass der Verkehr in gefährlicher Weise gestört sei, so verlangte das Publikum aufs Entschiedenste, dass die Meere endlich um jeden Preis von dem fürchterlichen Ungetüm befreit würden.
Zur Zeit, als diese Ereignisse vorfielen, kam ich von einer wissenschaftlichen Untersuchungsreise, welcher die französische Regierung mich, als Professor der Naturgeschichte, beigesellt hatte, aus Nebraska in den Vereinigten Staaten zurück. Gegen Ende März kam ich nach sechsmonatlichem Aufenthalt in Nebraska, mit kostbaren Sammlungen zu New York an und meine Abreise nach Frankreich war auf Anfang Mai festgesetzt. Ich beschäftigte mich eben damit, inzwischen meine mineralogischen, botanischen und zoologischen Schätze zu ordnen, als der Unfall der Scotia sich begab.
Ich war über die Tagesfrage vollständig in Kenntnis gesetzt. Ich hatte alle amerikanischen und europäischen Journale gelesen und abermals gelesen, und war dadurch nicht weitergekommen. Das Geheimnisvolle machte mir zu schaffen. Bei der Unmöglichkeit, mir eine Meinung zu bilden, schwankte ich von einem Extrem zum andern. Dass etwas daran war, konnte nicht mehr zweifelhaft sein, und die Ungläubigen waren eingeladen, ihren Finger auf die Wunde der Scotia zu legen.
Bei meiner Ankunft zu New York war die Frage brennend. Die Hypothese einer schwimmenden Insel, einer unerreichbaren Klippe, welche von einigen urteilsunfähigen Köpfen aufgebracht worden, war bereits aufgegeben. Und in der Tat, sofern nicht solch eine Klippe eine Maschine im Leib hatte, wie konnte sie so reißend schnell die Stelle wechseln.
Ebenso wurde der Gedanke an einen herumschwimmenden Schiffsrumpf aufgegeben, gleichfalls wegen der Schnelligkeit, womit der Gegenstand seinen Platz wechselte.
Es blieben also noch zwei mögliche Lösungen der Frage, welche beide Anhänger fanden: Die einen hielten den Gegenstand für ein Ungeheuer von kolossaler Kraft; die anderen für ein unterseeisches Fahrzeug von außerordentlicher Bewegkraft.
Diese letzte Annahme, obwohl statthaft, konnte doch nach den in beiden Weltteilen angestellten Untersuchungen nicht festgehalten werden. Dass ein einzelner Privatmann eine solche Maschine zur Verfügung habe, war unwahrscheinlich. Wie hätte deren Verfertigung geheim bleiben können?
Nur eine Regierung konnte im Besitz einer solchen Zerstörungsmaschine sein, und in dieser unheilvollen Zeit, wo der Mensch sich’s angelegen sein lässt, die Macht der Kriegswaffen zu verstärken, war es möglich, dass ein Staat ohne Wissen des andern mit einer solchen fürchterlichen Maschine einen Versuch machte. Auf die Chassepots folgten die Torpedos, auf die Torpedos die unterseeischen Sturmböcke, hernach – die Reaktion.
Aber diese Idee einer Kriegsmaschine musste gegenüber den Erklärungen der Regierungen fallen gelassen werden. Da es sich hier um ein allgemeines öffentliches Interesse handelte, da der überseeische Verkehr darunter litt, so ließ sich die Ehrlichkeit der Regierungen nicht in Zweifel ziehen. Zudem konnte man nicht annehmen, dass der Bau eines solchen unterseeischen Fahrzeugs dem Publikum verborgen geblieben wäre. Unter solchen Umständen das Geheimnis zu bewahren, ist schon für einen Privatmann schwer, und für einen Staat, dessen Handlungen von den rivalisierenden Mächten unablässig überwacht werden, vollends unmöglich.
Also wurde nach den in England, Frankreich, Russland, Preußen, Spanien, Italien, Amerika, selbst in der Türkei angestellten Nachforschungen die Hypothese eines unterseeischen Monitors definitiv aufgegeben.
Es bekam also die Idee eines »Ungeheuers« die Oberhand, trotz den unablässigen Späßen, womit die kleine Presse sie verfolgte; und auf diesem Weg ließ sich die Fantasie bald zu den lächerlichsten Träumen einer fantastischen Ichthyologie verleiten.
Bei meiner Ankunft zu New York erwiesen mir manche Männer die Ehre, mich über die fragliche Erscheinung um meine Ansicht zu ersuchen. Ich hatte in Frankreich einen zweibändigen Quartanten unter dem Titel: »Die Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefe«, erscheinen lassen. Dieses besonders von der gelehrten Welt gut aufgenommene Buch machte aus mir eine Spezialität in diesem noch ziemlich unklaren Teil der Naturwissenschaft. Es wurde mein Gutachten begehrt. Solange ich die Wirklichkeit des Tatsächlichen in Abrede stellen konnte, verhielt ich mich durchaus verneinend. Aber bald musste ich, aufs Äußerste gedrängt, mich kategorisch erklären. Und sogar wurde der »ehrenwerte Pierre Aronnax, Professor am Museum zu Paris«, vom New York Herald öffentlich aufgefordert, irgendeine Ansicht über die Sache zu formulieren.
Ich machte mich daran. Ich sprach, weil ich nicht mehr schweigen konnte. Ich erörterte die Frage von allen Seiten, politisch und wissenschaftlich, und gebe hier den Auszug eines sehr umfangreichen Artikels, den ich unterm 30. April veröffentlichte.
»Also«, sagte ich, nachdem ich der Reihe nach die verschiedenen Hypothesen einer Prüfung unterzogen, »muss man jede andere Annahme verwerfen und notwendig die Existenz eines Seetieres von außerordentlicher Kraft gelten lassen.
Die großen Tiefen des Ozeans sind uns völlig unbekannt; die Sonde hat sie nicht erreichen können. Was geht in diesen entlegenen Tiefen vor? Was für Geschöpfe leben zwölf- bis fünfzehntausend Meilen unter der Meeresoberfläche, oder können da leben? Wie sind diese Tiere organisiert? Darüber kann man kaum eine Vermutung aufstellen.
Jedoch kann die Lösung des mir vorgelegten Problems die Form eines Dilemmas annehmen.
Entweder wir kennen alle verschiedenen Gattungen von Geschöpfen, welche unsern Planeten bevölkern, oder wir kennen sie nicht.
Wenn wir sie nicht alle kennen, wenn die Natur in der Ichthyologie noch Dinge enthält, welche für uns Geheimnisse sind, so darf man wohl die Existenz von Fischen oder Seesäugetieren, neuen Arten oder selbst Gattungen, von einer ihnen eigentümlichen Organisation annehmen, welche die von der Sonde unerreichbaren Schichten bewohnen, und durch irgendein Ereignis, eine Grille, Laune, wenn man will, in langen Zwischenräumen zu dem Niveau der Oberfläche des Ozeans heraufgeführt werden.
Kennen wir dagegen alle lebenden Gattungen, so muss man notwendig das fragliche Tier unter den bereits aufgenommenen Seegeschöpfen suchen, und in diesem Fall wäre ich geneigt, die Existenz eines Riesen-Narwals anzunehmen.
Der gemeine Narwal, oder das Seeeinhorn, erreicht oft eine Länge von sechzig Fuß. Nehmen wir diese Dimension fünffach, selbst zehnfach, geben wir diesem Tier eine seiner Größe entsprechende Kraft, verstärken wir seine Angriffswaffen, so haben wir das vorausgesetzte Ungeheuer, welches imstande wäre, die Scotia anzubohren und den Rumpf eines Dampfbootes anzutasten.
In der Tat hat der Narwal zur Waffe eine Art Degen von Elfenbein, eine Hellebarde, wie einige Naturforscher sich ausdrücken. Es ist ein Hauptzahn von der Härte des Stahls. Man hat solche Zähne in den Körpern von Walfischen gebohrt gefunden, welche der Narwal beständig mit Erfolg angreift. Andere sind mit Mühe aus Schiffskielen gezogen worden, welche sie durch und durch gebohrt hatten. Das Museum der Naturgeschichte zu Paris besitzt ein solches Horn, das zwei Meter fünfundzwanzig Zentimeter lang und an seiner Basis achtundvierzig Zentimeter stark ist!
Nun! Nehmen wir diese Waffe zehnmal so stark an, das Tier zehnmal kräftiger, lassen wir es mit einer Schnelligkeit von zwanzig Meilen in der Stunde hinschießen, multiplizieren wir seine Masse mit seiner Geschwindigkeit, so haben wir einen Stoß, der eine Katastrophe, wie die gedachte, hervorbringen kann.
Demnach, bis auf weitere Information, möchte ich meine Vermutung auf ein Seeeinhorn von kolossalen Dimensionen richten, welches nicht sowohl mit einer Hellebarde, als mit einem wirklichen Sporn bewaffnet ist, wie ihn die Panzerfregatten haben, denen es etwa an Umfang und Bewegungskraft gleichkäme.
So würde das unerklärliche Phänomen seine Erklärung finden – sofern nicht etwa nichts daran ist, trotz dem, was man gesehen und vermutet hat – was auch möglich ist!«
Diese letzteren Worte waren meinerseits eine Feigheit; ich wollte bis auf einen gewissen Grad meine Professorenwürde wahren, und nicht den Amerikanern zum Lachen preisgeben, denn die lachen tüchtig, wenn sie lachen. Ich wollte nur eine Hintertür offen halten. Im Grunde ließ ich die Existenz des »Ungeheuers« gelten.
Mein Artikel wurde warm besprochen und fand großen Beifall, gewann sich eine Anzahl Anhänger. Die Lösung, welche er vorschlug, ließ übrigens der Fantasie freien Spielraum. Der menschliche Geist hat Gefallen an solchen großartigen Begriffen übernatürlicher Wesen.
Das Meer ist gerade das beste Element, der einzige Ort, wo solche Riesen – neben welchen die Elefanten und Rhinozerosse nur Zwerge sind – entstehen und sich entwickeln können! Die Massen des Ozeans enthalten die größten Gattungen bekannter Seesäugetiere, und vielleicht bergen sie in ihren Tiefen noch manche Mollusken und Schaltiere von erschrecklichem Aussehen. Vormals, in der Urzeit, waren die Landtiere, Vierfüßler, Reptilien und Vögel nach riesenmäßigem Maßstab geformt. Warum sollte nicht das Meer, welches sich unveränderlich gleich bleibt, in seinen unbekannten Tiefen noch solche Probestücke eines andern Zeitalters aufbewahrt haben? Warum sollte es nicht in seinem Schoß die letzten Arten dieser Riesengattungen bergen?
Doch wenden wir uns aus dem Reich der Fantasie zur schrecklichen Wirklichkeit. Die öffentliche Meinung sprach sich damals in Beziehung auf das Phänomen ohne Widerspruch für die Existenz eines wunderhaften Riesentieres aus.
Aber wenn die einen nur eine wissenschaftliche Aufgabe darin erkannten, hatten die andern, mehr positive Geister, zumal in Amerika und England, im Sinn, das Meer von dem furchtbaren Ungeheuer zu säubern, um den überseeischen Verkehr zu sichern. Die industriellen und Handelsblätter behandelten die Frage hauptsächlich von diesem Gesichtspunkt aus; alle den Assecuranz-Gesellschaften ergebenen Blätter waren darüber einstimmig.
Nachdem die öffentliche Meinung sich ausgesprochen, erklärten sich die Vereinigten Staaten zuerst. Man traf zu New York Vorkehrungen für eine Expedition zur Verfolgung des Narwals. Eine schnell segelnde Fregatte, die Abraham Lincoln, wurde instand gesetzt, unverzüglich in See zu stechen. Dem Kommandanten Farragut wurden die Arsenale geöffnet, und er betrieb eifrigst die Ausrüstung derselben.
Nun aber, wie das meistens geschieht, gerade von dem Moment an, da man entschlossen war, das Ungeheuer zu verfolgen, war es nicht mehr sichtbar. Zwei Monate lang hörte man nicht mehr davon reden. Es schien, als habe das Einhorn Kunde von einem gegen dasselbe geschmiedeten Komplott bekommen. Man hatte zu viel davon gesprochen, selbst vermittelst des Kabels! Auch scherzte man, der schlaue Fuchs habe einige Telegramme aufgefangen, und mache sich nun ihren Inhalt zunutze.
Als daher die Fregatte für eine weite Fahrt gerüstet und mit fürchterlichen Maschinen versehen war, wusste man nicht, wohin die Fahrt zu richten sei. Endlich verlautete, ein Dampfer von der Linie S. Franzisco in Kalifornien nach Schanghai habe das Tier drei Wochen zuvor in den nördlichen Gewässern des Stillen Ozeans gesehen.
Es entstand die äußerste Aufregung. Man ließ dem Kommandanten Farragut kaum vierundzwanzig Stunden Frist. Seine Vorräte waren eingeschifft, Kohlen in Überfluss, kein Mann der Besatzung fehlte an seinem Platz; man brauchte nur zu heizen, auszulaufen! Einen halben Tag Zögerung hätte man ihm nicht verziehen! Zudem war der Kommandant selbst voll Eifer.
Drei Stunden, bevor die Abraham Lincoln von Brooklyn abfuhr, erhielt ich folgendes Billett:
»Herrn Aronnax, Professor am Museum zu Paris,
5 Avenue Hotel
New-York.
Mein Herr!
Wenn Sie sich der Expedition der Abraham Lincoln anschließen wollen, wird die Regierung der Ver. Staaten erfreut sein, dass Frankreich durch Sie bei dieser Unternehmung sich beteilige. Der Kommandant Farragut hält eine Kabine zu Ihrer Verfügung bereit.
Ergebenst der Ihrige
I. B. Hobson,
Sekretär der Marine.«
Drei Sekunden vor Ankunft des Briefs von I. B. Hobson dachte ich ebenso wenig das Einhorn zu verfolgen, als die nordwestliche Durchfahrt zu versuchen. Drei Sekunden nachdem ich den Brief des ehrenwerten Sekretärs der Marine gelesen, begriff ich endlich, dass mein wahrer Beruf, das einzige Ziel meines Lebens darin bestehe, das beunruhigende Ungeheuer zu verjagen und die Welt von demselben zu befreien.
Doch ich kam von einer mühevollen Reise erschöpft, nach Ruhe mich sehnend. Ich trachtete nur danach, meine Heimat wiederzusehen, meine Freunde, meine kleine Wohnung im Jardin des Plantes, meine teueren und kostbaren Sammlungen! Aber nichts konnte mich zurückhalten. Ich vergaß alles, Ermüdung, Freunde, Sammlungen, und nahm ohne weiteres Bedenken die Anerbietung der amerikanischen Regierung an.
»Übrigens«, dachte ich, »führt jeder Weg nach Europa zurück, und das Einhorn wird wohl so liebenswürdig sein, mich nach den Küsten Frankreichs hin zu ziehen! Dieses respektable Tier wird sich in den Gewässern Europas – zu meinem persönlichen Vergnügen – fangen lassen – und ich will dem naturhistorischen Museum nicht weniger als ein halbes Meter von seiner elfenbeinernen Hellebarde mitbringen.«
Aber einstweilen musste ich den Narwal im Norden des Stillen Ozeans aufsuchen; was ebenso viel war, als für die Rückkehr nach Frankreich den Weg zu den Antipoden einschlagen.
»Conseil!«, rief ich ungeduldig.
Conseil war mein Diener. Ein ergebener Bursche, der mich auf allen meinen Reisen begleitete; ein braver Flamländer, den ich lieb hatte, und der mir’s vergalt; phlegmatisch von Natur, regelmäßig aus Grundsatz, dienstbeflissen aus Gewohnheit, ließ er sich durch die überraschenden Fälle im Leben wenig irre machen; mit gewandten Händen zu jedem Dienst geeignet, war er niemals mit seinem Rat zudringlich.
Durch seine Berührungen mit den Gelehrten unserer kleinen Welt des Jardin des Plantes hatte Conseil es dazu gebracht, dass er etwas wusste. Ich hatte in ihm einen Spezialisten, der, sehr bewandert in der naturhistorischen Klassifikation, mit der Gewandtheit eines Seiltänzers die ganze Stufenleiter der Verzweigungen, Gruppen, Klassen, Unterabteilungen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Untergattungen, Arten und Varietäten auf- und ablief. Aber hier war auch die Grenze seines Wissens. Klassifizieren war sein Lebenselement, mehr aber verstand er auch nicht. In der Theorie der Klassifikation sehr bewandert, wenig in der Praxis, hätte er, glaub ich, nicht einen Pottfisch von einem Walfisch unterscheiden können! Und doch, was für ein wackerer, tüchtiger Junge!
Conseil hatte bisher seit zehn Jahren mich überall, wohin mich die Wissenschaft zog, begleitet. Nie hörte man aus seinem Mund eine Bemerkung über die lange Dauer oder die Beschwerden einer Reise. Kein Einwand, wenn er seinen Ranzen zu schnallen hatte für eine Reise in jedes Land, so fern es auch sein mochte, China oder Kongo. Er ging hierhin wie dorthin, ohne weiter zu fragen. Übrigens von trefflicher Gesundheit, die allen Krankheiten trotzte, starken Muskeln, aber ohne Nerven, nicht einen Schein von Nerven – moralisch, versteht sich.
Dieser Junge war dreißig Jahr alt, und seines Herrn Alter verhielt sich zu diesem, wie zwanzig zu fünfzehn.
Nur einen Fehler hatte Conseil. Entsetzlich förmlich, sprach er mit mir nur in der dritten Person.
»Conseil!«, rief ich abermals, während ich mit fieberhafter Eile meine Vorbereitungen zur Abreise begann.
Sicher konnte ich mich auf diesen ergebenen Jungen verlassen. In der Regel fragte ich ihn nie, ob es ihm beliebe, oder nicht, mich auf meinen Reisen zu begleiten; aber diesmal handelte sich’s um eine Expedition, die sich unendlich in die Länge ziehen konnte, eine gefahrvolle Unternehmung zur Verfolgung eines Tieres, das fähig war, eine Fregatte wie eine Nussschale zu zertrümmern! Da galt es zu überlegen, selbst für einen Menschen, den nichts in der Welt in Verlegenheit brachte! Was würde wohl Conseil dazu sagen?
»Conseil!«, rief ich zum dritten Mal.
»Mein Herr ruft mir?«, sprach er im Eintreten.
»Ja, mein Junge. Mache dich fertig, hilf mir, mich fertig machen. In zwei Stunden reisen wir ab.«
»Wie es dem Herrn beliebt«, erwiderte Conseil ruhig.
»Kein Augenblick ist zu verlieren. Pack in meinen Koffer alle meine Reisegeräte, Kleider, Hemden, Strümpfe, so viele du nur kannst, und beeil dich!«
»Und des Herrn Sammlungen?«, bemerkte Conseil.
»Man wird sich später damit befassen.«
»Wie? Die Archiotherium, Hyracotherium, Oreodon, die Cheropotamus und andere Gerippe meines Herrn?«
»Man wird sie im Hotel aufheben.«
»Und der lebendige Babirussa meines Herrn?«
»Man wird ihn in meiner Abwesenheit füttern. Übrigens werde ich Auftrag geben, unsere Menagerie nach Frankreich zu befördern.«
»Wir kehren also nicht zurück nach Paris?«, fragte Conseil.
»Ja … Gewiss …«, erwiderte ich ausweichend, »aber auf einem Umweg.«
»Wie es meinem Herrn beliebt.«
»Oh! Es macht wenig aus! Ein nicht ganz direkter Weg, das ist alles. Wir fahren mit auf der Abraham Lincoln.«
»Wie es meinem Herrn beliebt«, versetzte Conseil ruhig.
»Du weißt, lieber Freund, es handelt sich um das Ungeheuer … den famosen Narwal … Wir werden die Meere von demselben befreien! … Der Verfasser eines Werkes in zwei Quartbänden über die ›Geheimnisse der großen unterseeischen Tiefen‹ kann nicht umhin, mit dem Kommandanten Farragut in See zu stechen. Ein ehrenvoller, aber auch gefahrvoller Auftrag! Man weiß nicht, wohin man sich wenden soll! Diese Tiere können sehr schlimme Laune haben! Aber trotzdem gehen wir! Unser Kommandant hat den Kopf auf der rechten Stelle …«
»Was mein Herr tut, das tue ich auch«, erwiderte Conseil.
»Und merk dir wohl! – denn ich will dir’s nicht verhehlen – es ist eine Reise, von der nicht jeder wieder heimkommt!«
»Wie es meinem Herrn gefällt.«
Nach einer Viertelstunde waren unsere Koffer fertig. Conseil hatte es in einem Griff gemacht, und ich war sicher, dass nichts mangelte, denn der Junge verstand die Hemden und Kleider ebenso gut zu ordnen, wie die Vögel und Säugetiere. Wir begaben uns ins Erdgeschoss, wo ich in dem geräumigen, stets umlagerten Comptoir meine Rechnung berichtigte, den Auftrag erteilte, meine Kisten mit ausgebalgten Tieren und getrockneten Pflanzen nach Paris zu schicken, und dem Babirussa einen hinlänglichen Kredit eröffnete. Darauf stieg ich in Conseils Begleitung in einen Wagen, der uns für zwanzig Francs durch Broadway, Fourth Avenue und Katsin-Street zum Vierunddreißigsten Pier1 fuhr, wo ein Fahrzeug uns samt Wagen und Pferden aufnahm und nach Brooklyn brachte, dem großen Quartier von New York am linken Ufer des östlichen Flusses, wo wir in einigen Minuten an dem Quai anlangten, bei welchem die Abraham Lincoln aus ihren zwei Rauchfängen schwarze Säulen emporwirbelte.
Unser Gepäck wurde unverzüglich aufs Verdeck der Fregatte gebracht, ich eilte an Bord und fragte nach dem Kommandanten Farragut. Ein Matrose führte mich aufs Vorderverdeck, zu einem Offizier von stattlichem Aussehen, der mir die Hand reichte. »Monsieur Pierre Aronnax?«, sprach er.
»Der bin ich. Der Kommandant Farragut?«
»In eigener Person. Seien Sie willkommen, Herr Professor. Ihre Kabine wartet schon auf Sie.«
Ich grüßte, ließ den Kommandanten bei seiner Beschäftigung und folgte einem Begleiter in die für mich bestimmte Kabine.
Die Abraham Lincoln war für ihre neue Bestimmung trefflich ausgewählt und eingerichtet. Es war eine schnell segelnde Fregatte mit einem Heizungsapparat, welcher die Dampfkraft bis auf sieben Atmosphären zu steigern gestattete. Dadurch bekam sie eine mittlere Geschwindigkeit von achtzehn und dreizehntel Meilen die Stunde; doch war diese beträchtliche Schnelligkeit nicht ausreichend für einen Kampf mit dem Riesentier.
Die inneren Einrichtungen der Fregatte entsprachen ihren nautischen Vorzügen. Ich war mit meiner Kabine sehr zufrieden; sie lag am hintern Schiffsteil und stieß an das Offizierszimmer.
»Wir sind hier wohl aufgehoben«, sagte ich zu Conseil.
»So gut, mit Erlaubnis meines Herrn, als der Einsiedler Bernhard in der Muschelschale.«
Ich überließ es Conseil, unsere Koffer gehörig zu ordnen, und begab mich wieder aufs Verdeck, um den Vorbereitungen zur Abfahrt zuzusehen.
In diesem Augenblick ließ der Kommandant Farragut die letzten Taue lösen, welche den Abraham. Lincoln an das Quai fesselten. Also eine Viertelstunde Verspätung, und die Fregatte fuhr ohne mich ab, sodass ich diese außerordentliche, übernatürliche, unwahrscheinliche Expedition verfehlte, deren wahrheitsgetreue Erzählung doch vielleicht auf manche Ungläubige stoßen wird.
Aber der Kommandant Farragut wollte nicht einen Tag verlieren, nicht eine Stunde, um in das Meer zu kommen, wo das Tier verspürt worden war. Er ließ seinen Ingenieur kommen.
»Haben wir gehörig Dampf?«, fragte er ihn.
»Ja, mein Herr«, erwiderte der Ingenieur.
»Go ahead«, rief der Kommandant Farragut.
Auf diesen Befehl, welcher vermittelst eines Apparats mit verdichteter Luft zur Maschine befördert wurde, setzten die Maschinenleute das Rad in Bewegung. Der Dampf zischte, indem er in die Behälter drang. Die langen horizontalen Stempel dröhnten und trieben die Stangen der Welle.
Mit zunehmender Schnelligkeit wurden die Wellen von der Schraube geschlagen und die Abraham Lincoln bewegte sich majestätisch inmitten von hundert Fährten und Tenders2 voller Zuschauer, die ihr das Geleit gaben.
Die Quais zu Brooklyn und der ganze Teil von New York, welcher ans östliche Ufer stößt, waren mit Neugierigen bedeckt. Drei Hurras nacheinander hörte man aus der Brust von einer halben Million erschallen. Tausende von Taschentüchern über der dichten Volksmasse geschwenkt, begrüßten die Abraham Lincoln, bis sie in die Gewässer des Hudson, an der Spitze der langen Halbinsel, welche New York bildet, gelangte.
Darauf fuhr die Fregatte in der Richtung von New Jersey an dem wunderschönen rechten, ganz mit Landhäusern bedeckten Ufer des Flusses zwischen den Forts durch, welche sie mit ihren größten Kanonen begrüßten.
Die Abraham Lincoln erwiderte den Gruß durch dreimaliges Aufziehen der amerikanischen Flagge mit ihren neununddreißig an der Spitze des Hintermastes glänzenden Sternen; hierauf änderte sie ihren Lauf, um das mit Baken versehene Fahrwasser in der innern durch die Spitze Sandyhook gebildeten Bai zu gewinnen, und fuhr längs dieser sandigen Erdzunge, wo Tausende von Zuschauern sie nochmals begrüßten.
Das Geleit der Boote und Tenders verließ die Fregatte erst auf der Höhe des Leuchtbootes, dessen zwei Feuer die Einfahrt in das Seegatt von New York bezeichnen.
Schlag drei stieg der Lotse in sein Boot und fuhr zu der kleinen Goelette, die ihn unterm Wind erwartete. Die Feuer wurden geschürt, die Schraube schlug rascher die Wellen; die Fregatte strich längs der gelben niedrigen Küste von Long Island, und um acht Uhr abends, nachdem sie die Feuer von Fire Island nordwestlich aus dem Gesicht verloren, lief sie mit voller Dampfkraft in die dunkeln Wasser des Atlantischen Ozeans.
Der Kommandant Farragut war ein tüchtiger Seemann, seiner Fregatte würdig. Er fühlte sich eins mit seinem Schiff; war die Seele desselben. Über das Seeungeheuer hegte er nicht den mindesten Zweifel, und er gestattete gar nicht, dass an Bord seines Schiffes über die Existenz des Tieres disputiert wurde. Er glaubte daran, wie manche gute Frauen an Leviathan – nicht aus Vernunftgründen, sondern als an einen Glaubensartikel. Das Ungeheuer existierte, und er hatte geschworen, die Meere von demselben zu befreien. Entweder der Kommandant Farragut würde den Narwal töten, oder der Narwal den Kommandanten. Ein Drittes gab’s nicht.
Die Offiziere an Bord teilten die Ansicht ihres Chefs. Man musste sie reden hören, disputieren, diskutieren, die verschiedenen möglichen Fälle bei einem Zusammentreffen in Berechnung ziehen, das weite Meer beobachten. Mancher, der sonst einen solchen Dienst verwünscht hätte, übernahm freiwillig eine Wache auf dem Mastgebälk. Solange die Sonne am Himmel stand, waren die Masten voll Matrosen, denen auf dem Verdeck die Fußsohlen brannten und die sich nicht an ihrem Platz halten konnten! Und doch befand sich die Abraham Lincoln noch nicht in den verdächtigen Gewässern des Stillen Meeres.
Die Mannschaft war eifrigst gespannt, mit dem Einhorn zusammenzutreffen, die Harpune zu werfen, es an Bord zu ziehen und es zu zerhauen. Sie beobachtete mit sorglichster Achtsamkeit die Meeresfläche. Übrigens sprach der Kommandant Farragut von einer Summe von zweitausend Dollars, die er aussetzte – Schiffsjunge, Matrose oder Offizier – der das Tier signalisierte. Da kann man sich denken, wie an Bord der Abraham Lincoln sich die Augen abmühten!
Ich meinesteils blieb hinter den anderen nicht zurück und überließ niemand meinen Teil an der täglichen Beobachtung. Die Fregatte hätte hundertfach Grund gehabt, den Namen Argus zu führen. Nur der einzige Conseil stand mit seiner Gleichgültigkeit im Widerspruch mit uns in Hinsicht der Frage, welche uns in Bewegung setzte, und stimmte nicht in den allgemeinen Enthusiasmus ein.
Ich habe gesagt, der Kommandant Farragut habe sein Schiff wohl mit Werkzeugen und Vorkehrungen versehen, um das Riesentier zu fischen. Wir waren im Besitz aller bekannten Maschinen, von der mit der Hand geworfenen Harpune bis auf die explodierenden Kugeln der Geschütze.
Auf dem Vordersteven war eine vervollkommnete Kanone, Hinterlader, von sehr starker Mündung und sehr enger Seele, deren Modell auf der nächsten Weltausstellung figurieren sollte. Dieses vortreffliche Instrument amerikanischen Ursprungs schleuderte leicht ein konisches Projektil von vier Kilogramm auf eine durchschnittliche Entfernung von sechzehn Kilometer.
Es fehlte also der Abraham Lincoln nicht an Mordmitteln. Aber er besaß noch mehr, den Harpunierkönig Ned Land.
Ned Land war ein Kanadier von seltenem Handgeschick, der seinesgleichen in dem gefährlichen Handwerk nicht hatte. Er besaß Gewandtheit und Kaltblütigkeit, Kühnheit, und List in besonders hohem Grad, und ein Walfisch musste schon recht tückisch, ein Pottfisch besonders listig sein, um seiner Harpune zu entrinnen.
Ned Land war etwa vierzig Jahr alt, hochgewachsen – über sechs englische Fuß – kräftig gebaut, von ernster Miene, wenig mitteilsam, manchmal heftig und sehr zornig, wenn man ihn reizte. Seine Person erregte Aufmerksamkeit, zumal die Macht seines Blickes, der seine Züge besonders belebte.
Der Kommandant Farragut hatte wohl sehr weise getan, diesen Mann für sein Schiff zu gewinnen. Er allein wog mit Auge und Arm die ganze Mannschaft auf. Ich könnte ihn am besten mit einem starken Teleskop vergleichen, der zugleich als Kanone stets schussfertig wäre.
Kanadier sind Franzosen, und so wenig mitteilsam Ned Land war, hatte er doch, erkenne ich an, eine gewisse Anhänglichkeit an mich. Ohne Zweifel zog ihn meine Nationalität an. Ich gab ihm eine Gelegenheit sich zu unterreden, und er mir eine solche, die alte Sprache des Rabelais zu hören, die in einigen Gegenden Kanadas noch in Gebrauch ist. Die Familie des Harpuniers stammte aus Quebec und bildete schon zu der Zeit, als diese Stadt den Franzosen gehörte, einen kühnen Fischerstamm.
Allmählich bekam Ned Lust, zu plaudern, und ich hörte ihn gern von seinen Abenteuern in den Polarmeeren erzählen. Er sprach mit viel natürlicher Poesie von seinem Fischfang und seinen Kämpfen dabei. Sein Vortrag hatte echt epische Form, und ich glaubte manchmal einen kanadischen Homer zu hören, der die Iliade der Hyperboreerlande sang.
Ich schildere eben diesen kühnen Gesellen so, wie ich ihn gegenwärtig kenne. Wir sind alte Freunde geworden, geeinigt durch die unerschütterliche Sympathie, welche in den entsetzlichsten Lebenslagen entsteht und aneinander fesselt! Wackerer Ned! Ich möchte noch hundert Jahre leben, um mich noch recht lange deiner zu erinnern!
Und jetzt, was war denn Ned Lands Meinung in der Frage des Seeungeheuers? Ich muss gestehen, dass er an das Einhorn wenig glaubte, und dass er allein an Bord die allgemeine Ansicht nicht teilte. Er mied selbst von dem Gegenstand zu sprechen, sodass ich ihm einmal glaubte darin zu Leibe gehen zu müssen.
An einem prachtvollen Abend des 30. Juli, d. h. drei Wochen nach unserer Abfahrt, befand sich die Fregatte auf der Höhe des Kap Blanco, dreißig Meilen unterm Wind an der patagonischen Küste. Wir waren über den Wendekreis des Steinbocks hinaus, und die Magellanische Enge war keine siebenhundert Meilen mehr südlich. Vor Ablauf von acht Tagen konnte die Abraham Lincoln die Wogen des Stillen Meeres durchsegeln.